VORLESUNGEN
ÜBER
GESCHICHTE DER MATHEMATIK
VON
MORITZ CANTOR.
ZWEITER BAND.
VON 1200—1668.
MIT 190 IN DEN TEXT GEDRUCKTEN FIGUREN.
ZWEITE AUFLAGE . «_
C'
'U
LEIPZIG,
DRUCK UND VERLAG VON B. G. TEUBNER.
1900.
C ^5
&ef '2.
ALLE KECHTE,
EINSCHLIESSLICH DES ÜBERSETZÜNGSRECHTS, VORBEHALTEN.
Vorwort.
Leser meiner im Druck erschienenen Schriften sind es schon ge-
wohnt, dass ich das Vorwort dazu zu verwenden pflege, noch nach-
träglich diese oder jene Aenderung vorzunehmen, zu welcher mir die
Anregung erst während des Druckes des betreffenden Bandes wurde.
Indem ich mich anschicke, abermals in solcher Weise zu verfahren,
komme ich zugleich der angenehmen Pflicht nach, über die Quelle zu
berichten, welche mir nicht wenige dieser Aenderungen zuführte.
Während die Druckbogen der zweiten Hälfte dieses Bandes zwischen
Leipzig und Heidelberg hin- und herliefen, durfte ich am 23. August
1899 die Feier der Vollendung meines siebzigsten Lebensjahres be-
gehen, und zwei bewährte Freunde und Arbeitsgenossen, Professor
Max Ourtze und Professor Dr. Siegmund Günther, mit welchen
ich seit 1863, beziehungsweise 1866, in immer enger werdender Ver-
bindung stand und stehe, Hessen es sich nicht nehmen, mich durch
das Erscheinen einer Festschrift, an deren Herstellung 32 Schrift-
steller auf dem uns gemeinsamen Gebiete der Geschichte der Mathe-
matik und Physik sich beteiligten, auf's Freudigste zu überraschen.
Es ist mir Bedürfniss, allen diesen Mitarbeitern öffentlich meinen
wärmsten Dank auszusprechen und in diesen Dank auch die Teubuer-
sche Verlagshandlung einzuschliessen, welche in der Ausstattung des
Bandes noch zu überbieten wusste, was sie sonst in dieser Richtung
leistet. Wie viel ich aus dieser Festschrift lernen durfte, wird teil-
weise noch in diesem Vorworte sich zeigen, denn sie ist es, von der
ich oben als der Quelle so mancher Aenderungen, so mancher Ver-
besserungen sprach. Für andere Richtigstellungen bin ich brieflichen
oder gedruckten Mittheilungen zu Danke verpflichtet, die sich an das
Erscheinen der ersten Hälfte dieses Bandes knüpften.
S. 12 und S. 264. Wenn es auch richtig ist, dass Leonardo
von Pisa der erste abendländische Schriftsteller war, welcher über
die Zerfällung eines Bruches in eine Summe von Stammbrüchen sich
ausliess, dass Regiomontan wiederum im Abendlande zuerst eine
selbständige Trigonometrie verfasste, so durfte doch diese Beschränkung
rv Vorwort.
auf das Abendland nicht vei'sch wiegen werden, nachdem Bd. I'^', 470
nnd 735 von dem Rechenbuche von Achmim und von Nasir Ed-
din das Gleiche berichtet ist.
S. 49. Neben den Wörtern radix und res kommt bei Leonardo
von Pisa noch ein drittes Wort für die Unbekannte vor: causa (z.B.
Leonardo Pisano II, 236 lin. 18). Diese wichtige Bemerkung hat
H. Eneström in seinem Berichte über die erste Abtheilung dieser
2. Auflage des IL Bandes meiner Vorlesungen Gesch. Math. (Biblio-
theca mathematica 1899, p. 49 — 57) gemacht. Ihre ganze Tragweite
leuchtet ein, sobald man die Lautverwandtschaft zwischen causa und
dem später in Übung gekommenen cosa in Erwägung zieht.
S. 72. Zum IV. Buche De numeris clatis des Jordanus Nemo-
rarius ist auf den Aufsatz: R. Daublensky von Sterneck, Zur
Vervollständigung der Ausgaben der Schrift des Jordanus Nemorarius
etc. (Monatshefte für Mathematik und Physik 1896. VII, 165—179)
hinzuweisen.
S. 87 — 88 und S. 379. H. Eneström macht darauf aufmerksam,
dass die Bestimmung des Todesjahres des Sacrobosco auf 1256
neuerdings erhobenen Zweifeln gegenüber nicht mehr festgehalten
werden kann; ferner dass Sacrobosco wenn auch im Allgemeinen seine
Quellen verschweigend doch einmal, und zwar bei der Ausziehung der
Quadratwurzel, sich auf die Arithmetik des Boethius bezieht;
endlich dass das von Clichtovaeus herausgegebene Ojnisculum de
praxi numeronim thatsächlich mit Sacrobosco's Tractatus de arte
numerandi übereinstimmt.
S. 112. Zu Levi ben Gerson ist zu vergleichen Curtze, Die
Abhandlung des Levi ben Gerson über Trigonometrie und den Jacob-
stab (Bibliotheca mathematica 1898, p, 97 — 112). Die der Abhand-
lung vorangehende Eiyistola auctoris scheint zu beweisen, dass Levi,
als Petrus von Alexandrien seine Abhandlung aus dem Hebräischen
ins Lateinische übersetzte, zum Christenthum übergetreten war. Unter
vielen der Beachtung würdigen Stellen erwähne ich den Sinussatz der
ebenen Trigonometrie mit einem sehr eigenartigen Beweise (1. c. S. 105
und 107).
S. 123. Da Johannes de Muris schon 1321 als Schriftsteller
auftrat, so muss das Poggendorff entnommene Geburtsjahr 1310
unrichtig sein. In Verbindung mit dieser Bemerkung berichtige ich
zugleich zwei Druckfehler: S. 254, Note 2, ist 1654 und nicht 1555
das Druckjahr von Gassendi's Schrift; S. 345 Note 3 ist Schwenter
anstatt Schmenter zu lesen.
S. 215. Jahreszahlen auf Münzen in Stelluugszahlen treten früh
in der zweiten Hälfte des XV. Jahrhunderts, nicht erst gegen das Ende
Yoi-wort. V
auf. H. G. Wertheim hat (Bibliotheca mathematica 1898, pag. 120)
auf eine solche Münze von 1458 hingewiesen.
S. 230 und S. 296. Libri's Behauptung des Vorkommens der
Zeichen -\- und — bei Lionardo da Vinci ist, Laut einer Bemerkung
des H. Eneström, durch Govi als unrichtig widerlegt worden.
H. Eneström gibt ferner an, eine von Lionardo da Vinci herrührende
Handschrift 11 codice cli Leonardo da Vinci nella hiblioteca del Prin-
cipe Trividzio in Milano sei 1891 durch Luca Beltrami und An-
gelo Della Croce in Mailand dem Drucke übergeben worden.
S. 235. H. Curtze hat die in der Münchner Bibliothek befind-
liche deutsche Uebersetzung des Robertus Anglicus von 1477
nunmehr (Festschrift S. 43 — 63) zum vollständigen Abdrucke gebracht,
wofür man ihm bei der geringen Zahl ähnlicher deutscher Schriften
aus der genannten Zeit nur dankbar sein kann. Die deutsche Ueber-
traguug der Kunstausdrücke, wie hofstat für area, hegriffluMeit für
capacitas, zwiestand für distautia u. s. w., dürfte auch den Sprach-
forscher zu fesseln im Stande sein.
S. 248. In der Dresdner Handschrift C 80, welche einst in dem
Besitze des Johannes Widmann war, und welche später von Adam
Riese benutzt worden ist, finden sich die sogenannten Randaufgaben
der Dresdner Algebra. Während mau sich früher mit der Angabe
begnügen musste, sie seien von einer anderen Hand als der des
Schreibers des Textes hinzugefügt, ist H. Wappler (Festschrift
S. 539 — 554) bei erneuter Prüfung der Handschrift zu weiteren Er-
gebnissen gelangt. Er hat erkannt, dass die in ihr enthaltene deutsche
Algebra die früher unverstanden gebliebene Datirung von Ostern 1481
trägt. Er hat ferner erkannt, dass die Randaufgabeu von der Hand
des Johannes Widmaun herrühren und hat daraus Veranlassung ge-
nommen, eine ganze Anzahl derselben zum Abdrucke zu bringen.
Widmann zeigt sich hier als ganz gewandt in einer Kunst, auf welche
man in der Kindheit der Algebra grosses Gewicht gelegt zu haben
scheint, nämlich in der Kunst, die Unbekannte einer Textaufgabe so
auszuwählen, dass man mit ihr allein den Gleichuugsansatz zu Stande
zu bringen vermag, ohne Symbole für weitere Unbekannte nöthig zu
haben.
S. 349. Das Wort anteriorer, welches bei Chuquet das all-
mälige Verschieben des Divisors nach rechts bedeutet, ist viel älteren
Ursprunges. H. Eneström hat anteriorare und anterioratio bei Sacro-
bosco nachgewiesen.
S. 351. Pappus hat in seinem VIT. Buche als 8. Lemma zu dem
Verhältnissschnitte des Apollonius (ed. Hultsch II, 688 und 690) den
VI Yoi-wort.
eenau bleichen Satz, dass -= — t-— stets zwischen 7^ und ^ liesfe, aus-
gesprochen, auf welchen Chuquet's Regel der mittleren Zahlen ge-
gründet ist. Indem ich auf diese wenig bekannte Thatsache hin-
weise, bemerke ich jedoch, dass die Wahrscheinlichkeit, dass Chuquet
den damals nur in griechischer Sprache handschriftlich vorhandenen
Pappus gelesen haben sollte, eine ausserordentlich geringe ist, und
dass ferner Pappus keinerlei Anwendung von seinem Satze ge-
macht hat.
S. 420. Johann Böschenstein hat nach Angabe von H. Felix
Müller (Festschrift S. 0O8 Note 23) seine Regeln, ähnlich wie Georg
Reichelstain es that, in deutsche Verse zu kleiden geliebt. Er war
auch als Wiedererwecker der hebräischen Sprache in Deutschland be-
kannt. Nach H. Steinschneider (Festschrift S. 474 — 475) hielt es
Böschenstein eben darum für uothwendig, Verwahrung dagegen ein-
zulegen, als ob er von jüdischen Eltern abstamme, was aber deshalb
doch nicht unmöglich erscheine.
S. 429. Ich hege nicht den leisesten Zweifel an der Richtigkeit
der Herleitung der Wortverbindung regula cecis von Zecltc. Gleich-
wohl möge der Vollständigkeit wegen mit H. Eneström auf Biblio-
theca mathematica 1896 pag. 96 und 120, 1897 pag. 32 hingewiesen
werden, wo von einer durch den dänischen Mathematiker J. W. Laurem-
berg 1643 mitgetheilten Herleitung aus dem Arabischen, richtiger
aus dem Türkischen, von .s/AA//- = der Trinker die Rede ist.
S. 438. Bezüglich des Standpunktes, welchen Stifel dem Irra-
tionalen gegenüber einnahm, hat H. Pringsheim (Encyklopädie der
mathematischen Wissenschaften I, 51) unter Berufung auf die Stelle
der Arithmetica integra fol. 103 verso lin. 3 v. u. {^Iteni licet infmiti
uiimeri fracti cadant inter quoslibet cluos numeros immediatos, qiiemad-
modum etiam infiniti nimieri irrationales cadiint inter diios numeros
integros immediatos. Ex ordinihus tarnen idrorumque facile est videre,
ut mdhis eoriun ex siio orditie in alterum possit transmigrare] hervor-
gehoben, dass Stifel sich bereits den heutigen Ansichten insoweit
näherte, als er anerkannte, dass jeder irrationalen Zahl gerade so gut
wie jeder rationalen ein eindeutig bestimmter Platz in der geordneten
Zahlenreihe zukomme.
S. 441 und S. 445. H. Eneström hat darauf hingewiesen, dass
Stifel neben den Bezeichnungen der Unbekannten einer Gleichung
und ihrer Potenzen, deren er sich in der Arithmetica integra bediente,
in der Ausgabe der Rudolif 'sehen Coss von 1553 noch eine andere
vorschlug und auch anwandte, welche den später benutzten Bezeich-
nungen sehr nahe verwandt ist. Fol. 61 verso der genannten Aus-
Voi-wort. VIT
gäbe ist nämlich gesagt : G§ iimg aber bic (5ofjifd}C proflrefi audi atfo
nerjeijdjnet merben.
0 12 3 4
1 .l%.l%'äA%'ä'ä.m%%%
Unb fo fort alin on enbe. Eine Anwendung dieser Zeichen steht aber
auf Fol. 465 verso in dem 13. Exemplum.
S. 449. Die Behauptung, es sei mit der deutschen Algebra nach
Michael Stifel ziemlich rasch abwärts gegangen, bedarf einer Ver-
besserung, seit H. Staigmüller (Festschrift S. 431 — 469) die Ver-
dienste des Tübinger Professors Johannes Scheubel in ein deut-
licheres Licht gerückt hat. Ich habe (S. 550) dessen deutsche Be-
arbeitung des 7., 8. und 9. Buches der Euklidischen Elemente von
1558 beiläufig genannt. Schon vorher, und zwar 1550, hat Scheubel
bei dem bekannten Basler Drucker Hervagius die sechs ersten Bücher
des Euklid lateinisch herausgegeben und ihnen Regeln der Al-
gebra vorausgeschickt. Die Euklidausgabe ist durch zwei Eigen-
thümlichkeiten besonders gekennzeichnet. Erstlich sind alle Buch-
staben streng vermieden, und statt ihrer ist eine Beschreibung der
betreffenden Punkte oder Linien augewandt, z. B. die Spitze des
rechten Winkels, die Senkrechte aus der Spitze des rechten Winkels
auf die gegenüberliegende Dreiecksseite und dergl. Euklid, sagt
Scheubel, mache es im Wortlaute seiner Lehrsätze ebenso, und
die Beweise sollten nichts einführen, was die Lehrsätze vermeiden.
Zweitens gibt Scheubel, wo immer Dreiecksflächen in den Sätzen
auftreten, Zahlenbeispiele, welche mit Hilfe der Heronischen Flächen-
formel y.s (s — a)(s — b) (s — c) ausgerechnet die Wahrheit des Satzes
bestätigen müssen; an einen Beweis der Heronischen Formel selbst
ist natürlich nicht gedacht. Die vorausgeschickte Brevis regularum
(dgebrae descriptio ist durch Kürze der Darstellung wie durch reichen
Inhalt ausgezeichnet. Indem ich der Hauptsache nach auf H. Staig-
müller's Abhandlung verweise, betone ich nur, was auch zu S. 248
von Johannes Widmann lobend erwähnt wurde, die Geschicklichkeit
mit einer Unbekannten auszukommen, wo die Natur der Aufgabe
deren mehrere zu verlangen scheint. Scheubel lehrt ferner eine all-
gemeine Näherungsformel für die Auffindung irrationaler Wurzel-
werthe höheren Grades kennen. In Buchstaben kommt sie darauf
hinaus, dass, wenn a" < «" -f~ ^^ <(« + 1)" ist, man näherungsweise
zu schreiben hat:
"j/a" -f & ~ a + y-T j—^ , — ^
VIII Voi-wort.
Nachdem H. Staigmüller's Abhandlung gedruckt war, hat H. Curtze
in der Tübinger Bibliothek die Originalhandschrift von Scheubel's
lateinischer Uebersetzung der sechs ersten Bücher Euklid's aber ohne
die im Druck von 1550 vorausgehende Algebra aufgefunden.
S. 459. Auch andere Schriftsteller vor wie nach Dürer haben den
Versuch gemacht, die Kunstausdrücke der Mathematik zu verdeutschen.
H. Felix Müller (Festschrift S. 303—333) hat eine grosse Anzahl
solcher Uebersetzungsproben mit Quellenangabe vereinigt. Es ist lehr-
reich zu bemerken, wie wenige derselben Bürgerrecht errungen haben.
S. 548. Nach einer mir brieflich durch H. Hultsch mitgetheilten
Berichtigung kann Joachim Camerarius in den Jahren 1557 und
1569 nicht als Nürnberger Humanist bezeichnet werden. In Nürn-
berg war Camerarius nur 1526 — 1535, dann in Tübingen, von wo
aus er 1538 den Commentar des Theon von Alexandria zum Almagest
herausgab, dessen Handschrift dem Nachlasse des Regiomontan ent-
stammte. Seit 1541 wirkte Camerarius in Leipzig. Vgl. Bursian,
Geschichte der classischen Philologie in Deutschland I, 185.
S. 572flgg. Ueber die Schriften Stevin's hat mir H. Grave-
laar höchst werthvolle Bemerkungen zugehen lassen. Die Hypoinne-
mata matliematica (S. 572) sind die buchstäbliche Uebersetzung der
in holländischer Sprache verfassten WisconsUge Gedachten} ssen und
erschienen in 5 Abschnitten, von welchen die 4 ersten als Memoires
mathematiques du Frince Maurice de Nassau in die Girard'sche Aus-
gabe von Stevin's Werken (1634) übergingen. Kästner's Beschreibung
der Hypomnemata ist fehlerhaft. Die Schriften des 2. Abschnittes
der Hjpnomnemata sind ebensowenig wie die übrigen Theile ur-
spi-ünglich in lateinischer Sprache verfasst, wonach Note 3 S. 620 zu
berichtigen ist. Die Prohlemata geometrica (S. 573), gedruckt 1583
in Antwerpen, sind in der Leidner Bibliothek vorhanden. Ihr Inhalt
ist grösstentheils in die späteren Bücher De la practique de geometrie
hineinverarbeitet.
S. 583. H. Hunrath hat neuerdings (Festschrift S. 217—240)
eine viel genauere Beschreibung als seiner Zeit in Zeitschr. Math.
Phys. XXXVIII von Vieta's Canon mathematicus (1579) geliefert.
Ein Exemplar findet sich ebenso wie Vieta's Universalimn inspecüonum
ad Canonem matJieniaUcum liher singularis (1579) in der Landesbibliothek
zu Cassel. Unter zahlreichen Näherungswerthen, welche dort angegeben
sind, sei nur einer erwähnt, dem ich mich nicht erinnern kann ander-
wärts begegnet zu sein : y 2 = ]/2 -\- ~- ")/2 •
S. 599. Brieflicher Mittheilung von H. Hunrath, der in der
Lage war, die durch Snellius besorgte Ausgabe von L. van Ceulen,
Vorwort. IX
De circulo et adscriptis liher (1619) einzusehen, entnehme ich, dass
die von mir den Bomvstoffen entnommenen Angaben irrig sind. In
den Rechnungen van Ceulen's sind erst die Sehnen- und Tangenten-
vielecke mit 3-2^^ Ecken verwerthet, dann die mit 15-2^^ Ecken, und
aus letzteren ist jr auf 20 Deeimalstellen gefunden.
S. 600. lieber eine nur 12 Blätter starke Abhandlung des Rhä-
ticus aus dem Jahre 1551: Canon dodrinae triaminJornni hat H. Hun-
rath (Festschrift S. 203—205) kurz berichtet.
S. 642. Das Räthsel, wer der „Lehrer" Ylem war, ist in Folge
einer neuen Untersuchung der Göttinger Handschrift durch H. Curtze
im August 1899 gelöst. Die Handschrift beginnt nämlich mit der
lateinischen Uebersetzung der Lehrsätze des H. Buches Euklid's, giebt
für jeden derselben deutliche Erläuterungen und Beweise und fährt
dann fort: nachdem jetzt die Sätze des Ylem, des Pixicceptoris AJ-
gebrae, beendigt seien, beginne das Buch Algebrae selbst. Darnach
kann kein Zweifel sein, dass der Verfasser des arabischen Urtextes,
auf welchen die Handschrift jedenfalls zurückgeht, Ylem für den
Namen Euklid's hielt und ferner dass er einsah, dass man das H. Buch
der Elemente als Algebra auffassen kann. Wieso aber Euklid zu
Ylem geworden ist, dürfte leicht zu begreifen sein, wenn man an die
fast regelmässige griechische Bezeichnung als ßtoLXSicotrjg denkt, wo-
von Lehrer eine ganz erträgliche Uebersetzung ist. Was andere abend-
ländische Leser aus Ylem machten, zeigt eine gleichfalls von H. Curtze
im Augnist 1899 in der Landesbibliothek zu Cassel aufgefundene
Handschrift. Ihr zufolge wäre Euklid&s der Titel eines Buches
gewesen, dessen Verfasser den Namen Elias führte. Dass
aber Elias sehr leicht aus Ylem entstanden sein kann, bi*aucht kaum
hervorgehoben zu werden.
S. 698. H. Caverni hat im IV. Bande seiner Storia del metodo
esperimentcde in Italia die Behauptung zu begründen gesucht, die Er-
kenntniss der Parabel als Wurflinie rühre nicht von Galilei, son-
dern von Cavalieri her, der die Entdeckung 1632 in seinem Specchio
usforio veröffentlichte. Demgegenüber hat H. Wohlwill (Festschrift
S, 579 — 624) erwiesen, dass, wenn auch Cavalieri's Veröffentlichung
durch den Druck die erste war, die durch sie bekannt gemachte
wissenschaftliche Thatsache nichtsdestoweniger von Galilei herrührt,
der sie muthmasslich schon vor 1610 besass, und durch welchen sie,
sei es unmittelbar, sei es wahrscheinlicher mittelbar, Cavalieri bekannt
wurde.
S. 712. Einen genauen Bericht über Melchioris Jostelii LogisUca
Frosthaphaeresis Ästronomica hat H. von Braunmühl (Festschrift
S. 17 — 29) nach einer Handschrift der Wiener Bibliothek veröffent-
X Vorwort.
licht. Inzwischen hat H. Curtze die Originalhandschrift des Mel-
chior Jöstel selbst in der Dresdener Bibliothek aufgefunden.
S. 777. Wenn auch die Geschichte der von Fermat gestellten
Aufgabe, die Gleichung ax^ +1=2/"? ^o a eine nichtquadratische
Zahl bedeutet, ganzzahlig zu lösen, im Texte richtig skizzirt ist, so
wäre es doch wohl wünschenswerth gewesen, auf den literarischen
Streit, der sich über diese Aufgabe erhob, und dessen Acten Wallis
in dem sogenannten Commercrum ejnstoUcum von 1758 veröffentlicht
hat, näher einzugehen, weil er auf die Art und Weise, in welcher
Wallis einen Streit führte, ein helles Licht wirft, dessen Wiederschein
vielleicht auch andere etwas dunkle Stellen der literarischen Thätig-
keit des gleichen Verfassers, z. B. die geschichtlich sein sollenden Er-
örterungen seiner Algebra, von denen ich im UI. Bande (Kapitel 82)
handle, zu beleuchten vermag. H. Wertheim hat (Festschrift S. 557
bis 576) diese Lücke vortrefflich ausgefüllt. Wallis erscheint neben
seinem Landsmanne Broun cker als der erheblich untergeordnete
Geist, der bald die Aufgaben, zu deren Lösung er nicht im Stande
ist, zu missachten vorgiebt, bald die Auflösungen Brouncker's so ver-
öffentlicht, dass man zunächst Wallis einen gi-össeren Anteil daran
zuzuschreiben geneigt ist, als ihm zukam. Auch Frenicle's Methoden,
so empirisch sie waren, treten nunmehr mit den durch dieselben er-
zielten Erfolgen schärfer hervor.
S. 815. In der Behandlung der sogenannten Descartes'schen Ovalen
tritt ein Bipolarcoordinatensystem zu Tage, dessen Erfindung
man mit H. P. Tannery (Festschrift S. 510 letztes Alinea) weit
sicherer als die des rechtwinkligen Coordinatensystems für Descartes
in Anspruch zu nehmen hat. In dem gleichen Aufsatze (Festschrift
S. 503 — 513) handelt H. Tannery von im Jahre 1701 gedruckten
Auszügen aus Descartes'schen Aufzeichnungen, welchen kein zu grosser
mathematischer Werth anhaftet.
Dieses sind die Berichtigungen und Ergänzungen, welche mir
während des Druckes des Bandes bekannt geworden sind, und welche
ich ihm auf seinen Weg in die Oeffentlichkeit noch mitzugeben wünsche.
Heidelberg im November 1899.
Moritz Cautor.
Inhaltsverzeichniss.
Seite
IX. Die Zeit von 1200—1300 . . .• 1 — 106
41. Kapitel. Leonardo von Pisa nnd sein Liber Abaci 3
4"2. Kapitel. Die übrigen Schriften des Leonardo von Pisa ... 35
43. Kapitel. Jordanus Nemorarius. Seine Arithmetica und der
Algorithmus demonstratus 53
44. Kapitel. Jordanus Xemorarius: De numeris datis. De triangulis 67
45. Kapitel. Johannes de Sacrobosco, Johannes Campanus und
andere Mathematiker des XIIL Jahrhunderts 87
X. Die Zeit von 1300—1400 107—168
46. Kapitel. Englische Mathematiker 109
47. Kapitel. Französische Mathematiker 123
48. Kapitel. Deutsche Mathematiker 137
49. Kapitel. Italienische Mathematiker 154
XL Die Zeit von 1400—1450 169—212
50. Kapitel. Deutsche Rechenlehrer. Johann von Gemunden. Georg
von Peurbach 171
51. Kapitel. Xicolaus Cusanus 186
52. Kapitel. Italienische Mathematiker 203
XIL Die Zeit von 1450—1500 213—368
53. Kapitel. Rechnen auf den Linien. Das Bamberger Rechenbuch 215
54. Kapitel. Johannes Widmann und die AnLänge einer deutschen
Algebra 228
55. Kapitel. Deutsche Universitäten. Regiomontanus 251
56. Kapitel. Ratdolt's Euklidausgabe. Alberti. Lionardo da Vinci.
Die Arithmetik von Treviso 290
57. Kapitel. Luca Paciuolo 306
58. Kapitel. Andere Italiener. Die Franzosen Chuquet und Lefevre 344
XIIL Die Zeit von 1500—1550 •. . . 369—542
59. Kapitel. Französische, spanische und portugiesische Mathe-
matiker . . 371
60. Kapitel. Mathematiker an deutschen Universitäten 390
61. Kapitel. Deutsche Rechenmeister und Cossisten ausserhalb der
Universitäten 415
62. Kapitel. Michael Stifel 429
63. Kapitel. Deutsche Geometer. Englische Mathematiker . . . 449
64. Kapitel. Italienische Mathematiker. Die kubische Gleichung 480
65. Kapitel. Cardano's ältere Schriften 497
66. Kapitel. Tartaglia's Schriften. Cardano's spätere Schriften . 514
Xn Inhaltsverzeichniss.
Seite
XIV. Die Zeit von 1550—1600 543—648
67. Kapitel. Geschichte der Mathematik. Klassikerausgaben. Geo-
metrie. Mechanik 545
68. Kapitel. Fortsetzung der Geometrie und Mechanik. Cyclo-
metrie und Trigonometrie 571
69. Kapitel. Rechenkunst imd Algebra 608
XV. Die Zeit von 1600—1668 649—922
70. Kapitel. Geschichte der Mathematik. Klassikerausgaben , . 651
71. Kapitel. Geometrie 662
72. Kapitel. Praktische und theoretische Mechanik 687
73. Kapitel. Trigonometrie und Cyclometrie 700
74. Kapitel. Rechnen. Logarithmen 718
75. Kapitel. Ei-findung von Methoden. Wahrscheinlichkeitsrech-
nung. Kettenbrüche. Aufgabensammlungen 748
76. Kapitel. Zahlentheorie. Algebra 771
77. Kapitel. Geometrische Gleichungsauflösungen. Analytische
Geometrie 806
78. Kapitel. Infinitesimalbetrachtungen. Kepler. Cayalieri . . . 821
79. Kapitel. Descartes. Fermat 851
80. Kapitel. Roberval. Torricelli 876
81. Kapitel. Gregorius a Sto. Yincentio. Wallis. Pascal. DeSluse.
Hudde. Van Heuraet 892
IX. Die Zeit von 1200—1300.
Cantoe, Geschichte der Mathem. II.
41. Kapitel.
Leonardo von Pisa und sein Liber Abaci,
Leonardo der Pisaner und Jordanus Nemorarius! Mit diesen
beiden Namen einen neuen Zeitabschnitt in der Geschichte unserer
Wissenschaft ankündigend schloss der L Band. Die gleichen Namen
müssen uns jetzt die Ueberschriften der ersten Kapitel dieses IL Bandes
liefern. Wir beginnen mit Leonardo von Pisa.
Seine Vaterstadt, an der Mündung des Arno gelegen, bildete mit
Genua und Venedig die unter sich feindliche Dreizahl der mäch-
tigsten Handelsstädte Italiens um das Jahr 1200. Mit dieser Bezeich-
nung ist der Kern der politischen Zustände der Appeninenhalbiusel
enthüllt. Innere Zwistigkeiten, grossartige Handelsbeziehungen, das
sind die Brennpunkte mittelalterlichen Staats- und Städtelebens in
Italien. Die Bevölkerung war zusammengewürfelt aus den verschie-
denen Stämmen, welche theils nebeneinander theils nacheinander
die Herren des Landes gewesen waren. Altrömische, griechische,
gothische, longobardische, fränkische Elemente waren in dem Völker-
brei aufgegangen, Hessen aber gleichwohl an einzelnen Orten sich
noch deutlich auseinanderhalten^). Araber waren (Bd. I, S. 664) durch
mehrere Jahrhunderte im Besitze von Sicilien gewesen und nur theil-
weise am Ende des XI. Jahrhunderts durch Normannen verdrängt
worden. Bis in's XII. Jahrhundert hinein reichen die Spuren von
mehr als nur vereinzelten Bekennem des Islams auch auf dem ita-
lienischen Festlande. Weiss doch noch 1114 Donizo, der Verfasser
einer Lebensgeschichte der Gräfin Mathilde von Toscana, von den
vielen Heiden, Türken, Libyern, Parthern und schwarzen Chaldäern
zu erzählen, die in Pisa ihr Wesen trieben^). Stammesgegensätze
mögen demnach vielfach den Grund, wenn nicht den Anlass zu
blutigen Fehden der einzelnen Städte gegeben haben. Verschärft
wurden sie durch politisci^en und kirchlichen Zwiespalt. Wo Päpste
^) Libri, Histoire des sciences mathematiques en Italie I, 15G Note 1. Wir
citiren dieses Werk künftig kurzweg als Libri. ") Monum. German. S. S.
XII, 379.
1*
4 41. Kapitel.
und Gegenpäpste bald mit den Kaisern aus dem Hause der Staufen
in offenem Ki-iege lebten, bald sie krönten, bald mit kaiserlichen
Heeren in Rom einzogen, bald wieder vor diesen Heeren flohen; wo
Städtebünde sich einigten und lösten; wo Verträge, kaum geschlossen,
wieder gebrochen wurden: da hält es schwer zu sagen, was au diesen
Erscheinungen als Folge, was als Ursache zu betrachten sei. So viel
ist übrigens sicher, dass die kriegerische Kraft insbesondere der drei
obengenannten Hafenstädte sich nicht bloss in gegenseitiger Be-
kämpfung in der Heimath aufi-ieb, sondern auch in fruchtbaren Han-
delsunternehmungen sich äusserte. Wir wissen (Bd. I, S. 850 — 851), von
welch bedeutendem Einflüsse die Kreuzzüge auf die Handelsbeziehungen
des italienischen Kaufmannsstandes gewesen sind. Anwohner eines
im Yerhältniss zur Grösse des Landes unmässig langen Küstengebietes,
vieljährige Nachbarn von arabischen Bewohnern Siciliens, mit denen
sie Tauschverkehr zu treiben kaum jemals unterbrochen hatten, waren
Italiens Kaufleute wie von der Natur darauf hingewiesen, den Handel
mit den reichen Gegenden Yorderasiens wie nicht minder des nörd-
lichen Afrikas zu vermitteln, mochten diese Gegenden als Kreuzzugs-
staaten dem christlichen Glauben erworben sein, oder nach wie vor
dem Islam huldigen. Venedig, Genua, Pisa waren, wie oben an-
gedeutet, die drei Städte, welche wetteifernd um den ersten Rang
des Handels und der Colonisation stritten, da und dort, häufig an
gleichem Orte nebeneinander, Ansiedelungen gründend, welche nicht
selten in Streitigkeiten, die zu blutigen Kämpfen führten, ihre Eifer-
sucht bethätigten. Von Pisa's Ansiedelungen müssen wir besonders
eine hervorheben^). Von Bugia als dem westlichsten Punkte bis Sfax
finden wir um das Jahr 1200 pisanische Factoreien, grossartige Waaren-
häuser verbunden mit ganze Stadttheile bildenden Wohnräumen für
die ankommenden Schiffsleute wie für ansässig gewordene Beamte.
Aehnliche Besitzungen der Pisaner sind in Alexandria, ähnliche an
der vorderasiatischen Küste, besonders in Tyrus, ähnliche in Con-
stantinopel vorhanden. Die Absicht bei den von den Herren des
Landes nicht ungern gesehenen Niederlassungen gipfelte darin, dass
die Ersten am Platze sich bestrebten, Zollvergünstigungen bei der Ein-
fuhr und Ausfuhr von Waaren wo möglich für sich allein zu erlangen.
Deren Mitgewährung an andere Handelsstädte z. B. an Genua oder
Venedig nährte und stachelte die aus dem Mutterlande schon mit-
gebrachte Eifersucht. Es handelte sich mithin um ganz wichtige
1) Vergl. W. Heyd, Die mittelalterlichen Handelscolonien der Italiener
in Nordafi-ika von Tripolis bis Marocco in der Zeitschr. f. d. gesammte Staats-
wissensch. XX, 617 — 660 (Tübingen 1864) und desselben Verfassers zweibändiges
Werk: W. Heyd, Geschichte des Levantehandels im Mittelalter (Stuttgart 1879).
Leonardo von Pisa und sein Liber Abaci. 5
Dinge, welche die Beamten, die Zollaufseher und Schreiber einer
solchen Niederlassung, zu besorgen hatten, um die Fürsorge dafür,
dass die zugesicherten Vergünstigungen auch eingehalten wurden, dass
den Kaufleuten aus ihrer Heimath keine höhere Zollgebühr abgefordert
wurde, als sie vertragsmässig zu zahlen verpflichtet waren; es han-
delte sich unter Umständen um den Abschluss neuer Verträge. Die
Stellung der Beamten, mochten sie auch nur Schreiber heissen, ist
demnach keineswegs eine untergeordnete gewesen.
Von einem pisaner Schreiber wissen wir, der am Ende des
XII. Jahrhunderts in Bugia lebte. Seinen Namen kennen wir nicht,
wohl aber einen spöttischen Beinamen, den er führte, Bonaccio
(der Gute), und welcher sich in der Ueberschrift eines von seinem
Sohne Leonardo verfassten Werkes erhalten hat:^) Incipit liber
Abaci Compositus a leonardo filio Bonacij Pisano. In Anno M'^CC^IP.
Er liess diesen Sohn Leonardo aus der Heimath kommen, um ihn
bei einem Rechenmeister unterrichten zu lassen. Er sollte verschie-
dene Tage — per aliquot dies — dem Studium des Abacus widmen.
Er wurde in die Kunst mit Hilfe der neun Zahlzeichen der Inder
eingeführt, fand an der Wissenschaft Vergnügen, lernte auf Handels-
reisen, die er später nach Aegypten, Syrien, Griechenland, Sicilien
und der Provence unternahm. Alles kennen, was an jene Rechnungs-
verfahren sich anschloss. Aber dies AUes, sagt Leonardo, und der
Algorismus und die Bögen des Pictagoras schienen mir nur ebenso-
viele Irrthümer verglichen mit der Methode der Inder-). Er habe
desshalb eben die Methode der Inder enger umfasst, habe Eigenes
hinzugefügt, Manches von den Feinheiten der geometrischen Kunst
des Euclid beigesetzt und so das Werk geschaffen, welches er jetzt
in 15 Abschnitten veröffentliche, damit das Geschlecht der Lateiner
hinfort nicht mehr unwissend in diesen Dingen befunden werde.
In der That scheint das umfangreiche Werk — der vorhandene
Abdruck erfüllt 459 Seiten — den Erfolg gehabt zu haben, welchen
Leonardo sich von ihm versprach. Noch Jahrhunderte hindurch ist
die Nachwirkung dieses merkwürdigen Buches unmittelbar zu erweisen.
Die von Leonardo gebrauchten Beispiele sind von zähester Lebenskraft
und haben, theilweise selbst aus grauester Vergangenheit stammend,
Aveitere Zeiträume durchlebt, als die stolzesten Bauten des Alterthums.
^) Vergl. Seritti di Leonardo Pisano matematico del secolo decimoterzo pub-
hlicati da Bald. Boncompagni (Rom 1857 — 62) I, 1. Wir citiren immer Leon.
Pisano mit nachfolgender Angabe von Band und Seitenzahl. Leonardo's Bil-
dungsgang ist I, 1 Z. 16 V. u. beschrieben. ^) Sed hoc totum et algorismum atqiie
areus pictagore quasi errorem computavi respecttt modi indorum. Leon. Pisano
I, 1 Z. 0 V. u.
6 41. Kapitel.
Uebei* den augenblicklichen Erfolg von Leonardo's liber Abaci
— Abacus werden wir das Buch hinfort nennen — könnte der Um-
stand zweifelhaft machen, dass dem Verfasser so wenig als seinem
Vater ein sjjöttischer Beiname erspart blieb. Bigollo, Tölpel, nennt
sich Leonardo in Ueberschriften ^) mit demselben Gleichmuthe, mit
welchem er sich zu anderen Malen oder auch gleichzeitig Filius
Bonacij nennt, woraus spätere Zusammenziehung den Namen Fi-
fa onaci gebildet hat, unter welchem Leonardo fast am häufigsten
bekannt ist. Muthmasslich waren aber diese Spottnamen doch nur
im Munde der kenntnisslosen Menge entstanden und ebendesshalb
Ton Leonardo selbst in stolzem Gegenspotte angenommen worden.
Ganz anders wurde der Abacus, wurde dessen Verfasser in den Kreisen
der gebildeten Minderheit betrachtet und geachtet. Wir gehen schwer-
lich irre, wenn wir annehmen, dieses Werk sei es gewesen, welches
Leonardo den Zutritt zum kaiserlichen Palaste eröffnete. Jedenfalls
stand Leonardo in Hof kreisen mitten inne, als er die zweite Be-
arbeitung des Abacus veranstaltete, welche allein auf uns gekommen
ist, und von welcher somit eigentlich gilt, was wir bisher angeführt
haben.
Man könnte zunächst das Datum 1202 auf diese zweite Ausgabe
beziehen, an deren Spitze es sich befindet, doch ist die Unmöglich-
keit davon leicht zu erweisen. Die zweite Ausgabe beginnt nämhch
mit einem Widmungsschreiben an Meister Michael aus Schott-
land, in welchem mitgetheilt ist"), es sei schon lange her, dass das
Werk vom Abacus verfasst sei, und inzwischen habe Leonardo auch
eine Schrift über die Praxis der Geometrie verfasst. Von dieser
letzteren haben wir im folgenden Kapitel zu reden und werden sehen,
dass sie von 1220 datirt ist. Jedenfalls nach 1220 muss also auch
die zweite Ausgabe des Abacus gesetzt werden, allerdings „lange
Zeit" nämlich, wie sich zeigen wird, wohl 26 Jahre später als die
erste Ausgabe. Auf ebendenselben Zeitpunkt verweist aber auch die
Persönhchkeit des Meister Michael aus Schottland^). Michael
Scotus, der Hofastrolog Kaiser Friedrich IL, der offenbar gemeint
ist, wurde um 1190 in der schottischen Stadt Balwearie geboren,
konnte also 1202 unmöglich als grosser Gelehrter, summe philosophe.
*) Leon. Pisano II, 227: Incipit flos Leonardi hUjolli pisani und nach
Libri 11, 21 Note heisst es in einem Pariser Codex eines anderen Werkes
Leonardo's: Incipit pratica geometrie composita a leonardo Bigollosio fillio Bo-
nacij pisano. ^) Scri2)sistis mihi domine mi magister Michael Scotte, summe
pihilosophe, ut librum de nurnero, quemdudum composui, vohis transscriberem . . .
Verum in alio libro, quem de practica Geometrie composui ... ^) Nouvelle
Biographie universelle XXXV, 363 (Paris 1861).
Leonardo von Pisa und sein Liber Abaci. 7
in einem Widmungsschreiben angeredet werden. Er bereiste nach
einem Studienaufenthalte in Paris auch noch Spanien, wo er 1217
in Toledo verweilte und mit Astronomie sich beschäftigte. Erst
nach dieser Zeit kam er zu Kaiser Friedrich und mit diesem nach
Italien. Es ist mindestens als wahrscheinlich, wenn nicht als gewiss
zu betrachten, dass Michael Scotus einer der Gelehrten war, die
Friedrich IL damit betraute, in Bologna Uebersetzungen aus dem
Arabischen nach neu aufgefundenen griechischen Urtexten zu ver-
bessern. So entstanden gereinigtere lateinische Ausgaben einiger
aristotelischer Schriften, so eine Ausgabe des Almagest, welche im
Laufe der Jahrhunderte in die Wolfenbüttler Bibliothek gelangte^).
Der Tod des Kaisers im December 1250 gab den Anlass zur Ent-
fernung seines Astrologen, der nun nach England an den Hof
Eduard I. übersiedelte. Somit ist die Entstehungszeit der zweiten
Ausgabe von Leonardo's Abacus innerhalb der Grenzjahre 1220 und
1250 zu suchen und es ist kein Grund vorhanden, an der Richtigkeit
einer Notiz zu zweifeln^), welche die zweite Ausgabe in bestimmter
Weise an das Jahr 1228 knüpft.
Die 15 Abschnitte, in welche das Werk zerfällt, führen folgende
Ueberschriften ^) :
1. Von der Kenntniss der neun Zahlzeichen der Inder und wie
mittels derselben jede Zahl anzuschreiben sei; femer welche Zahlen
und wie sie durch die Hände behalten werden können, sowie die
Einführungen des Abacus (pag. 2 — 6).
2. Vom Vervielfachen ganzer Zahlen (pag. 7 — 18).
3. Vom Zusammenzählen ganzer Zahlen (p. 18 — 22).
4. Von dem Abziehen kleinerer Zahlen von grösseren (pag. 22 — 23).
5. Von dem Theilen ganzer Zahlen (pag. 23 — 47).
6. Vom Vervielfachen ganzer Zahlen mit Brüchen (pag. 47 — 63).
7. Vom Zusammenzählen, Abziehen und Theilen der Zahlen
^) Monatl. Correspond. z. Beförderung der Erd- und Himmelskunde, heraus-
gegeben von F. V. Zach XXVII, 192—193 (Gotha 1813). ^ Libri II, 24 Note 2:
Incipit liber Abaci a Leonardo filio Bonacci compositus anno 1202 et correetus
ab eodem anno 1228. Die gleichen Worte wurden von L. Gegenbauer, auf
dessen briefliche Mittheilung ich mich stütze, in folgenden drei Handschriften
des Xni. S. gefunden: a. Codex der Ambrosianischen Bibliothek in Mailand mit
der Signatur J 92 p. sup. b. Codex der Bibliotheca pubblica in Siena mit der
Signatur L. IV. 20. c. Codex der Vaticanischen Bibliothek in Rom mit der
Signatur Palat. 1343. Die zuerst genannte Handschrift a. scheint sich durch
zahlreiche Noten und Randglossen auszuzeichnen. ^) Die Titel sind als
Schluss der Einleitung I, 2 der Druckausgabe vereinigt, stehen dann aber auch
als besondere Ueberschi'iften am Anfange der einzelnen Abschnitte.
8 -il. Kapitel.
mit Brüchen und von der Zerlegung vielfacher Theile in einzelne
(pag. 63—83).
8. Von der Auffindung der Preise der Waaren nach der längeren
Weise (pag. 83—118).
9. Von dem Umtausche der Waaren und ähnlichen Dingen
(pag. 118—135).
10. Von der Genossenschaft unter Gresellschaftern (pag. 135—143).
11. Von der Mischung der Münzen (pag. 143 — 166).
12. Von den Auflösungen vieler Aufgaben, die wir als mannig-
fache ^) bezeichnen (pag- 166 — 318).
13. Von der Regel Elchatayn und wie durch dieselbe fast alle
mannigfache Aufgaben des Abacus gelöst werden (pag. 318 — 352).
14. Von der Auffindung der Quadrat- und Kubikwurzeln und
von deren gegenseitiger Vervielfachung, Theilung und Abziehung,
sowie von der Behandlung der mit ganzen Zahlen verbundenen Wurzel-
grössen ^) und ihren Wurzeln (pag. 352 — 387).
15. Von den Regeln, die zur Geometrie gehören und von den
Aufgaben der Aljebra und Almuchabala (pag. 387 — 450).
Es wird nun nothwendig sein, den Inhalt der einzelnen Abschnitte
übersichtlich zu besprechen und Einzelheiten hervorzuheben, soweit
dieselben wichtig erscheinen.
Im ersten Abschnitte sind die als von den Indern herrührend
erklärten, aber nach arabischem Vorbilde von der rechtsstehenden 1
nach der zu äusserst links befindlichen 9 geordneten Zahlzeichen,
sowie die Null, welche von den Ai-abern sepliirum genannt worden
sei, abgebildet. Beim Zahlenschreiben soll man die Hunderter, Hun-
derttauseuder, Hundertmillionen u. s. w. oben, die Tausender, Millio-
nen, Tausendmillionen u. s. w. unten accentuiren. Das Darstellen
der Zahlen mittels Fiugerbeugungen beginnt an der linken Hand,
um sich an der rechten foiizusetzen. Die Gelenke der Finger spielen
bei solchen Beugungen eine Rolle. Einmal ist das Daumengeleuk
als nodns bezeichnet^), während das Wort articulus nicht vorkommt.
Die Einführungen, introductiones in ac ditione et multiplichatione
numerorum^), sind nichts Anderes als eine Einsundeins- und eine
Einmaleinstabelle.
Der zweite Abschnitt lehrt auf einer weissen Tafel, auf
') erraticus = umherschweifend oder zerstreut heissen diese Aufgaben in
der Zusammenstellung auf I, 2. Am Anfange des 12. Abschnittes selbst I, IGG
steht dagegen Capituluni duodecimum de quaestionibus abbaci. -) De tractatu
binomiorum et recisoriim. *) Leon. Pisano I, 5 Z. 14. Das gleiche Wort
nodns ist auch I, 305 mehrfach benutzt, wo von einem an einem Fingergelenke
befindlichen Ringe die Rede ist. ■*) Ebenda pag. 6.
Leonardo von Pisa und sein Liber Abaci. 9
welcher die Zeichen leicht weggewischt werden können^), diejenige
Multiplication ausführen, welche die Inder (Bd. I, S. 571) unter dem
Namen der hJitzhüdenden übten, und geht dabei so weit, zwei achtziffrige
Zahlen mit einander vervielfachen zu lassen. Zur Prüfung des Er-
gebnisses dient die vorher bewiesene Neunerprobe ^). Das Product
heisst regelmässig summa nndtiplicationis'^).
Der dritte Abschnitt wendet die Addition auf die schachbrett-
artige Multiplication (Bd. I, S. 571) an. Die Neunerprobe wird
neuerdings und zwar mittels durch Buchstaben angedeuteter aber
nicht gezeichneter Linien bewiesen^). Wir lassen die nur an wenigen
Stellen wegen vom Sinne gebotener kleiner Aenderungen nicht ganz
wortgetreue Uebersetzung des Beweises folgen: „Um zu zeigen, wo-
her diese Probe stammt, seien zwei Zahlen .a.b.^) und .b.g. ge-
geben, welche wir addiren wollen, und es sei also .a.g. die aus
ihnen vereinigte Zahl. Nun sage ich, dass aus der Vereinigung des
Gewichtes (jmnsa) der Zahl .a.b . mit dem Gewichte der Zahl .b.g .
das Gewicht von .a.g. entsteht. Erstlieh sei jede der Zahlen .a.b .
und .b.g. durch 9 theilbar, 9 also Gemeintheiler von .a.b. und .b.g.
Folglich ist auch die vereinigte Zahl .a.g. durch 9 theilbar, und
Null ist ihr Gewicht, wie es aus der Addition der Probezahlen {probe)
oder aus der Prüfung der Zahlen .a.b. und .b.g. erhalten wird.
Ferner sei eine der beiden Zahlen durch 9 theilbar, die andere nicht,
und es sei die Zahl .a.b., die durch 9 theilbar ist, und bei der
Theilung von .b.g. durch 9 bleibe .d.g. übrig. Die Zahlen .d.b.
und .b.a. sind demnach durch 9 theilbar und ebenso auch ihre
Summe .d.a. Weil nun die Zahl .a.g. über .a.d. um .g.d. über-
schiesst und .a.d. durch 9 theilbar ist, so bleibt aus der ganzen
.a.g. die durch 9 untheilbare .d.g. übrig, welche aus der Addition
der Probezahl von .a.b. — nämlich Null — mit der Probezahl von
■ b.g. — nämlich .d.g. — entsteht. Endlich sei keine der Zahlen
.a.b. und .b.g. durch 9 theilbar, vielmehr bleiben aus .a.b. die
^) Leon. Pisa no I, 7: in tabula dedlhata in qua littere leviter cleleantur.
*) Ebendu pag. 8. ^) Ebenda jiag. 12 und häufiger. *) Ebenda pag. 20
Z. 9 — 28. ^) Man beachte die regehnässig wiederkehrende Anwendung von
di-ei Pünktchen vor, zwischen und hinter den die Strecke bezeichnenden Buch-
staben, sowie auch die dem arabischen oder dem griechischen Alphabete nach-
gebildete Buchstabenfolge. Jene vielen Pimkte finden sich überall in mittel-
alterlichen Handschriften und stammen daher, dass sonst die Zahl .a.b. von
dem Worte ab nicht zu unterscheiden gewesen wäre. Wir verdanken diese
Bemerkung wie zahlreiche andere den brieflichen Mittheilungen von Max
Curtze. Wir berufen uns künftig auf diese -Mittheilungen mit den Worten:
Curtze brieflich. Der Bequemlichkeit wegen lassen wir die Pünktchen, ausser
an dieser Stelle, künftig überall w.eg.
10 41 Kapitel.
.a.e. und aus .h.g. die .d.g. übrig. Die Restzahlen, d. h. .e.h.
und .h.d. sind durch 9 theilbar, und theilbar ist auch die ganze
.e.d. als aus irgend einer Menge von Neunern zusammengesetzt.
Es bleiben also aus der ganzen Zahl .a.<j. die untheilbaren Zahlen
.a.e. und .d.g. übrig, welche eben die Probezahlen von .a.h. und
.l).g. waren, und aus deren Vereinigung das Gewicht der Zahl .a.g.
entsteht, wie zu zeigen war." Zum Schlüsse des Abschnittes erscheint
die Addition benannter Zahlen.
Der vierte Abschnitt handelt kurz von dem Abziehen, welches
immer extrahere heisst. Ein Wort wie subtrahere kommt nicht vor.
Ist eine Ziffer des Subtrahendus von höherem Werthe als die ent-
sprechende Ziffer des Minuendus, so wird, ähnlich wie bei einigen
aus indischen und arabischen Quellen schöpfenden anderen Schrift-
stellern (Bd. I, S. 570 und 763), zu dem Minuendus eine X des be-
treffenden Ranges geborgt, welche dann auch dem Subtrahenden als
Einheit der nächsthöheren Ordnung zugesetzt wird.
Der fünfte Abschnitt geht zur Division über. Wiewohl
eigentlich nur von der Division ganzer Zahlen in diesem Abschnitte
die Rede sein soll, ist doch das Schreiben von Brüchen, und zwar
ganz nach arabischem Muster gelehrt. Arabisch ist das Auftreten
der Brüche links von den ganzen Zahlen, z.B. y 182 für unser 182 y,
während allerdings die ganzen Zahlen dennoch vor den Brüchen aus-
gesprochen werden^). Arabisch sind (Bd. I, S. 764 — 765) die auf-
15 7
steigenden Kettenbrüche ^) z. B. - — ^-^ in der Bedeutung von
(- -T-r^ -\ ^ — r- Der Quotient einer Division heisst summa
divisionis ^). Unter differentia ist , wie bei Johannes von Sevilla
(Bd. I, S. 753) die Rangordnung einer Ziffer verstanden^). Prim-
zahlen, welche Leonardo numeros sine regulis nennt, sollen bei den
Griechen coris canon, bei den Arabern Jtasam heissen ^). Ganz richtig
ist diese sprachliche Doppelbemerkung nicht. Das Wort xcoQig,
ausgesondert, wird zwar von Nikomachos gebraucht, aber nicht für
Primzahl, und das arabische asamm, stumm, bedeutet wieder keine
Primzahl, sondern eine Zahl, welche gegen die neun ersten Zahlen
theilerfremd und keine Quadratzahl ist^). Eine kleine Randtabelle'')
^) Leon. Pisano I, 27: Nam rupti vel fracti semper ponendi sunt piost
integra, quamvis prius integra quam rupti pronuntiari deheant. *) Ebenda
pag. 24. ^) Ebenda pag. 27. *) Ebenda pag. 31, Z. 24: secundum differentinm
ipsorum. ") Ebenda pag. 30. ^) Kafi fil Hisäb des Alkarkhi (ed. Hochheim)
S. 11, Anmerkung 4 und Beha-eddin (ed. Nesselmann) S. 4. ') Leon. Pisano
I, 31.
Leonardo von Pisa und sein Liber Abaci. 11
enthält die 21 Primzahlen von 11 bis 97, während auch die Factoren-
zerlegung der zusammengesetzten Zahlen von 12 bis 100 in einer
Tabelle^) zu finden ist. Die Zerlegung höherer Zahlen in Factoren
wird gleichfalls gelehrt, wobei auf die Merkmale der Theilbarkeit
durch 2, durch 5, durch 9, beziehungsweise durch 3 aus der End-
ziffer und dem Gewichte der Zahl Bezug genommen ist. Theilbarkeit
durch 1, 11, 13 u. s. w. wird durch Probiren untersucht, welches fort-
zusetzen ist, bis man zu der Quadratwurzel der betreffenden Zahl
gelangt^). Als Sicherung der richtigen Zerlegung wird die Siebener-
probe empfohlen, welche neben der Elferprobe ^) und neben der am
häufigsten zur Verwendung kommenden Neunerprobe dem nicht un-
bekannt sein konnte, welcher an der Nordküste Afrikas das Rechnen
erlernt hatte (Bd. I, S. 759). Dem eigentlichen Dividiren ist ver-
hältnissmässig geringe Aufmerksamkeit gewidmet. Die Theilung wird
meist durch die einzelnen Factoren des Divisors nach einander voll-
zogen, wodurch die Annehmlichkeit sich ergiebt, dass der gebrochene
Theil des Quotienten sofort in der beliebten Gestalt eines aufsteigenden
Kettenbruches erhalten wird. Beim Anschreiben der Divisionsbeispiele
wird der Divisor unter den Dividend gesetzt, und unter den Divisor
wieder der Quotient, so dass die Einer dieser drei Zahlen sich unter-
einander befinden. Die Hilfszahlen der bei dem allmäligen Abziehen
der Theilproducte des Divisors in dem Quotienten vom Dividenden
verbleibenden Reste kommen über den Dividenden zu stehen.
Der sechste Abschnitt lehrt gemischte Zahlen mit einander
zu vervielfachen. Sie werden zu Brüchen eingerichtet; deren Zähler
werden sodann mit einander vervielfacht, und hierauf folgt die Theilung
durch die einzelnen Nenner, welche nacheinander vollzogen wird, wie
man es im vorigen Abschnitte bei der Division durch einen aus
mehreren Factoren zusammengesetzten Divisor machte. Auch hier
wird nicht versäumt, abseits von der eigentlichen Aufgabe auf manche
Dinge hinzuweisen. Bei gemeintheiligen Zahlen, numeri communicantes,
wird die Aufsuchung des grössten Gemeintheilers nach Euklid, wie
ausdrücklich hervorgehoben ist^), gelehrt. Andererseits ist auch von
dem kleinsten Gemeinvielfachen gegebener Zahlen die Rede^). Das-
selbe dient zur Vereinigung von Brüchen, welche nicht mit in Einem
laufenden Bruchstrichen, vielmehr cum separatis virgulis^), gesondert
von einander auftreten, wie z.B. — — — sich zu — vereinigen. Bruch-
brüche von der Art, wie die Araber (Bd. I, S. 765) sie gebrauchten.
1) Leon. Pisano I, 37. ') Ebenda pag. 38. '') Ebenda pag. 39 die Siebe-
nei-probe und pag. 45 die Elferprobe. ■*) Ebenda pag. 51 Z.4 v. u.: ut in Eudicle
apertis demonstrationibus declaratur. ^) Ebenda pag. 57. ") Ebenda pag. 52 Z.ll v. u.
12 41. Kapitel.
sind gleichfalls vorhanden^) und zwar von doppelter Gattung. Unter
0 „~w^.7. 22 wird verstanden 22 nebst dem Producte aus -^ in —
9 2 5 4
in —j während dagegen ——- 0 11 die viel zusammengesetztere Be-
deutung hat 11 + ir"f"'Q"""cr"f""S"'"Q""ir" Eine in diesem Ab-
schnitte enthaltene kleine Tabelle^) lehrt die Addition von Brüchen
mit den Nennern 2, 3, 4, 5, 6, 8, 9, 10.
Der siebente Abschnitt setzt die Rechnung mit aus ganzen
Zahlen und Brüchen gemischten Zahlen fort. Der Grundgedanke der
an mannigfaltigen Beispielen geübten Methoden besteht darin, dass
zu Anfang die Zahlen, mit denen gerechnet werden soll, zu gleich-
namigen Brüchen erweitert werden, sodass die Addition und Sub-
traction, aber auch die Division wesentlich nur mittels der Zähler
zu vollziehen bleibt. Ein Beispiel der Division ist^)
/kcjq 1 7\ /ir-l 2\ 47149 1581 47149
V'^'^Tö'öJ'-V^'gT) 90~ • ^90" — ÜSl '
Der letzte Theil dieses Abschnittes, der der Aufgabe gegebene
Brüche in eine Summe von Stammbrüchen zu zerlegen"^)
gewidmet ist, hat für den Geschichtsforscher eine grosse Bedeutung.
Solcher Zerlegungen bedienten sich bereits die Aegypter (Bd. I,
S. 25 ^gg-)- Alle unmittelbaren wie mittelbaren Schüler derselben
folgten ihrem Beispiele. Eine Andeutung darüber, wie jene Zer-
legung zu erhalten sei, ist kaum jemals vorhanden. Leonardo ist
von den uns bekannt gewordenen Schriftstellern der erste, er ist auch
der Einzige, der die Zerlegung selbst als Aufgabe behandelt und sich
nicht damit begnügt, nur von der gleichviel wie ausgeführten Zer-
legung Gebrauch zu machen. Ist Leonardo hier einziger Original-
schriftsteller, oder müssen wir sagen, er sei für uns der Einzige, der
theilweise oder ganz und gar Uraltes uns aufbewahrt hat? Volle
Gewissheit ist für keinen der beiden Wechselfälle zu beanspruchen,
doch scheint die Annahme von der hier vorhandenen Erhaltung-
älteren Stoffes aus mehr als nur einem Grunde gerechtfertigt. Ge-
rechtfertigt ist sie dadurch, dass Leonardi vielfach auch anderA\^ärts
nachweislich alte Stoffe behandelt hat, ohne gerade immer seine
Quellen zu nennen, gerechtfertigt ferner dadurch, dass Leonardo sich
nicht auf ein Verfahren beschränkt, sondern mehrfache Regeln giebt,
während die Unterscheidung von Einzelfällen recht eigentlich als
Kennzeichen alterthümlichen Ursprunges gelten darf. Eine Tabelle^)
^) Leon. Pisano I, pag. 61. *) Ebenda pag. 54—55. ^ Ebenda pag. 75.
*) Ebenda pag. 77—83. ^) Ebenda pag. 79.
Leonardo von Pisa und sein Liber Abaci. 13
enthält die Zerlegung derjenigen Brüche, deren Nenner G, 8, 12, 20,
24, ()0, 100 heissen. Regeln, welche sodann folgen, lassen aus ihrem
Wortlaute leicht in Formeln sich umsetzen, welche dem heutigen
Auge übersichtlicher so lauten:
-^ = -+ '
na — 1 « '
n{na — 1)
« + 1 _ 1 4- - + 1
na — 1 na — 1 ' « ' 7i{na — 1)
2a-]-3 1 1 1
{2n-\- 1) (2a + l) — 1 ~ 2n-\-l ' (2n+l)a+« '^ (2n+l)[(2w+l)(2«-|-l)— 1] '
Eine weitere Regel 7a\y Zerlegung von -y- ist folgende: Es sei
/y > ff und zwar ma < /> < (;« + l)a, so ist — > -^ > , • Mit-
hin kann als Anfang der Zerlegung -r- ^ — -j— -\ — jt^x^vT^ gesetzt
werden, und die Zerlegung des Restgliedes erfolgt durch, wenn es
sein muss, wiederholte Anwendung der Regel. Es ist leicht ersichtlich,
dass diese Regel ebenso wie die erste unserer Gleichungsformeln zu
2 1 1
der ägyptischen Formel -^ = -| --—- — (|; ungrad gedacht) ver-
2 2 '^
helfen konnte. Eine letzte Zerlegungsmethode von -j-, praktisch viel-
leicht die beste, besteht darin, dass man innerhalb der Grenzen — -
und 2h eine Zahl c sucht, welche recht viele Divisoren besitze. Als
Beispiele solcher vortheilhaft zu wählenden Zahlen nennt Leonardo
12, 24, 36, 48, 60. Mit diesem c wird zunächst der Bruch -,- erwei-
tert ZU -^. Weil a ^ 2, c > ,7, muss ac^h sein. Bei der Kür-
zung der neuen Bruchform in — '— erscheint also im Zähler jeden-
fi p n (* (j ß
falls ein ganzzahliger Theil e^ 1 d. h. es wird -=- == 1 — — ^ , wo
— vermöge der genannten Eigenschaft des eigens desshalb gewählten c
und unter Anwendung der früheren Zerlegungstabelle sich leicht als
Summe von Stammbrüchen darstellt und das Gleiche meist auch für
ac — he .,,
Im achten Abschnitte wird der einfache Dreisatz gelehrt.
Gegeben ist der Preis der Waare mit Hilfe von zwei Zahlen, deren
erste eine feste Menge der Waare, die zweite den im Allgemeinen
wechselnden Geldwerth dieser Menge nennt. Die beiden Zahlen
werden an das obere Ende der Tafel geschrieben, und zwar die erste
14 41. Kapitel.
Zahl rechts, die zweite links. Ferner ist jedesmal noch eine dritte
Zahl gegeben, welche aber verschiedener Natur sein kann, entweder
eine Waarenmenge oder eine Geldsumme. Diese dritte Zahl wird
unter die ihr gleichnamige der beiden ersten geschrieben. Die ge-
suchte vierte Zahl mit der Bedeutung der für die bekannte Waaren-
menge zu erlegenden Geldsumme, oder der für die bekannte Geld-
summe zu beziehenden Waarenmenge wird gefunden, indem die dritte
Zahl mit der ihr schräg gegenüberstehenden oberen Zahl, mit welcher
sie durch eine geneigte Gerade in Verbindung gesetzt ist, multiplicirt
und das Product durch die andere obere Zahl dividii-t wird. Heisst
es z. B. 100 Rotuli (ein pisaner Gewicht) kosten 40 Lire, was kosten
5 Rotuli? so sieht der Ansatz folgendermassen aus:
40 L. 100 R.
\5R.
Fragt man dagegen unter denselben Vorbedingungen nach der An-
zahl der für 2 Lire zu erwerbenden Rotuli, so muss man ansetzen:
40 L. 100 R.
2L./
und das Ergebniss ist = 2 L., beziehungsweise — ^^=5R.
Warum diese Art von Rechnungen, welche an zahlreichen Beispielen
mit verschiedenartigen Gewichtsmengen, Längen, Geldsorten u. s. w.
gelehrt wird, den Namen des Verfahrens nach der längeren oder
grösseren Weise, ad majorem guisam führt, ist im Texte nirgend au-
gegebep. Die ziemlich nahe liegende Vermuthung, es sei damit ge-
meint, dass der grösseren Fragezahl immer die grössere Autwort
entspreche, es sei also die directe Proportion gemeint, ist kaum
zulässig, weil sonst im nächsten Abschnitte, wo indirecte Proportionen
vorkommen, irgend ein Hinweis auf jene hier nicht mehr zutreifende
Benennung, vielleicht ad minorem guisam, zu erwarten wäre. Nun ist
allerdings letzterer Ausdruck an sich Leonardo nicht fremd. Im
11. Abschnitte^) wird ein Buch minoris guise erwähnt, welches Leo-
nardo geschrieben haben will, aber von einer indirecten Proportion
scheint darin nicht die Rede gewesen zu sein. Somit ist eine andere
Deutung beider einander gegenüberstehender Ausdrücke nothwendig,
und vielleicht gehen wir, wie im 102. Kapitel begründet werden wird.
^) Leon. Pisano I, 154 Z. 1: Est enim alius modus consolandi quem in
lihro minoris guise docuimus.
Leonardo von Pisa und sein Liber Abaci. 15
uicbt irre, wenn wir als das längere Verfahren die gewöhnliche
Bruchrechnung erklären, als das kürzere diejenige Bruchrechnung,
welche einen Bruch als Summe von Stammbrüchen in die Rechnung
einbezieht.
Auch im neunten Abschnitte kommt ein eigenthümlicher
Kunstausdruck vor. Es handelt sich um den Tausch von Waaren
unter einander gemäss gegebener Preise. Es sollen z. B. 20 Ellen
Tuch 3 pisaner Lire kosten und 42 Rotuli Baumwolle 5 Lire; wie
viele Rotuli Baumwolle kann man um 50 Ellen Tuch erhalten? Da
sollen nun die fünf gegebenen Zahlen in folgender Weise angeschrieben
werden: In einer ersten Zeile kommen von rechts nach links 20 Ellen
nebst ihrem Preise 3 Lire zu stehen; unter den Lire die entsprechende
zweite Preisangabe 5 Lire und links davon die dafür zu erhaltende
Waarenmenge von 42 Rotuli ; endlich setzt man die zu vertauschenden
50 Ellen unter die frühere Ellenzahl 20. Wenn, heisst es nun^), die
fünf Zahlen angeschrieben sind, so vervielfacht man die links allein
in der unteren Reihe stehende Zahl mit der ihr nach rechts oben,
dann mit der dieser nach rechts unten gegenüberstehenden Zahl.
(Die Multiplication wird dabei durch Verbindungsstriche geleitet.)
Das Product wird durch die beiden anderen Zahlen dividirt, um die
gesuchte Zahl zu erhalten. Das Beispiel sieht also föigendermassen aus:
3 Lire 20 Ellen
42 Rotuli 5 Lire 50 EUen
und die Rechnung lautet ^ /* = 63. Die Verbindungsstriche
zwischen den miteinander zu vervielfachenden Zahlen lassen das Bild
einer Kette entstehen und erinnern so an den von diesem Bilde seinen
Namen entlehnenden Kettensatz^), welcher in Lehrbüchern des
kaufmännischen Rechnens eine bevorzugte Stellung einzunehmen pflegt.
Der Name, welchen der Satz bei Leonardo führt, hat durch eigen-
thümlichen Zufall einen mit dem Worte „Kette" ähnlichen Klang. Es
sei, sagt unser Schriftsteller^), die figura cata — an anderer Stelle
1) Leon. Pisano I, 118: Et descriptis itaque ipsis quinque numeris tunc
ultimum eorum per numerum pretii oppositum muUipUca, et quot itide provenerit
in alium numerum eidem jyretio oppositum ducere studeas, quorum numerorum
summam per reliquos duos numeros divide, et hahebis optatum. *) Klügel,
Mathematisches Wörterbuch m, 91—98 (Ketteni-egel) und V, 728—766 insbe-
sondere Nr. 45, S. 747 (Verhältniss). ^) Leon. Pisano I, 119: Est enim hec
talis propositio proportionum ex que ostenditur in figura cata, scilicet sectoris per
quam Tholomeus docuit in almagesti reperire demonstrationem circulomm a cir-
16 41. Kapitel.
erscheint die Sclireibform cliata^) — deren Ptolemäus im Almagest
und Ahmed, der Sohn, in dem Buche über die Verhältnisse sich be-
diente, wo er 18 Combinationen behandelte; Ptolemäus habe des
Schnittes (sectoris) sich bedient, um vom i'echten Winkel aus für
alle Winkel Beweise zu finden. Diese schwierige Stelle bedarf einiorer
Erläuterungen. Ahmed, der Sohn^), ist unzweifelhaft Ahmed, Sohn
des Jusuf, der am Anfang des X. Jahrhunderts als Schriftsteller auf
mathematischem und astronomischem Gebiete thätig war. Was dessen
18 Combinationen waren, werden wir gleich sehen. Die Anführung
des ptolemäischen Almagestes weist auf die dort vielfach in Anwen-
dung tretende Regel von den 6 Grössen (Bd. I, S. 386 und 392), die
zwei Grössen im zusammengesetzten Verhältnisse von zwei Paar an-
deren Grössen stehen lässt. Sie stammt aus dem Satze des Menelaos,
bei welchem die drei Seiten eines Dreiecks durch eine Transversale
geschnitten werden, so dass sechs Abschnitte der Seiten entstehen.
Mittels jenes Satzes hat Ptolemäus das rechtwinklige Dreieck und
von ihm aus die übrigen Dreiecke behandelt. Die Schneidende, sector,
heisst aber in arabischer Uebersetzung des Wortes al-kattä. So hiess
desshalb bei den Arabern der Satz des Menelaos selbst, und mit dem
arabischen Namen wiederum stimmt die figura cata überein ^), welche
den Wortlaut getreu wiedergiebt. Leonardo giebt mehrfache Auf-
gaben, bei welchen ein Fünfsatz, d. h. die Anwendung von fünf ge-
gebenen Zahlen zur Auffindung der sechsten unbekannten Zahl,
vorkommt. Darunter sind auch Aufgaben mit sogenannten indirecten
Verhältnissen. Da heisst eine Aufgabe die von den Pferden, welche
in gegebenen Tagen Gerste fressen*), und verlaugt zu wissen, wie
viele Tage 10 Pferde mit 16 Sechstem Gerste gefuttert werden können,
wenn 5 Pferde in 0 Tagen 6 Sechster fressen. Der Ansatz findet
hier in der Form statt:
9 Tage 6 Gerste 5 Pferde
16 Gerste 10 Pferde
die Ausrechnung nach der aus den Verbindungsstrichen abzulesenden
eulo recto, et multa alia; et Ametus filius ponat clecem et octo combinationes ex
ea in libro, quem de propoHionihus composuit. ^) Leon. Pisano I, 132
Z. 23: figura chata. *) Steinschneider, lusuf ben Ibrahim und Ahmed ben
lusuf in Eneström's Biblioth. mathem. 1888 pag. 49 — 52 und 111 — 117. '•') Die
richtige Erklärung von figura cata gab , - wenn auch ohne auf den wörtUcheh
Sinn des Ausdruckes hinzuweisen, schon Costard im XVIU. Jahrhundert. Vei-gl.
Zeitschr. Math. Phys. XXX, Hist. - literar. Abthlg. 127. ") Leon. Pisano I,
132—135.
Leonardo von Pisa und sein Liber Abaci. 17
9 • 16 • 5
Vorschrift „ .. ^12. Ausser an den bestimmten Zahlen führt
b • 10
Leonardo die Aufgabe auch an einfachen Buchstaben durch ^), indem
er die beiden Behauptungen einander zuordnet: a Pferde fressen h
Gerste in c Tagen, ä Pferde fressen e Gerste in f Tagen, alsdann ist
ein erstes Product .a.e.c. einem zweiten Pro ducte .d.h. f. gleich-) oder
mit anderen Worten: jede Zahl des ersten Productes steht zu irgend
einer Zahl des zweiten Productes in einem aus zwei Verhältnissen
zusammea gesetzten Verhältnisse. Beispielsweise ist
e : f= db : ac.
Leonardo schreibt allerdings diese Proportion nicht in Zeichen an,
aber er kleidet sie in nicht misszu verstehen de Worte: die Zusammen-
setzung (compositio) des Verhältnisses einer ersten Zahl e zu einer
zweiten Zahl /' sei gebildet aus den vier übrigen Zahlen, von welchen
dh erstes Glied (antecedentes), ac zweites Glied (consequentes) seien,
und zwar könne die Zusammensetzung dh : ac eine doppelte sein,
gebildet aus d : a und h : c oder aus d : c und h : a. Da nun e als
erstes Glied nicht blos /", sondern auch d oder h als zweites haben
könne und dann wieder je zwei Auffassungen des zusammengesetzten
Verhältnisses sich ergeben, so seien im Ganzen 3-2 = 6 Proportionen
vorhanden, welche mit e anfangen. Ebensoviele können mit a, eben-
soviele mit c beginnen. Es erscheinen also 3 • 6 = 18 Combinationen.
Es kann kein Zweifel obwalten, dass dieses dieselben 18 Combinationen
sind, welche Ahmed kennen lehrte^), sowie auch die hier deutlich
ausgesprochene Zusammensetzung der Verhältnisse zur Bestätigung
dient, dass die regula cata wirklich von der regula sex quantitatum
abstammt, wozu eine weitere Bestätigung in einer anderen Schrift
Leonardo's sich finden wird. Wir sagen mit vollbewusster Betonung
des Ausdruckes, die regula cata stamme von der regula sex quanti-
tatum ab und nicht sie sei mit dieser ein und dasselbe, weil die
regula cata beim Fünfsatze nicht stehen geblieben ist. Folgende Auf-
gabe Leonardo's bringt nicht weniger als neun Angaben in Rechnung^) :
Imperiale 12 valent pisaninos 31 et soldus Januinorum valet pisaninos
23 et soldus turnensium valet Januinos 13 et soldus Barcellonensium
valet turnenses 11; quaeritur de imperialibus 15 quot barcellonenses
valeant. D. h. 12 Imperialen = 31 Pisaniner, 12 Januiner = 23
Pisaniner, 12 Turnenser = 13 Januiner, 12 Barcellonenser = 11 Tur-
^) Leon. Pisano I, 132 Z. 23 bis pag. 133 Z. 7 v. u. ^) sit numerus
.a.e.c. quaedam coniunctio quae vocetur prima, numeri vero .d.h. f. sit coniunctio
secunda. ^) Cantor, Ahmed und sein Buch über die Proportionen in Ene-
ström's Biblioth. mathem. 1888 pag. 7—9. *) Leon. Pisano I, 126 Z. 2 v. u.
bis 127 Z. 8 v. u.
Caktob, Geschichte der Jlathem. II. 2. Aufl. 2
18 41. Kapitel.
nenser; wie viele Barcellonenser betragen 15 Imperialen? Man könne,
sagt Leonardo, die Rechnung in vulgärer Art (secundum vulgarem
3
modum) allmälig vollziehen. Die 15 Imperialen betragen 38-^ Pi-
5 . . .
saniner; diese betragen 20— Januiner; diese wiederum werden zu
18^-- Turnensern; diese endlich gelten so viel wie 20-r^ Barcel-
lonenser. Nach der Kunst aber (sed secundum artem) verfertige man
folgenden einzigen Ansatz:
Barcellon.
Turn. Januin.
Pisan
Imper.
12 13
31
12
/
X \
12
11 12
23
15
Barcellon.
Turn. Januiu.
Pisan.
Imper.
dessen Entstehung so zu denken ist. Man beginnt mit Anschreibung
der Benennungen in der Reihenfolge, wie die Aufgabe sie mit sich
bringt. Man schreibt dann abwechselnd in die obere und untere
Zeile zu den schon vorgezeichneten Benennungen die gegebenen
Münzvergleichungen: 12 Imper. =^ 31 Pisan., 23 Pisan. = 12 Januin.,
13 Januin. = 12 Tum., 11 Turn. = 12 Barcellon. Endlich füllt
man mit der Fragezahl 15 Imper. die rechts unten leergebliebene
Stelle aus und beginnt von ihr die im Zickzack auf und ab ver-
laufenden Multiplicationsstriche. Das Product der so verbundenen Zahlen
15 -31 -12 -12 -12 ist durch das Product 12 -23 -13 -11 der übrigen
Zahlen zu dividiren. Die Rechnung giebt dann, wie vorher, 20^—
oder nach Leonardo's Schreibweise mit links an die ganze Zahl sich an-
8 +
+n
3 3 8 1.3
fügendem aufsteigenden Kettenbruche 20 d. h. 20 -| — -^
Der zehnte Abschnitt lehrt Gesellschaftsrechnungen ein-
fachster Ai-t in der von Alters her bekannten Weise durchführen.
Die Einlage sämmtlicher Gesellschafter wird addirt, und ihre Summe
muss zu einer Einzeleinlage in dem gleichen Verhältnisse stehen,
wie der Gesammtgewinn zu dem Gewinne des Einzelnen.
Der elfte Abschnitt von der Mischung der Münzen schliesst
sich an die vorhergehenden Abschnitte nicht bloss dem Inhalte nach
eng an, sondern bis zu einem gewissen Grade auch der Form nach,
indem dem Leser durch Angabe eines machinalen Verfahrens, durch
eine genaue Vorschi-ift, wohin die in Rechnung tretenden Zahlen
Leonardo von Pisa und sein Liber Abaci. 19
geschrieben werden sollen und wie sie dann zu behandeln seien, die
eigene Denkthätigkeit nach Möglichkeit erspart wird. Diese Vor-
schriften übergehend bemerken wir nur, dass die als zur Münzmischung
gehörend bezeichneten Aufgaben in zwei Gruppen zerfallen. Bald
soll der Feingehalt von Legirungen aus Feingehalt und Gewicht der
zur Legirung verwandten Mischmetalle bestimmt werden, bald wird
gefragt, in welchem Gswichtsverhältnisse die gegebenen Mischmetalle,
welche selbst schon Legirungen bekannter Zusammensetzung sind,
vereinigt werden sollen, um eine neue Legirung von vorgeschriebenem
Feingehalte hervorzubringen. Zu dieser letzten Gattung von Auf-
gaben wird, für den ersten Augenblick überraschend, auch diejenige
von dem Manne gezählt, der 30 Vögel verschiedener Gattung um
30 Geldstücke kauft ^), und doch ist diese Anreihung gerechtfertigt,
denn wenn die Bedingungen der Aufgabe dahin lauten, ein Rebhuhn
koste 3, eine Taube 2, zwei Sperlinge 1 Geldstück und für 30 Geld-
stücke sollen 30 Vögel erstanden werden, so kommt dieses darauf
hinaus, es solle durchschnittlich jeder Vogel 1 Geldstück kosten, also
gewissermassen die Feinheit 1 besitzen, und diese Mischung solle mit
Hilfe von Mischmetallen von der Feinheit 3, 2, -^ in ganzzahligen
Verhältnisszahlen beschafft werden. Soll aus dem Metall von der
Feinheit 3 und dem von der Feinheit y die Feinheit 1 hergestellt
werden, so muss im Verhältnisse von 1 : 4 gemischt werden; soll
aus dem Metall von der Feinheit 2 und dem von der Feinheit — die
Feinheit 1 hergestellt werden, so ist die Mischung im Verhältnisse
1 : 2 zu vollziehen. Durch die erste Legirung werden 5, durch die
zweite 3 Stück geliefert, deren man 30 braucht. Dreimal 5 und
fünfmal 3 geben nun 30, also sind 3 Rebhühner mit 12 Sperlingen
und 5 Tauben mit 10 Sj)erlingen zu erstehen, im Ganzen 3 Reb-
hühner, 5 Tauben, 22 Sperlinge.
Der zwölfte Abschnitt nimmt für sich 152 Seiten, nahezu
ein Drittel des ganzen Werkes in Anspruch. In ihm dürfen wir
daher die Abtheilung erkennen, auf welche Leonardo selbst wohl
das grösste Gewicht gelegt hat. Sie enthält Aufgaben mannigfacher
Art, von welchen wir einige um ihrer selbst willen, andere wegen
der bei ihrer Auflösung in Anwendung tretenden Verfahrungsweisen
namhaft macheu müssen. Der Abschnitt beginnt mit arithmetischen
Reihen erster und zweiter Ordnung ^j mit den in Worten aus-
1) Leon. Pisano I, 165: De homim qtd emit wöes triginta trium generum
pro denarüs triginta. 2) Ebenda pag. 166 — 168.
'2*
20 41. Kapitel.
gesprochenen Summenfonneln a -\- (a -\- d) -\- ■ ■ • -\- (a -\- {n — l)d)
, , , , , ., ,.« j 0 , /n \^ , , / o^ iia{na-\-a)ina-{-ina-\-a^)
=(a-j-{a+i^n-l:d)) ^^nnda'-^(2ay+--\-(nay = ^ ''^^^ — -^—
nebst verschiedenen Einzelfällen derselben. Die Summirung der
Quadratzeilen sei, sagt Leonardo ausdrücklich bei diesem Anlasse^),
in dem von ihm verfassten Liber quadratorum bewiesen, und
damit ist ein Zeitpunkt bezeugt, zu welchem jene Abhandlung, welche
uns im folgenden Kapitel beschäftigen wird, der Oeff'entlichkeit be-
reits übergeben war. Die Summenformel der geometrischen Reihe
ist erst an einer späteren Stelle-) in Verbindung mit der bekannten
Schachbrettaufgabe (Bd. I, S. 713) angegeben. Im Anschluss an die
arithmetischen Reihen ist nur gezeigt^), dass das Product des ersten
und des letzten, des zweiten und des vorletzten Gliedes u. s. w., all-
gemein das Product aus symmetrisch vom Anfang und Ende der Reihe
befindlichen Gliedarn constant ist, dass mithin 1 • e""~^ = e-e"~^ = ••.
Eine grosse Anzahl von Aufgaben ist nach dem einfachen falschen
Ansätze (Bd. I, S. 577) behandelt. Dessen erstes Auftreten findet
sich bei den. quaestionihus arhorum, den Baumaufgaben, und dort ist
auch eine kurze, deutliche Schilderung des Verfahrens zu finden*).
Man soll die Höhe eines Baumes berechnen, der mit — und — seiner
Höhe, zusammen mit 21 Handbreiten, unter dem Boden steckt. Die
durch 3 und 4 theilbare Zahl 12 wird vorläufig als Höhe angesetzt.
12 12
Dann ist aber -^ A — r = '^» während 21 erscheinen sollte. Man hat
die Proportion 7 : 21 = 12 : 36 zu bilden, und die wirkliche Höhe
des Baumes beträgt 86 Handbreiten. Eine eigenthümliche Anwen-
19 .
20
Zahl erweisen sich als die Quadratwurzel eben dieser Zahl (radix
eiusdem numeri); wie gross ist dieselbe? Die Antwort lautet (— j "^sei
und wird folgendermassen gewonnen. Versuchsweise setzt man die
durch 20 theilbare Zahl 60 an. Davon — sind 57, und das Quadrat
von 57 ist 3249 statt 60. Alsdann sei -^77: =^ ^^rr^ = „„, die richtige
3249 3249 361 <="
^)Leon. Pisauol, 168 Z. 8 — 9: Prohavi enim geometrice qiiae hie sunt
dicta de coUectionibus quadratorum in libro qiiem de quadratis eomposui.
-) Ebenda pag. 309: De duplicatione scacherii. ^ Ebenda pag. 171. *) Ebenda
pag. 173 Z. 4 T. u. : Est enim alius modus, quo utimwr, videlicet ut ponas pro re
ignota aliquem numerum notum ad libitum, qui integraliter dividatur per fractio--*
nes quae ponuntur in ipsa quaestione: et secundum positionem illius quaestionis
cum ipso posito numero studeas invenire proportionem cadentem in solutione illius
quaestionis. ^) Ebenda pag. 175.
Leonardo von Pisa und sein Liber Abaci. 21
Auflöuug, wofür eine geometrische Begründung beigefügt wird
(Figur 1). Es sei ab die als Strecke gezeichnete gesuchte Zahl,
welche auch als Fläche des Rechtecks abdt auftritt, sofern hd = a
die Längeneinheit ist. Ueber ae (= — ab) wird
das Quadrat ael'2 gezeichnet, so muss auch dieses
vermöge der Bedingungen der Aufgabe durch die
gesuchte Zahl gemessen werden, d. h. ael'Z = Vier-
eck abdt\ und wird auf beiden Seiten das ge-
meinschaftliche Stück aeit weggelassen, so bleibt
noch tiJcs = ebdi oder ti x ili = ei X id, be- " x>- , * ^
' ±ig. 1.
ziehungsweise ti : id = ei : iJc. Aus dieser Pro-
portion folgt weiter ti : (ti -|- id) = ei : (ei -\- ik) oder ti : td = ei : eh
oder ae : ab = 1 : eli. Da aber ae : a& = 19 : 20 bekannt ist, so
hat man jetzt eh = ~ und dessen Quadrat = -^ • Leonardo setzt
einen Zweifelspunkt in diesem Beweise voraus, ob nämlich das über
ae beschriebene Quadrat und das Rechteck abdt in Wirklichkeit so
gegenseitig über einander hinausreichen werden, wie die Figur es
darstellt. Er wirft desshalb selbst diesen Einwand auf, widerlegt ihn
aber sogleich^). Weil ab grösser sei als ae, müsse eh grösser sein
als die Einheit, d. h. grösser als ei. Mit Hilfe des falschen Ansatzes
wird des weiteren eine gegebene Zahl, etwa 10, als Summe von 3,
von 4, von 5 in stetiger Proportion stehenden Theilen dargestellt^).
Sollen etwa 4 Theile auftreten, so werden ebenso viele in stetiger
Proportion stehende Zahlen z. B. 1, 2, 4, 8 versuchsweise angesetzt.
2
Deren Summe ist nicht 10, sondern 15. Aber 10 = ^ * 1^? ^^^^ ^^^
2
man - einer jeden der gewählten Zahlen zu nehmen und findet
-77- , -^ , -5-, -Vi womit die Aufgabe gelöst ist, und so wie diese Auf-
lösung giebt es noch unendlich viele, sämmtlich von einander ver-
schieden^). Bei manchen Aufgaben bedarf es erst vorbereitender
Ueberleguugen, bevor der falsche Ansatz zur Anwendung gelangen
kann. Dahin gehört beispielsweise eine Aufgabe, welche einst ein
Magister in Constantinopel Leonardo vorlegte*), und welche dann
für diesen den Ausgangspunkt vieler anderer möglichen und unmög-
lichen Aufgaben bildet. Ein Mann A verlangt von einem anderen
^) Manifestum est cßiod numerus ae maior est unitat e; cum maior sit nu-
merus ab numero ae: quare maior est at wnitate ae. ^) Leon. Pisano I,
181 — 182. ^) Ranc enim divisionem. in infinitas variasque partes possumus in-
venire. *) Leon. Pisano I, 190 — 191.
22 41. Kapitel.
Manne B, wie wir zur Abkürzung sagen wollen, während Leonardo
fortwährend von dem Ersten und dem Zweiten spricht, die Summe
von 7 Denaren, dann habe er fünfmal so viel als jener; giebt dagegen
A dem B nur 5 Denare, so hat B damit siebenmal so viel als A. (Figur 2.)
Es sei ag der ursprüngliche Besitzstand des A, gh der des B, ah
ihr Gesammtbesitz. Stellt nun gd die 7 dar, welche B dem A giebt,
so hat in Folge dessen A mit ad das Fünffache des dem B ver-
bleibenden dh, oder dl) ist — der Summe. Ist andrerseits eg das
Bild der 5, welche A dem B giebt, so dass darnach B mit eh das
Siebenfache des dem A verbleibenden
ö ^ . 1
• — • • • • ae besitzt, so muss ae = — der Summe
a e g ä h °
^'s- 2. gein Darnach beträgt dl) -\- ae = — -\- —
der Summe, welche von der ganzen Summe abgezogen eg-\-gd=b-\-l = 12
übrig lassen. Damit sind aber die Bedingungen ausgesprochen, denen
zu genügen ein falscher Ansatz gemacht werden kann. Als Summe
24 24
wird die durch 6 und durch 8 theilbare 24 angesetzt; — -)- ^ = 7
davon abgezogen lassen 17 und nicht 12 übrig. Die Summe ist mithin
~- von 24, und in gleichem Verhältnisse mindern sich die Zahlen 4
und 3 herab, welche für dh und ae angenommen worden waren. Es
12 14 12 2
wird in Wirklichkeit (?& = — x4=2— und ae = — x3 = 2— •
9 2 14 14
A besass zu Anfang 2~ -|- 5 = 7^ und B besass 2^ -]- 7 = 9 — •
Ebendieselbe Aufgabe löst die Regula recta, deren die Araber sich
bedienen^). Leonardo versteht darunter Gleichungen ersten Grades,
in welchen die Unbekannte durch das Wort res, die Sache, bezeichnet
wird. Der Besitzstand des B, sagt er, sei res nebst 7 Denaren, welche
er dem A geben soU, der alsdann 5 res, vorher also 5 res weniger
7 Denare besitzt. Nachdem A dem B dagegen 5 Denare gegeben,
besitzt B res und 12 Denare und damit siebenmal so viel als A mit seinem
5 res weniger 12 Denare. Es ist in Zeichen, welche Leonardo noch
fremd waren, res + 12 = 7 (5 res — 12) = 35 res — 84, 34 res = 96,
res = — = 2,„, und daraus findet sich leicht der Besitz von B wie
34 17'
der von A. Auch eine Regula versa kennt Leonardo an anderer
Stelle'). Es ist ebenfalls eine Auflösung mittels Gleichungen, welche
aber den Ansatz von der Schlussbedingung der Aufgabe aus, statt
') Leon. Pisano I, 191: Regula quaedam, quae recta diciticr, qua
arahes utuntur. -) Ebenda pag. 203 Z. 3 v. u
Leonardo von Pisa und sein Liber Abaci. 23
von deren Anfang herleitet und dadurch bis zu einem gewissen Grade
der sogenannten Umkehrung der Inder (Bd. I, S. 577) ähnelt. Das
erste Verfahren Leonardo's, über welches wir oben im Anschlüsse
an die Figur, deren er sich zur Erläuterung bediente, berichtet haben,
und welches dadurch sich kennzeichnet, dass es die Summe der Be-
sitzstände als Durchgangspunkt für die Auflösung der Aufgabe be-
nutzt, findet unter dem Namen der Regula hominum auch bei mehr
als zwei Personen Anwendung^). A verlangt von B und C zusammen 7,
um fünfmal so viel als sie zu haben; B verlangt von A und C zusam-
men 9, um sechsmal so viel als sie zu haben; C verlangt von A und B
zusammen 11, um siebenmal so viel als sie zu haben. Mithin besass A
5 . 6 .
anfangs — Summe weniger 7, B besass — Summe weniger 9, C be-
sass — Summe weniger 11, und die Summe war so viel als -r -^ —
Summe weniger 7, 9 und 11; d. h, 21 ist der Ueberschuss von
-r -;r -^ Summe über die Summe oder ~ der Summe und die Summe
6 7 8 168
selbst — ^;^ — . A besass -r der Summe weniger 7 oder 7 ^^^^ • Ganz
263 6 " 26o
ähnlich berechnet man 5" „ für B und 4--^ für C. Aber nicht un-
266 26a
bedingt jede beKebige Angabe führt zu Auflösungen. Es giebt auch
quaestiones insolubiles, welche Widersprüche enthalten^), so z, B.
wenn die Bedingungen, unter welchen die Regula hominum auf vier
Personen mit den Besitzständen Ä, B, C, D von der Gesammtsumme S
o
angewandt werden soll, in den Gleichungen C -\- D = — -j- 1,
i) + ^=|+8, Ä-\-B=l + 9, B + C=^ + 11 ausge-
sprochen sind. Die erste und dritte Bedingung vereinigt liefern
Ä = — Ä-I-I67 die zweite und vierte dagegen S = -^; S -\- 19, und
diese beiden Folgerungen lassen sich nicht mit einander vereinigen.
Nächst diesen und ähnlichen bestimmten Aufgaben enthält der zwölfte
Abschnitt auch unbestimmte Aufgaben des ersten Grades,
welche Leonardo nach Methoden löst, in deren Darlegung er so weit
geht, dass nicht daran zu zweifeln ist, dass ihm selbst die Richtigkeit
des Verfahrens mehr als nur auf das Ansehen der Persönlichkeiten
hin, welche ihm die Aufgaben einst mittheilten, einleuchtend gewesen
sein muss. So rührt z. B. folgende Aufgabe^) von dem sehr er-
^)Leon. Pisano I, 198: Quaestio consimilis inter tres hamines.
*) Ebenda pag. 201, 227, 251. ^) Ebenda pag. 249: Quaestio nobis proposita a
peritissimo magistro Musco ConstanUnopolitano in Constantinopoli.
24 il. Kapitel.
fahreueu Magister Muscus von Constantinopel her. Fünf
Personen — sie mögen A^ B, C, D, E heissen — wollen in Gemein-
schaft mit einander ein Schiff kaufen. Jeder Einzelne wäre dazu im
Stande, wenn ihm die übrigen vier einen Theil ihres Geldes gäben,
und zwar braucht dazu A ^, B ^, C ^, D |J, E g^ des
Geldes der Anderen. Der Preis des Schiffes und der Besitz eines
jeden Einzelnen ist zu berechnen. Leonardo schreibt in eine erste
Zeile die gegebenen fünf Brüche und darunter in eine zweite Zeile
fünf andere, welche bei unveränderten Zählern ihre Nenner dadurch
bilden, dass sie eben diese Zähler von den früheren Nennern ab-
ziehen. Die beiden Zeilen sind demnach:
13
15
401
48Ö
799
957
341
42Ö
326
4Ö5
13
401
"79"
799
158
341
79
326
79
Als kleinstes Gemeinvielfaches der zweiten Nenner erkennt er 158,
und mit dieser Zahl vervielfacht er die Nenner der ersten Bruchreihe
und theilt jedes Product durch den darunter befindlichen Nenner der
zweiten Bruchreihe. So wird eine neue Zeile von fünf Zahlen ge-
wonnen :
1185 960 957 840 810
mit der Summe 4752. Der Quotient dieser Zahl durch die um 1 ver-
minderte Personenzahl, also durch 4, giebt ihm 1188 als Summe
dessen, was ursprünglich Alle zusammen an Geld besassen, und diese
Summe um 158 vermindert giebt 1030 als Preis des Schiffes. Der
Besitzstand eines jeden Einzelnen findet sich dann, indem von 1030
das 158fache der Brüche der zweiten Zeile abgezogen wird.
A = 1030 — i^-ü = 3, B === 1030 — ^^i-i^ = 228,
2 ' 79 '
C = 1030 - ^J— = 231, D = 1030 — ^^^^^ = 348,
E = 1030 - ^A^^ = 378.
79
Prüfen wir nun einmal dieses so eigenartige Verfahren, dessen Ein-
richtung Leonardo sich selbst zuschreibt^), an Buchstabengrössen.
Es sollen i Personen die Einzelsummen x^, x^ . . . Xi besitzen, welche
zusammen s ausmachen. Der Preis p des Schiffes besteht aus Xh
und dem — Theil dessen, was die Anderen besitzen, während der
^) Leon. Pisano I, 249: Quam quaestionem ita ad suprascriptam regulam
reducere studui.
Leonardo von Pisa und sein Liber Abaei. 25
Stellenzeiger h alle Werthe von 1 bis i durchläuft. Als Gleichung
geschrieben ist demnach p =^ Xh -\ (s — Xn) und daraas folgt bei
leichter Umformung ^
n,
Xh = s ^(p— s)
"h ""A
Bildet man sämmtliche / Gleichungen dieser Form, welche aus den
verschiedenen möglichen Annahmen für h folgen und addirt dieselben
unter Berücksichtigung von ^-^ + x, + " " " + ^« = ^j so entsteht
is -\- (p — s) > uud daraus
Da die Aufgabe sich somit als unbestimmt erweist, weil zwischen den
beiden Unbekannten s und p nur eine Gleichung vorhanden ist, so
steht eine willkürliche Annahme frei. Leonardo trifft sie dahin, dass
er s — p als das kleinste Gemeinvielfache der Zahlen fh — nih wählt,
sofern diese Wahl gestattet, die rechts vom Gleichheitszeichen auf-
tretende Summe noch durch i — 1 zu dividiren. Der Quotient der
letzteren Division ist s, und zugleich damit kennt man auch
p = s — (s — p). Endlich findet sich jedes Xn = s — (s — p) -•
**A ~ "^Ä
Man müsste geradezu jede Aufgabe der Besprechung unterziehen,
wenn man alles Bemerkenswerthe erörtern wollte. Wir gehorchen
nur der Nothwendigkeit, indem wir uns beschränken und nur drei
Aufgaben dieses Abschnittes noch hervorheben.
Es soll eine durch 7 theilbare Zahl gefunden werden, welche
durch 2, 3, 4, 5, G getheilt jeweils den Rest 1 übrig lässt^). Das
Product 3 • 4-5 ^ 60 ist durch 2, 3, 4, 5, 6 theilbar und lässt bei
Theilung durch 7 den Rest 4. Versuche lehren die Zahl 5 kennen,
welche mit 60 zu 300 vervielfacht die Theilbarkeit durch 2, 3, 4, 5, 6
unverändert lässt, während Theilung durch 7 jetzt den Rest 6 liefert.
Die um eine Einheit grössei-e 301 löst daher die gestellte Aufgabe,
und weitere Auflösungen finden sich durch Hinzufügung ganzer Viel-
fachen von 7 • 60 = 420.
Als Kaninchenaufgabe ^) bezeichnen wir die Frage, wie viele
Paar Kaninchen im Laufe eines Jahres aus einem Paare entstehen.
Die betreffende Zahl soll aus der Angabe erhalten werden, dass jedes
Paar allmonatlich ein neues Paar zeugt, welches selbst vom zweiten
^) Leon. Pisano I, 281 Z. 3 v. u. — pag. 282 Z. 13. *) Ebenda
pag. 283—284.
26 -tl- Kapitel.
Monate an zeugungsfähig wird, während Todesfälle nicht vorkommen.
Am Schlüsse des 1. Monats ist das erste Paar und das von ihm er-
zeugte Paar vorhanden, im Ganzen zwei Paare. Am Schlüsse des
2. Monats ist ein drittes Paar hinzugetreten, Junge des ersten Paares.
Am Schlüsse des 3. Monats sind es 3 -{- 2 = 5 Paar, weil ausser
dem ersten Paare jetzt auch das im ersten Monat geborene zeugungs-
fähig wurde, und nun findet die Vennehrung in steigendem Maasse
statt. Am Schlüsse des 4. Monats zählt man 5 -{-3 = 8, am Schlüsse
des 5. Monats 8 -)- 5 = 13 Paar, u. s. w. Es ensteht mithin die am
Rande beigefügte Zahlenreihe 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, 34, 55, 89, 144
233, 377. Diese Zahlen befolgen das Gesetz Ur+i =^ Ur-\- u,-—! und
bilden die erste recurrirende Reihe, welche in einem mathe-
matischen Werke bekannt geworden ist.
Im höchsten Grade überraschend tritt die Aufgabe^) zum Vor-
schein, welche bei den Chinesen mittels der Regel Ta yen ihre Lö-
sung fand (Bd. I S. 643 — 644). Es sind genau die gleichen Zahlen,
ist genau das gleiche Verfahren. Ein Beweis wird nicht versucht.
Das dürften doch genügende Anhaltpunkte dafür sein, dass hier nicht
an zufällige Uebereinstimmung zweier Erfinder, sondern nur an die
Mittheilung von Ueb erlief ertem zu denken ist. Wenn wir im vorigen
Bande, wo die Regel Ta yen unsere Aufmerksamkeit zum ersten Male
fesselte, auf deren räthselhaftes Auftreten bei einem Byzantiner um
das Jahr 1400 hinweisen mussten, so ist jetzt ihr europäisches Vor-
kommen um weitere zwei Jahrhunderte zurückgetreten, ohne dadurch
begreiflicher zu werden.
Geschichtlich höchst merkwüi-dig ist die Aufgabe von den 7
alten Weibern-). Dieselben gehen nach Rom. Jede hat 7 Maul-
esel; jeder Maulesel trägt 7 Säcke; jeder Sack enthält 7 Brode; bei
jedem Brod sind 7 Messer; jedes Messer steckt in 7 Scheiden. Was
ist die Gesammtzahl alles Genannten? 7 +49 + 343 + 2401 + 16807
-f- 117649 = 137256. Aber, fügt Leonardo dieser ersten Auflösung
hinzu, man kann die Rechnung auch anders vollzieheu. Man geht
von einer alten Frau aus. Die fünf nothwendigen Vervielfachungen
mit 7 vollzieht man unter jedesmaliger Hinzufügung einer neuen
Einheit, also 7-1 + 1 = 8, 7-8 + 1= 57, 7-57 + 1 = 400,
7 . 400 + 1 = 2801, 7 - 2801 + 1 = 19608 und endlich 7 • 19608
=^ 137256 wie vorher, indem thatsächlich nicht 1, sondern 7 alte
Frauen vorhanden waren. Das ist genau die Rechnung, welche.
') Leon. Pisano I, 304 Z. 6 — 29. Die hochinteressante SteUe ist zuerst
von Curtze bemerkt worden, der Zeitschx. Math. Phys. XLI Histor.-liter. Abthlg.
S. 81—82 auf sie hinwies. ^) Ebenda pag. 311 Z. 5 v. u. — 312 Z. 7.
Leonardo von Pisa und sein Liber Abaci. 27
wenn auch mit anderem Wortlaute der Aufgabe verbunden und bei
7 • 2801 = 19607 stehen bleibend, bei dem Aegypter Ahmes (Bd. I,
S. 42) vorkam. Also nicht allein die Aufgabe der Summirung der
aus den Potenzen der Zahl 7 gebildeten geometrischen Reihe hat sich
drei Jahrtausende erhalten, auch die Rechnungsweisen erkennen wir
wieder, die erste sowohl als die zweite, namentlich der letztere Um-
stand auffallend genug bei einem Schriftsteller, der nur wenige Seiten
früher ^J die Formel für die Summe der mit stets verdoppelten Zahlen
versehenen Schachbrettfelder anzuwenden wusste.
Der dreizehnte Abschnitt ist der Regel des doppelten falschen
Ansatzes gewidmet, welche Leonardo, wie der Name Regula elchatayn
verräth, von Arabern erlernt hat (Bd. I, 689). Ein Beispiel ist fol-
gendes^): 100 Rotuli kosten 13 libras zu 20 solidi zu 12 denarii,
was kostet 1 Rotulus? Eine erste Annahme setzt 3 solidi für den
Rotulus, für 100 also 300 solidi = 15 librae oder 2 zu viel. Eine
zweite Annahme setzt 2 solidi für den Rotulus, für 100 also 200 solidi
= 10 librae oder 3 zu wenig. Die beiden Fehler addirt, zeigen durch
2 -[-?>== b eine Abnahme des Gesammtpreises um 5 librae, während
der Preis eines Rotulus um 1 solidus = 12 denarii abnahm. Nun
sollte aber der Gesammtpreis nur um 2 librae abnehmen, man muss
4
also 12 mit 2 multipliciren und durch 5 dividiren, um 4^- denarios
zu erhalten, welche, von 3 solidis abgezogen, den richtigen Preis
2 solidi 7— denarii kenneu lehren. Leonardo erläutert die Rechnung
an einem Diagramme:
Additum ex 13 multiplicationibus
4 9
soldi soldi
2 _ _^^ 3
minus ^^,,:>~<^.^_^^ plus
3 ^^^^^ ^^^^ 2
5
additum ex erroribus
und dieses Diagrammes wegen haben wir überhaupt das Beispiel
näher erörtert. Auf ihm finden sich nämlich, wie man sieht, die
beiden Wörter plus und minus. Bei Additionen gebraucht
Leonardo allerdings niemals plus, sondern ausschliesslich et. Linien-
^) Leon. Pisano I, 309: De duplicatione scacherii. *) Ebenda
pag. 319.
28 41- Kapitel.
grossen (Figiir 3) dienen zur Erläuterung des Verfahrens^). Sei ah
die wahre Länge der unbekannten Zahl. Setzt man irgend ein ag
statt ihrer, so kommt eine Zahl als
^ , Endergebniss, welche um ez kleiner
ist als die, welche herauskommen
^* T • soll. Setzt man eine zweite ange-
j,. 3 nommene Zahl ad statt der Unbe-
kannten, so erscheint wieder ein
fehlerhaftes Ergebniss, welches um iz zu klein ist. Nun kennt man
sowohl die Differenz gd der beiden Annahmen, als die ei der
beiden Fehler und ist im Stande, den Ueberschuss dh, um welchen
die unbekannte Zahl die zweite Annahme ad übertrifft, aus der Pro-
portion ei : iz = gd : db zu berechnen^). Hat man nämlich ax = h
und an^ = & — e^, an.2 = h — e.2, so berechnet sich (wie aus
der angefühi-teu Stelle unseres I. Bandes entnommen werden mag)
X = ^ ^ _ ^ ^' In der Figur entspricht ag = nj^, ad = n^, ez=e^,
iz == ^2; ß^ = ^1 — ^2; 9^ =^ ^^2 — *^i7 db = X — n.^. Die obige Pro-
portion geht also über in (e^ — e.^) : e^ = (n^ — nj : (x — n^), und
daraus folgt
Leonardo führt auch die in letzterer Gleichung sich darstellende Vor-
schrift ausdrücklich aus ^) : man solle den ersten Fehler mit dem
zweiten Ansätze, den zweiten Fehler mit dem ersten Ansätze mul-
tipliciren, letzteres Product vom ersteren abziehen und die Differenz
durch die Differenz der Fehler dividiren. Wieder an einer Figur
wird der Fall des doppelten falschen Ansatzes erörtert, in welchem
beide Annahmen zu gross gewählt wurden, mithin aw^ = & -|- e^,
an^ = h -{- e.2 beide zu gi-oss ausfielen. Es sei (Figur 4) ah die
richtige Länge der Unbekannten,
^ ^ '^ „ af und ac die erste beziehungsweise
zweite Annahme, denen gi und gh
9 * • * als erster und zweiter Fehler gegen-
j,. ^ übersteht, oder es sei af = n^j
ac=n.2, gi=e^, gJc=e2, Tii=e^ — e^,
cf = n^ — ^2, hc = »^2 — x. Dann soll die Proportion stattfinden^)
ilc : hg = cf:ch. Anders geschrieben heisst sie (e^ — ^'2) : e^ = 0*i — '>h) '• i^h~^)
^) Leon. Pisano I, 320—322. -) In der Druckausgabe pag. 320
Z. 21 schliesst die Proportion irriger Weise mit ab statt mit db, doch dürfte
hier ein Fehler irgend eines Abschreibers und nicht Leonardo's vorliegen.
3) Leon. Pisano, I, 320 Z. 25— 29. ^) Ebenda pag. 321 Z. 3.
Fig. 5.
Leonardo von Pisa und sein Liber Abaei. 29
1 -u ^ ^ j. e,(n, — n„) e.n, — e,n, , ,
und aus ihr loloft x = ih ^^-'^ = ^— ^ "— , welches wie-
derum vollständig richtig ist und durch die Vorschrift^) bestätigt
wird, man solle von dem Producte des ersten Fehlers in dem zweiten
Ansatz das Product des zweiten Fehlers in dem ersten Ansatz ab-
ziehen und die Differenz durch den Unterschied der Fehler theilen.
Endlich versinnlicht ein drittes
Linienpaar den noch allein übri- ^. ;; ^ ^ ^^
gen Fall, dass (Figur 5) eine
Annahme ag zu klein, die an- * *
dere ad zu gross war, und dass
dem entsprechend zuerst ein
Mangel e^, dann ein Uebersehuss ^i auftrat. Hier ist die Proportion
zu bilden-) gd:hg = ei : ez oder in den anderen wiederholt von uns
benutzten Buchstaben {n^ — Wj) : {x — n^ = (e^ -\- e^) : e^, woraus
die richtige Folgerung zu ziehen ist a; = m^ + V ^ = ^^ ^^ "]" ^^ ^^^ .
So hat Leonardo die Regel des doppelten falschen Ansatzes genau
erörtert und sämmtliche Möglichkeiten derselben erschöpft. Darauf
werden mannigfache Aufgaben behandelt, welche bereits im vorher-
gehenden Abschnitte zur Uebung der dortigen Regeln dienten'^);
nächst diesen aber auch andere neue Aufgaben^). Wir wollen nur
des ersten Beispieles der letzteren Art gedenken. Ä und B bezeichnen
uns, wie schon öfter, zwei Personen und zugleich deren Vermögen.
Man besitze darüber die beiden Angaben J.-(- —5=14, B-\- — A=^ll.
Eine erste Annahme A = n^ ^ 4 giebt 4-|-~5= 14, B= 30,
i> + -j-^ = oO-f- 1 = 31, während 17 kommen sollten, das ist ein
Uebersehuss e^ = 31 — 17 = 14. Die zweite Annahme ^ = Mg = 8
giebt 8 + -^J5=14, 5=18, 5 + ^^=18 + 2 = 20, während
wieder 17 kommen sollten, das ist abermals ein Uebersehuss e^ = 20
— 17=: 3. Da Leonardo für den ersten Fall, welcher bei zwei-
maligem Ueberschiessen hier zutrifft, die Proportion (e^ — e.2) : e.^
^{n^—n-^\{A — n) angegeben hat, so wäre es vollkommen genügend,
wenn er nur die Zahlenwerthe einsetzend (14 — 3) : 3 = (8 — 4) : ( J. — 8)
oder 11: 3 = 4: (J. — 8) hätte rechnen lassen. Aber es ist, als
wenn er schon Ueberdruss empfunden hätte, seinen Lesern durch
gewohnheitsmässige Uebung eines und desselben Verfahrens das
1) Leon. Pisano I, 321 Z. 7—11. ^) Ebenda pag. 321 Z. 16 v.u.
^) Ebenda pag. 322—336. ") Ebenda pag. 336—352.
30 41. Kapitel.
Denken zu ersparen. Nacli Angabe der beiden Fehler 14 und 3,
welche die Annahmen 4 und S zur Folge haben, fährt er nämlich
das weitere Verfahren begründend, also fort^): Für 4 Einheiten,
welche wir dem Ersten Ä mehr geben (8 anstatt 4), näherte sich die
zweite Zahl B um 11 der Wahrheit (3 anstatt 14), und es ist nur
noch eine Annäherung an dieselbe um 3 erforderlich. Mithin ist
3 mal 4 getheilt durch 11 dem A noch beizufügen, das beträgt 1-- •
Von 9— bis zu 14 sind es aber 4—, und das ist ein Drittel des Ver-
s
mögens des JB, welches mithin 14— beträgt.
Der vierzehnte Abschnitt führt zu den Wurzelgrössen. Bei
der Quadratwurzelausziehung ist namentlich auf solche Zahlen
Rücksicht genommen, welche keine vollständigen Quadrate sind, bei
denen folglich nur eine Annäherung an das wahre Ergebniss vor-
genommen werden kann. Jede Annäherung vollzieht sich der Natur
der Sache nach in einzelnen Schritten, deren jeder dem gewünschten
Ziele näher bringen soll. Als erste Annäherung zu einer Quadrat-
wurzel y^ wählt Leonardo den ganzzahligen Theil derselben, welcher
a heissen mag, und durch welchen die fortlaufende Ungleichung be-
friedigt wird a^<.^<(a+l)l Bedienen wir uns, wie es nicht
selten geschieht, des Aehnlichkeitszeichens um annähernde Gleichheit
zu bezeichnen, so ist also zuerst y^c^oa. Die zweite Annäherung
ist y~Äc\Ja-\ , mit welcher die Rechnung einigemale ab-
sehliesst. Eine dritte Annäherung, über welche Leonardo nie hinaus-
geht, wie auch die Araber eine dritte Annäherung stets als letzte
betrachteten (Bd. I, S. 765), ist:
oder
« H 7. 7- , . I \, oder a 4- - — , — 7i~r- i\ ■
Von diesen letzten Umformungen ist freilich bei Leonardo um so.
weniger eine Spur zu bemerken, als er die ganze Rechnung nur an
bestimmten Zahlenbeispielen durchführt. Ein solches Beispiel^) ist
]/927435 fNJ 963 -f ^^ — Q^J : ( 2 ^963 + ^^j . Ein anderes Mittel
zur Auffindung einer näherungsweise richtigen Quadratwurzel dürfte
ebenfalls auf arabischen Einfiuss zurückzuführen sein (Bd. I, S. 752).
Leonardo vervielfacht die Zahl, deren Quadratwurzel ermittelt werden
soll, mit einer aus Eins und einer geraden Anzahl von Nullen be-
1) Leon. Pisano I, 337, Z. 4. ^) Ebenda pag. 3.55.
Leonardo von Pisa und sein Liber Abaci. 31
stehenden Zahl. Alsdann genügt eine einzige Bruchannähernng in
der nenen Qnadratwurzel, um dem genauen Werthe schon recht nahe
zu kommen, weil doch noch durch einen Divisor zu theilen ist, durch
Eins mit halb so vielen Nullen, als vorher bei der Multiplication auf-
traten. / ^234 = j^y 72340000 rx;^^. 8505|rx. 85^ j^ . An die
Quadratwurzelausziehungen schliessen sich Betrachtungen über Ir-
rationalzahlen, welche ziemlich genau den Gang von Euklid's X. Buche
der Elemente verfolgen. Vielleicht sollten wir betonen, dass bei
dieser Gelegenheit^) die einfachen Buchstaben a, h, g, d, e als Ver-
treter von Zahlen auftreten, wähi-end eben so wenig Mangel an Be-
weisen mittels Linien oder mittels Figuren ist, deren Endpunkte durch
a, h, c, d, e. f, g, h, i bezeichnet sind^). Mittels einer solchen wird
z. B. nachgewiesen, wie Zahlen von der Art wie 6 — ]/20 und 3 — ]/5
mit einander zu vervielfachen sind. Dabei ist (Figur (3) ad==Q,
de = y20, ah^=o, 6/*^y5, es handelt sich also um die Entstehung
des Rechteckchens acif. — Nach den Quadratwurzeln wendet sich
Leonardo zu Kubikwurzeln. Der Würfel einer aus zwei Theilen
bestehenden Strecke setzt sich, sagt er, zusammen aus den Würfeln
der einzelnen Theile und dem dreifachen Producte des Quadrates je
einen Theils in den anderen Theil. Als
ich über diese Definition, fährt er fort^),
lange nachgedacht hatte, erfand ich die
Methode der Wurzelausziehung, welche ich
weiter unten auseinandersetzen will. Leo- f ^ ji
nardo schreibt sich ungemein selten irgend ^ ß g
etwas eigenthümlich zu. Es ist wohl also Fig. e.
unzweifelhaft, dass wir hier seinen Worten
Glauben zu schenken haben, dass wir annehmen müssen, solche arabische
Schriften, aus welchen er (Bd. I, S. 718 und 732) Kubikwurzelaus-
ziehungen hätte erlernen können, seien ihm unbekannt geblieben. Um
so zuverlässiger müssen wir auch ein Näherungsverfahren zur Auf-
findung irrationaler Kubikwurzeln als Leonardo's Eigenthum an-
erkennen, welches folgendermassen sich darstellf^). Man will y Ä
suchen. Eine erste Annäherung besteht wieder in dem ganzzahligen
Werthe a, der ähnlich wie bei der Quadratwurzelausziehung die fort-
*
1) Leon. Pisano I, 360. *) Ebenda pag. 370. Man bemerke den
sprachlichen Unterschied zwischen den beiden hier angegebenen Buchstaben-
folgen, die erste griechisch-arabisch, die zweite lateinisch. ^) Ebenda
pag. 378 Z. 6 v. u. : Et cum super hanc diffinitionem diucius cogitarem, inveni
hunc modum reperiendi radices, secundum quod inferius explicabo. ■*) Ebenda
pag. 380—381.
32 41. Kapitel.
laufende Ungleichung a^<^< (a -f- 1)^ erfüllt. Diese Ungleichung
lässt sich auch 0 < J. — «^ < 3 « (a -j- 1) + 1 schreiben, oder die Zahl
a ist richtig gewählt, wenn der Rest Ä — «^<3« (a -f- 1) -f- 1 ist,
denn die Vermehrung des Kubus besteht aus 3 a (r/ -(- 1) -{- 1, sofern
eine Vermehrung der Kubikwurzel o um die Einheit stattfindet. Nimmt
man bei kleiner Vermehrung eine Proportionalität zwischen den Ver-
änderungen der Wurzel und des Radicanden an, so muss, wenn der
Radicand um 1 wächst, die Wurzel um - — -. — p-, , ^ wachsen. Der
' 3 a (a + 1) + 1
Zunahme des Radicanden um Ä — a^ entspricht also, immer unter
der gleichen Annahme der verhältnissmässigen Aenderungen, eine
^ f(3
Zunahme der Wurzel um - — -, — r .x i . Ofler in zweiter Annäherung
„ 4 ((3
ist y Ac\J a + - — r— ,— 7\-T- . • Beispielsweise setzt Leonardo
' '3a {(( -|- 1) + 1
VTiT^ n I 900 — 729
1/900 f\j9H — — ,
2 . , , 2345 2197
wofür man 9~ schreiben dürfe. Ferner y 2345 oo 13-1 ^t^ ,
ö ' 547 '
wofür mau 13-j^ schreiben dürfe, weil 148 wenig mehr als ein Viertel
von 547 sei. War auch nach unserer bereits ausgesprochenen Ueber-
Zeugung Leonardo der selbständige Erfinder dieses Verfahrens, so
ist damit keineswegs ausgeschlossen, dass ihm auf seinem Erfinder-
wege ein Vorbild vorschwebte, geeignet die Richtung etwa anzudeuten,
nach welcher er sich bewegen musste. Diese Annahme führt aber
rückwärts dazu, dass wir von Leonardo's Kubikwurzelausziehung aus
die Quadrat wurzelausziehung des Alkarchi (Bd. I, S. 722) verstehen
lernen. Wenn das Quadrat a^ bis zum Quadrate der nächsten ganzen
Zahl um 2a-\-l zunimmt, und wenn Verhältnissmässigkeit zwischen
den kleinen Veränderungen der Wurzel und ihrer Quadratzahl an-
genommen werden darf, so entspricht der Veränderung der Zahl um
A — a^ eine Veränderung der Wurzel um ^ ^ , oder es ist
y^Ar-Ja-i- - — ;— -, wie Alkarchi es vorschreibt. Dass Leonardo bei
' ' 2 a + l '
Ausziehung der Quadratwurzel eben dieses Verfahren nicht lehrt,
kann uns in unserer Meinung nicht beirren. Bei der Quadratwurzel
ging er über die zweite Annäherung zu einer dritten hinaus, welche
ihm ein besseres Ergebniss versprach. Bei der Kubikwurzel liess er
sich gern an der einen Bruchannäherung genügen.
Endlich der fünfzehnte Abschnitt vereinigt wieder recht Un-
gleichartiges in ungleichartiger Folge. Aufgaben über in stetigem
Verhältnisse stehende Zahlen, Aufgaben geometrischer Einkleidung,
Aufgaben der „Algebra und Almuchabala" wechseln ziemlich bunt.
Leonardo von Pisa und sein Liber Abaci. 33
Bei der zuerst geuanuten Gattung von Aufgaben sind die Zahlen-
grössen regelmässig durch Strecken versinnlicht, welche bald zwei
Buchstaben, bald nur einen als Bezeichnung führen. Im letzteren
Falle bedeutet die einfache Nebeneinanderstellung zweier Buchstaben
deren Summe ^). Die in geometrischer Einkleidung auftretenden Auf-
gaben sind meistens solche, deren Auflösung von einer Anwendung
des pythagoräischen Lehrsatzes abhängt. Einmal handelt es sich
z. B. um die Lage eines Brunnens, der gleich weit von den Spitzen
zweier Thürme entfernt sein solP). Gegeben ist die Entfernung der
Thürme von einander und deren beiderseitige Höhen. Man verbindet
die beiden Thurmspitzen geradlinig und errichtet auf dieser Ver-
bindungslinie in ihrer Mitte eine Senkrechte, so trifft letztere bei
gehöriger Verlängerung in den Brunnen ein. Der Brunnen liegt für
Jemand, der in der Grundebene sich befindet, dem höheren Thürme
näher als dem niedrigeren, kann bis zum Fusse des höheren Thurmes
vorrücken und sogar jenseits desselben zu suchen sein. Nach dieser
Aufgabe treten unvermittelt wieder solche auf, bei welchen Zahlen
in stetiger Proportion wachsen. Es sind Gewinnrechnungen ^), bei
denen ein Kaufmann von Ort zu Ort reist und sein Kapital an jedem
Orte in gleichem Verhältnisse vermehrt. Dann wird*) die Auflösung
der unbestimmten Gleichung X" -\-y^ = a^ in rationalen Zahlen ver-
langt, woran neuerdings geometrische Aufgaben^) sich anschliessen.
Jene unbestimmte Gleichung hat auch Diophant (Bd. I, S. 450) sich
vorgelegt, aber die Behaudlungsweise ist eine wesentlich andere als
bei Leonardo, wenn auch die letzten Gründe der beiden Verfahren
die gleichen sind. Leonardo geht von irgend einem pythagoräischen
Zahlendreiecke aus, welches a^-{-ß'^ = 'y^ bedingt. Daraus folgt
( — ] H" ( ) ^=1 ^^d daraus I — j +( ) = a^. Aehnlicherweise
werden auch verwandte Aufgaben behandelt, und zugleich ist wieder
auf das Lihellum de quadrafis verwiesen^). Den Abschnitt und mit
ihm das ganze Werk beschliessen erwähntermassen Aufgaben aus
der Algebra und Almuchabala ''). Gleich zu Anfang giebt eine Rand-
note Maumeht zu erkennen, dass es die Algebra des Alchwarizmi
ist, die wir hier zu erwarten haben. Wirklich finden wir die sechs
^) Leon. Pisano I, 395 Z. 32 — 33: qiiia est sicut a ad b ita g ad d,
erit ergo ut ab ad b ita gd ad d. Vergleiche damit auch pag. 397 Z. 8—9 sit
summa quadratorum ah 22.5, womit gemeint ist a^ -)-&*= 225. *) Ebenda pag.
398—399. 3) Ebenda pag. 399—401. *) Ebenda pag. 401—403. '^) Ebenda
pag. 403 — 406. ^) Ebenda pag. 403: Nam unde hec inventiones precedunt geo-
metrice demonstrata sunt in libello, quem de quadratis composui. ') Ebenda
pag. 406—459.
Cautoe, Geschichte der JMathem. U. 2. Aufl. 3
34 41. Kapitel.
Gleichungsformen ax^ ^=hx, ax^ = c, hx = c, ax^ -\- hx ^ c,
hx-\-c = ax^, ax^ -\-c^=^dx, deren drei letzte mittels Division durch
a zur Auflösung zubereitet werden. Wir finden die gleichen geo-
metrischen Naehweisuugen der Richtigkeit der Auflösung wie bei
Alchwarizmi (Bd. I, S. 678). Wir finden das Zahlenbeispiel x^-\- 10^= 39
nebst anderen und daneben eine zweite Gruppe von Beispielen, welche
auf Alkarchi zurückweisen^). Wir finden die Bemerkung^), dass der
Form ax^ -{-c=^hx regelmässig zwei Wurzel werthe Genüge leisten.
Leonardo geht dann noch in vielfältigen Aufgaben über seine Vor-
lagen hinaus. Die gestellten Fragen führen stets zu Gleichungen von
einer der sechs Formen, sofern auch Wurzel- und Potenzgrössen als
Vertreterinnen der Unbekannten zugelassen werden, aber Leonardo
legt in der Fragestellung eine Gewandtheit an den Tag, welche auch
dem heutigen Leser Staunen erregen mag. Die Kunstausdrücke,
deren er sich bedient, sind census für das Quadrat der Unbekannten,
radix (nicht res wie im 12. Abschnitte vergl. S. 22) für die Un-
bekannte selbst, numerus für die Gleichungsconstante.
Wir sind in der Schilderung des Liber Abaci fast unerträglich
ausführlich geworden, während es eine Zeit gab, in welcher man
kaum etwas Anderes von demselben rühmte, als dass dort fast zuerst
die modernen Zahlzeichen mit der Null und dem Stellungswerthe
durchgängige Verwendung fanden und mit dem Buche sich in weiteren
und weiteren Kreisen einbürgerten. Die Entschuldigung der Breite,
mit welcher wir berichtet haben, liegt in eben dem, was wir berichten
durften, liegt in dem zahlreich Merkwürdigen, an welchem wir
schweigend vorübergingen. Welch ein Werk! Wir kennen eine
ziemliche Anzahl von Vorgängern desselben in den verschiedensten
Sprachen, aber wo ist nur entfernt dessen Gleichen? Wir wissen
kaum, was wir mehr bewundern sollen: die Möglichkeit, dass ein
solches Werk am Anfange des XIIL Jahrhunderts geschrieben werden
konnte oder die Verstäudnissfähigkeit dafür an dem Kaiserhofe.
Wohl hätten wir an unseren Bericht noch diese und jene Frage
anzuknüpfen. Wir unterdrücken sie bis auf eine, welche wir mehr
stellen als beantworten. Wir erwähnten (S. 5), Leonardo erzähle, er
habe in Allem, was er auf seinen Reisen gelernt, den Algorismus
und die Bögen des Pictagoras mit inbegriffen, nur Stümperwerk
— quasi errorem — gefunden verglichen mit der Methode der Inder.
Was verstand er unter dieser Methode? Man hat diese Frage viel-
1) Wöpcke hat in seinem Eoctrait du Fakhri (Paris 1853) pag. 29 die Auf-
gaben zusammengestellt welche Leonardo aus Alchwarizmi und pag. 25 — 28
diejenigen, welche er aus Alkarchi geschöpft zu haben scheint. *) Leon.
Pisano I, 409.
Die übrigen Schriften des Leonardo von Pisa. 35
fach aufgeworfen, mancherlei Antworten darauf gegeben. Dass das
Rechnen mit Stellungswerth nicht gemeint sein kann, verbürgt der
Gegensatz gegen Algorismus. Wir schliessen uns der Vermuthung
an, Leonardo habe unter der Methode der Inder die Methode des
falschen Ansatzes verstanden, welche ja auch in einem wahr-
scheinlich aus dem Arabischen übersetzten Schriftstück (Bd. I, S. 688)
als indischen Ursprunges bezeichnet wird, und welche in dem 12. Ab-
schnitte des Liber Abaci mit einer unverkennbaren Vorliebe und Aus-
führlichkeit behandelt ist.
42. Kapitel.
Die übrigen Schriften des Leonardo von Pisa.
So bedeutend nach allen Richtungen der Liber Abaci war, so
bildete er doch nicht die bedeutendste schriftstellerische Leistung
seines Verfassers. Wir müssen jene anderen mit der ersten Ausgabe
des Abacns verglichen späteren Schriften Leonardo's nun kennen
lernen.
Im Jahre 1220 widmete er\) die Practica geometriae einem
Magister Dominicus, der die Ausarbeitung einer solchen von
ihm gewünscht hatte. Die Vermuthung^), Magister Dominicus sei
jener Astrologe gewesen, der bei einem Fach- und Zeitgenossen
Guido Bonatti unter dem Namen Dominicus Hispanus Erwähnung
findet, ist von so hoher Wahrscheinlichkeit, dass man kaum nach
einer anderen wird suchen wollen. Dass Leonardo auf Anregung
dieses Freundes das neue Werk verfasste, ist wohl mehr als nur
stylistische Wendung. Leonardo's Erstlingswerk war erschienen. Bei
vollendeter mathematischer Klarheit und Strenge war es abschreckend
schwierig. Andrerseits behandelte es Gegenstände, welche der Kauf-
mann mitten im Verkehre des Lebens brauchen konnte, mitunter
brauchen musste. Zwei Gattungen der Leser werden wir uns dem-
nach zu denken haben: solche die um des Inhaltes willen die Form
mit in den Kauf nahmen, solche die an der Form selbst Gefallen
fanden, Persönlichkeiten der letzteren Art wies der Kaiserhof auf.
Sie waren vorbereitet zu mathematischem Denken durch die seit
^) Leon. Pisano II, 1 — 224: Incipit pratica geometriae composita a Leo-
nardo pisano de filijs honaccij anno M''CC''XX''. Bogasti amice Dominice et
reverende magister, ut tibi librum in pratica geometriae conscribereni. *) Bald.
Boncompagni, Intorno ad aleune opere di Leonardo Pisano etc. {Borna 1854)
pag. 98 in der Note.
3*
36 42. Kapitel.
knapp fünfzig Jahren vorhandenen Uebersetzungen aus dem Arabischen
eines Plato von Tivoli, eines Gerhard von Cremona, vielleicht
Anderer, die wir nur nicht mehr kennen. Die Astrologie, vom Kaiser
selbst geschätzt, trug auch dazu bei Neigungen zu wecken, welche
seit Jahrhunderten in einem Todesschlafe gefangen lagen. Nun war
der Spanier Dominicus ein Astrolog. Man kann sich ganz gut vor-
stellen, er habe gewünscht auch in geometrischen Dingen Unter-
weisung durch Leonardo zu erhalten, durch ihn, der in Rechenkunst
und Algebra als vortrefflicher Lehrer sich bewährt hatte, und auf
seinen Wunsch sei die Praxis der Geometrie entstanden, ein Werk,
welches trotz seines Namens für die Praxis des Lebens nur wenig
bot, kaum einigen wenigen Feldmessern Dienste leisten konnte. Der
Feldmesser selbst verlangte nicht die geometrischen Beweisführungen,
nach antikem Muster erfunden, wenn nicht geradezu alten Schrift-
stellern entnommen. Waren doch in den für Feldmesser im Alter-
thum zusammengestellten Schriften meist nur Regeln gegeben, wie
man zu verfahren habe; warum man so verfahre, blieb unerörtert,
wenn auch einzelnen feldmesserischen Schriftstellern nicht unbekannt.
Leonardo's Praxis der Geometrie erhebt sich durch die Beweis-
führungen, welche sie enthält, über ihre Vorbilder aus alter Zeit.
Sie bleibt ihnen sehr nahe in der bunten Abwechslung zwischen
metrologischen, arithmetischen, geometrischen und stereometrischen
Lehren. Die Figuren sind mit Buchstaben versehen und hier tritt
fortwährend der Gegensatz zu Tage, auf welchen wir (S. 31 Anmerk. 2)
schon hingewiesen haben. Die Buchstaben folgen theils der Anord-
nung des lateinischen, theils und zwar in ihrer grossen Mehrheit der
des griechisch-arabischen Alphabetes. Möglich, dass dadurch eine
Unterscheidung zwischen selbsterfundenen und einfach übernommenen
Beweisen zu gewinnen ist, möglich auch dass Leonardo die Sitte
seiner arabischen Lehrmeister sich so sehr angeeignet hatte, dass sie
ihm auch da zur zweiten Natur geworden war, wo er selbständiger
arbeitete. Li diesem Falle müsste man Gründen nachspüren, welche
wenigstens seltene Abweichungen von der Gewohnheit hervorbrachten.
Leonardo beginnt mit Definitionen. Maasstabellen folgen und auf
diese Rechnungsvorschriften an benannten, theilweise auch an unbe-
nannten Zahlen. Dann erst kommt eigentlich Geometrisches, aber
auch wieder mit Arithmetischem untermischt. Wir heben nun Einzel-
heiten aus verschiedenen Gebieten hervor.
Der pythagoräische Lehrsatz^) ist durch Fällung einer Senk-
rechten von der Spitze des rechten Winkels auf die Hypotenuse und
1) Leon. Pisano II, 32.
Die übrigen Schriften des Leonardo von Pisa. 37
durch Beachtung der Aehnlichkeit der eutstehenden Dreiecke be-
wiesen. — Ein eigenthümlich auftretendes Wort casus bedeutet den
Abschnitt, der durch die von der Spitze eines Dreiecks auf die Grund-
linie gefällte Senkrechte auf der Grundlinie hervorgebracht wird.
Der Einfallspunkt dieser Senkrechten, an den man zu denken geneigt
sein könnte, kann nicht gemeint sein, da einmal von maior casus und
von minor casus im Gegensatze zu einander die Rede ist^). -^ Die
Ausmessung des Dreiecks als Rechteck aus der Grundlinie und der
halben Höhe^) ist an der gleichen Figur gezeigt, deren später Ganeya
in Indien (Bd. I, S. 614) sich bediente. — Die heronische Dreiecks-
fbrmel ist mit einem Beweise^) versehen, welcher dem als heronisch
überlieferten ähnelt, ohne ihm völlig gleich zu sein. — Es giebt
sechserlei Vierecke'^), nämlich die fünf euklidischen Arten und ausser-
dem — als fünftes in der Aufzählung zwischen das Rhomboid und
das unregelmässige Viereck eingeschaltet — das Paralleltrapez, quae
habet capita ahscissa, und von diesem letzteren giebt es wieder vier
Unterarten^), je nachdem das Paralleltrapez gleichschenklig, recht-
winklig, an beiden Seiten der Basis spitzwinklig ohne Gleichschenklig-
keit, oder an einer Seite der Basis spitzwinklig, an der anderen
stumpfwinklig ist. Hier erscheinen also euklidische und heronische
Erinnerungen gemengt, letztere in vermuthlich reinerer Gestalt als
die griechische Ueberlieferung uns aufbewahrte. Ausserdem ist auch^)
von der figura harhafa die Rede d. h. von dem (Fig. 7) Vierecke mit
einspringendem Winkel, das xoUoycövLOv (Bd. I, S. 341)
des Zenodorus. — Das Verhältniss des Kreisumfanges
zum Durchmesser ist in der Form ^) ~~-- <C tc < ——-
4 1
angegeben. Das arithmetische Mittel von -— und -r- ist
— oder beinahe . Leonardo von Pisa sagt -~ sei
in medio zwischen den genannten Grenzen und formt ^'s- '^■
.. 1440 4320 864 , , , , 34,56 o-<^ioio
weiter um zu 71^=----=^-—-: = —- d. h. er setzt jr = ----=- 3,141818 .. .
— Die Theilnng von Figuren^) ist augenscheinlich einer arabischen
Bearbeitung von Euklid's gleichnamigem im Urtexte uns verlorenem
Buche nachgebildet. — Trigonometrische Betrachtungen lehnen sich
an Ptolemäus an. Insbesondere ist diesem Schriftsteller der Beweis
^) Leon. Pisano II, 35lin. 21 und22. ^) Ebenda pag. 35. ^) Ebenda pag. 40.
^) Ebenda pag. 56. ^) Ebenda pag. 78. *') Ebenda pag. 83. '') Ebenda
pag. 90. Vergl. Hultsch in Zeitschr. Math. Phys. XXXIX Histor.-liter. Abtlg,
S. 170 und Weissenborn, Die Berechnung des Kreisumfanges bei Archimedes
und Leonardo Pisano (Berlin 1894) S. 30 flg. «) Leon. Pisano II, 110—148.
38
42. Kapitel.
des Satzes^) entuommen, dass Bögen in gi-össerem Verhältnisse stehen
als die zugehörigen Sehnen. Der Kunstausdruck sinus versus arcus-)
hat wohl von Plato von Tivoli her Eingang gefunden.
In der praktischen Feldmesskunst sind einige Kunstgriffe ge-
lehrt, welche wohl von Alters her in Uebung waren. Einzelnes^)
zeigt eine fast wörtliche Uebereinstimmung mit erhaltenen Bruch-
stücken des Frontinus (Bd. I, S. 513). Anderes^) erinnert täuschend
an Gerbert. Höhenmessungen mittels eines massiven hölzernen Drei-
ecks und mittels eines Quadranten werden gelehrt und durch gute
Zeichnungen erläutert. Der Quadrant (Fig. 8) besteht, wie sein Name
es ausdrückt, aus dem vierten Theile
eines Kreises, dessen Bogen in 16 gleiche
Theile getheilt ist, während eine vqm
Kreismittelpunkte ausgehende Gerade
den dort durch die beiden den Qua-
dranten begrenzenden Halbmesser ge-
bildeten rechten Winkel halbirt. Von
dem Durchschnittspunkte dieser Geraden
mit dem Quadrantenbogen gehen den
genannten Halbmessern parallel wieder
zwei feste in je 10 gleiche Theile ge-
theilte Gerade aus. Visirt man längs dem
einen Grenzhalbmesser nach einem entfernten Höhen- oder Tiefpunkte,
so schneidet ein vom Mittelpunkte herabgelassener Bleisenkel den ge-
theilten Bogen und eine der getheilten Geraden. Auf jenem liest man die
Grösse des eingestellten Winkels, auf dieser dessen Tangente, beziehungs-
weise dessen Cotangente ab. Eine Senkrechte von einem Punkte auf
eine' gegebene Gerade auf dem Felde wird folgendermassen gefällt'').
Der Feldmesser stellt sich in dem Punkte auf, von welchem die Senk-
rechte ausgehen soll, befestigt daselbst ein Seil und begiebt sich mit
dem anderen Seilende nach jener Geraden hin, wo dem Augenmaasse
nach die Senkrechte ungefähr eiutrefi'en wird. Das Seil wird jetzt
gespannt, so dass es über die Grundlinie etwas hinausreicht, dann
aber werden die zwei Punkte der Grundlinie bemerkt, in welche die
ganze Seillänge genau eintrifft. In der Mitte zwischen beiden ist der
richtige Höhenpunkt. Als eine beim Feldmessen nothwendige Vor-
richtung wird auch noch das Archipendulum genannt^), ein massives
gleichschenkliges Dreieck mit einem an der Spitze befestigten Faden,
an welchem ein Bleistück hängt (filum cum plumbo).
1) Leon. Pisano II, 97. *) Ebenda pag. 94. ^) Ebenda pag. 107.
*) Ebenda pag. 202—206. Vergl. Agrimensoren S. 180—181. ^) Leon. Pisano
II, 43. «) Ebenda pag. 108.
Fig. 8.
Die übrigen Schriften des Leonardo von Pisa. 39
In der stereometrischen Abtheilung finden wir^) einen Auszug
aus dem XL, XII., XIII. Buche des Euklid und aus jenem Buche des
Hypsikles, welches unter dem Namen eines XIV. Buches des Euklid
mitgeführt wurde. Die Aufgaben sind abgesondert und den Lehr-
sätzen nachgeschickt, auch sonstige muthmasslich selbständige Ab-
änderungen in der Reihenfolge der beweislos ausgesprochenen Sätze
sind wahrnehmbar. Es ist nicht unmöglich, dass Leonardo sich einer
Uebersetzung des Gerhard von Cremona bedient hat^). Von Sätzen,
welche bei Euklid sich noch nicht finden, erwähnen wir nur den
von der Gleichheit des Quadrates der Diagonale eines rechtwinkligen
Parallelepipedon mit der Summe der Quadrate dreier in einem Eck-
punkte aneiuanderstossenden Seiten^). Als bei griechischen Geometern
noch nicht bewiesen hätten wir vielleicht schon oben des plani-
metrischen Satzes von dem gemeinsamen Durchschnitte der drei Mittel-
linien eines Dreiecks*) gedenken sollen. Allerdings wusste Archimed,
dass das Dreieck nur einen Schwerpunkt besitze, und dass er als
Durchschnittspunkt irgend zweier Mittellinien gefunden werde. Aber
damit war doch kein eigentlich geometrischer Beweis geliefert, und
ein solcher ist der Leonardo's (Figur 9). Die Mittellinie hz wird ver-
längert, bis sie in i eine durch a gezogene Parallele zu hg schneidet
Nun ist Aaizc\)ghz, und wegen as=^gz
findet nicht bloss Aehnlichkeit sondern
Congruenz statt, d.h. es ist ai=gh = 2 eh.
Ausserdem ist /\aidcoehd, folglich wegen
ai = 2ch auch a(Z=2e^, der Schnitt-
punkt einer Mittellinie durch eine andere
theilt die erstere im Verhältnisse von 2:1,
kann also nur einer sein, welche Mittel-
linie man auch als Schneidende wähle.
Auch Arithmetisches und Algebraisches ist zu berichten. Das
Wort figura cata tritt auf^), unsere frühere Erläuterung dieses Aus-
druckes durchaus bestätigend. Es begegnet uns die Behauptung^),
jede Gleichung x'^ -\- c^hx habe zwei Wurzel werthe, wobei allerdings
ebensowenig wie im 15. Abschnitte des Abacus (S. 34) der Möglich-
keit gedacht ist, es könnte, auch einmal x = ^ ^®^^' Quadratwurzel-
ausziehungen aus benannten Flächenzahlen''), Kubikwurzelausziehungen
aus unbenannten Zahlen^) werden vorgenommen, welche mit dem
1) Leon. Pisano 11, 159—162. ^) Curtze brieflich. "") Leon. Pi-
sano n, 163. *) Ebenda pag. 112—113. ^) Ebenda pag. 52 und 54.
") Ebenda pag. 60. ^) Ebenda pag. 23. VergL hierzu Hunrath, Die Berech-
nung irrationaler Quadratwurzeln vor der Herrschaft der Decimalbrüche (Kiel
1884), S. SOflgg 8) Leon. Pisano II, 148—153. Hunrath I.e. S. 35— 36.
40 -i-- Kapitel.
Verfahreu im Abacus (S. 32) übereinstimmen. Endlich und gewiss
am unerwartetsten in einem praktisch-geometrischen Werke stossen
wir auf eine zahlentheoretische Aufgabe. Es solP) eine Quadratzahl
gefunden werden, welche um 5 vermehrt wieder eine Quadratzahl
gebe. Leonardo löst die Aufgabe nach zwei Verfahreu, welche er
zwar nur an den bestimmten Zahlenwerthen ausübt, welche aber
leicht verallgemeinert zur Darstellung sich eignen. Soll x^ -\- u
neuerdings Quadratzahl sein, so wählt man erstens eine Quadratzahl
a-<iu und setzt dann (x -\- af = x^ -{- ii , worauf sogleich x^ —
gefunden ist. Die zweite Methode unterscheidet zwei Fälle, den
eines ungraden und eines graden n. Bei ungradem u=^2n-\-l ist
augenscheinlich 1 + 3 -| [-(^^* — l)=w- und 1 -}-3H hC^w — 1)
-\- (2n -\-l) =^{n-\- ly. Die gewünschte Quadratzahl, welche um ii
^ 2 « -)- 1 vergrössert eine neue Quadi-atzahl giebt, ist also n^ = C—^ — ) •
Bei durch 4 theilbarem u = 4:n = (2n — 1) -\-['2n-{-l)istl-\-'d -\
+ (2n — 3)=(w— 1)2, 1 + 3H \-{2n — 3)-\-{2n—l)-\-(2u-i-l)
= (n-f-l)^. Die gewünschte Quadratzahl ist also (a — l)-=l — - — | •
Es fehlt noch die Möglichkeit des durch 2, aber nicht durch 4 theil-
— )
-j- ^( = (— I • Bei v = 2 sagt uns diese Erwägung, man solle zuerst
( ^*~ j -\- Au = {u -\- ly setzen, um sodann (— -^ — j -\-u^^ r~^ j
zu folgern, allerdings keine ganzzahlige Auflösung, welche aber unter
der gemachten Voraussetzung gar nicht möglich ist.
So der Inhalt jenes zweiten Werkes Leonardo's. Hatte das erste
schon, wie wir annahmen, seine Bekanntschaft mit Persönlichkeiten
des kaiserlichen Hofstaates vermittelt, so dürfte auf das zweite hin
die Neugier des Kaisers selbst rege gemacht worden sein, der den
merkwürdigen Mann, den Wiedererwecker alter Wissenschaft und
Erfinder neuer Sätze, kennen lernen wollte. Jedenfalls erfolgte die
Vorstellung Leonardo's, die wir in doppeltem Sinne als Vorstellung
bezeichnen dürfen, da Leonardo nicht bloss dem Kaiser zugeführt
wurde, sondern in dessen Gegenwart Aufgaben löste, welche man ihm
zu diesem Zwecke vorlegte. Wann, wo fand dieses Ereigniss statt?
Nach der Vorstellung entstanden zwei Schriften, welche uns scheinbar
beide Fragen unzweideutig beantworten. Liber quadratorum und
Fl OS verfolgen beide den Zweck, die Methoden zu schildern, nach
welchen Leonardo che ihm gestellten Aufgaben löste, und sie nennen
den Ort, wo Leonardo bei Hofe erschien. Der Liber quadratorum ist
wiederholt in der zweiten Ausgabe des Abacus genannt, mithin vor
1) Leon. Pisano II, 216—218.
Die übrifjen Schriften des Leonardo von Pisa. 41
1228 verfasst, wenn dieses das Jahr ist, in welchem die zweite Aus-
gabe des Abacus erfolgte. Damit steht in vortrefflicher Ueberein-
stimmung, dass als Entstehungsjahr des Liber quadratorum 1225 an-
gegeben ist^). Die Vorstellung dürfte daher in eben diesem Jahre
oder wenigstens nicht allzulange früher, etwa 1224, stattgefunden
haben. Nun aber der Ort der Vorstellung! Im Liber quadratorum
heisst es gleich nach der Ueberschrift in Worten, welche an seine
Hoheit den glorreichen Fürsten F., also offenbar an Kaiser Friedrich
gerichtet sind, Meister Dominions — worunter offenbar wieder jener
Spanier gemeint ist, welchem die Praxis der Geometrie zugeeignet
ist — habe Leonardo vorgestellt, und zwar cum me pisis duceret
praesentandum. Damals sei Magister Johannes von Palermo zugegen
gewesen, der ihm Fragen vorgelegt habe. Die hier in lateinischer
Sprache angeführten Worte können entweder bedenten, Dominicus
habe Leonardo aus Pisa hingeführt oder er habe ihn in Pisa hin-
geführt, um vorgestellt zu werden. Hier ist nur die letztere Ueber-
setzung zulässig, denn im Flos findet sie ausdrückliche Bestätigung^).
In Gegenwart Eurer Majestät, glorreicher Fürst Friedrich, hat Euer
Philosoph, Magister Johannes von Palermo sich in Pisa ausführlich
über die Eigenschaften der Zahlen besprochen und mir dabei zwei
Aufgaben gestellt. So erzählt Leonardo im Flos, und womöglich
noch bestimmter klingt eine zweite Stelle derselben Abhandlung:
Diese Frage hat mir, mein Kaiser und Herr, in Eurem Palaste in
Pisa in Gegenwart Eurer Majestät Magister Johannes von Palermo
vorgelegt. Wir wiederholen also unsern Ausspruch, es sei scheinbar
unzweideutig festgestellt, dass Leonardo spätestens 1225, vielleicht
schon 1224 in Pisa dem Kaiser persönlich bekannt wurde. Aber
warum wiederholen wir abermals das Wort scheinbar? Weil die mit
grosser Sorgfalt gesammelten Regesten Kaiser Friedrich II. zu erkennen
geben, dass dieser vor Juli 1226 überhaupt nicht in Pisa war, und
damals auch nur flüchtig, dann erst wieder Ende December 1239,
August 1244, Mai 1245, April 1247, Mai 1249 ^j. Zwischen diesen fest-
gestellten Daten und einer schon vor 1225 vorgekommenen öffentlichen
wissenschaftlichen Vorstellung in Gegenwart Friedrichs im Kaiser-
palaste zu Pisa ist ein so klaffender Zwiespalt, dass wir ihn nicht
zu überbrücken vermögen.
Magister Johannes von Palermo, magister Johannes panor-
mitanus, der Philosoph des Kaisers, dürfte wohl derselbe Hofmanu
1) Leon. PisanoII, 253: Incipit Jiber quadratorum composüiis a Leo-
nardo Pisano. Anni 3I.CC. XXV. ^) Ebenda pag. 227 und pag. 234. =^) Wir
verdanken diese Angaben Hrn. Eduard "Winkelmann, vrelcher uns deren
Benutzung gütigst gestattete.
42 42. Kapitel.
sein, welcher als Notar und Getreuer des Kaisers bezeichnet^) im
Mai 1221 zu Catane eine Urkunde Friedrich's zu Gunsten eines
Klosters bei Messina ausfertigte, und welcher auch 1240 noch vom
Kaiser in wichtigeren Angelegenheiten beschäftigt wurde ^). Die Auf-
gaben, welche er Leonardo stellte, bezeugen, dass er auch als tüchtiger
Mathematiker betrachtet werden muss, wenn er es wirklich war, der
jene Aufgaben ersann, wenn er nicht etwa ein Freund Leonardo's
war, der durch ihn selbst bis zu einem gewissen Grade wenigstens
angewiesen worden war, welcherlei Fragen ihm zur schleunigen
Beantwortung erwünscht seien. Jedenfalls hält es nicht schwer, den
Keim der Aufgaben bei der Pisaer Vorstellung in Leonardo's Schriften
ausfindig zu machen.
Die erste Aufgabe ging dahin, eine Quadratzahl zu finden, welche
um 5 vermehrt und vennindert neue Quadratzahlen liefere , und
(5\- 97
3~) ==ll.i, • Es ist auch wirklich
"iS + » = Ißffi = i^hf -d "i^ - ^ = 6ffi = (4)'- Wie
sollten wir uns hier nicht an jene Aufgabe aus der Praxis der Geo-
metrie erinnert fühlen, welche verlangte eine Quadratzahl zu finden,
die um 5 vermehrt abermals eine Quadratzahl liefere? Neu war nur
die zusätzliche Bedingung, dass auch die Verminderung um 5 eine
Quadratzahl hervorbringen müsse. Und auch sie war keineswegs neu,
und ein Schüler arabischer Zahlen theoretiker war in der Lage, die Auf-
gabe ebensowohl als ihre Auflösung zu kennen. Diophant hatte
gelehrt: In jedem rechtwinkligen Dreiecke bleibt das Quadrat der
Hypotenuse auch dann noch ein Quadrat, wenn man das doppelte
Product der Katheten davon abzieht oder dazu addirt. Araber be-
schäftigten sich (Bd. I, S. 708 — 711) weitläufiger mit dem Gegenstande
und gelangten, indem sie von rationalen rechtwinkligen Dreiecken
ausgingen, zu den nur ganze Zahlen enthaltenden Endgleichungen
(rt- + h'-f + 4ah(a- — h^) = (a^ — ^" i 2ff&)^. Allein wenn wir
auch die Voraussetzung, Leonardo habe diese Ergebnisse gekannt,
für berechtigt halten, so sind wir doch weit entfernt, ihm dadurch
den Makel anheften zu wollen, als habe er nur wiederholt, was An-
dere vor ihm leisteten. Leonardo ging seine eigenen Wege, welche
von denen Diophant's, von denen der Araber verschieden waren,
welche er dagegen schon in der Praxis der Geometrie bei der un-
vollständigeren Aufgabe eingeschlagen hatte (S. 40). Seinen Aus-
^) Huillard-Breholles, Historia diplomatica Friderici II imper. II, 185;
per manus loannis de Pmiormo notarii et fidelis nostri. *) Ebenda V, 726, 727,
745, 928.
Die übrigen Schriften des Leonardo von Pisa. 43
gangspuukt bildet der Satz von der Entstehung jeder Quadratzahl ii^
als Summe der n ersten ungi-adeu Zahlen 1 -f- 3 + 5 -[-••• -f- (2« — 1).
Eine Folge desselben ist der weitere Satz^), dass, wenn zwei auf-
einander folgende Zahlen der natürlichen Zahlenreihe zusammen eine
Quadratzahl bilden, das Quadrat der grösseren Zahl jedesmal Summe
zweier Quadratzahlen sei. Moderne Bezeichnung gestattet leicht die
Richtigkeit des Satzes einzusehen. Es ist immer
(«, + \f = cC- + (]/« + {a + 1 ))^
und damit auch das zweite Quadrat rechts vom Gleichheitszeichen
eine rationale Wurzel besitze, ist hinreichend und nothwendig, dass a
und a -\- 1 eine quadratische Summe besitzen. Durch seinen Satz ist
Leonardo in den Stand gesetzt, beliebig viele ganzzahlige rechtwink-
lige Dreieckg herzustellen, und zwar in einer ihm eigenthümlichen
Weise. Aber das gleiche c^, welches der Gleichung er -f- ?>" = c-
genügt, kann auch als Summe gebrochener Quadrate dargestellt
werden^). Es sei bekannt d' -\- e^ = p, so folgt leicht ~ -j- ^ ^ 1,
(7)' + (7)' = ^'- ^""'^ ^°^^^ ^^^^^"^ ^®^ ^^^^ ')' ^^^^ ("' +t^') (^' + ^^')
auf zwei verschiedene Arten als Summe zweier Quadrate dargestellt
werden könne, vorausgesetzt, dass die Zahlen a, h, c, d keine Pro-
portion bilden, d. h. dass weder a :h = c:d noch a:h= d:c. Auch
das war nicht neu. Diophant hatte eine ganz ähnliche Behauptung
ausgesprochen (Bd. I, S. 451), aber die hinzutretende Bedingung ist
von Leonardo beigefügt, und sie giebt uns, falls wir sie dahin aus-
sprechen, es dürfe weder ad = hc noch ac = hd sein, die Gewähr,
dass Leonardo die Zerlegungen
(«2 + l-) ic' + ä") = (a c 4- 5 d)- + {a d—hc)- = (nd-{-h cf + (ac—h df
genau studirt hatte. Wie Leonardo in den bereits von uns ge-
nannten Sätzen über seine Vorgänger sich erhob, so auch im weiteren
Verlauf des Liber quadratorum. Archimed hat die Summe der mit 1
beginnenden Quadratzahlen gebildet (Bd. I, S. 298). Andere sind ihm
gefolgt. Leonardo summirt in ungemein geistreicher Weise die un-
graden sowie die graden Quadratzahlen, jedes für sich^). Er be-
dient sich dabei der Identität y(r + 2)(2r-f 2)=(r-2)r(2r-2) + 12r-.
Nimmt in ihr r alle ungraden von r = 3 beginnenden Werthe der
Reihe nach an, nachdem man schon vorher die von selbst einleuch-
tende Identität 1 • 3 • 4 = 12 • 1^ anschrieb, und setzt Alles unter-
einander, so entsteht:
^) Leon. Pisano II, 254. ^) Ebenda j^ag. 256. ■') Ebenda pag. 257 flg.
*) Ebenda pag. 263 flg.
44 42. Kapitel.
1-3- 4= 12 -P,
3.5- 8 == 1 • 3 • 4 + 12 • 3^
5 • 7 ■ 12 = 3 • 5 • 8 + 12 • 52,
>-(r + 2){2r + 2) = (r — 2)r(2r — 2) + 12 • r\
Addirt man diese Gleichungen, indem mau die Glieder streicht, welche
links und rechts in gleicher Weise erscheinen, so bleibt zuletzt nur
r(r + 2)(2r + 2) = 12(1^ + 3- + 5^ -j \- r^) übrig. Es ist leicht
ersichtlich, wie man auch statt r sämmtliche gerade Zahlen einsetzen
kann. Dadurch entsteht :
2.4-6= 12-22,
4 . 6 • 10 = 2 • 4 • 6 + 12-42,
6 • 8 • 14 = 4 • 6 ■ 10 + 12 • 6--,
r (■>• + 2)(2r + 2).= (/• — 2)r{2r — 2) + 12 • r^
mit der Summe r{r + 2) (2;- + 2) = 12(2-- -f 4- + 6^ -| \- r-).
Weitergehend erörtert Leonardo eine aus zwei ganzen Zahlen a, h ge-
bildete Zahl^), welche, jenachdem die Summe a -\-h grad oder un-
grad ist, entweder aJ){a-\-h){a — h) oder 4aZ^(a-}- &)(« — &) heisst. Im
einen wie im anderen Falle ist, wie Leonardo streng nachweist, die
Zahl durch 24 theilbar. Das ist die Zahl, deren, wie wir oben in Er-
innerung brachten, die Araber sich bei der Aufgabe drei eine arith-
metische Progression bildende Quadratzahlen zu finden bedienten, nur
dass Leonardo wieder weiter ging. Von ihm stammt jener Theilbar-
keitssatz, der mit der Hauptaufgabe in keinerlei Verbindung steht,
dafür aber an sich von zahlentheoretischem Literesse ist. Jetzt kommt
auch Leonardo zur eigentlichen Hauptaufgabe^). Jede der drei in
arithmetischer Progression stehenden Quadratzahlen x^ , x^, x^^ (wo-
bei x^ < a-2 < x^ angenommen ist) entstand als Summe aufeinander-
folgender, mit der 1 beginnender ungrader Zahlen. Es muss also
x,f aus den gleichen Ungraden wie x^ bestehen, nur um einige ver-
mehrt, ebenso auch aus den gleichen Ungraden wie x^-, nur um
einige verringert. Mit anderen Worten, die unter sich gleichen
Unterschiede xj^ — x^ = x^ — x^ sind gebildet, die erste durch
einige ungrade Zahlen unterhalb 2x^ — 1 mit dieser abschliessend,
die zweite durch einige ungrade Zahlen oberhalb 2x^-\- 1 mit dieser
^) Leon. Pisano H, 264. *) Yergl. namentlich über diese Aufgabe
einen commentirenden Aufsatz von Ang. Genocchi in den von Torto-
lini herausgegebenen Anndli di scienze matematiche e fisiclie (Rom 1855) VI,
273—320.
Die übrigen Schriften des Leonardo von Pisa 45
beginnend, wobei, wegen des fortwährenden Zunehmens der ungraden
Zahlen , die Anzahl derer, welche die Summe in der Form x^ — x^^
lieferte, höher ist als die Anzahl derer, welche x^ — x^ hervor-
bringen, z. B. 25 — 1 = 3 + 5 + 7 + 9, 49 — 25 = 11 + 13. Der
Unterschied selbst ist eine durch 24 theilbare Zahl von der oben er-
wähnten Natur und heisst ein Congruum^), die Quadrate x^- und
x^ heissen congruentes^) und Leonardo zeigt nun, wie ein Con-
gruum zu finden sei. Er zeigt auch, dass ein mit einer Quadratzahl
vervielfachtes Congruum die Eigenschaft ein Congruum zu sein bei-
behalte, und dieser Satz bietet die Handhabe zur Lösung der Auf-
gabe, bei gegebener Differenz die drei Quadrate zu finden, falls die
Differenz nicht durch 24 theilbar, also sicherlich kein ganzzahliges
Congruum ist. So war es in dem von Johann von Palermo auf-
gegebenen Beispiele mit der Differenz 5. Leonardo sucht zuerst ein
ganzzahliges Congruum von der Form by^ und findet es als
720 = 5 • 122 = 4 . 5 ■ 4 (5 -f 4)(5 — 4),
d. h. bei a = 5, & = 4. Diese Werthe geben — a^ -\-2ah -\- Ir = 31,
a^J^¥ = Al, «2 _}_ 2a& — 62 = 49 x,nd 31^ + 720 = 41-,
4P -|- 720 = 49-. Endlich ist also nur noch durch 12^ Alles zu
dividiren, um zu den Gleichungen (— j -f- 5 = ( — j , f -- j -\-b = ( — )
zu gelangen, welche die gestellte Aufgabe erfüllen. Bei den vor-
bereitenden Untersuchungen war Leonardo genöthigt, den Zahlen-
werth des Verhältnisses -^ zu berücksichtigen, und er hatte die Fälle
unterschieden, wo -y- ^ , war. Nunmehr beweist er die Unmög-
lichkeit von -j- = ■ Aus dieser Unmöglichkeit folgt nun freilich,
dass ah{a -\- h)(a — h) nicht = [h(a -\- b)]^ und 4a6(a -{- b')(a — h)
nicht =\2h(a -\- hjl^ sein kann. Leonardo geht aber weiter und
schliesst, es könne überhaupt keine Quadratzahl ein Congruum sein^).
Hier scheint eine Lücke in dem sonst vollkommen strengen Ge-
dankengange vorhanden, ohne welche man für Leonardo ein unbe-
stimmtes Erstlingsrecht für die Erfindung des Satzes beanspruchen
müsste, dass zwei Biquadrate kein Biquadrat zur Summe haben können.
Aus X2^ — c = x-^^ und x2^-{-c = x^^ folgt nämlich X2^ — c^ = [xj^x^f
und x^^ = c^ -\- (x^x^y. Kann also c kein Quadrat i/ sein, so ist
unmöglich oc^^ = y^ -{- (x^x^y , also eben so unmöglich der Einzelfall,
^) Leon. Pisano 11, 266: qui voeetur congruum. ^) Ebenda pag. 270:
quadrati congruentes facto congruo. ^ Ebenda pag. 272: nullus quadratus nu-
merus potest esse congruum.
46 42. Kapitel.
der bei x-^^x^ == s'^ entstehen würde ^ d. h. unmöglich x.2^ = y^ -(- z^.
Immerhin würde Leonardo, wie wir absichtlich sagten, nur ein un-
bestimmtes Recht auf diese Entdeckung haben, indem er die hier ge-
zogenen Folgerungen in keiner Weise andeutet. Leonardo schliesst
noch andere verwickelte Aufgaben aus dem Gebiete der unbestimmten
Analytik zweiten Grades an, deren eine, wie er mittheilt, ihm vom
Magister Theodorus, dem Philosophen des Kaisers, gestellt
wurde ^). Sie würde in Zeichen geschrieben darauf hinauskommen,
drei Zahlen x, y, z zu finden, welche jede einzelne der drei Summen
^ + 2/ + ^ + ^^ ^ + !/ + ^ + a;^ + y^ X ^ y -\- z -{- x^ -^ y- -\- z^
zu einer Quadratzahl machen, was durch x' = — , ?/ = — , z = -r^
erfüllt wird, indem alsdann jene Summen zu (^j , zu (12)'^ und zu
werden.
(^)'
Wir kommen zu einer zweiten Aufgabe, welche Johannes von
Palermo unserem Leonardo in Gegenwart des Kaisers vorlegte, und
von welcher in der Flos überschriebenen Abhandlung ^j die Rede ist.
Auch diese Abhandlung ist, gleich den anderen Schriften Leonardo's,
ein Zeichen der genauen Beziehungen des Verfassers zum kaiserlichen
Hofe. Sie ist einem Cardinal R., Diaconus der heiligen Maria in
Cosmedin gewidmet, das ist, wie aus der beigefügten näheren Be-
zeichnung zu ermitteln gelangt), Cardinal Raniero Capocci von
Viterbo. Den Titel Flos erläutert Leonardo selbst in der Widmung
mit Berufung theils auf die blumenreiche Beredsamkeit des Gönners,
dem die Abhandlung zugeeignet ist, theils auf die blühende Art, in
welcher schwierige Aufgaben bewältigt werden, die selbst wieder den
Keim zu Neuem in sich tragen. Die Hauptaufgabe ist die durch
Johannes von Palermo verlangte Auflösung der kubischen
Gleichung"^):
^3 ^ 2a:2 -f- 10a; = 20.
Aus den Seiten 10 und x wird ein Rechteck gebildet. Dann wird
unter Benutzung der gleichen Höhe 10 ein zweites Rechteck a:^, ein
drittes 2a:^ angesetzt, mit anderen Worten, es wird die Folgerung
a; + — -|- — J = 20 und daraus weiter ^+iQ + y=2 gezogen.
Daher muss a; < 2 sein, und wenn x ganzzahlig sein sollte, müsste
es den Werth 1 besitzen. Aber 1^ + 2 . 1- -f- 10 • 1 = 13 < 20, folg-
') Leon. Pisano II, 279. Genocchi 1. c. pag. 357 flgg. *) Ebenda
pag. 227—247. ^) Bald. Boncompagni, Intorno ad alcune opere cli Leonardo
Pisano pag. 17 — 19. *) Leon. Pisano 11, 227: ut inveniretur cubus nuvierus
qui cum suis duobns quadratis ^ deceiu radicihus in unum collectis essent viginti.
Die übrigen Schriften des Leonardo von Pisa. 47
lieh ist X nicht ganzzahlig. Ebensowenig ist x eine rationale ge-
brochene Zahl. Denn es kann unmöglich ^ "h ~ ~f" Vö ^^^* ganzen
Zahl 2 werden, wenn x bereits eine ganze Zahl im Nenner führt,
x^ dem Nenner einen zweiten, x^ noch überdies ihm einen dritten
Factor zuführt. Auch eine Quadratwurzel aus einer rationalen Zahl
kann x nicht sein. Die gegebene Gleichung lässt nämlich die Um-
20 2 a;*
formung in x = . — ^ zu, und damit wäre unter der gemachten
Annahme die Gleichheit von Rationalem und Irrationalem ausgesprochen.
Nach diesen einfacheren Annahmen, die leicht beseitigt wurden, geht
Leonardo zu verwickelteren quadratischen Irrationalitäten über, der-
gleichen Euklid im X. Buche seiner Elemente ausführlich behandelt
hat, und zeigt, dass auch sie die Gleichung nicht erfüllen, vielmehr
Widersprüche hervorrufen ^). Zuletzt giebt Leonardo einen Näherungs-
werth X = 1*^ 22' 7" 42'" 33^^ 4^^ 40^'^, wobei die Anwendung von
Sexagesimalbrüchen weiter fortgeführt erscheint, als es sonst irgendwo
der Fall sein dürfte^). Man hat mit Hilfe der neuesten und ge-
nauesten Auflösungsmethoden die Gleichung behandelt^) und den
Wurzelwerth gleichfalls in Sexagesimalbrüchen als
:z;= P 22' 7" 42'" 33^^^ 4^ 38,5^1
1^^ 1
gefunden, mithin nur um 1- = ^ weniger als Leonardo's
Werth! Eine so ausserordentlich genaue Rechnungsfähigkeit darf
das höchste Erstaunen hervorrufen, und mit demselben das tiefste
Bedauern darüber, dass Leonardo nar den Werth giebt, ohne zu ver-
rathen, wie er ihn erhielt. Mag es ja die grösste Wahrscheinlich-
keit für sich haben, dass Leonardo's Kubikwurzelausziehungen für
Johann von Palermo die Veranlassung boten, die Auflösung einer
kubischen Gleichung von ihm zu verlangen, auf dem Wege zur Er-
mittlung von Leonardo's Verfahren sind wir dadurch keinen Schritt
weiter, und Versuche, welche gemacht wurden, über diese schwierige
Frage Licht zu verbreiten*), muss man leider als ganz erfolglos be-
zeichnen. Von dem einen Versuche werden wir zu reden haben,
wenn wir mit Cardano uns beschäftigen werden. Der andere sucht
nun gar einen Zusammenhang zwischen dem Verfahren Leonardo's
und dem des Al-Käschi (Bd. I, 736 — 737) im XV. Jahrhunderte,
') Eine algebraische Wiederherstellung der bei Leonardo der Form nach
geometrisch geführten Untersuchung von Wöpcke in Liouville's Journal des
mathematiques (1854) XIX, 401—406. "') Leon. Pi sano II, 234. ^ Wöpcke 1. c.
*) Genocchi 1. c. pag. 165 — 168 und Haukel, Zur Geschichte der Mathematik
im Alterthum und Mittelalter S. 293.
48 42. Kapitel.
während letzteres nur dann anwendbar ist, wenn die Gleichung die
Gestalt .// -{- Q = Px mit gegen Q sehr grossem P besitzt, also auf
x^ -|- 2x^ -j- 10a; = 20 in keiner Weise passt. Ein dritter Versuch^)
o-eht von der Voraussetzung aus , Leonardo sei im Stande ge-
wesen, die Umwandlung der Gleichung x^ -}- 2x^ -^ lOx = 20 in
x-\- ^) -j- 8-r-^=20— und weiter in ^/^ -f 8y ?/ = 26— oder unter
Anwendung von Sexagesimalbrüchen in y^ -\- S^ 40' y = 26^ A' 26" AO'"
vorzunehmen. Da 1^ < x < 2« oder 1"40'< ?/ < 2''40' bekannt war,
habe Leonardo versuchsweise yQ= 2" gesetzt. Er erhielt ?/o^ + 8° 40' y^
= 25" 20' mit einem Fehler f^ = 44' 26" 40'". Nahm er als
zweiten Näherungswert qj^ = y^ -\- Je an, d. h. setzte er ij^^ + 8'' 40 '«/^
= 26" 4' 26" 40'" und zog davon y^^ + 8" 40;^^ = 25" 20' ab,
so gelangte er zu Uy^^ + SÄ;^ ?/„ + ^-^^ + §" 40'/v = f^. Links war
aber das erste Glied 21' yQ^ überwiegend und gab mit dem vierten
f 44' '^6" 40'"
allein berücksichtigt Je = .^y^2 _[^ ^o ^o' = 20" 40' ^ ^ "®^^*
2/^ = 2" 2'. Nun sei ^^ in die Gleichung eingesetzt worden u. s. w.
Wenn noch einige Vermuthungen zu Hilfe gezogen werden entsteht
y^ = 2" 2' 7" 42" 33^^" 4^ 40^^ und daraus der von Leonardo angege-
bene Werth von x.
Wieder eine Aufgabe, welche Johann von Palermo im kaiser-
lichen Palaste in Pisa in Gegenwart Friedrichs IL Leonardo stellte,
und zu welcher der Anlass in irgend anderen Textaufgaben gefunden
werden mag, die in Leonardo's früheren Schriften durch Gleichungen
gelöst wurden, ist die von den drei Männern, welche eine Geldsumme
gemeinschaftlich besitzen^). Die drei Männer haben an die gemein-
schaftliche Summe ein Eigenthumsrecht von y > y ; y Sie greifen
jeder auf's Gerathewohl zu, legen dann der Erste — , der Zweite -^,
der Dritte — des Ergriffenen wieder hin und theilen das so Zusammen-
gelegte zu gleichen Theilen, wodurch jeder erhält, was ihm gebührt.
Wie gross war die Summe, und wieviel hatte jeder zunächst ge-
nommen? Der dritte Theil der beim zweiten Zusammenlegen ent-
standenen Geldsumme heisse x (bei Leonardo res), die ganze ur-
sprüngliche Summe s (bei Leonardo tota comunis pecunia). Da Jeder
^) J. P. Gram, Essai sur la restitution du calcul de Leonard de Pise siir
l'equation a:^ -f 2 a;* -f- lOic = 20 in dem Bulletin de VÄcademie roynle des
sciences et des lettres de Danemark, vorgelegt am 13. Januar 1893 im Ans6liluss
an eine Mittheilung gleichen Datums und ähnlicher Ueberschrift von H. G. Zeu-
then. ^) Leon. Pisano 11, 234: De tribus Jmninihus x)ecunium comunem
liabentibus.
Die übrigen Schriften des Leonardo von Pisa. 49
durch X sich zu seinem Guthaben "^ > -^ ? ^ ergänzt, so hatten die
drei Männer vorher — x, — — x, — x. Diese Summen waren
entstanden, indem die gleichen Männer -^> -v, 7- des zufällig Er-
12 5
griffenen abgegeben, mithin —, ~, — desselben zurückbehalten hatten.
Sie ergriffen folglich 2 (^ — . x) = s — 2x , v (l x\ = ^ ~ ^ ,
— i-z x) = — - — und da sie zusammen s an sich genommen
^ 3 'C 9 6 ^
hatten, so war s -= s — 2x -\- ' — ^ -\ ^— oder ls = 41x. Dieser
Bedingung genügt s = 47 , x=l , und als die von den Männern er-
griffenen Summen erscheinen 33, 13, 1. Die Aufgabe ist nicht grade
schwierig, aber die geschickte Auswahl der Unbekannten, welcher die
Einfachheit der Auflösung zu verdanken ist, macht einen sehr an-
genehmen Eindruck.
Wie wir es aus dem Abacus gewöhnt sind, begnügt Leonardo
sich selten oder nie mit einer einzigen Aufgabe einer gewissen Gat-
tung, sondern er wählt andere und andere Spielarten, welche je zu
neuen mitunter wichtigen Bemerkungen Anlass geben. So auch hier;
wir verweilen jedoch nur bei zwei Sonderfällen, in welchen die eine
Unbekannte einen negativen Werth annimmt^). Diese Auf-
gabe, sagt Leonardo bei der ersten, isl^ unlöslich, es sei denn, dass
man zugebe, dass der Antheil des einen Mannes eine Schuld sei^), und
nur wenig verschieden ist seine Aeusserung bei der zweiten Aufgabe,
bei welcher er überdies andere Zahlenwerthe der vorkommenden An-
gaben bestimmt, deren Wahl lauter positive Wurzeln ergeben. Woher
stammt Leonardo's Wissen von der Möglichkeit negativer Gleichungs-
wurzeln? Da er selbst darüber schweigt, so ist man auf Vermuthungen
angewiesen, wovon zwei, soviel wir sehen, zur Verfügung sind. Es
wäre möglich, dass Leonardo auf seinen Reisen irgend einmal
indischem Wissen begegnet wäre, indem ja die Inder (Bd. I, S. 580)
negative Zahlen Schulden nannten. Es wäre auch möglich, dass
Leonardo's bürgerlicher Beruf ihn selbständig zu dieser Auffassung
leitete, die in der That für Jeden, der mit kaufmännischer Buch-
führung zu thun hatte, sehr nahe lag, während die Buchführung in
Italien, in Südfrankreich, vielleicht auch in Spanien^) früh bekannt
gewesen zu sein scheint.
^) Leon. Pisano II, 238: De quatuor Jwminihus et bursa ab eis re-
perta questio notahüis und pag. 242: Be quatuor hominibus bizantios habentibus.
*) Hanc quidem questionem insdlubilem esse monstrabo, nisi concedatur primum
hominum habere debitum. ^) Kheil, Valentin Mennher und Antich Rocha
(Prag 1898), S. 46—48.
Cantor, Geschichte der Mathem. II. 2. Aufl. 4
50 42. Kapitel.
Ausser dem Liber quadratorum und dem Flos hat sich auch ein
Brief an Meister Theodor^) erhalten, offenbar an die gleiche
Persönlichkeit gerichtet, welche eine im Liber quadratorum erhaltene
Aufgabe gestellt hat (S. 46), und den der Verfasser einer Chronik
jener Zeit, der im Jahre 1200 in Padua geborene Rolandino, als
Astrologen bezeichnet^). Der Brief behandelt in dem Zustande, in
welchem er auf uns gekommen ist, Aufgaben sehr verschiedener
Natur. Vielleicht müssen wir der Meinung^) uns anschliessen, hier
sei einige Unordnung dadurch entstanden, dass Cardinal Raniero Ca-
pocci aUe drei kleineren Schriften des Leonardo oder gar noch mehrere,
besass, die auf einzelne Blattlagen geschrieben irgend einmal irgend
wie durcheinander geriethen, worauf ein unvorsichtiger Abschreiber
Alles copierte, wie es nun einmal lag. Sei dem nun wie da wolle,
jedenfalls finden wir als erste Aufgabe die vom Vögelkaufe ^). Es
sollen für 30 Geldstücke 30 Vögel gekauft werden; es sollen dabei
für ein Geldstück 3 Spatzen oder 2 wilde Tauben erhältlich sein,
während eine zahme Taube 2 Geldstücke kostet. Leonardo nimmt
an, mau habe zuerst nur von den billigsten Vögeln eingekauft, mithin
30 Spatzen für 10 Geldstücke, und beabsichtigt nun Vertäu schungeu
von Spatzen gegen Vögel der beiden anderen Arten unter Zahlung
eines Aufgeldes von 20 Geldstücken vorzunehmen. Umtausch eines
Spatzes gegen eine wilde T§ube verlangt y — Y "^ Y ' S^S^^ ^^^^
zahme Taube dagegen 2 — ^^^= — Aufgeld , während die zur Ver-
120
fügung stehende Summe 20 = — beträgt. Die Aufgabe hat sich
mithin jetzt so weit verschoben, dass es auf die Zerlegung von 120
in die Summe der Producte von 10 in eine Unbekannte und von 1
in eine zweite Unbekannte ankommt, während die Summe der beiden
Unbekannten unterhalb 30 liegen muss, da doch auch Spatzen noch
vorhanden bleiben sollen. Es wird also verlangt y-\- 10^= 120 unter
der weiteren Bedingung y -\- z <dO. Durch Subtraction der Un-
gleichung von der Gleichung folgt 9^ > 90, 5? > 10. Setzt man
^=.= 11 in die Gleichung ein, so zeigt sich y = 10, während ^ = 12
bereits y=-0 zur Folge hat, also schon gegen die stillschweigende
Annahme, es sollten Vögel von allen drei Gattungen gekauft werden,
verstösst. Die einzige statthafte Möglichkeit ist daher die des An-
^) Leon. Pisano 11, 247 — 252: Epistola suprascripti Leonardi ad
Magistrum Theodwum phylosoplmm domini Imperatoris. *) Bald. Boncoin-
pagni, Intorm ad alcune opere di Leonardo Pisano pag. 64 sqq. ^) Ge-
nocchi 1. c. pag. 233. ■•) Leon. Pisano II, 247: De avibus emendis
secundum proporUonem datam.
Die übrigen Scliriften des Leonardo von Pisa.
51
kaufes von 11 zahmen, 10 wilden Tauben und 9 Spatzen. Nicht der
Umstand, dass die Aufgabe gelöst erseheint, sondern das vollbewusste
methodische Verfahren zieht unsere Aufmerksamkeit auf sich. Er
habe das Verfahren, sagt er^), als ein solches erfunden, welches zur
Auflösung jeder beliebigen Mischungsaufgabe ausreiche, und er stelle
dessen nähere Auseinandersetzung zu beliebiger Verfügung. So weit
hatte er die Sache noch nicht geführt, als er (S. 19) im 11. Ab-
schnitte des Abacus eine ganz ähnliche Aufgabe behandelte, wenn
auch der Zusammenhang mit Mischungsaufgaben ihm damals schon
vorschwebte. Leonardo hielt eben eine einmal begonnene Unter-
suchung mit Zähigkeit fest und suchte ihr immer neue Seiten ab-
zugewinnen. Diesen Eindruck bekommen wir auch von einer im
Wortlaute des Briefes sich nun anschliessenden geometrischen Auf-
gabe^). Bei unserem Berichte über die Praxis der Geometrie sind
wir schweigend an einigen Aufgaben vorübergegangen, welche alge-
braisch behandelt wurden, nämlich durch Zurückführung auf eine
quadratische Gleichung, deren Wurzel die Länge einer gesuchten
Strecke maass. Wir beabsichtigen auch jetzt nicht, das dort Ver-
miedene ausführlich nachzuholen. Wir nennen nur zwei jener Auf-
gaben unter Beigabe erläuternder Figuren. Es soll (Fig. 10) in ein
Quadrat und unter Benutzung einer Ecke desselben ein gleichseitiges
Fünfeck eingezeichnet werden^). Es soll (Fig. 11) in ein gleich-
seitiges Dreieck unter Mitbenutzung eines Stückes der Grundlinie als
Seite der neuen Figur ein
Quadrat eingezeichnet wer-
den^). Denkt man sich in
diesem Quadrate die desshalb
in der Figur nur punktirte
Scheitellinie ausgelöscht, so
hat man abermals ein gleich-
seitiges Fünfeck, diesmal mit
zwei rechten Winkeln vor
sich. Wieder um ein gleichseitiges Fünfeck handelt es sich an
der angeführten Stelle des Briefes an Magister Theodorus. Es
soll (Fig. 12) in einem gleichschenkligen Dreieck unter Mitbenutzung
Fig. 11
^) Leon. Pisano II, 247: praesentem modum inveni, per quem non
solum similes questiones solvuntur, verum et omnes diversitates^ consolaminum
monetarum und pag. 249: et sie possmnus in similibus etiam et in consolamine
monetarum, et bizantiorum operari; quod quandocuvique vel placuerit dominationi
vestrae liquidius declarabo. *) Ebenda pag. 249: De compositione pentagonj
equilateri in triangulum equicrurium. datum. ^) Ebenda pag. 214. '') Ebenda
pag. 223.
4*
52
42. Kapitel.
der aus den Schenkeln des Dreiecks gebildeten Ecke desselben und
eines Stückes von dessen Grundlinie hergestellt werden. Es ist
ah = ac ^ 10, &c = 12, folglich die
Höhe ah = 8. Nun sei x die gesuchte
Fünfecksseite
de = ef
X und wegen ßd: dh
hi
Weil ferner he
Andrerseits ist ah : ad = hh : hi, also
j^ • wen lerner ne = ~, so ist le = — — Y "^ lö' -'^^^^^^^
war de = X. Man kennt also die drei Seiten des rechtwinkligen
Dreiecks dei und kann zwischen ihnen die Gleichung des pythago-
räischen Lehrsatzes ansetzen:
de^ = ie^ -\~ di^ oder
100
+ 64
64 , 16 ,
T^^ + 25^"
welche sich in ~x^ -{- —x
^ ^ I 5 - — 6-1 umwandelt, et sie reducta est questio
ad unam ex regulis algebrae, und so ist die Aufgabe auf eine der
algebraischen Gleichungsformen zurückgeführt. Leonardo rechnet nun
den Werth von x unter -Benutzung von Sexagesimalbrüchen aus und
findet für denselben x = A^ 2T 24:" 40'" 50^^. Die allgemeine Auf-
lösung der Aufgabe ist, sofern jeder der gleichen Schenkel a und die
Grundlinie h heisst.
4a^ — b'
'2b— a
+
2b —
y(a + h)(2a + h)(2a—h){3a — h)
An die geometrisch -algebraische Aufgabe schliesst sich unter der
Ueberschrift ^) : Ändere Art ähnliche Fragen m heantworten eine Auf-
gabe an, welche die Auflösung von fünf Gleichungen ersten Grades
mit fünf Unbekannten verlangt, welche also unbedingt voraussetzt,
dass vor ihr Aehnliches, jedenfalls aber nicht eine quadratische
Gleichung stand, und daraus ist eben die obenerwähnte Folgerung
von einer irgendwie entstandenen Durcheinanderwerfung von Blättern
oder auch von einer jetzt nicht mehr auszufüllenden Lücke gezogen
worden.
Wir haben am Schlüsse des vorhergehenden Kapitels, nachdem
wir über Leonardo's Abacus berichtet hatten, geglaubt unserer Be-
') Leon. Pisano II, 250: Modus alius solvendi similes questiones.
Jordanus Nemorarius. Seine Aritbmetica u. der Algorithmus demoustratus. 53
wunderuüg Ausdruck geben zu dürfen. Fast möchten wir gegen-
wärtig bereuen, dass wir es thaten, denn mit welchen Worten sollen
wir Leonardo jetzt rühmen, nachdem wir die Schriften kennen ge-
lernt haben, welche ganz gewiss ihrem wesentlichen Inhalte nach als
sein geistiges Eigenthum zu betrachten sind, mag er im Abacus, mag
er in der Praxis der Geometrie noch so viel von Vorgängern entlehnt
haben. Jetzt steht das zu fällende Urtheil unzweifelhaft fest. Leonardo
war ein gewandter Rechner,' ein feiner Geometer, ein geistreicher
Algebraiker, wie es vor ihm nur Vereinzelte gab; er wusste die
Algebra auf geometrische Fragen anzuwenden, wie kaum Abü'l Dschüd
(Bd. LS. 715) es verstand; er war endlich ein geradezu schöpferischer
Zahlentheoretiker.
Ein glänzendes Meteor taucht er auf, wie ein Meteor verschwindet
er! Wir haben allen Grund anzunehmen, die Abacusausarbeitung von
1202 habe die Erscheinung, die zweite Bearbeitung von 1228 das
Verschwinden begleitet. Wir dürfen nicht vergessen, dass Friedrich IL
grade 1228 seinen Kreuzzug antrat, dass in seiner Abwesenheit Bürger-
krieg in Italien wüthete, welcher auch nach Friedrichs Rückkehr
bald da bald dort in neuen Flammen aufloderte. Schon möglich
dass Leonardo, in der stets ghibellinischen Stadt Pisa geboren und
selbst Ghibelline aus Neigung, in diesen Kämpfen unterging, falls er
nicht den Kaiser in das heilige Land begleitete und dort umkam.
43. Kapitel.
Jordanus Neniorarins. Seine Arithmetiea und der Algorithmus
demonstratns.
Leonardo von Pisa war uns als eine der beiden Persönlichkeiten
angekündigt, welche die Marksteine eines neuen Zeitalters für die
mathematischen Wissenschaften bilden. Jordanus Nemorarius ist
die andere. Auch er war ein aus seiner Zeit weit hervorragender
Geist, aber dennoch unterbricht er weniger als Leonardo die Stetig-
keit der mittelalterlichen Culturentwicklung.
Diese Entwicklung knüpfte sich der Regel nach an bestimmte
Schulanstalten, zumeist an Klosterschulen, aus welchen da und dort
Universitäten herauswuchsen ^). Die Lehrer waren dementsprechend
^) Als Quellen dienten H. Denifle, Die Universitäten des Mittelalters bis
1400 Bd. I (1885). — G. Kaufmann, Die Geschichte der deutschen Universi-
täten Bd. I (1888). — S. Günther, Geschichte des mathematischen Unterrichts
im deutschen Mittelalter bis zum Jahre 1525 (1887, III. Bd. der Monumenta
54 ^3. Kapitel.
ihrer Mehrzahl nach Ordensgeistliche, oder doch wenigstens Theo-
logen, wenn auch an dem Vorhandensein einzelner, und daiimter
hochberühmter Laien nicht zu zweifeln ist. Abälard z. B., dessen
Ehe mit Heloise feststehende Thatsache ist, kann, wie durch den
Vollzug dieser Ehe bewiesen ist, unmöglich Kleriker gewesen sein.
Aber selbst da, wo der Lehrer der Kirche nicht angehörte, bildete
das Studium der Theologie den Gipfelpunkt der Studien überhaupt.
Oberstes Ziel alles wissenschaftlichen Strebens war es, die Vollendung
des Glaubens zu erreichen, die Umsetzung desselben in Erkenntniss.
Als Mittel dazu galt ein folgerichtiges Schliessen, und dieses wieder
sich anzueignen gab es nach mittelalterlicher Meinung kein vollkomm-
neres Lehrbuch als die Schriften des Aristoteles. So entstand die
Scholastik, wesentlich eine Kunst der Behandlung strittiger Fragen,
auf deren praktische Bedeutung es ebensowenig ankam, als auf die
thatsächliche Wahrheit oder Unwahrheit der aus den Schlüssen gezoge-
nen Folgerungen, sofern nur die Schlüsse selbst keinen Anfechtungen
aus dialektischen Gründen unterworfen waren.
Wir haben gesagt, die Universitäten seien der Regel nach aus
Klosterschulen und ähnlichen von Geistlichen geleiteten Anstalten
herausgewachsen, aber das war nicht ihre einzige Entstehungsweise.
Eine andere war die, dass Berufslehrer sich irgendwo niederliessen,
und dass um sie Schüler sich schaarten. Mit einiger Vorliebe mochten
zu solchen Niederlassungen Orte gewählt werden, wo auch Schulen
bereits bestanden, denn eine solche Nebenanstalt konnte damals dem
neu auftretenden Lehrer nur Erleichterung, nicht Schwierigkeiten
bereiten. Am Ende des XII. Jahrhunderts herrschte unbedingte Lehr-
freiheit in dem Sinne, dass Jeder ohne irgend vorhergegangene Prü-
fung zum Lehren zugelassen werden musste. Kaum dass es möglich
war, einen einmal in Thätigkeit befindlichen Lehrer auf Grund einer
ihm erst zu beweisenden Unfähigkeit zu entfernen.
Wieder eine andere Entstehungsweise von Universitäten war die
der eigentlichen Gründung. Gründer konnte der Papst sein, oder
eine städtische Gemeinschaft, oder ein Fürst. So hat Friedrich II.
1224 eine Universität in Neapel gegründet^). Eine Frage, welche
weiter oben schon hätte gestellt werden können, wenn wir nicht
absichtlich deren Erörterung auf diesen Zusammenhang hätten auf-
sparen wollen, geht dahin, ob Leonardo von Pisa dieser in Neapel
Germaniae Paedagogica). — H. Suter, Die Mathematik auf den Universitäten
des Mittelalters (Programm der Kantonsschule in Zürich 1887, zugleich als
Festschrift zur 39. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner).
^) Ed. Winkelmann, Ueber die ersten Staatsuniversitäten (Heidelberger
Prorectoratsrede vom 22. November 1880).
•lordanus Nemorarius. Seine Arithmetica u. der Algorithmus demonstratus. ^q
errichteten Hocliscliiüe als Lehrer angehörte? In den Gewohnheiten
späterer Zeit befangen ist man geneigt, wiewohl ausdrückliche Berichte
fehlen, die Frage einfach zu bejahen. War es nicht selbstverständ-
lich, dass Friedrich einen Lehrer sich nicht entgehen Hess, der seiner
Gründung zur höchsten Zierde gereichen musste? So denkt man
heute, so dachte man nicht in der Zeit der alles beherrschenden
Scholastik. Dem Universitätsstudium muss und musste immer eine
gewisse Vorbereitung vorausgehen. Heute wird sie durch das Gym-
nasium vermittelt, damals war die Artistenfacultät, die unterste
Facultät einer jeden Universität, mit dieser Aufgabe betraut, und sie
vereinigte daher alle Schüler in sich, welche, nachdem sie durch die
Artistenfacultät sich hindurchgearbeitet hatten, anderen und anderen
Richtungen folgten. Jene vorbereitenden Kenntnisse waren die des
Trivium: Grammatik, Rhetorik, Dialektik. Das Quadrivium dagegen,
Arithmetik, Musik, Geometrie, Astronomie, wurde mit Ausnahme
allenfalls der Musik, soweit sie dem Kirchengesang sich dienstbar
erwies, aller Orten vernachlässigt. Wir werden gleich nachher sehen,
wie selbst in Paris, am damaligen leitenden Hochsitze der Wissen-
schaft, diese Vernachlässigung sich actenmässig erweisen lässt. Nicht
anders war es in Neapel. Das Schweigen der Berichte über eine
Anstellung Leonardo's von Pisa ist also schwerlich anders zu ver-
stehen, als dass Leonardo einer Anstalt nicht angehörte, an welcher
für ihn kein Platz war. Was wir über Leonardo's meteorartiges
Erscheinen und Verschwinden sagten, ist auch darin wahr, dass selbst
für Italien eine Nachwirkung Leonardo's sich nicht eher als mehr
als 200 Jahre nach seinem Tode mit Deutlichkeit erkennen lässt.
Wenn einzelne Gelehrte bald da bald dort nach eigener Willkür,
oder berufen von Behörden, mitunter berufen von Studirenden sich
niederliessen, so wissen wir auch von gemeinsamen Niederlassungen
vollzogen von Angehörigen geistlicher Orden. Zwei Orden insbeson-
dere sind hier zu nennen: die Dominikaner und die Francis-
kaner. Anstalten beider Mönchsorden waren in Deutschland vor Ent-
stehung der Universitäten vorhanden. Köln, Regensburg, Magdeburg,
Leipzig waren Sitze derselben. In Paris finden wir Dominikaner
kurz nach der 1216 erfolgten Gründung des Ordens. Vollständig
festen Fuss fassten sie, aber auch ihre Nebenbuler, die Franciskaner,
in Paris, seitdem im Mai 1229 in Folge eines an Fastnacht entstan-
denen Streites die Universität zeitweilig geschlossen wurde. Es ist
uns nicht unwahrscheinlich, dass bei den pariser Dominikanern oder
Prädicatoren, wie der Orden eigentlich hiess , der Predigt
und Lehre — praedicationem et dodrmam — als das Feld seiner
Wirksamkeit bezeichnete, diejenigen Wissensgebiete gepflegt wurden.
56 43. Kapitel.
welche die Universität in den zweiten Rang zurückstiess. Satzungen
der pariser Universität aus dem Jahre 1215 schreiben ausdrücklich
vor^), dass die Professoren die Bücher des Aristoteles über die
ältere wie über die jüngere Dialektik in den Schulstunden ordentlich
und nicht bloss cursorisch lesen sollten. Ordentlich sollten sie auch
lesen die beiden . Bücher des Priscian oder wenigstens eines derselben.
An Feier- und Ferientagen (in festivis diebus) solle nicht gelesen
werden, höchstens philosophische Schriften, Reden, Schriften über
das Quadrivium, über Barbarismen, über Ethik, wenn man Lust
dazu hat, und das vierte Buch der Topik. Die Bücher des Aristo-
teles über Metaphysik und Naturwissenschaften aber dürfen gar nicht
gelesen werden. Das hier ausgesprochene Verbot einiger Schriften
des Aristoteles ist nur erneuert aus einem Erlasse von 1210 und
eine abermalige Bestätigung erfolgte 1231 für Paris. An anderen
Orten war man duldsamer. In Toulouse war es seit 1233 gestattet
öffentlich anzukündigen, dass auch die in Paris untersagten Bücher
des Aristoteles gelesen werden würden. In Paris selbst aber traten
1254 die ehemals verbotenen Schriften in den Rahmen des regel-
mässigen Studienplanes ein-). Auch in diesem letzteren erweiterten
Studienplane, der uns nebst der Stundenzahl, welche auf jede ordent-
liche Vorlesung zu verwenden ist, genau erhalten ist^), ist von Vor-
lesungen über Gegenstände des Quadrivium keine Rede. Sie waren
nicht verboten, sie waren aber ebensowenig geboten. Sie konnten
nach wie vor in der Ferienzeit der Universität Behandlung finden,
als Lehrgegenstände untergeordneter Bedeutung. Damit stimmt voll-
ständig die Klage Roger Bacon's aus der Mitte des XIII. Jahr-
hunderts überein ^), die pariser Universität kümmere sich nicht um
fünf Wissenszweige, welche doch vortrefflich und der Gottesgelehr-
samkeit nahe verwandt seien, um fremde Sprachen, Mathematik,
Perspective, Moral Wissenschaft und Alchymie. Und trotzdem ist es
eine Thatsache, dass von mathematischen Studien in Paris seit der
Mitte des XII. Jahrhunderts wiederholt die Rede ist, dass z. B. in
jener Zeit Johannes von Salisbury als seine Lehrer in Paris in
Gegenständen des Quadriviums ^) einen sonst unbekannten Hardei-
vinus Teutonicus und ferner Richardus Episcopus nennt,
welcher letztere 1182 wahrscheinlich als Archidiacon in Constanz
starb. Es ist eine Thatsache, dass in der Grabschrift des 1199 in
^) Suter, Die Mathematik auf den Universitäten des Mittelalters S. 24 mit
Berufung auf Bulaeus, Historia üniversitatis Parisiensis 111,82. *) G. Kauf-
mann, Geschichte der deutschen Universitäten I, 94 — 95. ^) Bulaeus, 1. c.
in, 280. *) Opus minus des Bacon, erwähnt bei Suter 1. c. S. 18. *) Suter
1. c. S. 18: inaudita quaedam ad quadrivium pertinentia.
Jordanus Nemorariiis. Seine Arithmetica u. der Algorithmus demoustratus. 57
Paris verstorbenen Hugo Physicus ausdrücklich des von ihm im
Quadrivium ertheilten Unterrichts^) gedacht ist. Damit ist also fest-
gestellt, dass weim nicht in ordentlicher, doch in ausserordentlicher
Weise dafür gesorgt war, dass das immerhin vorhandene Bedürfniss
nach Anleitung in den Fächern, welche damals die Mathematik aus-
machten, Befriedigung fand.
Sollten dazu immer und ausschliesslich Ferienstunden gedient
haben? Sollte nicht, was die Universität verschmähte, um so eifriger
von den wettbewerbenden Anstalten geboten worden sein, voraus-
gesetzt, dass sich die richtigen Persönlichkeiten zur Ertheilung solchen
Unterrichtes in diesen Anstalten fanden V Das war aber im ersten
Viertel des XIII. Jahrhunderts bei den Dominikanern in Paris der Fall.
Domingo de Guzman, ein 1170 geborener Altcastilianer von
hoher wissenschaftlicher Bildung, war Gründer des Ordens gewesen,
der nach seinem Plane vornehmlich als Gegengewicht gegen die
Ketzerei der Albigenser und verwandter Richtungen dienen sollte,
welchen nichts mehr Vorschub leistete als der Mangel an Volks-
vmterricht. Ueber den streng monarchisch gegliederten, in acht Pro-
vinzen eingetheilten Orden herrschte ein General mit durch päpstliche
Bestätigung seiner Rechte fast unumschränkter Gewalt. Als Domingo,
der erste General, 1221 zu Bologna starb, waren schon 60 Klöster
seiner Regel unterthan. Es galt seine Ersetzung, und zum Nach-
folger des Spaniers wählte man einen Deutschen. Jordanus von
Sachsen-) war dem Orden erst 1220 in Paris beigetreten. Er ge-
hörte nach einer Ueberlieferung dem Geschlechte der Grafen von
Eberstein, nach einer anderen der Familie von Dach an. Er war
nach einem Berichte in Borrentrick (gegenwärtig Borgentreich) bei
Warburg im Paderbornschen geboren, einem Orte, der einstmals zur
Diöcese Mainz gehörte; nach einem anderen Berichte stammt Jor-
danus aus der Herrschaft Dassel aus der Hildesheimer Diöcese. Wird
der Geburtsort Borrentrick für den richtigen gehalten, so stand
Jordanus' Wiege in den Wäldern des Eggegebirges, und daher rührt
dann wohl der Beiname Jordanus Nemorarius, welcher neben
Jordanus Saxo in Gebrauch war. Allerdings gebrauchten kirchliche
') Suter 1. c. S. 20 Note 5: Quadrivium dociiit. ^) Allgeraeine deutsche
Biographie XIV, 501 — 503. — lordani Nemorarii de trianguUs libri qtmtuor, heraus-
gegeben von Max Curtze als VI. Heft der Mittheilungen des Copemicus -Vereins
für Wissenschaft und Kunst zu Thorn (1887). Einleitung S. IV— V ein Brief
von Denifle, der sich dagegen erklärt, in Jordanus Saxo und Jordanus Nemo-
rarius dieselbe Persönlichkeit zu erkennen. — Die Papsturkunden Westfalens bis
zum Jahre 1378 bearbeitet von Dr. Heinrich Finke (1888), Einleitung S.
XXXII— xxxin.
58 43. Kapitel.
Quellen ausschliesslicli den Namen Jordanus Saxo; weder im General-
archiv des Ordens noch in den Briefen des Jordanus kommt jemals
Xemorarius vor, welcher Beiname nur in üeberschriften wissenschaft-
licher Werke angetroffen wird. Aus diesem Grunde war es auch
lange unbekannt und wird es noch heute von schätzbarer Seite in
Abrede gestellt, dass beide Persönlichkeiten nur eine und dieselbe
seien. Uns scheint ein schwerwiegender Beweisgrund dafür eine
Stelle^) in der Chronik eines englischen Schriftstellers des XIV.
.Jahrhunderts, Nicolaus Trivet, welche von dem 1222 in Paris
zum Ordensgenerale gewählten Jordanus deutlich aussagt, er habe in
Paris eines grossen Namens in den weltlichen Wissenschaften, ins-
besondere in der Mathematik, sich erfreut und habe zwei äusserst
nützliche Bücher geschrieben, das eine De Fonderi, das andere De
lineis datis, und grade solche üeberschriften kommen in Verbindung
mit dem Verfassernamen Jordanus Nemorarius vor. Eine weitei-e
Bestätigung giebt uns der Dominikaner Jacob von Soest '^), der
um 1420 eine Chronik seines Ordens verfasste und darin an zwei
Stellen von dem Ordensgenerale Jordanus berichtet, er habe neben
anderen Werken geometricalia delicata geschrieben. Die Thätigkeit
des Ordens war, während Jordanus demselben vorstand, eine ganz
gewaltige. Vier neue Provinzen, Dänemark, Polen, Griechenland,
Palästina, wurden ihm eröffnet, an 60 neue Klöster gegründet. Die
Beredsamkeit des Generals, die sich namentlich in den abwechselnd
in Paris und in Bologna gehaltenen Fastenpredigten, aber auch in
Predigten vor den Studirenden in Padua bewährte^), gewann über
1000 neue Mitglieder. In den Jahren 1228 und 1230 wurden dem
Orden zwei Lehrkanzehi in Paris übertragen, um die sich allerdings
ein fast 40 Jahre dauernder Streit erhob, die aber schliesslich dem
Orden verblieben. Jordanus starb am 13. Februar 1237 auf der
Rückreise aus dem heiligen Lande. Wir haben seiner Ordensthätig-
keit genauer gedacht, weil dadurch die Bedeutsamkeit der ganzen
Persönlichkeit — wenn deren nach der Annahme, welcher wir uns
anschliessen, nur eine ist — um so deutlicher hervortritt. Man wird
aus dieser Thätigkeit auch den Schluss ziehen dürfen, dass sie für
wissenschaftliche Arbeiten wenig Raum Hess, dass daher die mathe-
matischen Schriften wohl schon vor 1222 entstanden sein werden
und dem Verfasser den von Trivet gerühmten grossen Namen ver-
schafft hatten. Ob er, wie wir oben leise andeuteten, vielleicht auch
*) Der Entdecker dieser Stelle war Fürst Bald. Boncompagni in Rom.
*) Ueber Jacob von Soest vergl. Allgemeine deutsche Biographie XIII, 556; die
hier wichtigen Stellen seiner Chronik sind bei Finke 1. c. mitgetheilt. ^) De-
nifle, Die Universitäten des MittelalteTs bis 1400. I, 282.
Jordanus Nemorarius. Seine Arithmetica ii. der Algorithmus demonstratus. 59
in Paris gelehrt hat, ja sogar ob Nemorarius und Saxo eine, oh zwei
Personen waren, ist für die Würdigung der Schriften, zu welcher
wir uns wenden müssen, ganz gleichgiltig. Nur die eine Bemerkung
möchten wir hinzufügen, dass einer Lehrthätigkeit, wie wir sie ver-
muthen, nicht im Wege steht, dass es in den Satzungen des Domini-
kanerordens von 1228 heisst^): „Die Ordensmitglieder sollen in den
Büchern heidnischer Philosophen nicht studiren . . . ; sie sollen auch
die sogenannten freien Künste nicht erlernen, es sei denn, dass für
einzelne Persönlichkeiten besondere Erlaubniss ertheilt worden sei."
Wenn für irgend Einen eine solche Erlaubniss je ertheilt wurde, so
muss es für Jordanus gewesen sein, abgesehen davon dass die Zeit,
in welcher dieser lernte und auch die, in welcher er vielleicht selbst
lehrte, um Jahre früher lag als jene Satzungen. Davon aber vollends,
dass wer ausnahmsweise Mathematik zu erlernen die Erlaubniss er-
hielt, sie nicht weiter lehren dürfe, ist in den Satzungen gar nicht
die Rede.
Zur Frage, ob Jordanus Nemorarius und Jordanus Saxo eine
Persönlichkeit darstellen oder nicht, müssen wir auch einer gewissen
Handschrift gedenken. Sie befindet sich zur Zeit in der Bibliothek
des verstorbenen Lord Thomas Philipps in Cheltenham und führt
dort die Nr. 16345. H. SchenkP) beschreibt sie unter dieser Nummer
als 4"m.S.XII(1170) und bezeichnet den Inhalt als Mathematici veteres.
In dem Sammelbande, der mit der Astronomie des Alfraganus in der
Uebersetzung des Johannes Hispaniensis abschliesst, befindet sich
auch: Jordani (McKjistri), De Alyorismo cum commento. Wäre hier
Jordanus Nemorarius gemeint, und wäre der ganze Band 1170 ge-
schrieben, so müsste der Verfasser des Algorismus spätestens 1150
geboren sein und wäre im Todesjahre 1237 des Jordanus Saxo min-
destens 87 Jahre alt gewesen, was mit einer Orientreise kaum in
Einklang zu bringen ist. Jener -Band wird aber auch von seinem
Beschreiber als Libri 665 bezeichnet und ist unter dieser Nummer
in dem Libri'schen Kataloge^) enthalten. Dort heisst es ausdrücklich,
nur Alfraganus trage die Jahreszahl 1170, die früheren Bestandtheile
des Bandes, und insbesondere der Algorismus des Jordanus, könnten
sehr wohl später als Alfraganus niedergeschrieben sein. Damit wird
die obige Schlussfolgerung auf das Geburtsjahr des Jordanus hin-
fällig. Ueberdies sind die Anfangsworte des Algorismus des Magister
Jordanus von Libri erwähnt: Nmnerontm sunt IX, 1, 2, 3,4,5,6,7,8,9
*) Denifle, Die Universitäten des Mittelalters bis 1400. 1,719 Note 179.
*) Sitzungsberichte der Wiener Akademie, Historisch-philologische Classe (1893)
XXVII, 55. ^) Catalogue of the extraordinary coUection of splendid manu-
scripts formed by M. Guglielmo Libri. London 1859. Nr. 665 pag. 145—148.
60 • 43. Kapitel.
et est prima iinitatis, uud so beginnt weder die Arithmetik, noch der
Algorithmus demonstratus des Jordanus Nemorarius, von welchem
sogleich die Rede sein wird.
Ob unter den Schriften des Jordanus Nemorarius auch eine
Optik war, ist mehr als nur zweifelhaft. Beschrieben ist sie niemals
worden, nur der Titel De speculis, welchen eine Handschrift in der
Bodleyanischen Bibliothek zu Oxford führen soll^), unterstützt die
Annahme, während aus einer Amplonianischen Handschrift in Erfurt
hervorgeht^), dass die sogenannte Optik des Jordanus nichts anderes
als die Katoptrik des Euklid ist.
Eine astronomische Schrift Planisphaerium ist wiederholt im
Drucke erschienen^). In ihr soll zum ersten Male in aller Strenge
bewiesen sein, dass Kugelkreise sich wieder als Kreise auf einer
Tangentialebene einer Kugel projiciren, sofern der Berührungspunkt
der Projectionsebene und das Auge die entgegengesetzten Endpunkte
eines und desselben Kugeldurchmessers sind.
Ferner ist ein Bruchstück einer ursprünglich aus vier Büchern
bestehenden Mechanik unter dem Titel De ponderibus in 13 Lehr-
sätzen im Drucke erschienen*), allerdings, wie es scheint, mit er-
gänzenden Zusätzen des Herausgebers, der die kurzen gedrungenen
Beweise des Jordanus, wie sie in einer thorner Handschrift^) erhalten
sind, erweitern, beziehungsweise verwässern zu müssen glaubte.
Nannten wir diese Schriften nur im Vorübergehen, so müssen
wir bei einer Arithmetik etwas verweilen, welche schon seit dem
Ende des XV. Jahrhunderts im Drucke bekannt ist^). In 10 Büchern
werden folgende Hauptgegenstände behandelt: 1. Allgemeine Zahlen-
eigenschaften. 2. Von den Verhältnissen. 3. Von Primzahlen und
zusammengesetzten Zahlen. 4. Von Zahlen, die in stetigem Verhält-
nisse zu einander stehen. 5. Von den zusammengesetzten Verhält-
nissen. 6. Von Quadi-atzahlen, Kubikzahlen und einander ähnlichen
1) Heilbronner, Historia matheseos universae (1742) S. 604. § 263 Nr. 14.
— Chasles, Apergu hist. .517 (deutsch 605). — Curtze im VI. Heft der Mit-
theilungen Coppem.-Vereins zu Thom. Einleitung S. XI. ^ Curtze brieflich.
«) Chasles, Apercu hist. 516 (deutsch 603—604) giebt Drucke von 1507, 1536,
1558 an. — Weidler, Historia Astronomiae (1741) pag. 276: lordanus Kemo-
rarius demonstrationem astrdlabii et planisphaerü lucnhratus est editum Basileae
cum Tlieon is commentarüs in Aratum. *) Liber lordani Nemorarii viri darissimi de
ponderibus propositiones XIII etc. (1533), herau.-^gegeben durch Peter Apianus.
Vergl. Curtze im Supplementheft zu Zeitschr. Math. Phys. XIII (1868) S. 91—92.
^) Die Handschrift R. 4^. 2 Problematum Euclidis explicatio der königl. Gymnasial-
bibliothek zu Thorn. ^) Die beiden Ausgaben von 1496 und von 1514 be-
sorgte Faber Stapulensis {Lefevre d'Etaples) in Paris. Er veränderte den
Text des Jordanus nicht, fügte aber neue Sätze mit eigenen Beweisen hinzu.
Jordanus Nemorarius. Seine Arithmetica u. dei- Algorithmus demoustratus. Gl
Zalilen. 7. Von graden und uugraden, vollkommenen, überscliiessen-
den und mangelhaften Zahlen. S. Von den vieleckigen und körper-
lichen Zahlen. 9. Von Gleichheit und Ungleichheit, vielfachen und
anderen Verhältnissen unterworfenen Zahlen. 10. Vom arithmetischen,
geometrischen und harmonischen Mittel.
Keinem Kenner des griechischen Musterwerkes des Nikomachus
wie der lateinischen Nachbildung des Boethius kann es entgehen,
dass Jordanus nach der älteren Vorlage, und zwar nach der lateinischen
gearbeitet hat, aber er hat doch gearbeitet. Weder die Reihenfolge,
noch die Ausdrucksweise der einzelnen Sätze ist genau und unver-
ändert beibehalten. Um nur zwei Beispiele hervorzuheben machen
wir auf Folgendes aufmerksam. Boethius hat für Grundsätze den
Namen Communes conceptiones entsprechend dem griechischen xoLval
ivvoCai. Jordanus hat ein dem griechischen ah,id)^uta nachgebildetes
Wort Dignitates ^), das gleiche Wort, welches in einer gleichfalls
dem XIII. Jahrhuuderte entstammenden lateinischen Uebersetzuug des
Alfarabi im gleichen Sinne gebraucht ist^). Boethius nennt die über-
schiessenden Zahlen numeros superfluos, Jordanus nennt sie abun-
dantes, und sein Beispiel ist später massgebend geblieben. Numeri
perfecti und deminuti sind Kunstausdrücke, in denen Beide überein-
stimmen. Jordanus nennt mitunter, wenn auch nicht grade häufig,
Boethius oder, wie er lieber sagt, den göttlichen Severinus als seinen
Gewährsmann, noch seltener Euklid und Aristoteles. Irgend einem
arabischen Namen sind wir nicht begegnet. Die wesentlichste Eigen-
thümlichkeit, die das Werk des Jordanus gradezu zu einem bahn-
brechenden stempelt, ist die fortwährende Benutzung allgemeiner
Buchstaben statt besonderer bestimmter Zahlen^). Wir
haben Buchstaben statt der einzelnen Potenzen der Unbekannten bei
Diophant, bei Arabern auftreten sehen. Wir waren in der Lage bei
Aristoteles, bei Pappus auf Buchstaben hinzuweisen, die einen be-
liebigen Werth darstellten. Wir vermochten (S. 17) auch bei Leo-
nardo ein vereinzeltes Vorkommen solcher Buchstabenanwenduug
nachzuweisen, aber es waren eben nur vereinzelte Vorkommen, wäh-
rend Jordanus diese Anwendung so sehr in Gewohnheit hat, dass
fast nirgend neben den Buchstaben bestimmte Zahlen als Beispiele
^) Bei Ducange ist • zwar Dignitatio = agioiyia angegeben, aber nicht
Dignitas. *) Prantl, Geschichte der Logik im Abendlande II, 316. ^) Vergl.
Max Curtze in der Einleitung zu seiner Ausgabe des Tractatus de numeris
datis in der Zeitschr. Math. Phys. (1891) XXXVI Histor.-liter. Abtlg. S. 1—3 ähn-
liche Gedanken wie die unsrigen, in deren Aeusserung unser verehrter Freund
uns in selbständiger Weise zuvorgekommen ist, eine Uebereinstimmung, welche
wohl zu Gunsten der Richtigkeit dieser Gedanken gedeutet werden mag.
62 43. Kapitel.
anders als am Räude mitgeführt werden und niemals Zahlen ohue
Buchstaben auftreten. Wir würden desshalb keinen Anstand nehmen,
Jordanus den unmittelbaren Vater der späteren Buchstabenrechnung
zu nennen, wenn nicht ein zweifacher Unterschied, ein Zuwenig und
ein Zuviel, dazu aufforderten anzuerkennen, dass es auch nach Jor-
danus noch erfinderischen Geistes bedm-fte, um die Buchstabenrechnung
der Wissenschaft als brauchbares Mittel an die Hand zu geben. Was
Jordanus noch fehlte waren Symbole, die neben und mit den Buch-
staben zur Anwendung gekommen wären. Er besass kein Gleichheits-
zeichen, kein Zeichen der Subtraction, der Multiplication, der Di-
vision. Einzig die Addition vermochte er ohne zwischengeschriebenes
Wort anzudeuten, da für ihn die unmittelbare Aufeinanderfolge
von Buchstaben z. B. ahc als Ergebniss der Addition der durch
diese Buchstaben dargestellten Zahlengrössen aufgefasst werden
muss^). Aber dieser Mangel haftete noch Jahrhunderte lang den
Versuchen einer allgemeinen Rechenkunst an. Weit empfindlicher
ist für den heutigen Leser der Arithmetik des Jordanus das, was
wir das Zuviel der Buchstabenanwendung bei ihm genannt haben.
Die heutige Buchstabenrechnung vereinigt zwei Vorzüge: Allgemein-
heit und Durchsichtigkeit. Wenn etwa 3-|-4=7, 7x5=>= 35,
35 -f- 5 = 40, 40 : 4 = 10, 10 — 3 = 7 gerechnet wird, so ist eine
ganz bestimmte Zahl 7 der Endpunkt dieser aus fünf Einzelrechnungen
zusammengesetzten Gedankenfolge, und man weiss in der 7 die Bil-
dung dieser Zahl nicht mehr zu erkennen. Wenn dagegen die Opera-
tionen so lauten a-\-{a-\-l) = 2a-\-l, (2a-\-l)(a-j-2)==2a^-\-öa-\-2,
(2a2 4- 5 a + 2) + {a -f- 2) = 2a' + (>« + 4, (2a^ + 6« + 4) : (a + 1)
= 2a-\- 4, (2«-f-4j — a = a-|-4, so bleibt nicht nur Alles richtig,
wenn auch für a eine andere Zahl als 3 eingesetzt wird, sondern es
ist auch rt -f" 4 als Endergebniss zu jenem unbestimmt gelassenen a
in deutlich erkennbarer Beziehung. Das aber hört auf, sobald in
den Einzeloperationen immer neue und neue Buchstabenbezeichnungeu
eingeführt werden müssen; eine Noth wendigkeit allerdings, die aus
den mangelnden Operationszeicheu rettungslos sich ergiebt, die aber
darum nicht weniger verdunkelnd, also schädlich einwirkt. Lassen
wir den 12. Satz des VI. Buches uns als Beispiel dienen-): Drei
Quadrate zu finden, deren in fortlaufender Reihe gebildete Unter-
schiede gleich seien, eine Aufgabe also, welche weniger schwierig ist
als die Leonardo's von Pisa, welcher die Differenz zum voraus als
*) Bei Leonardo von Pisa hatte eine solche Buchstabenfolge (S. 17)
multiplicative Bedeutung. *) Quadratos tres investigare, quorum continue
fiumptorum diß'erenUa sint aequales. Am Rande sind neben anderen Zahlen auch
1, 25, 49 angegeben.
Jordanus Xemorarius. Seine Arithmetica u. der Algorithmus demonstratus. 63
gegeben annahm, welche aber doch dem gleichen zahlentheoretischen
Gedankenkreise angehört. Die Lösung des Jordanus ist folgende.
Es sei h eine ganz beliebige , c eine grade Zahl. Dann sei ferner
h-\-c==a, a-\-h=^d, ca = h, cJb-^Jc, ad = e, hd^^f. Man zer-
lege e in drei ungleiche Theile e = l-\- m-\-g. Setzt man g===^f,
so darf man l = ]i, m='k setzen. Wird endlich -i-^ = v, g — v=r,
e — v^q gesetzt, so sind r^, v', q^ die gesuchten Quadrate. Wer
kann heute noch dieser Rechnung folgen, ohne sie in andere den
Gang der Operationen erkennbar machende Buchstabenverbindungen
umzusetzen, bis das Schlussergebniss r = h^ — ~? v=^h" -\-hc-\- y '
q ^^ h- -\- 2hc -\- ~ nach erfolgter Quadrirung die Richtigkeit der
Auflösung erkennen lässt einschliesslich der Nothwendigkeit für c
eine grade Zahl zu wählen, wenn man ganzzahlige Quadrate wünscht?
Nicht ohne Interesse dürfte es sein, dass an die genannte Aufgabe
die weitere sich anschliesst, eine Quadratzahl zu finden, welche zu
einer gegebenen Quadratzahl addirt wieder eine Quadratzahl liefere,
also mit anderen Worten ein pjthagoräisches Dreieck zu bilden, dessen
eine Kathete gegeben ist. Wir finden das Interesse nämlich darin,
dass hier die Reihenfolge der Aufgaben die umgekehrte ist wie bei
Diophant, bei den Arabern, bei Leonardo von Pisa. Sie alle nahmen
in mehr oder weniger ausgesprochener Weise das pythagorüische
Dreieck zum Ausgangspunkte, um zu einer arithmetischen Progression
von Quadratzahlen zu gelangen. Jordanus ist der Einzige, der den
entgegengesetzten Weg einschlug.
Genau denselben Charakter wie die Arithmetik trägt eine Schrift,
welche unter Anderen in einer Basler Sammelhandschrift ^) aus der
Mitte des XIV. Jahrhunderts neben anderen Schriften des Jordanus
sich erhalten hat, und welche desshälb mit an Gewissheit streifender
Wahrscheinlichkeit dem Jordanus zugewiesen worden ist^). Wir
meinen den 1534 bei dem bekannten Drucker Petrejus in Nüi-nberg
erschienenen Algorithmus demonstratus. Der Herausgeber Jo-
hannes Schöner berichtet in der Vorrede^), ihm stehe ein aus
^) Die oftgenannte Handschrift F 11, 33 der Basler Stadthibliothek. ^) Jor-
danus als Verfasser erkannt zu haben ist das Verdienst von H. P. Treutlein.
Vergl. Zeitschr. Math. Phys. (1879) XXIV Supplementheft S. 132. ^) Von-ede
pag. 4 : Iticidi nuper in libellum . . . exaratum max. et doctiss. viri Regimontani
divina manu, quem in Vienensi quapiam bibliotheca audio asservari hoc titulo:
Älgarithnius demonstratus incerti autoris, unde suspicor hoc exemplum fuisse de-
scriptum. Der Algorithmus demonstratus selbst besteht aus 57 nicht mit Seiten-
zahlen versehenen Druckseiten. Unsere Seitenangaben im Folgenden beruhen
auf eigener Zählung, wobei die 4 Seiten Vorrede nicht mitgezählt wurden.
64 43. Kapitel.
der Feder des Regiomontanus geflossener Text zur Verfügung^
welchen dieser wahrscheinlicli aus einer in Wien befindlichen Hand-
schrift abgeschrieben habe. Diese unzweifelhaft richtige Angabe hat
aber nicht zu verhindern vermocht, dass man die längste Zeit nur
daran sich hielt, dass das dem Drucker zu Grunde liegende Manuscript
von Regiomontanus geschrieben war, und dass man ihn, den Schreiber,
auch für den Verfasser hielt, jedenfalls ein glänzendes Zeugniss für
die Schrift selbst, wie wir im Verlaufe dieses Bandes erkennen werden.
Vereinigen wir die Thatsache, dass Regiomontanus den Algorithmus
demonstratus abschrieb, mit der anderen nicht minder verbürgten,
dass er eine von ihm sehr geschätzte andere Schrift des Jordanus,
welche uns im folgenden Kapitel genau bekannt werden wird, heraus-
zugeben beabsichtigte^), so kann man vielleicht darin eine Unter-
stützung der hier festgehaltenen Ansicht von dem Ursprünge des
Algorithmus demonstratus finden. Eine unmittelbare Bestätigung des
Jordanus als Verfasser wird uns endlich im 69. Kapitel begegnen,
wenn wir in unserer Geschichte an den Schluss des XVI. Jahrhunderts
gelangt sein werden. Jordanus also setzt seinen Lesern zunächst das
dekadische Zahlensystem mit seinen zehn Zeichen auseinander, wobei
die Null cifra oder Kreis (circidus) oder Zeichen für Nichts {figura
niliili) genannt wird. Er unterscheidet nicht bloss im mittelalter-
licher Weise Fingerzahlen (digiti) von Gelenkzahleu (articidi), sondern
auch Gelenkzahlen verschiedener Ordnung, wir würden heute sagen
neben den Zehnern die Hunderter, Tausender u. s. w.^). Die Zahlen
werden dann addirt, von einander subtrahirt. Wo bei der Sub-
traction das Borgen einer Einheit höheren Ranges nöthig fällt, wird
die nächste Ziffer des Minueudus um dieselbe verkleinert^). Als be-
sonders behandelte Aufgaben folgen die Verdoppelung und die
Halbirung einer Zahl^). Bei der Multiplication ist als erste Regel
ausgesprochen, dass das Product f zweier Fingerzahlen a und b ent-
stehe, wenn man von g als dem lOfachen von a die Zahl d abziehe,
welche als c-faches von a gebildet ist, während c selbst den Ueber-
schuss der 10 über h bedeutet^). Man wird darin die complementäre
Regel a-b=10a — (10 — b) • a erkennen, welche zwar mit den
ähnlichen Regeln, die im I. Bande wiederholt zur Sprache kamen,
nicht genau übereinstimmt, ihnen aber begriffhch sehr nahe steht.
Weitere Regeln über Multiplication von Fingerzahlen mit Gelenk-
zahlen, von Gelenkzahlen unter einander schliessen sich an, bis zu-
^) Treutlein 1. c. S. 127 Note und S. 128. ^) Algor. demonst. pag. 4.
') Ebenda pag. 6. *) Ebenda pag. 7 : Quomodo duplatio nimieri facienda sit do-
cere. Datum numerum, si fieri potest, dimidiare sit intentio. ^) Ebenda pag. 8.
Jordanus Nemorarius. Seine Arithmetica u. der Agorithmus demonstratus. 65
letzt erklärt wird^), mau könne unmöglich alle Fälle in Kürze er-
schöpfen, ein vorsichtiger Rechner werde aber nach Art der gegebeneu
Muster jedes andere Beispiel bilden können. Die Divisiou wird durch
mancherlei Vorübungen eingeleitet, zuletzt in der Form gelehrt^),
welche künftig immer durch den Namen Ueberwärtsdividiren^)
bezeichnet werden soll. Der Divisor steht bei diesem Verfahi-en unter
dem Dividenden und über diesem kommt der Quotient zu stehen,
während der Dividend selbst durch Abziehen der Theilproducte fort-
während verändert wird. Die Anordnung ist also verschieden von
derjenigen, welche Leonardo von Pisa (S. 11) gelehrt hat. Multipli-
cation und Division, heisst es im Anschlüsse an die Regel, dienen
sich gegenseitig als Probe*), dagegen ist von einer Neunerprobe oder
dergleichen nirgend die Rede. Es folgt die Bildung der Quadrat-
zahlen ^) nach der Regel
(a-f & + c+---)'=«' + &' + c"'H \-2ah-{-2ac-\ p2^c + ---
und unter Hervorhebung des Satzes, dass das Quadrat höchstens aus
doppelt so viel Zifieru als die einfache Zahl bestehen könne, dann
die Ausziehung der Quadratwurzel aus gauzen Zahlen*^), sei es dass
dieselbe genau möglich sei oder auch nicht. Im letzteren Falle wird
freilich die Genauigkeit nicht über die ganzzahlige Annäherung hin-
ausgetrieben. Einigermassen überraschend kommt unmittelbar nach
der Quadratwurzelausziehung der Satz von der Vertauschbarkeit der
Factoren^) a -h ■ c = a ■ c -h, nach diesem die Bildung von Kubik-
zahlen mit höchstens dreifacher Ziff'ernzahl von der der einfachen
ZahP) und die Ausziehung der Kubikwurzel'') in gleicher Annäherungs-
beschränkung wie weiter oben die der Quadratwurzel.
Auf 25y2 Seiten ist sonach das Rechnen mit ganzen Zahlen er-
ledigt und Jordanus geht zum Bruchrechuen über. Sexagesimal-
brüche (minutiae philosophicae oder "auch phisicae) werden von ge-
wöhnlichen Brüchen (minutiae vulgares) unterschieden ^°). Gewöhnliche
Brüche werden so geschrieben, dass ohne trennenden Bruchstrich
der Zähler (numerans) über dem Neuner (denominans) steht, z. B. ' ■
Wo dagegen im fortlaufenden Texte allgemeine Buchstaben gebraucht
sind, stehen dieselben einfach neben einander, also ah für -^- Bei
^) Algor. demonstr. pag. 12. ^) Ebenda pag. 18. ^) Wir lehnen uns
m der Anwendung dieses Wortes an ünger, Die Methoden der praktischen
Arithmetik in historischer Entwickelung vom Ausgange des Mittelalters bis auf
die Gegenwart (1888) S. 78, § 46 und häufiger. Wir citiren dieses Werk künftig
als Unger. *) Algor. demonstr. pag. 18: Mutuo se probant vmltipUcandi et
dividendi operationes. ^) Ebenda pag 19. <^) Ebenda pag. 20—22. ') Ebenda
pag. 22. **) Ebenda pag. 23—24. ■') Ebenda pag. 25. '") Ebenda pag. 27.
Cantor, Gescliichte der Mathem. II. 2. Aufl. .'S
66 43. Kapitel.
Sexagesiinalbrüclieu wird der Nenner nie geschrieben, weil es gewiss
ist, dass 60 die Benennung liefert. Man muss bei ihrer Anschreibung
(in earum fignratione) auf die Stelle achten. Die erste Stelle ist die
der Ganzen, die zweite die der Minuten, die dritte die der Sekunden
u. s. w. Die Aufgabe, zwei Brüche auf gemeinsamen Nenner zu
bringen^), führt wieder zumAddiren und Subtrahiren, zum Verdoppeln
und Halbiren der Brüche. Brüche multiplicirt man durch Verviel-
fachung von Zähler mit Zähler und von Nenner mit Nenner. Die
Multiplication von Sexagesimalbrüchen ist mit Rücksicht auf die
Benennung des Productes etwas weitläufiger behandelt. Die Ableitung
der DivisionsregeP) gewöhnlicher Brüche verdient hervorgehoben zu
werden. Entsprechend der Multiplicationsregel wäre die einfachste
Resfel die, man solle Zähler durch Zähler, Nenner durch Nenner
dividiren. Da das aber nicht immer ohne Weiteres angeht, so soll
man den Dividenden zuerst erweitern, indem man ihn im Zähler und
Nenner mit Zähler und Nenner des Divisors vervielfacht. Also
c a cab a cab :a cb
d ' b dab ' b dab : b da
Dabei kommt auch das Kürzen von Brüchen in Betracht, welches
z. B. so ausgeführt wird"), dass man den Bruch vorher durch eine
solche Zahl erweitert, welche sodann das Kürzen durch den früheren
Nenner gestattet: -^ = r^ = — 3—- Das Dividiren von Sexagesimal-
° b ba a "
brüchen wird besonders gelehrt^). Beim Wurzelausziehen aus Brüchen,
sei es Quadrat- oder Kubikwurzelausziehung, wird von der bei Jor-
danus besonders beliebten Erweiterung Gebrauch gemacht^), d. h.
die Wurzelausziehung aus dem Nenner wird so ermöglicht und dann
die Wurzelausziehung aus dem Zähler bis zu dem Grade von Ge-
nauigkeit durchgeführt, den man früher beim Rechnen mit ganzen
Zahlen kennen gelernt hatte. Dass auf das Wurzelausziehen aus
Sexagesimalbrüchen ausführlicher eingegangen wird, ist selbstver-
ständlich. Für künftige Rückbeziehung bemerken wir, dass im ganzen
Algorithmus demonstratus die Sexagesimalbrüche stets nur die RoUe
einer besonderen Gattung von Brüchen, von fortlaufend kleiner
werdenden Unterabtheilnngen einer Einheit spielen; von der Theilung
des Kreises nach Graden u. s. w. ist keine Rede. Älgorithmi dcmon-
strati finis heisst es auf der 54 Seite, aber ein Anhang über
Proportionen füllt noch weitere drei Seiten. Er handelt zuerst von
dem arithmetischen, geometrischen und harmonischen Mittel zweier
') Algor. demonstr. pag. 28—29. ') Ebenda pag. 33 flg. ^) Ebenda
pag. 38. *) Ebenda pag. 39 : Modum phüosophice dividendi pertractare. '^) Ebenda
pag. 43.
Jordanus Nemorarius. Seine Arithmetica u. der Algorithmus demonstratus. 67
Zahlen, dann von den 18 Veränderungen, welche vorgenommen werden
können, wenn, wie es in einem Satze des ptolemäischen Almagestes
der Fall sei, von sechs Grössen zwei sich verhalten wie die vier
anderen im zusammengesetzten Verhältnisse^). Es sind, wie sofort
einleuchtet, die 18 Combinationen der Regula katta (S. 16),
welche hier einzeln auseinandergesetzt sind. Von dem Ahmed Sohn
des Josephus ist dabei ebensowenig die Rede, als irgend einmal im
Algorithmus demonstratus sei es ein bestimmter Araber, sei es Araber
im Allgemeinen Erwähnung finden. Wir kommen auf die geschicht-
lich sehr bedeutsame ürsprungsfrage noch zurück, wenn wir erst
alle Schriften des Jordanus kennen gelernt haben.
44. Kapitel.
Jordanus Nemorarius: De numeris datis. De triangulis.
Die dem Inhalte nach der Arithmetik und dem Algorithmus
demonstratus nächststehende Schrift führt den Namen De numeris
datis, in manchen Handschriften wohl auch De lineis datis ^).
Sie war es, mit welcher, wie im vorigen Kapitel erwähnt worden
ist, in der Mitte des XV. Jahrhunderts Regiomontanus, mit
welcher aber auch ein starkes Jahrhundert später Maurolycus von
Messina bekannt geworden ist. Beide Gelehrte, deren Urtheils-
fähigkeit sehr hoch zu stellen ist, beabsichtigten die Herausgabe des
Werkes^), die wohl nur deshalb unterblieb, weil ähnliche Absichten
für allzuviele Werke des Alterthums und des Mittelalters daneben
bestanden, als dass die Arbeitskraft zweier Männer zur Ausführung
hätte ausreichen können. Die Schrift von den gegebenen Zahlen ist
^) Ex quadam demonstratione Ptolemaei in Almagesti, positis sex quanti-
tatibus quibuscunque , ubi proportio duarum ex quatuor constat reliquarum pro-
jwrtionibus , sumi piossunt coniugationes utiles et modi eommunes ex uno eorum
provenientes, et sunt omnes 18. *) Chasles, Apergu hist. kennt diese Schrift
noch nicht; dagegen hat Chasles sich 1841 eingehender mit ihr beschäftigt.
Compt. Rend. XIII, 506 und 520. H. Treutlein hat den Text aus der Basler
Handschrift F ü, 33 in der Zeitschr. Math. Phys. XXIV, Supplementheft S. 135
— 166 unter Vorausschickung einer Einleitung S. 127 — 135 zum Abdrucke ge-
bracht. Eine gereinigte Ausgabe veranstaltete H. Max Curtze unter Be-
nutzung der Dresdner Handschrift C 80 in der Zeitschr. Math. Phys. (1891)
XXXVI Histor.-liter. Abthlg. S. 1—23, 41—63, 81—95, 121—138. Eine werth-
volle Einleitung zu dieser neuesten Ausgabe ist auf S. 1 — 5 zu finden. Wir
citiren ausschliesslich die neueste Ausgabe als Zeitschr. Math. Phys. XXXVI
H. 1. A. mit nachfolgender Seitenzahl. ^) Treutlein in Zeitschr. Math. Phys.
XXIV, Supplementheft S. 127—128,
68 44. Kapitel.
in vier Bücher eingetheilt, von welchem das erste 29, das zweite 28,
das dritte 23, das vierte 35 Aufgaben behandelt.
Dem 1. Buche könnte als Ueberschrift dienen: Wenn zwei qua-
dratische Gleichungen mit zwei Unbekannten gegebeu sind, so sind
die Unbekannten selbst gegeben. Es sind zu dem Ende die ver-
schiedensten Einzelfälle behandelt. Bald ist Summe und Product
der Unbekannten gegeben, bald Summe und Quadratsumme; dann
ist wieder Differenz und Product gegeben, Differenz und Quadrat-
summe, Summe der einfachen Unbekannten und ihre Quadratsumme
vermehrt um das Product von Summe und Differenz u. s. w. Zwei
Aufgaben unterbrechen, die eine wirklich, die andere scheinbar, die
Gleichförmigkeit des Inhaltes. Die 2. Aufgabe^) lehrt beliebig viele
(quotlibet) Theile einer gegebenen Summe kennen, wenn die Differenzen
je zweier aufeinander folgender Theile gegeben werden. Ist a die
Summe und sind h, c, d, e die beispielsweise angenommenen vier
Theile , deren Unterschiede Jordanus h — 6=/", c — e=^g, d — e^=h
nennt, indem e die kleinste unter den gesuchten Zahlen sein soll, so
ist h-\-c-\-d=^f-\-g-\-1i-{-?>e, also auch a (== h -\- c -\- d -\- e)
^^f-\-g-{-h-\-4:e, e = r-^ ; und nun sind auch die Zahlen
b=^e-\-f, c = e-\- g, d= e-\-h bekannt. Hier ist von quadratischen
Gleichungen nicht die Kede. Die die Auffindung von n Unbekannten
aus ebensoyielen Gleichungen ersten Grades bezweckende Aufgabe
erinnert, wie sehr richtig bemerkt worden ist^), an das Epanthem
des Thymaridas, beziehungsweise an verwandte indische Aufgaben
(Bd. I, S. 148 und 584).- Die 7. Aufgabe ^j fragt nach einer Zahl,
deren Product in die aus ihr selbst und einer bekannten Zahl ge-
bildete Summe gegeben ist. Hier scheint nur a{a -{-h) = d aufzu-
lösen, wenn wir der gleichen Buchstaben wie Jordanus uns bedienen
wollen, also die einzige Unbekannte a aus der quadratischen Gleichung
a^-\-ha = d zu suchen. Jordanus bemerkt aber, es sei h der Unter-
schied von a -\- h und a; ihm ist folglich jetzt Unterschied h und
Product d zweier Unbekannten bekannt und damit die Aufgabe auf
einen Fall quadratischer Gleichungen mit zwei Unbekannten zurück-
geführt. Er verfährt dann, wie folgt : Nach einander wird 4:a{a-\-h)==4:d,
IP' =}y^ gebildet, und beide Gleichungen addirt man und findet
(2a + hf = U +.Z>1 Folglich ist a = -|(]/4^T^ — A ■ Auch
hier ist die werthvolle Bemerkung gemacht worden'^), die Verviel-
fältigung von a{a-\-l>)^d mit 4 erinnere an das Verfahren orien-
1) Zeitschr. Math. Phys. XXXVI H. 1. A. S. 6—7. -) Ebenda S. 3—4.
^) Ebenda S. 9. ^) Ebenda S. 4.
Jordanus Nemorarius. De numeris datis. De triangulis. 69
talischer Mathematiker. In der That wiissten Inder so eine Bruch-
rechnung zu vermeiden, wenn der Coefficient der ersten Potenz der
Unbekannten in einer quadratischen Gleichung ungrad war (Bd. I,
S. 585). Von den übrigen Aufgaben des 1. Buches nennen wir die 19.,
in welcher zwei Zahlen aus ihrer Summe und ihrem Quotienten
ermittelt werden sollen^). Jordanus nennt die beiden Zahlen a und h.
Man kennt y- = c, also auch c -f- 1 = (7 = "T" • Daraus folgt, dass
h ■ d die gegebene Summe, 1) der Quotient der gegebenen Summe
durch d sein muss; wie man dann a finde, hält Jordanus offenbar
für so ersichtlich, dass er gar nicht davon redet. Die 29. und letzte
Aufgabe"^) des 1. Buches ist dadurch bemerkenswerth, dass in ihr
eine irrationale Quadratwurzel ]/500 mit dem Näheruugswerthe 22--
auftritt, ohne dass gesagt wäre, wie derselbe erhalten wurde (cujus
extrahatur radix ad proximum et erit XXII et tercia). Möglicher-
weise rechnete Jordanus ]/500 = — ]/4500no — ==22y An anderen
Stellen des 1. Buches sind irrationale Lösungen einfach nicht in Be-
tracht gezogen^). An zwei Stellen, nämlich in der 5. und in der
8. Aufgabe^), verweist Jordanus auf Sätze des ersten Buches seiner
Arithmetik, welche er zuerst Arismetica lordani, dann Arismetica
schlechtweg nennt.
Das 2. Buch beginnt mit der Bemerkung, dass wenn aus einer
Proportion von vier Zahlen drei derselben gegeben würden, auch die
vierte gegeben sei und wendet dann Umwandlungen von Proportionen,
wie sie den Griechen vielfach dienten und ihnen die eigentliche
Algebra ersetzen mussten, wie aber auch Jordanus im zweiten Buche
seiner Arithmetik sie lehrte, zur Auflösung von bestimmten Aufgaben
ersten Grades bald mit zwei, bald mit mehreren Unbekannten an.
Wählen wir die 20. Aufgabe^) einmal heraus. Drei Unbekannte
rt, h, c stehen in Verhältnissen zu einander und zu bekauuten Zahlen,
welche in den Gleichungen
a + 6 = l|-ö
& + 4 = 2c
c + 2 = ya
2 2
ausgedrückt sind. Nun ist 1— pial 4 gleich 6 > also
a + 6 + ß| =. l| (6 -f 4) = l| (:2c) = 3| c.
1) Zeitschr. Math. Phys. XXXVI H. 1. A. S. 16—17. ^ Ebenda S. 22—23.
3) Ebenda S. 4 und 15. *) Ebenda S. 4, 8 und 10. ") Ebenda S. 51—52.
a
70 44. Kapitel.
1 '■i
Ferner ist 3y mal 2 gleich 6y; also
a + ö + 6| + 6| = 3| (0 + 2) = 3i-(-5-a)
oder
«+19| = (2 + 4+^)<., 19i- = (l+i + i;
und a = 14c, worauf & = 12, c = 8 folgen. Ganz eigenthümlicli ist
dabei das Auftreten der an die alten Stammbrüclie erinnernden Ver-
2 2
einigung von 2 + y + ^ ' Statt ihrer würde in alten Zeiten un-
fehlbar 2 -)- — -f- ^ geschrieben worden sein. Jordanns aber stand
dem Grundgedanken der Zerlegung in Stammbrüche wohl einiger-
massen fremd gegenüber, wie aus seiner Benutzung gewöhnlicher
5
Bruchformen (z. B. in der dritten Gleichung dieser Aufgabe — und
nicht V + 7" + 57) hervorgeht, und dürfte hier so gerechnet haben:
Um 3^ mal — zu bilden, nimmt man zunächst 3 • — =2-f-^' dann
1 5 1,2 , Q 1 5 o I 1 I 1 I 2 ^,2.2
YXy = y + 2T'^i^^ %-y = 2 + y + y + 2i = ^ + y.+ 2i-
In diesem 2. Buche werden wiederholte Anwendungen von der Regel
des einfachen falschen Ansatzes^) gemacht. Sie gestaltet sich am
bequemsten in der 2. Aufgabe, wo man die Zahl sucht, deren — und
1 2
— zusammen 26— geben sollen. Wäre 60 die Zahl, so käme
— -f- — = 16, folglich ist 60 mit 26-^ zu vervielfachen und das Pro-
duct 1600 durch 16 zu dividiren, wodurch 100 erscheint. Weit ver-
wickelter ist die Anwendung des falschen Ansatzes in der 27. und
28. Aufgabe, wobei namentlich auch der Hinweis darauf, dass Jor-
dauus erklärt^), er bediene sich einer arabischen Methode, nicht
unterbleiben darf.
Wir gehen zu dem 3. Buche über. Es handelt im Ganzen
auch von Proportionen und daraus gebildeten Aufgaben mit mehreren
Unbekannten, aber es unterscheidet sich vom 2. Buche dadurch, dass
hier fast fortwährend Quadratwurzelausziehungen nöthig fallen, die
1) Zeitschr. Math. Phys. XXXVI H. 1. A. S. 41—42 und 61—63. ^) Opus
aiitem Arabum in partibus tantum consistit estque huiusmodi heisst es in 27.
und dann in 28. (in welcher es sich um eine zweite Auflösung von 26. handelt)
et hoc manifeste clocet in opere partium quo utimtur Ärahes.
Jordanus Nemorarius. De numeris datis. De triangulis. 71
dort nie vorkommen. Im 3. Buche selbst kann man fügiich zwei
Abschnitte unterscheiden. Die Aufgaben 1 bis 13 handeln von ste-
tigen geometrischen Proportionen mit nur drei von einander ver-
schiedenen Zahlen, die Aufgaben 14 bis 21 von nicht stetigen Pro-
portionen mit vier von einander verschiedenen Zahlen. Die 22. und
23. Aufgabe schhessen sich leichter der ersten als der zweiten hier
hervorgehobenen Gruppe an, und schienen nicht alle Handschriften
die gleiche Anordnung aufzuweisen, so wäre man versucht anzu-
nehmen , es sei hier etwas in Unordnung gerathen , und die 22. und
23. Aufgabe hätten ursprünglich hinter der 13. und vor der 14. ge-
standen. Auch hier wollen wir einige Beispiele mittheilen. Die
9. Aufgabe^) spricht aus, man kenne die Glieder a, h, c einer stetigen
geometrischen Proportion a :h ^^h : c, sofern das 4. Glied und die
Summe der 3 ersten gegeben sind. Man kennt nämlich mit c auch
c'^ = d. Sei ferner ca = Z>" = c, so ist c{a -{- h -\- h) = e -\- f -\- g,
indem f-\-g statt 2h c gesetzt ist. Wird ca durch h^ ersetzt und
c^ = d hinzugefügt, so ist h^ -\- 2hc -\- c^ =^ d -\- e^-f- f -\- g bekannt,
da ja c -\- f -\- g das c-fache der Summe der 3 ersten Glieder ist.
Endlich ist h = Vd -\- e -\- f -{- g — c und a = (« + 6 -f &) — 26.
Die Aufgaben 12 und 13 gehören zusammen^). Von den Gliedern
a, T), c einer stetigen geometrischen Proportion a :h =^ h : c ist die
Summe a-\- c der beiden äusseren Glieder und h -\- c beziehungsweise
a -\- b gegeben, wobei angenommen wird, es sei a^h^c. Die
erstere Aufgabe hat nur eine, die zweite zwei Auflösungen. Aus
a-f-c = 34, 64-c=24 folgt a = 25, & = 15, c=9; aus a + c = 25,
a-^h = 2S folgt dagegen ebensowohl a = 24—-, l> = Sy, <^ "^ Y
als auch a = 16, Z^ = 12, c ^ 9. Natürlich ist der Grund in dem
Vorhandensein von nur einer, beziehungsweise von zwei positiven
Wurzeln einer quadratischen Gleichung zu finden. In der 19. Auf-
gabe^) soll die viergliedrige Proportion a :h = c : d ermittelt werden,
während a -\- d, h -\- c und — gegeben sind. Da aus der Proportion
die Folgerung — = "T' sich ergiebt und (a -j- d) -f- (h -\- c) = (a -f- h)
-\- (c -\- d) ist, so kennt man Summe und Quotient von a -]- h und
c -\- d, mithin beide Grössen selbst. Dann kennt man weiter (a -\- h)
— {a-\-d) = h — d und (a-{-d) — (c-\-d) = a — c, also auch •
Aus der anfänglichen Proportion weiss man aber , , = , _ , und
») Zeitschr. Math. Phys. XXXVI H. 1. A. S. 85. ^) Ebenda S. 87—88.
3) Ebenda S. 92.
72 4i. Kapitel.
wegen {a -\- d) + (6 + c) = (« + c) + (^ + d) keimt man jetzt auch
Summe und Quotient von a + c und & -j- r? und damit beide Grössen
selbst. So hat man allmälig a — c und a -{- c, also durch sie a und
c sich verschafft, welche von a -\- d, beziehungsweise von J) -\- c ab-
gezogen d und 1) liefern.
Das 4. Buch endlich verlässt die Proportionen wieder, wenn
auch von dem Verhältnisse zweier Zahlen zu einander und von Ver-
einigungen solcher Verhältnisse noch die Rede ist. Ein Hauptinteresse
liegt für uns in zwei Gruppen von je drei Aufgaben. Die Aufgaben
8, 9, 10 behandeln die drei Fälle der quadratischen Gleichung^):
x'^ -{- hx = c, x^ -\- c ^ 1)X, hx-\-c = x'^ mit zwei Auflösungen des
mittleren Falles, während der erste und dritte je nur eine Auflösung
besitzt. Dass im mittleren Falle eine Ausnahme von der Regel statt-
fc* . . .
finden kann, indem bei c > — gar keine positive Auflösung erscheint.
wusste Jordanus offenbar nicht, da man sonst nicht zu erklären
vermöchte, warum er nicht darauf aufmerksam gemacht hat, was
Alchwarizmi z. B. nicht versäumte (Bd. I, S. 677). Die zweite
Gruppe^)', die Aufgaben 11, 12, 13 umfassend, unterscheidet sich
von der ersten nur dadurch, dass das quadratische Glied noch einen
Coefficienten besitzt, durch welchen die Gleichung dividirt wird, um
sie auf die frühere Form zu bringen. Die Kunstausdrücke, deren
Jordanus sich dabei bediente, mögen aus der 11. Aufgabe erkannt
werden: Si numerus ad quadratum datus (d. h. ax^) cum addicione
numeri ad radicem ipsius dati (d. h. -)- hx^ fecerit numerum datum
(c) et quadratum et radicem datos esse consequetur. Die 8. Aufgabe
ist genau die gleiche, welche als 7. Aufgabe des 1. Buches oben zur
Besprechung kam. Jordanus hat sie an beiden Stellen eben ganz
verschiedenartig behandelt. Eine weitere Uebereinstimmung zwischen
Aufgaben des 4. und des 1. Buches findet bei der 15. bis 26. Auf-
gabe^) statt. Sie sind sämmtlich quadratische Aufgaben mit zwei
Unbekannten. Einzelne derselben unterscheiden sich von solchen des
1. Buches nur darin, dass dort eine bestimmte, hier eine beliebige
Einheit der Aufgabe zu Grunde liegt; so kommt die 4. Aufgabe des
1. Buches auf x -\- y ^ a, x^ -\- if = h, die 15. des 4. Buches auf
x-\-y==az, x^ -{- y^ = hs^ heraus^). Die Aufgaben 27 bis 34
kehren wieder zu quadratischen Gleichungen mit nur einer Un-
bekannten^) zurück, und die 35. und letzte Aufgabe ist eine rein
cubische*^): Die Hälfte des Quadrates einer Zahl ( j mit sich selbst
^) Zeitschr. Math. Phys. XXXVI H. 1. A. S. 124—126. ^) Ebenda S. 126—128.
») Ebenda S. 128—134. *) Ebenda S. 8 und 128. ^) Ebenda S. 134—138.
'^) Ebenda S. 138.
Jordanus Nemorarius. De numeris datis. De triangulis. 73
vervielfacht (also v ' V "^ v) ^^^^ 54nial die Zahl (54a:) geben.
Jordanus folgert a;^= 4 • 54 = 216, dessen Kubikwurzel (cuius latus
cubicum) 6 die gesuchte Zahl ist.
Haben wir in Jordanus als Verfasser einer Arithmetik, eines
Rechenlehrbuchs, einer Algebra den nicht unberechtigten Neben-
buhler Leonardo's von Pisa kennen gelernt, so wird ein geometrisches
Werk des gleichen Verfassers die Meinung von seiner Befähigung
auch auf diesem Gebiete zu einer sehr achtungsvollen machen müssen.
Das Werk De triangulis^) ist es, welches wir meinen, und von
welchem wir einen Auszug folgen lassen. Es zerfällt in vier Bücher.
Die beiden ersten von 13 und 19 Sätzen handeln von gradlinigen
Figuren, die beiden letzten von 12 und 28 Sätzen von Kreisen mit
Inbegriff solcher gradlinigen Figuren, die zum Kreise in enger Be-
ziehung stehen.
An der Spitze des 1. Buches finden sich gewisse Begriffs-
bestimmungen, welche durchweg den Stempel der Scholastik tragen.
Von einem Griechen oder von einem Araber können sie daher nicht
entlehnt sein. Sie bilden entweder das geistige Eigenthum von Jor-
danus selbst, oder wenn nicht von ihm, jedenfalls eines Zeitgenossen.
Da lesen wir gleich zuerst: Stetigkeit ist NichtUnterscheidbarkeit von
Grenzstellen verbunden mit der Möglichkeit abzugrenzen. Der Punkt
ist Festlegung der einfachen Stetigkeit^). Da heisst es, ein Winkel
entstehe durch das Zusammentreffen zweier stetiger Gebilde an einem
Endpunkte ihrer Stetigkeit^). Da wird eine Figur durch eine oder
mehrere Curven, durch zwei oder mehrere Curven und Gerade, durch
drei oder mehrere Gerade gebildet^), lauter Erklärungen, die von
den euklidischen sowohl als von den als heronisch überlieferten in
wesentlichen Punkten abweichen und q,uch bei Proklos nicht wörtlich
übereinstimmend nachgewiesen werden können. Der an die Einleitung
1) Chasles, Apercu hist. 517 (deutscli 604) nennt das Werk De triangulis
nur im Vorübergelien. Eine Ausgabe mit vorzügliclier Einleitung hat H. Max
Curtze im VI. Hefte der Mittheilungen des Coppernicusvereins für Wissen-
schaft und Kunst zu Thorn (1887) veranstaltet. Wir citiren dieselbe als Jor-
danus, Trianguli mit folgender Seitenzahl. Ein guter Auszug auf Grundlage
der Aushängebogen der damals noch nicht der OefFentlichkeit übergebenen
Ausgabe bei S. Günther, Geschichte des mathematischen Unterrichtes im
deutschen Mittelalter S. 159 — 162. Dieses Werk citiren wir als Günther, Un-
terricht Mittela. ^) Continuitas est indiscrecio terminorum cum terminandi po-
tencia. Punctus (sie!) est fixio simplicis continuitatis. ^) Angiilus autem est
continuarum in continuitatis termine convenienciiim. *) Superficiei igitur figura
nccidit ex terminorum qualitate, quia alia curvis, alia curvis et rectis, alia
tantum rectis terminis continetur. Et curvis quidem uno vel plurihus, rectis
autem et curvis du/^us vel plurihus, rectis rero tribus vel amplioribus.
74 -i^- Kapitel.
anschliessende 1. Satz^) giebt die Beziehung einer Mittellinie eines
Dreiecks zu dem Winkel an, aus dessen Spitze sie gezogen ist. Der
Winkel sei nämlich ein rechter, ein spitzer oder ein stumpfer, je
nachdem die Mittellinie gleich der halben Gegenseite ist, die sie
halbirt, oder grösser oder kleiner als diese halbe Seite. Wir über-
setzen wörtlich den Beweis, um an ihm ein Musterstück des Ganzen
zu haben: „Ist die Linie gleich der Hälfte der Basis, so werden ver-
möge zweimaliger Anwendung von Euklid I, 4 die beiden Winkel
an der Basis zusammen dem dritten gleich sein; wegen I, 32 ist also
dieser ein rechter. Ist die Linie gi-össer, so werden wegen I, 18
jene Winkel an der Basis grösser als der dritte, dieser also spitz.
Ist die Linie kleiner, so sind auch die Winkel kleiner als der dritte,
dieser also wegen I, 32 stumpf." Von den hier angeführten eukli-
dischen Sätzen besagt I, 32, dass die Winkelsumme des Dreiecks
zwei Rechte betrage und I, 18, dass der grösseren Dreiecksseite der
grössere Winkel gegenüberstehe. Der dritte noch benutzte euklidische
Satz von der Gleichheit der Winkel an der Grundlinie des gleich-
schenkligen Dreiecks ist in den durch Theon's von Alexandria Aus-
gabe uns überlieferten euklidischen Elementen nicht I, 4 sondern
I, 5, und ähnliche Abweichungen könnten zahlreich nachgewiesen
werden, worauf in anderem Zusammenhange im nächsten Kapital
zurückzukommen sein wird. Auch einen Satz, bei welchem der Be-
weis an einer mit Buchstaben versehenen Figur geführt wird, wollen
wir aus diesem 1. Buche etwas genauer mittheilen, den 7. Satz^).
Zwischen (Figur 13) den Parallelen ac und
hd werden über ac die beiden Dreiecke ahc,
ade gezeichnet, deren Seiten a&, cd sich
durchschneiden; ist alsdann ah'^cd, so ist,
-^ adc'> a1)C. Wird von den beiden flächen--'"
^ J3 gleichen Dreiecken ahc, ade das gemein-
schaftliche Stück ace abgezogen, so bleibt
Ahce = ade , und die Schenkel der den gleichen Dreiecken an-
gehörenden Scheitelwinkel bei e müssen nach Euklid VI, 14 (in der
Theon'schen Ausgabe VI, 15) in dem Verhältnisse stehen ae:ce = eh: ed.
Daraus folgt ae : ce ^ (ae -\- eh) : (ce -\- ed) = ah : cd. Nun ist
voraussetzungsmässig ah^cd, also auch ae^ec, und wenn der
Punkt f auf ae so gelegen ist, dass ae : ce = ce : ef , so muss
^) Jordanus, TrianguU S. 3 — 4: In omni triancjulo si abopposito angulo ad
medium basis ducta Tinea dimidio eiusdem eqmäis fuerit, erit ille angulus recttis;
quod si maior acutus: si vero minor obtusus. ') Ebenda S. 6 : Si super eandem
basim inter lineas equidistantes due trianguU statuantur , etiivs latus laterum sese
secancium maius fuerit, eius angulus superior minor erit.
Jordanus Nemorarius. De aumeris datis. De triangulis. 75
ef <.ce <,ae sein, d. h. /' fällt auf der Richtung ea zwischen e
und a. Nun zieht man df. Es war
ae : ce = eh : ed
ae : ce = ce : ef.
Folglich ist eh : ed = ec : ef
und wegen -^ def = hec ist A defc\Jhec, also auch -^ edf=^ ehe.
Aber <^ edf ist bewiesenermasseu nur ein Theil von -^ eda, also
•^eda'^ehc. In den übrigen Sätzen des 1. Buches, welche meistens
auch mit der relativen Grösse von Winkeln und Seiten in von ein-
ander unterschiedenen Dreiecken in ganz eigenartiger Weise handeln,
ist von dem eben erläuterten 7. Satze mehrfach Gebrauch gemacht.
Es sind meistens Sätze, die nirgend sonst angetroffen werden, so dass
es ganz sonderbar anmuthet, zwischen ihnen so Landläufiges wie den
11. und den 13. Satz^) zu finden, dass die Flächen von Dreiecken
auf gleicher Grundlinie wie die Höhen sich verhalten und die Grund-
linien flächengleicher Dreiecke umgekehrt wie die Höhen.
Das 2. Buch wird durch Theilungsaufgaben gebildet. In den
sieben ersten Sätzen handelt es sich um die Theilung von Strecken,
in den zwölf folgenden um Theilung von gradlinigen Figuren. In diesem
ganzen Buche ist gleichwie im ersten vielfach auf Euklid's Elemente
verwiesen, daneben auch auf die Arithmetik des Jordanus, welche
schlechtweg die Arithmetik genannt wird. Von der eviklidischen
Schrift über die Figurentheilung ist trotz der grossen Aehnlichkeit
der behandelten Aufgaben, die allerdings nicht bis zu voller Ueber-
einstimmung sich erhebt, keine Rede. Ob wir daraus auf mangelnde
Bekanntschaft mit jener Schrift zu schliessen haben? Vielleicht ge-
stattet grade dieses 2. Buch des Jordanus in Verbindung mit ähn-
lichen aber wieder nicht bis zur Deckung übereinstimmenden Auf-
gaben bei Leonardo von Pisa (S. 37) den Rückschluss, es sei, an-
geregt durch arabische Bearbeitungen, wenn nicht Uebersetzuugen der
euklidischen tisqI diatQSöscov (Bd. I. S. 272), zur wissenschaftlichen
Modesache der bedeutenderen Geometer geworden, sich mit Theilungs-
aufgaben zu beschäftigen. Die 18. (vorletzte) Aufgabe des 2. Buches
ist der Auffindung des Schwerpunktes des Dreiecks gewidmet. Wir
erinnern uns des Beweises, durch welchen Leonardo von Pisa (S. 39)
die Gemeinschaft des Durchschnittspunktes der Mittellinien des Dreiecks
feststellte. Bei Jordanus ist der Wortlaut der Aufgabe 2), wie der
Gang des Beweises ein ganz anderer. Es soll der Punkt im Innern
*) Jordanus, Trianguli S. 8 und 9. ^ Ebenda S. 18: Infra datum trian-
gulum a puncto unö^signato tres lineas ad angulos tres, que triangulum per equalia
dividunt, protrahere.
76
ii. Kapitel.
eines Dreiecks gefunden werden, dessen Verbindungsgerade mit den
Eckpunkten das Dreieck in drei gleiche Theile zerlegen (Figur 14).
Man mache cd = —, ziehe de \\ ca und hal-
bire de in r/, so ist dieses der gesuchte Punkt.
Es ist nämlich
Aadc =- — ,
Aagc = ade und Aagh =^ hgc.
Die letztere Behauptung spricht Jordanus nur
kurz aus, ohne sie zu beweisen; er traut also
seinen Lesern zu, sie würden etwa Aage == cgd und Aegb = dgh
einsehen und beide Gleichungen addiren. Auch den letzten 19. Satz^)
wollen wir erwähnen. Ein Viereck ah cd soll von dem Eckpunkte h
aus durch eine Gerade halbirt werden. Halbiren die in g sich schneidenden
Diagonalen hd, ac des Vierecks sich
gegenseitig, so halbirt jede derselben
das Viereck, wie aus dem Satze
Euklid I, 38 (dass Dreiecke von glei-
chen Grundlinien zwischen Parallelen
flächenglerch sind) hervorgeht. Die
Aufgabe ist also in diesem Falle schon
gelöst. Nun sei aber (Figur 15)
cg > ag,
so kann man ce = ag abschneide n.
Von e aus zieht man el || hd und halbirt Id in t, so löst ht die Auf-
gabe. Es verhält sich nämlich Adhc : Ihc = de: Ic und de : Ic = gc : ec,
endlich
ec = ag, also
Adhc : Ihe = gc : ag.
Ferner:
Adhc : dha ^^ gc: ag,
wie sich ergiebt, wenn man
Adhc = dcg + heg und Adha = dag -j- hag
berücksichtigt. Aus den beiden Proportionen folgt aber Adha =^lhc
und addirt man zu dieser Gleichung die augenscheinlich richtige
Adht = Iht, so zeigt sich die Halbirung des Vierecks ahcd mittels ht
■ Wir kommen zu dem 3. Buche, welches, wie wir oben an-
kündigten, vom Kreise handelt, und zwar fast fortwährend Verhält-
Fig 15.
') Jordanus, Trianguli S. 18— 19: Ab ungulo qiiadranguli assignati liiieam
rectain cducerc, que totani quadrangnli siiperticiem per duo equalia parciatur.
Jordanus Nemorarius. De uumeris datis. De triangulis. 77
nisse von Kreisbögen untereinander mit solchen von geradlinigen
Strecken in Beziehung setzt. Das Grössersein des einen Verhältnisses
als das andere ist meistens Zielpunkt der Untersuchung, wie es bei
dem bekannten Satze des Ptolemäus über Bogenquotiente und Sehnen-
quotiente (_Bd. I, S. 390) der Fall ist, der in der That auch hier als
4. Satz^) auftritt. Ptolemäus freilich ist dabei nicht genannt, sondern
im Laufe des Beweises nur der Satz Euklid XII, 2 (^dass Kreisflächen
im quadratischen Verhältnisse der Durchmesser stehen) und ein Pro-
portionensatz aus dem V. Buche desselben Verfassers, sowie zwei
Bücher-), welche die Titel führen: über gekrümmte Oberflächen
und über ähnliche Bögen. Man hat die Bemerkung gemacht, in
den Büchern De triangulis berufe sich Jordanus ausser auf Euklid's
Elemente ausschliesslich auf Werke seiner eigenen Feder ^). Darnach
müssten die genannten beiden Bücher, von welchen das über ähn-
liche Bögen im Anschlüsse an die De triangulis im Drucke heraus-
gegeben ist^), von Jordanus verfasst sein. Demgegenüber dürfte in-
dessen doch in Erwägung zu ziehen sein, dass die bekannte Basler
Handschrift, von der wir bei Gelegenheit des Algorithmus demonstratus
(S. 63) gesprochen haben, ein Buch enthält: Archimenidis de curvis
superficiehus'") , von dem wir dahingestellt sein lassen, ob es wirklich
in letzter Linie auf Archimed zurückführt, oder ob die Ueberschrift
so zu verstehen ist, dass eine Neubearbeitung archimedischer Sätze
vorliege. Es dürfte ferner daran zu erinnern sein, dass Ahmed der
Sohn Josephs ein Buch schrieb, welches Gerhard von Cremona
als liber de similihus arcuhus^) übersetzte. Wir bemerken zu dem
4. Satze überdies, dass die an der Figur angebrachten Buchstaben
ganz andere sind als die, deren Leonardo (S. 38) sich beim Beweise
bediente. Nur Eines wollen wir aus dem 3. Buche noch erwähnen,
nämlich, dass am Schlüsse des Beweises' des letzten 12. Satzes'') der
Begrifi' und Name des angulus contingencie auftritt als des Winkels,
welchen die Berührungslinie, contingens, mit dem Kreisbogen, arcus,
bildet. Es ist derselbe Winkel, mit welchem (Bd. I, S. 250) Euklid
III, 16 sich beschäftigt hat, wo bewiesen ist, dass er kleiner sei als
irgend ein geradliniger spitzer Winkel.
Das 4. Buch fesselt noch heute die Aufmerksamkeit des Lesers
in einem Maasse, dass wir fast Satz für Satz dasselbe auszuschreiben
^) Jordanus, Trianguli S. 21. -) ut ostensum est in libro de curvis su-
perfieiehus und etwas später ut habetur in libro de similibus arcubus. ^) Ebenda
S. XII der Einleitung. *) Ebenda S. 48 — 50. '^) Archimedis Opera ed.
Heiberg vol. ni. Prolegomena \:>ag.LXXXVll — LXXXIX. ^) Steinschneider
in Eneström's Bibliotheca mathematica 1888 S. 114. ') .Tordanus, Trianguli
S. 28.
78 44. Kapitel.
uns versucht fühlen. Der erste Satz spricht aus, dass die Mittel-
punkte des Innen- und des Umkreises eines solche Kreise besitzenden
unregelmässigen Vielecks nicht zusammenfallen können. Der 2. Satz
behauptet, dass von Sehnendreiecken desselben Kreises auf der gleichen
Grundlinie das gleichschenklige die grösste Fläche besitze. Der
4. Satz giebt an, dass Sehnenparallelogramme lauter gleiche Winkel,
der 6., dass Tangentenparallelogramme lauter gleiche Seiten besitzen.
Ersterer Satz beruht auf dem aus Euklid bekannten Satze, dass je
zwei gegenüberliegende Winkel eines Sehnenvierecks sich zu zwei
Rechten ergänzen, letzterer auf dem von der gleichen Summe je zwei
gegenüberliegender Seiten eines Tangentenvierecks. Da aber dieser
Satz bei Euklid nicht ausdrücklich ausgesprochen ist, so hat Jordanus
ihn als 5. Satz zwischengeschoben. Der 8. Satz^) und die ihm fol-
genden stellen eine zusammenhängende Lehre von den gegenseitigen
Beziehungen zwischen regelmässigen Sehnen- und Tangentenvielecken
her. Um dieselbe übersichtlicher aussprechen zu können, wollen wir
Flächeninhalt und Umfang eines regelmässigen Sehnen-w-ecks durch
i„ und «„, die entsprechenden Grössen für das regelmässige Tan-
genten-?i-eck des gleichen Kreises durch !„ und Ü7„ bezeichnen. Im
8., 9., 11. Satze beweist alsdann Jordanus die Proportionen:
i2n =kn: In,
im > Un '■ Um, sofern n > m,
Ih = Un : U„, und I,n> In,
sofern n > m
Der Beweis des 8. Satzes wird unter der Annahme « = 3 geometrisch
geführt (Figur 16). Das Tangentendreieck liegt so, dass es die Spitzen
des Sehnendreiecks (z. B. d und f) zu Berührangs-
punkten hat, worauf eine stetige Proportion zwischen
Abschnitten der Verbindungsgeraden vom Kreis-
mittelpunkte zu einem Eckpunkte des Tangenten-
dreiecks sich leicht ergiebt. Es ist z. B.
dh^ = liz ■ ha, hz^ = hs ■ liz,
dir -\- hz~ = hz{]ia -\- liz) ^ hz • az.
Zugleich ist auch dh^ -\- hz^ = dz^ = gz^, mithin
hz:gz = gziaz. Diese Abschnitte als Grundlinien
von Dreiecken benutzt, deren gemeinsame Spitze
Fig. 16.
') Jordanus, Trianguli S. 31: Inter quaslibet duas figuras poligonias equila-
teras et similes, et quarum ima in circulo inscripta, alia circumscripta fuerit,
X>roporcionalis comistit, que duplo plwrium laterum existens infra eundem circu-
lum inscribitur.
Jordamis Nemorarius. De numeris datis. De triangulis. 79
im Eckpunkte d des Sehnendreiecks liegt , übertragen jene Pro-
portion einfach auf die Flächen der eben gekennzeichneten Dreiecke:
l\dhz : l\d(jz = l\dgs : l\daz ,
also auch auf Gleichvielfache derselben, und damit ist der Satz be-
wiesen, dass in' Hn = Hn' In- Wiewohl Jordanus eigentlich w = 3
vorausgesetzt hat, kommt also diese Voraussetzung in der Beweis-
führung nirgend vor, und Jordanus kann getrost fortfahren^), ähn-
liche Schlüsse könne man ziehen, sofern Vielecke von viel mehr
Seiten vorliegen. Auffallend genug, dass Jordanus sich dadurch doch
nicht befriedigt zu fühlen schien. Er behandelt vielmehr im 15. Satze
noch einmal besonders den Fall n = 4, ohne dabei des vorher-
gegangenen allgemeinen 8. Satzes nur zu gedenken. Im 16. Satze,
wendet sich Jordanus der Quadratur des Kreises -) zu. Dem Kreise a
lässt Jordanus ein Quadrat de umschreiben und sucht eine Fläche c,
welche der Proportion c : a ^ a : de genüge. Ist nun das gefundene
c wieder ein Kreis, so werde diesem ein Quadrat hJc umschrieben,
und da sich Kreise wie ihre umschriebenen Quadrate verhalten, so
wird auch stattfinden c : a = hJc : de. Eine Vergleichung beider auf-
gestellter Proportionen lässt alsdann a= hJc erkennen. Ist dagegen
c kein Kreis, sondern eine gradlinig begrenzte Figur, so kann die-
selbe immer in ein Quadrat ry umgewandelt, ausserdem ein Quadrat
mn als geometrisches Mittel zwischen den Quadraten ry und de ge-
funden werden, und auch dann ist die Aufgabe gelöst, weil a = mn.
Offenbar ist also der Beweis dialektisch geführt, dass es ein dem
Kreise a flächengleiches Quadrat geben müsse, wenn die Voraus-
setzung wahr ist, die Figur c könne nur entweder ein Kreis oder
eine gradlinig begrenzte Figur sein; wie man, selbst wenn man jene
Voraussetzung zugeben müsste, c zu fiüden habe, damit beschäftigt
sich Jordanus nicht.
Nehmen wir von dieser echt scholastischen Untersuchung An-
lass, hier die Frage zu streifen, ob Jordanus ganz unabhängig ge-
arbeitet hat, oder ob irgend eine fremde Vorlage sich nachweisen
lässt ' an welche er in seinem Werke De triangulis mehr oder weniger
eng sich angeschlossen haben mag. Man hat darauf hingewiesen-''),
dass entfernt Aehuliches bei dem Byzantiner P s e 1 1 u s vorkomme.
Aber wenn auch Psellus einen unbestreitbar mächtigen Einfluss auf
das Studium der Logik im Abendlande ausgeübt hat, so ist doch die
weit höhere geometrische Begabung des Jordanus gewiss nicht bei
^) Jordanus, Trianguli S. 32: ex eis argues st proposite fuerint figure
poligonie [mtilto plurium laterum. *) Ebenda S. 36: Proposito circulo equale
quadratiim constituere. ^) Günther, Unterricht Mittela. S. 161, Note 2.-
80 44. Kapitel.
einem Psellus in die Schule gegangen. Viel leichter könnten wir mit
der am gleichen Orte ausgesprochenen Vermuthung uns befreunden,
es sei bei Psellus und Jordanus hier der Einfluss eines Dritten,
eines Schriftstellers der griechisch -arabischen Schule etwa, wahr-
nehmbar, den Jordanus besser verstanden hat, als es Psellus möglich
war. Immerhin schweben solche Meinungen ziemlich haltlos in der
Luft. Nur zwei verneinende Behauptungen können wir mit Sicher-
heit aussprechen. Des Jordanus 16. Satz im 4. Buche De triangulis
stammt nicht aus der Kreisquadratur des Franco von Lüttich
(Bd. I, S. 822), er stammt auch nicht aus dem Buche der drei
Brüder (Bd. I, S. 690). Beide Schriften sind gegenwärtig heraus-
gegeben^). Auch in der durch Gerhard von Cremona in's Lateinische
übersetzten arabischen Schrift findet sich reiches Material zur Kreis-
quadratur, aber nicht jener 16. Satz des Jordanus. Andere Sätze aus
dem Buche der drei Brüder dagegen zeigen mit solchen aus dem
4, Buche De triangulis eine merkwürdige Aehnlichkeit. Der 18. Satz
der Araber hat es mit der Dreitheilung des Winkels, ihr 16. Satz
mit der Würfelverdoppelung zu thun. Dieselben Fragen beschäftigen
Jordanus im 20., im 22. Satze seines 4. Buches. Die Uebereinstim-
mung im Wortlaute sowie in den Buchstaben der Figuren ist eine
so vollständige, dass man herüber und hinüber zweifelhafte Lesarten
dadurch festzustellen befähigt war. Da sollte man doch für un-
zweifelhaft halten, dass * Jordanus sich jener Uebersetzung des Liber
tri um fratrum von Gerhard von Cremona bediente! Und dennoch
tragen wir die grössten Bedenken solches anzunehmen. Sie beruhen
auf Folgendem: In den neun letzten Sätzen des 4. Buches, von dem
20. bis zum 28. Satze, sind bei Jordanus alle Figuren mit Buchstaben
griechisch -arabischer Reihenfolge bezeichnet, während vorher aus-
schliesslich die lateinische Reihenfolge der Buchstaben zu erkennen
ist. Von dem Satze an, wo ahg an die Stelle von ahc treten,
müssen wir wohl an den Einfluss eines Musterwerkes, und dann mit
grosser Wahrscheinlichkeit an den eines einzigen denken, und doch
ist nur in Satz 20 und 22, wie bemerkt, eine Uebereinstimmung mit
dem Buche der drei Brüder, ist schon in Satz 22 ein wesentlicher
Unterschied neben der Aehnlichkeit zwischen Jordanus und der Ger-
hard'schen Uebersetzung wahrnehmbar, sind die Sätze 21 und 23 bis
28 bei den drei Brüdern gar nicht vorhanden. Da drängt sich doch
die Vermuthung auf, dem Jordanus werde nicht das Buch der drei,
^) Die Schrift des Franco gab Winterberg in der Zeitschi-. Math. Phys.
(1882) XXVn, Snpplementheft S. 137—190 heraus, den Liher trium fratrum
sodann (1885) Max Curtze im XLIX. Bande der Nova Acta der Kais. Leop.-
Carol. deutschen Akademie der Naturforscher. ' ^,
J0-
.Tordanus Nemorarius. De nnmeris datis. De triancfnlis.
81
Brüder vorgelegen haben, sondern eine Arbeit, welche selbst ihren
Stoff theilweise dem Buche der drei Brüder entlehnt hatte. Ist etwa
an Täbit ihn Kurra zu denken, den Schüler von Muhammed, den
ältesten unter den drei Brüdern?^) Solche Fragen sind leichter auf-
geworfen als beantwortet, und sie würden zu ihrer befriedigenden
Beantwortung jedenfalls voraussetzen, dass mehr arabische Mathe-
matiker in Uebersetzungen vorhanden wären, als es der Fall ist. Der
Itj. Satz des Jordanus aber, von welchem wir den Ausgangspunkt zu
dieser Einschaltung nahmen, bleibt von dem Ergebnisse, wie es aus-
fallen möge, unberührt, da er noch nicht zu der besonders kenntlich
gemachten Gruppe von neun Sätzen gehört.
Wir haben bei einigen Sätzen dieser Gruppe noch zu verweilen.
Der 20. Satz, sagten wir, habe es mit der Dreitheilung eines spitzen
Winkels zu thun (Figur 17). Um h, den Scheitelpunkt des spitzen
Winkels ahg, als Mittelpunkt wird der Kreis dzm beschrieben, dh
bis l verlängert, hz senkrecht zu dl
gezogen und ze gegen h verlängert,
worauf zq = hd abgeschnitten wird.
Die Gerade seh wird nun in gleitende
und zugleich drehende Bewegung ge-
setzt, während welcher sie fortwäh-
rend durch e hindurchgeht und z auf
der Kreisperipherie hinläuft. Diese
Bewegung lässt man andauern, bis
q auf der früheren Geraden hz , etwa
in 5, ankommt, d. h. bis auf est der
Theil st= qz = hd ist. Dann ist
arc. tl = Y ^^ß- f^^-
Mau ziehe nibk \\ te und nit. We^ ts parallel und gleich mh, muss
auch mt parallel und gleich bs sein. Nun war bsz senkrecht zu dl
gezogen, also ist auch mt senkrecht zu dl, und daher halbirt dl so-
wohl die Sehne mt als den von ihr bespannten Bogen mt. Ferner
sind -^mbl und dbk Scheitelwinkel am Kreismittelpunkte, also
arc. dk =
d == —- arc. mt == -— arc. Ä;e = --- arc. de.
2 3
Ist der zu drittheilende Winkel stumpf, so wird seine Hälfte spitz,
also diese nach der vorgeschriebenen Regel behandelt werden können.
^) Einer nicht wese^tlicli verschiedenen Meinung scheint Max Curtze zu
huldigen, vergl." dessen Beliquiae Copernicanae (1875) S. 26 oder Zeitschr. Math.
Phys. XIX, 451.
Cantor, Goschichte der Matliem. U. -2. Aufl. 6
82 44. Kapitel.
Diese Darstellung (eine naliezu wörtliche Uebersetzung) lässt er-
kennen, dass hier von Bewegungsgeometrie Gebrauch gemacht
ist, wie ein arabischer Schriftsteller in der zweiten Hälfte des X. Jahr-
hunderts, Assidschzi (Bd. I, S. 706) es nannte, wenn ein als Maass-
stab eingetheiltes Lineal so um einen Punkt in gleitende Drehung
versetzt wird, bis gewisse Längen auf einer Richtung von einer ge-
gebenen Begrenzung an ablesbar werden^). Würde man den geo-
metrischen Ort des Punktes q vollständig zeichnen, so bekäme man
eine Kreisconchoide, welche durch ihren Durchschnitt mit hz den
Punkt s bestimmen Hesse, und welche auch das 8. Lemma des Archi-
med (Bd. I, S. 284) zu einer Winkeldreitheilungsmethode verwerthen
würde, die im Grundgedanken mit der soeben erörterten nahe ver-
wandt ist. Wäre es wohl allzugewagt, aus den Bemerkungen von
Assidschzi, aus dem Buche der drei Brüder, aus Jordanus den Schluss
zu ziehen, die Griechen hätten die Curve der Kreisconchoide wirklich
gekannt ? - )
Der 22. Satz beschäftigt sich, wie wir erwähnt haben, gleich dem
16. Satze der drei Brüder mit der Würfelverdoppelung und zwar
zunächst nach der Methode des Archytas (Bd. I, S. 215 — 217). Bei
den drei Brüdern ist Mileus, d. h. Menelaus als Erfinder genannt,
Jordanus nennt keinen Erfinder. Dagegen stimmt er mit der Ueber-
setzung des Gerhard von Cremona darin überein, dass er die Um-
drehuugsaxe meguar nennt, eine nicht einmal sehr schlechte Lesung
des arabischen Wortes für Axe, welches heute mihwar geschrieben
werden würde ^). Jordanus giebt sodann eine zweite Auflösung, welche
die heronische Auflösung (Bd. I, S. 350) mit Einschluss der bei der
Figur in Anwendung kommenden Buchstaben genau wiedergiebt und
als einzige Abweichung einen Kreis zeichnen lässt, den die heronische
Figur nicht aufweist. Auch das Buch der drei Brüder knüpft eine
zweite Auflösung an, aber es ist die Plato's*) (Bd. I, S. 214), und in
diesen zweiten Auflösungen ist der neben sonstiger Uebereinstimmung
vorhandene wesentliche Unterschied zwischen dem Liber trium fra-
trum und Jordanus zu finden, den wir oben schon betonten.
Der zwischen Winkeldrei theilung und Würfelverdoppelung ein-
geschaltete Satz 21 verlangt'') in einem gegebenen Dreiecke den
') Wöpcke, L'algebre d'Omar Alkayyämt pag. 120. *) Max Curtze,
welcher in den Beliquiae Copernicanae 1. c. zuerst diese Frage aufwarf, ist ge-
neigt, die Kenntniss der Kreisconchoide den Griechen zuzusprechen. ') Vergl.
das grosse Wörterbuch von Freytag IV, 157. *) Liber trium fratrum. Er-
läuterung zu XVn, S.61. ^) Jordanus, Trianguli, S. 39: In omni triangxüo
noto est punctum invenire, quo continuato cum angulis trianguli dividetur trian-
giihis per tres proporciones notas.
Jordanus Kemorarius. De numeris datis. De triangnlis.
83
Punkt zu finden, dessen Verbindungsgerade mit den Ecken das
Dreieck nach gegebenem Verhältnisse theilen. Die Aufgabe ist die
Verallgemeinerung der 18. des 2. Buches^ welche wir (S. 76) be-
sprochen haben. Aber Jordanus erinnert an jene mit keinem Worte
und bedient sich einer durchaus anderen Reihenfolge der Buchstaben,
wogegen der der Auflösung zu Grunde liegende Gedanke sich nicht
geändert hat (Figur 18). Die Grundlinie
ag wird nach dem gegebenern Verhältnisse
in d und e getheilt. Dann werden von
diesen Theilungspunkten aus Parallele zu
der jeweils nächsten Dreiecksseite gezogen,
deren Durchschuittspunkt t der gesuchte
Punkt ist. Bei dem 23. Satze, welcher
ein regelmässiges Sehnensiebeneck fordert^), verweilen wir nur einen
Augenblick, um zu berichten, dass die Regel: die Hälfte der Dreiecks-.
Seite gebe die Siebenecksseite, welche Abü'l Wafä lehrte (Bd. I,
S. 702) hier als indische Regel') vorgetragen wird. Aber Jordanus
sagt uns auch, die indische Regel gehe weiter und liefere allgemein
die Seite s„ des regelmässigen Sehnenvielecks von n Seiten in dem
Fig. 18.
Kreise vom Halbmesser
Schrift s„^ =
{n — l)n
In eine Formel umgesetzt lautet die Vor-
Daraus entsteht, was bei Jordanus aller-
dings nicht gesagt ist.
Sonderfälle sind: L
6r
V(»
y3,
- l)w + 6
•1/2, s, =
^; = vl/3,
die drei ersten genau richtig sind, der vierte den Werth des Abü'l Wafä
darstellt. Im 25. Satze kommt wie bei Leonardo von Pisa (S. 37) das
Wort casus^) vor für den Abschnitt, welchen im Dreiecke die Senk-
rechte von einem Eckpunkte auf die Gegenseite auf dieser hervor-
bringt.
Wir glauben nicht einer Uebertreibung uns schuldig zu machen,
wenn wir den Verfasser der vier Bücher von den Dreiecken unter
die hervorragenden Geometer zählen. Mag Vieles, mögen insbeson-
dere die oftgenaunten neun letzten Sätze des 4. Buches offenkundig-
ausländischen Ursprunges sein, Jordanus hat sie doch verstanden, hat
^) Jordanus, Triunguli, S. 42: Circulo proposito eptagonuvi eqiälaterum et
equiangulum inscribere. *) Ebenda S. 43—44: Hec est questio Indorum . . .et
scias, qiiod ipsi ponunt latus eptagoni cadentis in circulo per equalitatem medieta-
tis lateris trianguli cadentis in illo. ^) Ebenda S. 45.
6*
84 -i^- Kapitel.
es berechtigt gefunden, sie in sein Werk aufzunehmen. Auch für
die vorhergehenden Bücher und die 19 ersten Sätze des 4. Buches
mag Jordanus vielleicht nicht als ganz unabhängiger Erfinder da-
stehen, aber was wir ihm unter allen Umständen zu gut rechnen
müssen, das sind manche Beweisführungen, das sind mindestens die
in denselben von Schritt zu Schritt enthaltenen Verweisungen auf
Euklid. So erhalten wir das Bild eines durchaus gewissenhaften
Schriftstellers, eines Gelehrten, der den seiner Zeit zugänglichen Stoff
durchaus beherrschte und denselben zu vei-wenden wusste. Insbeson-
dere die genaue Kenntniss der euklidischen Elemente muss in einer
geschichtlichen Betrachtung stark hervorgehoben werden. Man darf
gewiss für einen Zeitraum, der bis tief ins XVI. Jahrhundert sich
erstreckt, den Satz aussprechen: je mehr wissenschaftlicher Sinn einer
Zeit oder einer einzelnen Persönlichkeit innewohnte, um so gründ-
licher wurde Euklid studirt.
Als wir vorher die schriftstellerische Thätigkeit des Jordanus in
den nicht geometrischen Theilen der Mathematik schilderten, haben
wir (S. 67) am Schlüsse des 43. Kapitels zugesagt, auf die Ursprungs-
frage zurückkommen zu wollen. Wir wenden uns zur Erfüllung
dieser Zusage, so weit sie uns möglich ist, und zu gleicher Zeit
greifen wir auf die Schriften des Leonardo von Pisa zu ähnlichem
Zwecke zurück. Haben doch die beiden Männer sich den Ruhm ver-
dient, an die Spitze eines neuen Zeitraumes — wir dürfen vielleicht
sagen eines neuen Zeitalters — gestellt werden zu müssen, und sind
doch Beide, wie ihre Schriften mit Ausschluss jeden Zweifels dar-
thun, in arabischer Schulung zu Mathematikern geworden, gleichviel
ob sie selbst der arabischen Sprache mächtig waren, oder ob sie
Arabisches, beziehungsweise Griechisch- arabisches, aus lateinischen
Uebersetzungen kennen lernten. Für Leonardo geht man kaum irre,
wenn man annimmt, er habe in Bugia, er habe später in der Levante
genügende Kenntnisse in der arabischen Sprache gesammelt, um Ueber-
setzungen entbehren zu können. Eine gleiche Annahme auch für
Jordanus zu machen, fehlt es an einer gesicherten Grundlage. Bei
der hervorgehobenen Grundähnlichkeit sind nun einzelne schroffe
Gegensätze zwischen Jordanus und Leonardo um so auffallender. Wir
wollen sie, die zumeist den rechnenden Abschnitten angehören, her-
vortreten lassen.
Jordanus führt Verdoppelung und Halbirung als besondere Rech-
nungsarten an, Leonardo kennt sie nicht als solche. Leonardo lehrt
die Neunerprobe, für Jordanus ist sie nicht vorhanden. Jordanus
besitzt eine Art complementärer Multiplication (ob freilich aus ara-
bischer Quelle bezweifeln wir) , bei Leonardo nichts Aehnliches. Leo-
Jordanus Nemorarius. De numeris datis. De triangulis. 35
nardo gebraucht für das Quadrat der unbekannten Grösse das Wort
census, bei Jordanus ist es nicht zu finden, sondern nur quadmtus.
Fast am Auffallendsten ist der Gegensatz beider Schriftsteller, wo
es sich um die Ausziehung von Kubikwurzeln handelt. Jordanus
lehrt dieselbe, soweit sie ganzzahlig möglich ist, genau in der gleichen
unbefangenen Weise wie vorher die Quadratwurzel, Leonardo rühmt
sich der Erfindung der Kubikwurzelausziehung und lehrt dabei eine
Näherungsmethode, welche es gestattet, den rohesten ganzzahligen
Annäherungen noch Brüche beizufügen.
Wie in aller Welt sind diese Verschiedenheiten bei Männei-u,
deren Lehrjahre gewiss nicht weit auseinander lagen, die beide, wie
wir oben sagten, in arabischer Schulung zu Mathematikern geworden
sind, zu deuten? Wir glauben einem Erklärungsgrunde auf die Spur
gekommen zu sein, ob dem richtigen müssen wir dahingestellt sein
lassen. Er hat jedenfalls ein Verdienst, nämlich das, der einzige zu
sein, der bisher aufzustellen versucht wurde.
Wir haben (S. 34) einige algebraische Aufgaben Leonardo's als
Alkarchi nachgebildet nennen dürfen. Den gleichen Lehrer erkennen
wir in allen jenen Dingen, die wir hier als für Leonardo besonders
kennzeichnend fanden. Die Kubikwurzel insbesondere hat Alkarchi
nicht ausgezogen, aber dafür hat er eine näherungsweise Ausziehung
der Quadratwurzel, an welche zu erinnern wir gerade damals für an-
gezeigt hielten, als wir Leonardo's Kubikwurzelausziehung schilderten.
Und nun Jordanus. Wir könnten sagen, er hat Alkarchi's Schriften
nicht gekannt, aber wir gehen um einen Schritt weiter. Wir ver-
muthen seine Abhängigkeit von Alnasawi. Diese erklärt nämlich
Alles, was wir von Jordanus aussprachen mit Ausnahme der com-
plementären Multiplication, welche er von irgend einem Klostergeist-
lichen gelernt haben kann, dagegen mit Einschluss der Kubikwurzel-
ausziehung, welche bei Alnasawi vorkommt.
Wunderbarer Zufall! Im fernen Oriente ruft (Bd. I, S. 720—721)
vielleicht religiöser und politischer Gegensatz zwei einander feindliche
wissenschaftliche Schulen ins Leben. Ein Werk aus der Schule des
Alkarchi fällt in die Hand eines geistvollen Kaufmannes, ein anderes
aus der Schule des Alnasawi — denn wir behaupten keineswegs, es
seien die Werke der Begründer jener Schulen selbst gewesen, die
nothwendig bei Leonardo, bei Jordanus dem Unterrichte zu Grunde
lagen — fällt in die Hand eines hochbegabten Mönches, und im
christlichen Abendlande spiegelt sich ein Gegensatz wieder, der hier
auch nicht den Schein einer Berechtigung besitzt! Jetzt aber handelt
es sich darum, wie die Weiterentwickelung vorgehen soll, ob für die
nächsten Jahrhunderte in Europa Alkarchi, ob Alnasawi sich siegreich
86 44- Kapitel.
erweist, oder wenn unser Erklärungsversuch des nicht wegzuleugnen-
den Gegensatzes keinen Beifall finden sollte, wer der Lehrmeister
bleibt, Leonardo oder Jordanus?
Haben wir aber erst des Wortes Zufall uns bedient, so ist jetzt
aus inneren Gründen die Antwort herzuleiten, welche /die zuletzt auf-
geworfene Frage zu erhalten hat. Leonardo von Pisa war freihch
nach unserer persönlichen Schätzung der bedeutendere Mathematiker
von den beiden, zwischen welchen die Wahl stand. Er war ein
Kaufmann unter tausenden. Jordanus Nemorarius war ein Ordens-
geistlicher wie vielleicht sehr viele, wenngleich an besonderer mathe-
matischer Begabung denselben überlegen, und das musste den Aus-
schlag geben. War die Wissenschaft und ihre Lehre noch fortwährend
Eigenthum der Geistlichkeit, gipfelte, wie wir (S. 54) in kurzem
Abrisse anzudeuten uns begnügen mussten, alles Wissen in der
Gottesgelehrsamkeit, so musste der gelehrte Mönch einen ganz an-
deren Einfluss ausüben als der ebenso gelehrte Kaufmann. Und wenn
nun gar der Mönch dem Orden angehörte, der, wie wir gleichfalls
(S. 55) gesagt haben, in Predigt und Lehre seine Aufgabe fand,
wenn er an der Spitze dieses Ordens stand, wenn er zur Ausbreitung
des Ordens in grossartiger Weise beitrug, kann es da noch zweifel-
haft erscheinen, wer im Wettstreite siegen musste, wenn überhaupt
von einem solchen die Rede sein kann? Und nun greifen wir auf
eine andere für Manchen noch strittige Frage zurück: wenn Alles
so verlief, wie wir hier in Kürze es angedeutet haben, ist dadurch
nicht ein bisher unbeachtet gebliebener Grund für die Behauptung
gefunden, Jordanus Nemorarius und Jordanus Saxo seien eine Person?
Lassen wir an einem Belege statt an hunderten zum voraus
wenigstens die Wahrscheinlichkeit unserer Erörterungen zu Tage
treten. Handschriften des Leonardo von Pisa haben sich bis auf den
heutigen Tag nur in Italien erhalten, oder wohin sie in den letzten
Jahrhunderten von Italienern .^allenfalls verschleppt worden sind.
Handschriften des Jordanus Nemorarius sind in Basel, in Cambridge,
in Dresden, in Erfurt, in Mailand, in München, in Oxford, in Paris,
in Rom, in Thorn^ in Venedig, in Wien vorhanden. Wir haben ab-
sichtlich die alphabetische Reihenfolge der Städte gewählt, welche in
Kreuz- und Querzügen über ga»z Europa hin und her führt.
Johannes tie Sacrobosco, Jobannes Campauus u. and. Math. d. XIII. Jahrh. 8'
45. Kapitel.
Johannes de Sacrobosco, Johannes Campanus und andere
Mathematiker des XIII. Jahrhunderts.
Was wir aus inneren Gründen als unausbleiblich erkannten,
stellt sich als thatsächlich vorhanden dar, sobald wir an die Persön-
lichkeiten näher herantreten, welche die Geschichte der Mathematik
nächst den beiden Männern, welchen unsere seitherigen Betrachtungen
gewidmet waren, im XIII. Jahrhundert zu nennen hat.
Gehen wir von Paris aus als dem Sitze derjenigen Schule, welche
während der ganzen Zeit der Scholastik die leitende Rolle führte, so
treffen wir dort auf Johannes de Sacrobosco^). Der Name
kommt noch in mehrfachen Formen vor als Sacrobusto, Sacro-
buschus oder englisch als John of Holywood, beziehungsweise
Holybush. Als sein Geburtsort wird meistens Holywood (jetzt
Halifax) in Yorkshire angenommen. Andere halten Holywood bei
Dubhn für die Heimath des Gelehrten, noch Andere lassen ihn in
Nithsdale in Schottland geboren sein. Jedenfalls studirte. Sacrobosco,
wie wir mit zwar unrichtiger, aber häufiger alleiniger Benutzung des
Heimathsnamens sagen wollen, in Oxford und lehrte später Astronomie
imd Mathematik in Paris. Dort starb er im Jahre 1256, wie aus
seiner Grabschrift hervorgeht^). Die Geschichte der Astronomie^)
nennt mit Fug und Recht sein Werk über die Weltkugel, De sphaera
mundi, ein gutes Buch für eine schlechte Zeit und begründet dieses
Urtheil mit dem Hinweise auf den Beifall, welchen volle drei Jahr-
hunderte dem ganz unselbständigen Werke, einem Auszuge aus dem
Almagest und einigen arabischen Astronomien, spendeten, indem
sie es dem Universitätsunterrichte zu Grunde legten und der Ab-
fassung von umfangreichen Erläuterungen für würdig hielten. Eine
nicht viel andere Rolle spielt Sacrobosco's Lehrbuch der Rechenkunst*),
^) Poggendorff, Biographisch-literarisches Handwörterbuch zur Geschichte
der exacten Wissenschaften I, 1196 — 1197. Wir citiren dieses oft benutzte vor-
treffliche Nachschlagewerk künftig kurzweg als Poggendorff. — Nouvelle
Biographie universelle XXVI, 556. *) Vossius, De scientiis mathematicis (1650)
pag. 179 giebt die ganze Grabschrift. Kästner, Geschichte der Mathematik
(1796 — 1800) n, 310 giebt allerdings auffallender Weise eine ganz andere Grab-
schrift an , aber in dem Todesjahre 1256 stimmen beide überein. Diese Werke
citiren wir künftig kurzweg als Vossius und als Kästner. ^) R. Wolf, Ge-
schichte der Astronomie (1877) S. 210 Note 2. *) Der Tractatus de arte nume-
randi ist zuletzt unter diesem Titel von J. 0. Halliwell in den Rara Mathe-
88 45. Kapitel.
tractatiis de arte numerandi. Es ist eine Sammlung von Regeln ohne
den geringsten Beweis, ohne Zahlenbeispiel, ohne Erwähnung einer
Quelle, aus welcher der Verfasser schöpfte. Aber in dieser Nüchtern-
heit^ in dieser Kürze eignete es sich vortrefflich dazu, den Grundriss
zu einem die zahlreichen Lücken mündlich ergänzenden Unterrichte
zu bilden, und wurde es Jahrhunderte lang in solcher Weise benutzt.
Ob darum die eben bezeichneten Lücken wirklich ausgefüllt wurden?
Mitunter geschah es, aber die grosse Menge der Lernenden wie nicht
minder der Lehrenden begnügte sich doch wohl gerne mit dem Hand-
werk des Rechnens, ohne auf die Wissenschaftlichkeit des Algorith-
mus demonstratus Ansprüche zu erheben: was wir am Ende des vorigen
Kapitels von der dauernden Einwirkung des Jordanus sagten, was wir
in bestimmterer Weise von seinem Algorithmus demonstratus hätten
sagen können, beschränkt sich zunächst ausdrücklich auf das Rechen-
handwerk. Sacrobosco's Rechenbuch, über welches wir kurz be-
richten wollen, lässt das Wort Algorismus von einem Philosophen
Algus abstammen. Es benutzt in bekannter Weise die Wörter
digitus und articidus. Es erkennt Halbiren und Verdoppeln als be-
sondere Rechnungsarten an. Man kann fragen, wesshalb diese beiden
Operationen jetzt in der entgegengesetzten Reihenfolge auftreten, als
die war, in welcher Jordanus (S. G4) sie lehrte? Sacrobosco selbst
sowie ein gleich nachher zu erwähnender Commentator geben keinerlei
Auskunft darüber, aber merkwürdig genug hat das alte in der Wissen-
schaft längst abhanden gekommene Verfahren sich praktisch erhalten,
und aus ihm sind Schlüsse gezogen worden^). In reindeutschen Ort-
schaften Böhmens wird in der Volksschule die Multiplication 2«malZ;
heute noch so gelehrt, dass 2n halbirt, h verdoppelt und 2k alsdann
n mal unter einander geschrieben wird, worauf die Addition dieser
Posten erfolgt. Ist 2w -(- 1 mal h zu rechnen, so schreibt man
n mal 2A-, darunter h und addirt. Das Beispiel .5 mal 36 sieht so
aus: 72
12
36
180
Hier tritt das Halbireu begrifflich vor dem Verdoppeln auf, und des-
halb könnte es als Operation den Vorrang erhalten haben. Das
matica (1839) abgedruckt. Aeltere Drucke als Opusculum de praxi numerorum
quod Algorismum vocant vielleicht veranstaltet durch Jod. Clichtoveus (Paris
1510) und als Algorismus domini Joannis de Sacro Bosco (Venedig 1523). Ueber
die bezüglich der durch Clichtoveus veranstalteten Ausgabe obwaltenden
Zweifel vergl. Eneström in der Bibliotheca Mathematica 1894 pag. 63—64.
') Briefliche Mittheilungen von F. J. Studnicka.
Johannes Sacrobosco, Jobannes Cumpaniis u. and. Matb. d. XIII. Jabrb. 89
soeben geschilderte Verfahren hat sich auch bei russischen Bauern
erhalten^). Sacrobosco's Rechenbuch lehrt ferner die Ausziehung von
Quadrat- und Kubikwurzeln. Neu, und nunmehr für Jahrhunderte
eingeführt, erscheint der Begriff der Progressio zwischen Division
und Wurzelausziehung, so dass im Ganzen neun Rechnungsarten
erscheinen: Numeratio, Additio, Subtractio, Mediatio, Duplatio, Multi-
plicatio, Divisio, Progressio, Extractio. Unter Progressio ist aber
nicht etwa die Lehre von den Progressionen im Allgemeinen, oder
auch nur von den arithmetischen Progressionen in ihrer Vollständig-
keit verstanden, sondern die Summirung der natürlichen Zahlenreihe, der
Reihe der graden Zahlen und der der ungraden Zahlen, also die Summen
1 + 2 + 3 + •- + ^^ 2 + 4 -f ••• + 2w, 1 + 3 +_•■• + {2n - 1).
Von Einzelheiten bemerken wir die Vorschrift, beim Anschreiben
der Zahlen, welches von dem Stellungswerthe der neun Zeichen und
von der Null unter dem Namen teca, oder circulus, oder cifra, oder
figura nihili Gebrauch macht, je die dritte Stelle durch ein Pünktchen
zu bezeichnen, damit man wisse, wie viele Tausender vorhanden sind^).
Dann ist vor Allem zu beachten, dass nur ganze Zahlen berück-
sichtigt sind. Brüche werden nie genannt. Es scheint aber, dass
man frühzeitig begann, die Lehre von dem Bruchrechnen von der
vom Rechnen mit ganzen Zahlen abzutrennen und in besonderen
Abhandlungen zu erörtern. Wurde doch im XIV. Jahrhundert der
Algorithmus demonstratus selbst in der Basler Handschrift aus-
einandergerissen, so dass die zweite Abtheilung, das Bruchrechnen, der
ersten, dem Rechnen mit ganzen Zahlen, vorangeht, durch eine kleine
Abhandlung über Proportionen von ihr getrennt. Addition und Sub-
traction fangen nach Sacrobosco's Vorschriften rechts bei der niedersten
Stelle an. Aber auch die Halbirung beginnt ebenda, was unserer
Gewohnheit widerspricht und nur dadurch als thunlich sich erweist,
dass alle Rechnungsarten ü herwärts erfolgen und fortwährende
Veränderungen der entstehenden Zahlen als selbstverständlich er-
achtet werden. Aus dem gleichen Grunde kann die Verdoppelung
und Multiplication ebenso wie die Division und Wurzelausziehung
links bei der höchsten Stelle beginnen. Im Algorithmus demonstratus,
wo Alles an Buchstaben erörtert wird, fehlt jede Vorschrift darüber.
Sacrobosco giebt seine Regel bei Gelegenheit der Verdoppelung in
den Versen^)
1) Plakhovo iu der Mathesis XVII, 86—87 (Gand 1897). °) Item scien-
dum est quod super quamlibet figuram loco millenarü positam componenter possunt
poni quidam prtnctus ad denotandum quod tot millencirios dehet ultima figura
representare quot fuerunt puncta pertransita. ^) Eara Mathematica pag. 11.
90 iö. Kapitel.
Subtrahis aut addis a dextris vel mediabis;
A leva dupla, divide muUiplicaque,
Extrahe radicem semper sub parte sinistra.
Abziehen sollst Du und beifügen rechts, sowie auch halbiren;
Links verdopple und theile, und ebendort multiplicire ;
Wurzelziehung erfolge stets von der Linken beginnend.
Genau die gleiclien Zeilen finden sieh\) in einem Rechenbuche
in Versen, welches die Ueberschrift Cai-men de algorismo führt,
Soll man daraus die Folgerung ziehen, Sacrobosco sei auch der Ver-
fasser dieser Dichtung gewesen, oder soll man umgekehrt annehmen,
das von einem Anderen verfasste Gedicht sei schon bekannt und
mehrfach in Gebrauch gewesen, als Sacrobosco sein Lehrbuch schrieb ?
Beide Schlüsse sind gezogen worden. Die an einen anderen Schrift-
steller glauben, nennen als solchen den mit Sacrobosco etwa gleich-
zeitigen Alexander de Villa Dei oder de Villedieu, einen
Minoritenmönch aus Dole, dem man allerdings ähnliche poetische
Neigungen nachrühmt. Er schrieb eine Doctrinale puerorum (latei-
nische Grammatik) in Versen und brachte das ganze alte und neue
Testament in 212 Verszeilen.
Wir haben (S. 88) einen der Commentare zu Sacrobosco's Rechen-
buch besonders erwähnt. Der Verfasser ist Petrus Philomeni de
Dacia^), und der Commentar ist am letzten Juli 1291 vollendet
worden. Petrus von Dacien war, wie sein Name zu erkennen giebt,
ein Däne und gehörte dem Dominikanerorden an, welcher schon im
Mai 1228 so weit nach Norden vorgedrungen war, dass es eine
Dominikanerprovinz Dacien gab. Nehmen wir dazu, dass gleichfalls
am Anfange des XIII. Jahrhunderts schon eine dänische Fürsten-
tochter, die unglückliche Ingeborg, als Gemahlin Philipp August's
von Frankreich die Beziehungen zwischen beiden Ländern vermehren
half, so erscheint es weniger auffallend, einen Schriftsteller dänischer
Nation am Ende des Jahrhunderts in Paris zu finden. Ein Petrus
von Dacien soll sogar, nach den Einen 1326, nach Anderen 1337,
Rector der pariser Universität gewesen sein, doch dürfte dieser ent-
weder Petrus Strangonis de Dacia oder Petrus dictus Winter
de Dacia heissend von Petrus Philomeni unterschieden werden
müssen. Eine Osterrechnung auf das Jahr 1300 kann aber von un-
serem Petrus herrühren^), und ihm dürfen wir sicher auch eine
^) Bara Mathematica pag. 74—75. ^ Günther, Unterricht Mittela.
S. 167 Note 2. — Suter, Math. Univ. S. 43. — Petri Philomeni de Dacia
in Algorismum vulgarem Johannis de Sacrobosco Commentarius (ed. M. Curtze,
Kopenhagen 1897). ^) Vossius pag. 397. Anno MCCC Petrus de Dacia librum
contexuit de calculo seu computo.
1 .hanues de Sacrobosco, Johannes Campanus n. and. Math. d. XIII. Jahrh. 91
Tabula magistri Petri Phüomene de Dada ad inveniendimi proposi-
fionem cujusvis numeri'^) in einer Vaticanhandschrift zuweisen, in
welcher sämmtliche Producte von 1 mal 1 bis zu 49 mal 49 in Zahlen
des Sexagesimalsystems ausgedrückt sind. Der Commentar von Sacro-
bosco's Rechenbuch ist vorzüglich, und wer ihn zu benutzen verstand,
musste sich eine für die damalige Zeit achtunggebietende Summe von
Kenntnissen erwerben. Zu jeder einzelnen Regel sind lehrreiche
Beispiele gegeben, ausserdem aber stossen wir auch auf theoretisch
Interessantes. Wir heben nur die arithmetischen Progressionen her-
vor. Petnis von Dacien betrachtet solche mit beliebigen ganzzahligen
Gliedern. Die Summe wird bei grader Gliederanzahl gefunden,
indem die halbe Gliederzahl mit der Summe des ersten und des
letzten Gliedes vervielfacht wird. Bei ungrader Gliederzahl ver-
vielfacht man diese mit der halben Summe des ersten und des letzten
Gliedes. Gliederzahl oder Summe des ersten und letzten Gliedes oder
beides muss immer grade sein^). Wir erwähnen ferner, dass bei
Erörterung von Quadrat- und Kubikzahlen das Wort fluere, fliessen,
gebraucht wird^), um eine ununterbrochene Bewegung zu bezeichnen.
Eine Linie bildet fliessend eine Fläche, eine Fläche fliessend einen
Körper. Das ist die früheste bisher bekannte Anwendung dieses
bildlichen Ausdruckes. Sacrobosco hat der Null den Namen teca,
circulus, cyfra beigelegt. Petrus von Dacien berichtet*), teca sei ein
rundes Eisen, mittels dessen man Dieben ein Brandmal auf die Stirne
oder auf die Wange aufgedrückt habe. Sehr glaubwürdig erscheint
diese Herleitung freilich nicht, da ausser bei Petrus von Dacien und
bei anderen von ihm abhängigen Commentatoren des Sacrobosco ein
Wort teca für cantherium (das ist Brenneisen) nirgend vorkommt,
viel wahrscheinlicher ist teca entstellt von theta wegen der Aehnlich-
keit zwischen & und 0.
Etwa 20 Jahre nach Sacrobosco's Tode dürften ein Rechen-
buch und eine Geometrie von unbekanntem Verfasser entstanden
sein, deren wesentlichster Vorzug darin besteht, dass es die ersten
derartigen Schriften in französischer Sprache sind, welche sich
erhalten haben ^). In dem sehr kurzen Traite d'algorisme findet sich
die eben besprochene Vorschrift, wann man rechts, wann man links
mit dem Rechnen beginnen müsse, in die Worte gekleidet: Sc tu
1) Eneström in der Biblioth. math. 1890 pag. 32. *) Petri Philomeni
de Dacia Commentarius pag. 68. ^) Ebenda pag. 72 lin. 8 und 11. *) Ebenda
pag. 26. ^) Ch. Henry, Sur les deux plus miciens traites franQuis d'Algorisme
et de Geometrie im Bulletino Boncompagni XV, 49—52. Dann folgt der Abdruck
der Abhandlungen selbst und zwar Traite d'algorisme pag. 53—55 und Traite
de geomürie pag. 55 — 70.
92 -iö. Kapitel.
assemhles oti abas oii dimidies tu commenceras a destre se tu dohbles
OH multepUes oii dcvises tu commenceras a senestre. Wurzelausziehung
nennt der Verfasser hier nicht, lehrt aber auffallenderweise bei Ueber-
gehung der Quadratwurzel am Schlüsse die Ausziehung der Kubik-
wurzel. Diese Lücke dürfte wie die übermässige Kürze des Ganzen
die Frage anregen, ob von einem Ganzen gesprochen werden darf,
ob die erhaltene Handschrift uns nicht etwa nur unzusammenhängende
Bruchstücke aus einem verlorenen umfang- und inhaltsreicheren Ganzen
bietet.
Einen weit vollständigeren Eindruck macht der Traite de geo-
metrie. Die Geometrie handle, heisst es einleitungsmässig^), erstens
von Messungen in der Ebene (le mesure des planetes), zweitens von
Messungen der Höhe, der Tiefe und des Körperinhaltes (le mesure
des hauteches et des profondeces et des crasses mesures), drittens
von geometrischen und astronomischen Bruchtheilen (a trouer les
minuces de gyometrie et dastronomie). Das gleichseitige Dreieck
wird durch Zeichnung der Höhe (linel oder lunax) in zwei Hälften
getheilt und dann Höhe und halbe Grundlinie vervielfacht; die Höhe
findet man, indem -- der Grundlinie von dieser abgezogen wird^),
eine Regel, welche seit dem Briefe Gerbert's an Adelbold (Bd. I,
S. 816) bekannt war. Andere Dreiecke, deren Figuren uns dadurch
eine kleine Ueberraschung bereiten, dass sie, ähnlich wie es in
Aegypten (Bd. I, S. 55) Sitte war, die Spitze links, die Grundlinie in
verticaler Lage rechts zeigen, sollen auch immer durch Vervielfachung
der Höhe mit der halben Grundlinie gemessen werden. Die Rech-
nungen freilich stimmen mit den Zahlenangaben nur sehr dürftig
überein. Beim Fünfeck^) ist in die Figur des nach aussen convexen
Fünfecks die des Sternfünfecks mit den gleichen Eckpunkten ein-
gezeichnet, was recht bemerkenswerth erscheint. Die Kreisperipherie
(la circonference del compas) ist Sy mal der Durchmesser. Bei der
Inhaltsberechnung ist wieder vielfach unrichtig gerechnet. Was der
Verfasser orneure du cercle nennt, findet sich durch Verviel-
fachung des Durchmessers mit sich selbst und mit 22, worauf durch
7 getheilt wird; es sei das Vierfache des Kreisinhaltes. Das stimmt
rechnungsmässig zur Kugeloberfläche und in der That hiess diese
inauratura, woraus leicht orneure entstehen konnte. Die Grund-
bedeutung von inauratura ist die, dass ihre Grösse Antwort auf die
*) eil. Henry, Sur les deux plus anciens traites frangais d'Algorisme et de
Geometrie im Bulletino Boncompagni XV, 55. ") Ebenda pag. 56. ^) Ebenda
pag. 58.
Johannes de Sacrobosco, Johannes Campanus ii. and. Math. d. XIII. Jahrh. 9o
Frage gab, wie viel Edelmetall man brauche, um eine Kugel zu ver-
golden^). Soll der Kreis vom Durchmesser 7 in ein Quadrat ver-
wandelt werden-), so ist dessen Seite 6— d. h. also 1/38— ooG^;
vielleicht erhalten mittels j/sS^^ = ~ "j/sSöO r\J ^ = Gy • Der Ver-
fasser wusste demnach mit Brüchen zu rechnen und setzte das Gleiche
von seinen Lesern voraus, wodurch vielleicht Bestätigung findet, was
wir (S. 89) über die Möglichkeit besonderer Vorschriften zum Bruch-
rechnen geäussert haben. Wir verweilen nicht bei dem Innenkreise
eines Dreiecks, von welchem gleichfalls die Rede ist^), nicht bei der
zweiten Abtheilung, d. h. bei den Körperinhalten, da es kaum möglich
ist, dem offenbar vielfach irrigen Texte ein volles Verständniss ab-
zugewinnen. Die Vergleichung desselben mit den Körpermessungen
bei Heron von Alexandria dürfte wahrscheinlich eine lohnende Unter-
tersuchung sein. In der dritten Abtheilung^) handelt es sich aus-
schliesslich um Rechnungen und zwar um Multiplicationen, unter
welchen sich die Quadraterhebungen der Zahlen 11 bis 20 hervor-
heben lassen. Nur 13^= 169 und 14^= 196 ist vermuthlich beim
Abschreiben vermengt worden, so dass 13 mal 13 von dem Ergebniss
196 begleitet ist. Von einigem Interesse sprachlicher wie arithme-
tischer Natur ist das vielfache Vorkommen des Vigesimalsystems^).
XX
Die Zahl 60 ist freilich LX geschrieben, dann aber folgt IUI = 80,
VI =120, VII = 140, XI = 220, und wollte man über die Lesung
zweifelhaft sein, so schliessen Angaben wie XVIII fois XVIII sont
XVI vins et IUI jede Möglichkeit eines Irrthums aus. Von den
Zahlzeichen des Algorismus ist nirgend Gebrauch gemacht.
Bleiben wir noch immer in Frankreich, so haben wir Vincent
de Beauvais oder mit lateinischem Namen Vincentius Bello-
vacensis zu nennen. Noch im XII. Jahrhundert geboren starb er
1265. Er war Mitglied des Dominikanerordens. König Ludwig der
Heilige entzog ihn dem Kloster, um ihn persönlich um sich zu
haben, und für den Unterricht der königlichen Söhne verfasste der
allseitig gelehrte Mönch, ein encyklopädisches Werk in 10 ungeheuren
Bänden. Eine der Abtheilungen, in welche das erschreckend grosse
Werk zerfällt, heisst Speculum doctrinale^), und dessen 17. Buch
^) Zeitschr. Math. Phys. XL, Supplementheft S. 141. Bemerkung von E. v.
Wölfflin. ^) Ch. Henry, Sw les deux plus anciens traites frangais d'Algo-
risme et de Geometrie im BulJetino Boncompagni XV, 59. ^) se tu fais 1 comas
dedens le triangle si grant ke tu pues. *) Sie beginnt ebenda pag. 64 Z. 3 v. u.
*) Ebenda pag. 67. ^) Eine Druckausgabe ist von 1473, eine spätere von 1624.
Wir bedienten uns der älteren Ausgabe.
94 45. Kapitel.
ist der Mathematik gewidmet \). Man sollte zum voraus der Meinung
sein, der Ordensgenosse und fast Zeitgenosse eines Jordanus müsse
tief in die Mathematik eingedrungen sein, müsse dem entsprechend
in seinem grossartig angelegten Sammelwerke voll in die Fusstapfen
jenes Gelehi-ten eingetreten sein. Mau würde mit dieser Meinung
sich täuschen. Das mathematische Buch entspricht vollständig dem
Ui-theile, welches ein gründlicher Kenner -j des XIII. Jahrhunderts
über das ganze Werk ausgesprochen hat: es habe entstehen können,
weil das Wissen der Zeit encyklopädisch war, umfassend und ober-
flächlich. Liber XYII De mathematica et eins speciebus beginnt mit
dialektischen Haarspaltereien, wie z. B. dass die Arithmetik an der
Spitze der Mathematik zu stehen habe, weil ohne Zahl keine Figur
gemessen werden könne, wähi-end die Zahlen 3, 4 bleiben, auch wenn
kein Dreieck oder Viereck vorhanden sei. Wer mit der Arithmetik
des Boethius bekannt ist, erinnert sich augenblicklich dieser Sätze ^).
Andere Stellen weisen auf Isidorus hin, wie z. B. der Satz (Bd. I,
S. 774): Nimm die Zahl aus allen Dingen weg, und Alles geht zu
Grunde. Boethius und Isidorus werden auch dem entsprechend von
Vincentius häufig als seine Gewähi-smänner genannt. Das 9. Kapitel
ist dem Computus*) und dem Algorismus gewidmet. Im weiteren
Sinne des Wortes sei Computus jegliche Rechnung, genauer genommen
nenne man so die Wissenschaft von der Zeit gemäss der Be-
wegungen von Sonne und Mond"*). Damit ist fi-eilich die Aufgabe
des Computus erst gestellt, noch nicht gelöst, aber Vincentius be-
gnügt sich damit, und seine Leser müssen die gleiche Enthaltsam-
keit üben. Im gleichen Kapitel geht Vincentius zu der scientia algo-
rismi über. Er erklärt Fingerzahlen, Gelenkzahlen, zusammengesetzte
Zahlen. Eine Gelenkzahl sei irgend ein Zehnfaches^). Zum Anschreiben
der Zahlen dienen neun Zahlzeichen. Diese sehen so aus, und nun
folgt in der Druckausgabe ein leerer Raum! Man war offenbar in
der Zeit der Incunabeln nicht im Stande, die Zeichen der dem Drucke
zu Grunde liegenden Handschrift nachzubilden. Ein Ringelchen konnte
man herstellen, und so fährt der Druck fort: O que cifra apellatur
nihilque representat. Dann werden die sechs Rechnungsarten : Addition,
*) Chasles, A2}erQU hist. beruft sich fortwährend auf das 16. Buch. Dieser
Gegensatz beruht darauf, dass in der älteren Ausgabe als I. Buch gezählt ist,
was in den späteren Drucken Prologus heisst. *) Kaufmann, Geschichte der
deutschen Universitäten I, 67. ^) Boethius (ed. Friedlein) pag. 10—11.
*) In der Druckausgabe von 1473 heisst es fortwährend compotus neben dem
Zeitworte computare. ^) Proprie vero compotus dieitur scientia temporum
distinctiva secundum motum solis et lunae tantum. ®) Ärticulus est numerus de-
cupJus ad aliquem.
Johannes de Sacrobosco. Johannes Campanus u. and. Math. d. XITI. Jahrh. 95
Subtractiou, Verdoppelung, Halbirung, Multiplication, Division ge-
nannt, für -welche geeignete Regeln im Algorismus gegeben seien;
diese und viele andere Eintheilungen und Verhältnisse der Zahlen,
von welchen bei Isidorus und Boethius die Rede sei, übergehe der
Verfasser gegenwärtig der Küi-ze halber^). Den so stillschweigend
auf einen zukünftigen Augenblick ausgestellten Wechsel hat Vin-
centius freilich unseres Wissens nie eingelöst. Die Musik folgt nun
und auf diese mit Kapitel 36 die Geometrie. Sie besteht aus drei
Abtheilungen, aus Ebenenmessung, Höhenmessung, Weltmessung.
Eine entfernte Verwandtschaft mit der Eintheilung der französisch
geschi-iebenen Geometrie wird man hier vielleicht erkennen dürfen,
aber inhaltlich geht Vincentius nicht entfernt so weit wie jene.
Einise Definitionen, eine Reihe von Grundsätzen, das ist nahezu die
ganze Weisheit, und mit Rücksicht auf die Grundsätze bemerkt er
in einer Glosse^) des 40. Kapitels — wenn anders diese Glosse nicht
selbst abgeschrieben ist — Euklid habe viel Grundsätze übergangen.
Im 41. Kapitel sind die beiden Grundrichtungen der römischen Feld-
messung, cardo und decumanus (Bd. I, S. 498j erörtert, dann kommt
die Astronomie zur Behandlung. Wir fürchten nicht es als Untreue
gegen unsere Vermeidung dessen, was in die Geschichte der Astro-
nomie gehört, beurtheilt zu sehen, wenn wir beiläufig erwähnen, dass
das 46. Kapitel einen ganz ähnlichen Unterschied zwischen Astronomie
und Astrologie macht, wie man es heute gewöhnt ist.
Auf französischem Boden, wahrscheinlich in Montpellier, wirkte
1271 Robertus Anglicus^) als Professor. Ob ihn der Name
Anglicus als Engländer von Geburt bezeichnen soll, ob er nur einer
früher englischen schon längere Zeit in Südfrankreich ansässigen
Familie angehörte, lässt sich nicht mit Sicherheit bestimmen, wenn
auch Manches für die letztere Annahme spricht. Jedenfalls hat
Robertus Anglicus in Montepessulano (d. h. in Montpellier)
eine Abhandlung über den Quadranten und dessen astronomische
sowie feldmesserische Benutzung verfasst, welche in zahlreichen Ab-
schriften aus zum Theil verhältnissmässig später Zeit sich an weit
von einander entfernten Orten erhalten hat. Die Abhandlung ist
^) De quibus singulis proprie regule date sunt in algorismo. quas et
plures alias numeri divisiones et proportiones de quibus in ysidoro et boetio
ad presens brevitatis causa praetermitto. ^ Glosa. Nota quod multas com-
munes scientias preter misit Euclides. ^) Le traite du Quadrant de Maitre
Robert Ängles (Montpellier, XIII. Siecle). texte latin et ancienne traduction
grecque publies par M. Paul Tannery (Notices et extraits des Manuscrits
de la Bibliotheque nationale etc. T. XXXV, 2^ Partie pag. 560—640. Paris
1897).
96 45. Kapitel.
sogar in's Griechische übersetzt worden, und eine Abschrift dieser
Uebersetzung stamm^i etwa aus dem Jahre 1500. Der Quadrant ist
im Wesentlichen die gleiche Vorrichtung, deren sich Leonardo von
Pisa (S. 38) bediente. Der Kreisrand ist aber nicht in 16 Theile,
sondern in 90 Grade eingetheilt. Das vorkommende Wort umbra
lässt auf unmittelbare oder mittelbare Benutzung arabischer Quellen
schliessen.
Der Dominikanerorden hat im XIII. Jahrhunderte noch manches
hochbedeutenden Schriftstellers sich zu rühmen. Albertus Magnus
(1193—1280), Thomas von Aquino (1225—1274) haben ihm an-
gehört. Die Geschichte der beschreibenden Naturwissenschaften sowie
der Physik müssen bei ihnen verweilen, der Mathematiker nennt sie
mit Bedauern seiner Wissenschaft fremd.
Etwas mehr, wenn auch nicht sonderlich Günstiges haben wir
von dem berühmten Franciskauer Roger Baco (1214 — 1294) zu be-
richten. Die Physik, die Chemie nennen seinen Namen unter den
bedeutendsten. Er soU auch in einer handschriftlich in Oxford noch
vorhandenen Schrift eine Kalenderreform^) vorgeschlagen und
damit den Anstoss zu einer Bewegung gegeben haben, welche erst
nach Jahrhunderten znr Ruhe kam. Aber nun die Mathematik! Frei-
lich wenn man ihn hört liegt dort erst recht seine Stärke. Ich habe,
sagt er im 20. Kapitel seines 0/>h5 tertium-), die Gewissheit, inner-
halb einer Woche Jeden, der Aufmerksamkeit und Vertrauen besitzt,
mit der ganzen Gewalt der Geometrie bekannt zu machen, und zwar
mehr als die Mathematiker in zehn Jahren lernen. Und ebenso ver-
hält es sich mit den Zahlen in einer anderen Woche. Denn sehr
selten finden sich überhaupt Lehrer der Mathematik und diese haben
eine sehr schlechte Unterweisungsart und lehren unendlich vieles
Ueberflüssige. Desshalb verachtet man auch fast allgemein die Ma-
thematik. Diesen theils stolzen, theils hämischen Worten dürfen wir
Eines entnehmen, dass es damals in der öffentlichen Meinung auch
gelekrter Männer schlecht um die Mathematik und ihren Unterricht
stand. Bestätigung giebt noch eine andere Stelle^): den Knaben
würden mit Ruthenschlägen die vier ersten Sätze der euklidischen
Elemente beigebracht und schon der fünfte Satz heisse ihnen Ele-
fuga, das sei Flucht der Unglücklichen. Wenn es wirklich so aus-
sah, wenn wenigstens dort, wo Baco Gelegenheit hatte, Lehrer und
Lernende zu beobachten, der Satz von der Gleichheit der Winkel an
^) Wolf, Geschichte der Astronomie S. 328— 329. — Cantor, Zeit und Zeit-
rechnung in den Neuen Heidelberger Jahrbüchern U, 202. *) Fr. Rogeri
Bacon Opera quaedam hactenus inedita (edidit J. S. Brewer 1859) I, 66.
") Ebenda pag. 21.
Johannes de Sacrobosco, Johannes Campanus u. and. Math. d. XIII. Jahrh. 97
der Grundlinie des gleichschenkligen Dreiecks so furchtbar erschien,
dann begreift man Baco's Hohn. Ob seine Ruhmredigkeit eben so
festen Boden unter sich hatte, darüber müssen wir seine Schriften
fragen, und die Autwort, welche sie uns geben, klingt nicht sehr
befriedigend. Im 40. Kapitel des Opus tertium^) ergeht sich Baco
in stereometrischen Faseleien, welche ihm kein glänzendes Zeugniss
ausstellen. Es handelt sich um die lückenlose Ausfüllung des Raumes.
Der Raum ist lückenlos erfüllt, wenn 8 Würfel an einer Ecke zu-
sammenstossen. Jede Würfelecke wird durch 3 ebene Winkel im
Gesammtbetrag von 3 Rechten gebildet, also treten bei dem erwähnten
Eckpunkte 8 mal 3 Rechte oder 24 Rechte zusammen, und nun bildet
Baco sich ein, es trete stets eine lückenlose Raumerfüllung ein, wo
die Summe sämmtlicher ebenen Winkel bei dem Zusammensetzungs-
punkte 24 Rechte betrage. Im Tetraeder sind an jeder Ecke 3 Winkel
von je 60^, zusammen 2 Rechte, also erfüllen 12 an einer Ecke
zusammenstossende Tetraeder den Raum. Im Oktaeder betragen
g
die 4 Winkel von je 60'' an jeder Ecke — Rechte, also erfüllen 9 an
einer Ecke zusammenstossende Oktaeder den Raum. Im 39. Kapitel
des Opus tertium-) hatte Baco vorher über stetige Raumgrössen ge-
sprochen und die Unmöglichkeit betont, solche aus einzelnen Punkt-
elementen herzustellen. Einen schlagenden Beweis dafür habe er
erfunden. Wäre die Ebene durch solche Punkte gebildet, so würde
(Figur 19) die Diagonale eines Quadrates der Seite « , » . ,
desselben gleich sein, weil auf beiden gleich viele Punkte • • • • •
liegen, und das sei geometrisch unmöglich. Hierin • • • • •
liegt wenigstens keine mathematische Unrichtigkeit. • • • • •
Ein etwas höheres mathematisches Wissen verrathen ^^
Baco's optische Leistungen^). So, wenn er die Lage
des Brennpunktes am Hohlspiegel bestimmt, wenn er von der An-
fertigung parabolischer Spiegel redet, wenn er von der Perspective
handelt.
Die Perspective, dem Abendlande durch Uebersetzungen der
Optik des Ibu Alhaitam (Bd. I, S. 744) bekannt geworden, bildet nun-
mehr einen regelmässig wiederkehrenden Gegenstand schriftstellerischer
Thätigkeit, den wir, ohne ihm eingehende Würdigung angedeihen zu
') Fr. Rogeri Bacon Opera quaedam hactenus inedita (edidit J. S. Brewer
1859) I, 137. Auf diese Stelle hat K. Lasswitz, Geschichte der Atomistik
vom Mittelalter bis Newton I, 203 aufmerksam gemacht. ^) Ebenda pag. 132.
Vergl. Lasswitz 1. c. I, 194 aber auch I, 149, wo der Beweis Baco's bereits
bei den arabischen Mutakallimun nachgewiesen ist. ^) Heller, Geschichte
der Physik (1882) I, 201—202.
Cajitor , Geschichte der Mathem. II. 2. Aufl. 7
98 45. Kapitel
lassen, immerhin kurz erwähnen dürfen. 80 schrieb über Perspective
der Ordensgenosse Baco's Johannes Peckham^), lateinisch Pisanus
aus Sussex (um 1240 — 1292), Bischof von Canterbury. Ein Schüler
ßacos war Johannes von London^). Baco führte ihn dem Francis-
kanerorden zu und nahm ihn mit sich nach Paris, wo er als Philo-
soph sich auszeichnete. Später vermittelte Johannes als Bote Baco's
dessen Briefwechsel mit dem Papste, der ihn in Rom behalten zu
haben scheint. Ein Brief des Johannes von London über astrono-
mische Fragen hat sich in der Pariser Bibliothek erhalten. Johannes
von London ist es auch, welchen Baco im 11. Kapitel seines Opus
tertium als einen der beiden vollkommenen Mathematiker seiner Zeit
bezeichnet^). Der andere ist ihm Petrus de Mahar-curia aus der
Picardie, d. h. also Pierre de Maricourt, der in der Geschichte
des Magnetismus eine hervorragende Rolle gespielt hat, gut auch
noch Magister Campanus von Novaria (sie). Ueber Campanus
reden wir noch in diesem Kapitel. Peckham's Perspektive wurde
in den folgenden Jahrhunderten gradezu akademischer Leitfaden
für die betreffende Universitätsvorlesung. Zu Baco's Zeiten wurde
in Paris noch nicht über Perspektive gelesen, dagegen zweimal in
Oxford^).
Die Geschichte der Perspective gestattet uns auch Witelo^) zu
nennen, den Sohn eines Thüringers und einer Polin, der auf pol-
nischem Boden geboren in einer Prämonstratenserabtei im Hennegau
unweit von Valenciennes lebte. Durch Verketzerung nahm sein in
Thüringen im XIH. Jahrhundert häufig vorkommender Name die
lateinische Form Vitellio an, welche den Druckausgaben seiner
Perspective vorgesetzt ist. Gewidmet ist das Werk dem Bruder
Wilhelm von Moerbecke, der uns gleich weiter beschäftigen wird.
Von dem Inhalte des Werkes, dessen erstes Buch übrigens eine ganz
nette Geometrie sein soll^), haben wir hier nicht weiter zu reden,
als dass wir die Schriftsteller nennen, welche Witelo erwähnt^). Er
beruft sich ausser auf Ibn Alhaitam auf lauter griechische Mathe-
matiker: Euklid, Ptolemäus, Apollonius, Theodosius, Menelaus, Theon,
^) Die Lebenszeit geben wir nach Poggendorff 11, 385. Ueber Peckbam's
Perspective vergl. Kästner ü, 264—274. *) Baco, Opera inedita (ed. Brewer) I,
Biographische Einleitung pag. XC Note 1. Fontes in den Memoires de l'Aca-
demie des Sciences, luscriptions et Belles-lettres de Toulouse. Annee 1897 und
ebenda 1898. ^ Baco, Opera inedita (ed. Brewer) I, 34—35. ^) Ebenda
pag. 37. ^) Ueber Name und Persönlichkeit vergl. Max. Curtze in Bullet.
Boncompagni IV, 49 und 78. Zebrawski ebenda XII, 315 und Curtze's
letzte Erwiderung in Grunert's Archiv LXIV, 432. «) Curtze brieflich.
•) Poudra, Eistoire de la perspective (1864) pag. 34,
Johannes de Sacrobosco. Johannes Campamis u. and. Math. d. XIII. Jahrh. 99
Pappus, Proklus. Es möchte sich lohnen, eine Untersuchung darüber
anzustellen, ob Witelo seinem arabischen Vorgänger auch in diesen
Namensnennungen einfach folgt, oder ob er selbst jene Schriftsteller
gelesen, und wenn er sie gelesen haben sollte, ob in der griechischen
Ursprache oder in einer lateinischen Uebersetzung, welche dann ver-
muthlich den Umweg einer vorhergegangenen arabischen Uebersetzung
als Text benutzte.
Die griechische Sprache muss man der Zeit, von welcher wir
reden, keineswegs für unzugänglich halten. Baco sagt im 6. Kapitel
seines Compendium studii philosophiae^): „Das Griechische hat sehr
bedeutende Uebereinstimmuugen mit dem Lateinischen, imd es giebt
Viele in England und Frankreich, welche hinlängliches Wissen hierin
besitzen. Auch wäre es nicht zu viel, um solchen Nutzens wegen
nach Italien zu gehen, wo Geistlichkeit und Volk an vielen Orten die
reinen Griechen sind." Die Sprache war also im Besitze der Ge-
lehrten des XIII. Jahrhunderts, nur an den Werken, welche man hätte
lesen können, fehlte es meistens. Solche waren noch in Italien auf-
zufinden, sofern man es nicht wagte, bis nach dem byzantinischen
Reiche den Spuren zu folgen. Unter den Männern, welche vielleicht
in Griechenland selbst, vielleicht in Italien griechische Mathematiker
aufzustöbern wussten, nennen wir den Dominikaner Wilhelm von
Moerbecke^j. In Ostflandern in der Nähe des Klosters, dem Witelo
angehörte, geboren, machte er Reisen wahrscheinlich auch in Griechen-
land. Im Jahre 1268 war er bei Papst Clemens IV. in Viterbo, und
dort übte er seine Uebersetzungskunst aus. Seit 1278 Erzbischof
von Korinth hielt er sich 1280 und 1281 persönlich an dem Sitze
des Erzbisthums auf. Sein Tod dürfte nicht lange nach 1281 fallen.
Unter den zahlreichen, durch Wilhelm von Moerbecke, wie man sagt,
auf Anheissen des Thomas von Aquino übersetzten Schriften nennen
wir nur zwei: Die Katoptrik Herons von Alexandria ^), welche er
allerdings für ein Werk des Ptolemäus hielt, und die Schriften des
Archimed, insbesondere dessen Abhandlung über auf dem Wasser
schwimmende Gegenstände*), deren griechische Urschrift seit jener
Zeit spurlos zu Grunde gegangen ist.
Aehnliche Neigung und Fähigkeit, wie Wilhelm von Moerbecke
sie besass, ausländische Mathematik dem Abeudlande zugänglich zu
machen, können wir noch anderen Persönlichkeiten nachrühmen.
^) Baco, Opera inedita (ed. Brewer) I, 434. ^) Allgemeine deutsche Bio-
graphie XXIV, 215. ^) Val. Rose, Anecdota Graeca et Graecolatina. Heft II,
(1870) S. 293—294. *) Val. Rose in der Deutschen Literaturzeitung 1884,
S. 210. — Heiberg, Neue Studien zu Archiniedes in Zeitschr. Math. Phys.
XXXIV (1889), Supplementheft.
100 45. Kapitel.
Ein Engländer Atelhart von Bath (Bd. I, S. 851) hatte mit Reisen
in den Orient am Anfange des XII. Jahrhunderts den Reigen er-
öffnet. Ihm wollte um die Wende des XII. zum XIII. Jahrhundert
Daniel von Morley^) folgen, der noch 1180 in Oxford studirte,
dann nach Paris sich begab, um von dort nach Arabien aufzubrechen.
Als er aber in Erfahrung brachte, Toledo sei der Sitz einer mathe-
matischen Schule, wandte er seine Reise dorthin und kehrte mit
reichem Wissen in die Heimath zurück, hier als Lehrer sein Leben
beschliessend. Johannes von Basyngstoke^) studirte am An-
fange des XIII. Jahrhunderts gleichfalls in Oxford. Auf seinen
Reisen kam er um 1240 nach Athen, wo er geraume Zeit verweilte
und den Unterricht der gelehrten Tochter des dortigen Erzbischofs
genoss. Von ihr erlernte er das Griechische. Nach England zurück-
gekehrt übersetzte er Verschiedenes aus dem Griechischen. Er starb
1252. Der Chronist Mathaeus von Paris erzählt in seiner Geschichte
Englands zu dem Jahre 1252 von diesem allgemeine Betrübniss er-
zeugenden Todesfall und bemerkt dabei, der Verstorbene habe aus
Athen die Kenntniss der griechischen Zahlzeichen mitgebracht, welche
zugleich auch Zeichen für Buchstaben sind^j. Man wird nicht irre
gehen, hierin die gewöhnliche griechische Benutzung ihrer sämmt-
lichen Buchstaben mit Zahlenwerth^) zu erkennen. In Italien hat
jedenfalls im XIII. Jahrhundert Guglielmo de Lunis^) eine Algebra
aus dem Arabischen in das Lateinische übersetzt.
Wesentlich ausführlicher als mit diesen Uebersetzern müssen wir
mit Johannes Campanus von Novarra uns beschäftigen. Be-
stimmt das ihm von Roger Baco ertheilte Lob (S. 98) schon seine
Lebenszeit, so ist eine weitere Bestätigung dadurch gegeben, dass
Campanus Kaplan des Papstes Urban IV. war^), welcher 1261 — 1281
^) Suter, Mathematik auf den Universitäten des Mittelalters S. 21. Wir
citiren die sehr gehaltvolle Schrift künftig als Suter, Math. Univ. *) Ebenda
S. 33—34. ^) per qiias figuras etiam literae representantur. *) Auch der bei
Math. Paris, sich noch anschliessende Satz: De quibus figuris hoc maxime ad-
mirandum quod unica figura quilibet numerus representatur quod non est in Latino
vel in Algorismo stimmt ganz gut mit dieser gewöhnlichen Erklärung, der
gegenüber eine abweichende Meinung (Zeitschr. Math. Phjs. XXX, Hist.-liter.
Abthlg. S. 126) iirig erscheint. ^) Libri II, 45. H. Gino Loria hat die
Algebra im Codex 216 der Florentiner Xationalbibliothek neuerdings untersucht
und sich überzeugt, dass sie in lateinischer und nicht, wie Libri behauptet, in.
italienischer Sprache geschrieben ist. Andererseits ist freilich Libri's Behaup-
tung gestützt auf die Aussage Canacci's, der dem XIV. Jahrhunderte, und Gha-
ligai's, der dem Anfange des XVI. Jahrhunderts angehörte, sodass man fragen
möchte, ob es nicht zwei Bearbeitungen gab, eine lateinische und eine ita-
lienische? «) Tiraboschi, Storia della letteratura italiana IV, 1.54—160.
Johannes de Sacrobosco, Johannes Camiianus u. and. Math. d. XIII. Jahrh. 101
regierte. Später selieint er Kanonikus in Paris gewesen 7a\ sein, und
daher stammt vermuthlich die in älteren Werken vertretene irrige
Ansieht \\ als habe es zwei Schriftsteller gegeben, welche beide den
Namen Campanus fükrten. Verschiedene Schriften werden als von
Campanus herrührend genannt. Er beschäftigte sich mit der Mangel-
haftigkeit der Kirchenrechnung ^). Ferner geht auf seinen Namen
eine Abhandlung über die Quadratur des Kreises, welche aber
von Gelehrten^), denen eine Druckausgabe aus dem Jahre 1503 vor-
lag, als eine so schwache Leistung bezeichnet wird, dass man Bedenken
tragen müsse, sie Campanus zuzuschreiben. Andrerseits nennt Albert
von Sachsen*^) nur 100 Jahre nach Campauus ausdrücklich diesen als
den Verfasser, und so muss doch einen Augenblick dabei verweilt werden.
Eine Linie, welche 3ymal die Länge des Durchmessers habe, heisst es,
sei gleich der Kreisperipherie. Ebendieselbe ist der Umfang eines
Quadrates, dessen Seite somit der siebente Theil von 5 - Durchmessern
ist, und dieses Quadrat wird als das gesuchte bezeichnet. Es wäre
immerliin denkbar, Campanus habe bei dieser Darstellung nicht an
Flächengleichheit gedacht, das Wort Quadratura circuli bedeute ihm
vielmehr, allerdings abweichend von dem Sinne des Wortes bei Franco
von Lüttich, nur das Zusammenbiegen der Kreisperipherie zu einem
umfanggleichen Quadrate. Das hervorragendste Verdienst des Cam-
panus ist jedenfalls die von ihm veranstaltete Ausgabe der eu-
klidischen Elemente mit Einschluss der beiden Bücher,
welche fälschlich als 14. und 15. Buch der Elemente be-
nannt werden (Bd. I, S. 342). Wir haben die wichtige Frage nach
den lateinischen Euklidübersetzungen, deren das Mittelalter sich be-
diente (S. 74), im Voi-übergehen gestreift. Auch gegenwärtig wagen
wir nicht, sie endgültig zu beantworten, da sie zu den Fragen ge-
hört, welche noch heftigem Widerstreit der Meinungen begegnen^).
Vielleicht liegt die Sache so: lateinische Uebersetzungen des grie-
chischen Euklidtextes gab es sehr frühzeitig. Ein Fragment einer
solchen hat sich erhalten (Bd. I, S. 526), über eine durch Boethius
^) Vossius pag. 178 und 449. ^) Neue Heidelberger Jahrbücher II, 201.
^) Chasles, Ä2Jergn hist. 515 (deutsch 602). *) Vergl. Suter in der Zeitschr.
Math. Phys. XXIX, Hist.-liter. Abthlg. S. 90 und 95. ^) Als Vertreter der ver-
schiedenen Ansichten vergl. H. Weissenborn in der Zeitschr. Math.' Phys'. XXV,
Supplementheft S. 143 — 166 und dessen Monographie: Die Uebersetzungen des
Euklid durch Campano und Zamberti (1882). Max Curtze in der Philologischen
Rundschau (1881) I, S. 943 — 950 und in dem Jahresbericht über die Fortschritte
der classischen Alterthumswissenschaft XL (1884 IE) S. 19—22. Heiberg in
der Zeitschr. Math. Phys. XXXV, Hist.-liter. Abthlg. S. 48—58 und 81—86.
102 45. Kapitel.
angefertigte Euklidübersetziing wird jedenfalls ausdrücklich berichtet
(Bd. I, S. 535), um die hier müssige Frage, ob sie sich erhalten hat,
zu übergehen. Auch aus dem Arabischen stammende lateinische
Euklidübersetzungen hat es unzweifelhaft sehr früh gegeben. Eine
Münchner Handschrift aus dem XL Jahrhunderte, also vor Atelhart
von Bath entstanden, kann als Beweis dienen, da in ihr Spuren
arabischer Zwischenarbeit neben solchen des griechischen Urtextes
nachgewiesen worden sind. Vielleicht schon damals haben zwei wesent-
liche geschichtliche Irrthümer sich eingeschlichen. Der eine, durch
den lateinischen Geschichtsschreiber Valerius Maximus veranlasst (Bd.I,
S. 247), verwechselt den Mathematiker Euklid mit dem „sokratischen
Philosophen", um die Redeweise einer pariser Handschrift zu ge-
brauchen, d. h. mit Euklid von Megara. Der andere gleichfalls ver-
muthlich ältere Irrthum (Bd. I, S. 542) hält Euklid nur für den Ver-
fasser der Definitionen, der Axiome, der Lehrsätze und nimmt für die
Beweise einen anderen Urheber an: Theon von Alexandria. Als nun
Atelhart von Bath seine Euklidübersetzung anfertigte (Bd. I, S. 670),
dürfte ihm ausser einem arabischen Texte auch schon eine lateinische
Bearbeitung, ganz oder in Bruchstücken, zur Hand gewesen sein,
eine Annahme, welche durch einen Vers^) eines englischen Dichters
unbekannten Zeitalters unterstützt wird. Jener Dichter erzählt näm-
nch, die Geometrie sei durch Euklid in Aegypten erlernt worden und
Thys craft com ynto England, as y ghow say,
Yn tyme of goocl kyng Adelstones day.
Die Einführung in England rückt dadurch in die fast sagen-
mässige Zeit des beginnenden X. Jahrhunderts hinauf. Hat aber
Atelhart auf einen Vorgänger sich stützen dürfen, so wird das Gleiche
für Campanus wahr sein, und die grosse Uebereiustimmung des Textes
der Lehrsätze bei Atelhart und bei Campanus legt die Vermuthung
nahe, es sei die gleiche lateinische Vorarbeit gewesen, deren beide
sich bedienten. Zwar könnte diese Uebereiustimmung ungezwungen
dahin gedeutet werden, Campanus habe den Atelhart'schen Euklid
vor sich gehabt, wie man wahrscheinlich zu machen wusste, dass es
der Atelhart'sche Euklid war, dessen Jordanus Nemorarius sich be-
diente^), doch lässt sich diese zunächst sich bietende Erklärung kaum
aufrecht halten. Die Beweisführungen von Atelhart und Campanus
unterscheiden sich nämlich mehr von einander, als man mit einer
Benutzung der ersteren durch den letzteren in Einklang bringen
0 M. S. Bib. Reg. Mus. Brit 17. A. 1. f. 2^—3 abgedruckt in Halliwell,
Eara Mathematica pag. 56 Note. ^) Jordanus, Trianguli S. XII der Curtze-
schen Einleitung.
Johannes de Sacrobosco, Johannes Campanus u. and. Math. d. XIII. Jahrh. 103
kann. Erstens ist ein Unterschied der Anordnung vorhanden: Atel-
hart's Bearbeitung lässt regelmässig die Beweise den Lehrsätzen, zu
welchen sie gehören, vorausgehen, Campanus hält die richtige Reihen-
folge ein. Zweitens, und dieses dürfte noch schwerer ins Gewicht
fallen, sind Atelhart's Beweise knapp und gedrungen, die des Cam-
panus ausführlich und deutlicher. Nunmehr sind wir aber erst bei
dem schwierigsten Theile der ganzen Frage angelangt: Sind die so
verschiedenen Beweise Uebersetzungen aus arabischen Euklidausgaben,
welche bereits die gleichen Verschiedenheiten aufwiesen, oder ge-
hören die zwei Fassungen wenigstens bis zu einem gewissen Grade
den beiden Uebersetzern an? Sind Zusätze, welche da und dort sich
finden, gleichfalls fremden Ursprungs? Ein bei Atelhart wie bei
Campanus vorhandener Nachtrag zu den Axiomen, in welchem mit
den gleichen Worten, welche als Glosse bei Vincent von Beauvais
vorkommen (S. 95), Euklid vorgeworfen wird, er habe nicht alle
Grundsätze namhaft gemacht, wird bei dem Versuche, auch auf diese
Fragen Autwort zu ertheilen, nicht unbeachtet bleiben dürfen. Wir
wagen es nicht anders als mit der Bezeichnung ganz persönlichen
Dafürhaltens unsere Ansicht dahin auszusprechen, dass wir im ara-
bischen Grundtexte die Quelle jener Zusätze vermutlien, ebenso wie
die Namen dmuain und elmuharifa, deren Atelhart, deren auch Cam-
panus sich bedient, um den Rhombus und das unregelmässige Viereck
zu bezeichnen, ganz gewiss arabisch sind.
Fällt damit jeder Anspruch des Campanus, den Platz in der Ge-
schichte der Mathematik, den er Jahrhunderte lang behauptet hat,
auch fernerhin zu behaupten? Wir glauben nicht. Die Schilderung
der einzelnen Persönlichkeiten des XIII. Jahrhunderts, welche uns
in diesem Abschnitte beschäftigte, hat den niederen Stand damaligen
geometrischen Wissens dadurch genügend gekennzeichnet, dass Geo-
metrisches von so Wenigen zu erzählen war. Und Campanus hat
sich doch die Aufgabe gestellt, den Meister der Geometrie seinen
Zeitgenossen näher zu bringen. Er hat diese Aufgabe, wenn nicht
für die Zeitgenossen, jedenfalls für spätere Jahrhunderte erfüllt und
damit ein grosses Verdienst sich erworben. Einige Stellen in der
Euklidausgabe des Campanus haben durch den Einiluss, welchen sie
auf spätere Zeiten zu üben vermochten, geschichtliche Bedeutung,
und wir erwähnen sie ihrer Reihenfolge nach ohne weitere Berück-
sichtigung des eigentlichen Ursprunges dieser Stellen.
Der euklidische Satz I, 32 misst die Summe der Dreiecks winke 1.
Im Anschlüsse daran lehrt Campanus die Winkelsumme des Stern-
fünfecks kennen (Figur 20). Im Dreiecke hhh sagt er, sei ^fha
^= li -\- k als Aussenwinkel. Ebenso zeige das Dreieck agi, dass
104
45. Kapitel.
Fig. 20.
^ fah = (J -\- i- Endlich im Dreiecke ahf ist ^. fha -{- fah -\- f
Der Satz III, 16 sagt aus, der Winkel zwischen Kreisbogen und
Berührungslinie sei kleiner als irgend ein gradliniger spitzer Win-
kel. Das ist der Coutingenzwinkel, wie
Jordanus (S. 77) ihn nannte. Der Satz X, 1
behauptet, dass von zwei Grössen die grössere
durch fortgesetztes Wegnehmen von mehr als
der Hälfte schliesslich kleiner werde als die
kleinere. Campanus stellt die beiden Behaup-
tungen in Gegensatz zu einander und findet
die Lösung des Gegensatzes darin, dass der
Satz X, 1 nur von Grössen gleicher Art
Geltung habe, womit zugleich ausgesprochen
ist, der Coutingenzwinkel sei nicht gleicher
Art mit einem gradlinigen Winkel. Ausser dieser gewiss richtigen
Bemerkung folgert aber Campanus noch weiter das Unzutreffende
eines Satzes, der, seit Bryson ihn gemäss des aristotelischen Berichtes
(Bd. I, S. 190) bei seiner Kreisquadratur anwandte, als unumstösslich
wahr galt, und den, was das Auffallendste ist, Campanus selbst am
Anfange seiner Euklidausgabe mit den Worten ausspricht: quanta est
aliqua quantitas ad quamlibet aliam eiusdem generis, tantam esse
quamlihet tertiani ad aliquam quartam eiusdem generis in quantita-
tihus continuis, wo das Schwergewicht auf die Worte in quantita-
tibus continuis fällt. Bei der stetigen
Grösse muss ein Viertes sich finden las-
sen, zu welchem ein Drittes in dem Ver-
hältnisse steht, wie ein Erstes zu einem
Zweiten. Das ist aber nur dem Ausdrucke,
nicht dem Sinne nach verschieden von
dem Satze, dass beim stetigen Uebergange
von einem Kleineren zu einem Grösseren
unbedingt ein Zwischenzustand eintreten
müsse, der irgend einem zwischen dem
Kleineren und dem Grösseren Liegenden genau gleich sei, und dieses
Satzes Unwahrheit behauptet Campanus an dieser zweiten SteUe der
Euklidausgabe (Fig. 21). Der Winkel, welchen der Kreis mit dem
Durchmesser ac bilde, sei grösser als der Winkel dac, kleiner als
fac, und doch finde sich kein ihm gleicher Winkel, wenn der
Schenkel ad um den Drehungspunkt a gegen die Lage af hin-
bewegt werde.
Am Schlüsse des IV. Buches lehrt Campanus die Dreitheilung
Johannes de Sacrobosco, Johannes Campanus u. and. Math. d. XIII. Jahrh. IQö
des Winkels^). Es ist genau das gleiche Verfahren, welches wir
(S. 81) als 20. Satz im 4. Buche De triangulis kennen gelernt haben,
mit dem einzigen Unterschiede, dass die Buchstaben an den Figuren
des Campanus stets in lateinischer Reihenfolge gewählt sind, wäh-
rend sie bei Jordauus, wie wir uns erinnern, nach griechisch -arabi-
schem Brauche aufeinander folgten. Merkwürdigerweise fehlt die
VVinkeldreitheilung in den Handschriften der Euklidausgabe des Cam-
panus ^).
Die 5. Definition des V. Buches 3) (Bd. I, S. 263) machte Schwie-
rigkeiten, welche in der verkehrten Uebersetzung wurzelten. Cam-
panus konnte diese, mochte sie von einem Anderen herrühren oder
von ihm selbst, nicht gut anders als in dem Sinne verstehen, dass
Euklid gesagt hätte, damit Grössen in stetiger Proportion stehen,
müssten alle Vielfache derselben gleichfalls in stetiger Proportion
stehen, was doch nur eine Definition durch sich selbst, ein Zirkel
im Erklären sei. Wir wiederholen, es war Uebersetzungssünde, nicht
Unverständniss, welche hier sich rächte, und welche eine stetige
Proportion einführte, wo es nur um eine aus irgend vier Grössen
bestehende sich handelte.
Zu IX, 16 hat Campanus 13 Zusätze ausgesprochen, deren letzter
die Unmöglichkeit behauptet, irgend eine Zahl so zu theilen, dass
das Product des Ganzen in den kleineren Theil dem Quadrate des
grösseren Theiles gleich werde. Der Gang des Beweises ist in
algebraischer Bezeichnung folgender^). Sei (x^ -\- x^) : x^ = x^: x^,
so folgt x^: x.2 = x.^'. {x^ — x^ oder wenn ä^^ — x., = x^ d. h.
x^ = x^-\- x^ gesetzt wird, was wegen x^ > x^ geschehen darf, auch
(x.2 -\- iTg) '. X2 = x^: x^ und damit ist zugleich x^ > x^ erwiesen.
Fortsetzung des gleichen Verfahrens führt zu (x^ -f~ ^4) '• x^ == x^ '• x^
mit x^=^ x^ — ^3 < ^3 ^^- s. w. ins Unendliche. Weil aber, wie
Euklid in VII, 31 es ausdrücklich ausgesprochen, hat, nicht unend-
lich viele immer kleiner werdende Zahlen möglich sind, so ist gleich
') Ein wortgetreuer Abdruck der ganzen Stelle findet sich in Kästner's
Geometrischen Abhandlungen I. Sammlung (1790), S. 235—240. Ferner auch in
Curtze's Beliquiae Copernicunae, Zeitschr. Math. Phys. XIX, S. 81. '^) Curtze
brieflich. ^) Kästner, I, 297—298 giebt den Worlaut dieser Uebersetzung
als : Quantitates qiiae dicuntitr continuam habere proportionalitatevi, sunt, quarum
aeque multipUcia auf aequa sunt, aut aeque sihi sine interruptione addunt mit
minunt. Was Kästner dabei von dem mit simul zu übersetzenden ccfia sagt,
ist irrig. Das griechische Wort heisst gar nicht afia , sondern Iccixig und ist
ganz richtig mit aeque wiedergegeben. Der Uebersetzungsfehler steckt in den
Worten iv zw avtü löyo) , wo von einer contimia proportionalitas nicht die
Rede ist. *) Genocchi in den Annali di scienze matematiche e fisiclie von
Tortolini VI, 307—308.
106 iö. Kapitel.
die erste Annahme falsch, die Irrationalität des goldenen
Schnittes somit festgestellt.
So sind wir am Ende des XIII. Jahrhunderts augelangt, ein
Abschnitt durch die Zeitrechnung, kein solcher durch innere Gründe.
Wir müssen gleichwohl der Uebersichtlichkeit das Opfer bringen,
ein Ende eintreten zu lassen, wo kein Schluss ist, und uns zunächst
von Jahrhundert zu Jahrhundert, dann in kürzeren Abschnitten den
Abgrenzungen zufälliger ZeiteintheiJung fügen. Eine Zusammen-
fassung der Ergebnisse dieses neunten Abschnittes überhaupt, des
ersten des 11. Bandes, ist leicht veranstaltet. Haben wir doch das
XIII. Jahrhundert als ein solches kennen gelernt, in welchem zwei
wirklich hervorragende Mathematiker, ein Laie und ein Geistlicher,
zu Beginne des Jahrhunderts auftreten. Sie leisten auf allen Ge-
bieten der Mathematik Gewaltiges, zu Gewaltiges, als dass die Zeit-
genossen mitkommen, oder gar über sie hinaus den Weg fortsetzen
konnten. Kein Dritter findet sich im XIII. Jahrhunderte, der neben
Leonardo von Pisa und neben Jordanus Nemorarius gestellt werden
dürfte, ja vielleicht kein Dritter, der in sich aufzunehmen suchte, was
Jene in Rechenkunst und Zahlentheorie, in Algebra und Geometrie
hervorgebracht haben. Die handwerksmässige Rechenkunst, wie sie
aus dem geistvollen Algorithmus demonstratus unter Verflüchtigung
allen Geistes als Niederschlag zurückblieb, wurde von Ordensbrüdern
geübt und weiter verbreitet. So kam wohl allmälig die Kenntniss
der Zahlzeichen und ihres Stellungswerthes in die grosse Menge.
In den Handschriften des Lehrgedichtes der Wälsche Gast, deren
älteste auf die zweite Hälfte des XIII. Jahrhunderts zurückgeht und,
wie man annimmt, nicht in Klosterkreisen entstand^), erscheint auf
einem Bildehen die Arithmetik, welche solche Zahlzeichen vor sich
hat. Neben den eigentlichen Schriftstellern, wenn man so sagen
darf, erscheinen einzelne Uebersetzer, Campanus wohl der mathe-
matisch begabteste unter ihnen, welche neuen Lehrstoff der alten
Wissenschaft entnahmen. Wird auch dieser zunächst nur als Ballast
mitgeführt werden"? Diese Frage hat das XIV. Jahrhundert zu be-
antworten.
') A. von Oechelhäuser, Der Bilderkreis zum Wälschen Cxaste von
Thomasin von Zerclaere (1890), S. 79. Die Abbildung selbst in photographischer
Nachbildung auf Tafel VI. Erörterungen dazu auf S. 64.
X. Die Zeit von 1300—1400.
46. Kapitel.
Englische Mathematiker.
Die Frage, mit welcher der vorige Abschnitt schloss, vollständig
zu bejahen ist für den Geschichtsschreiber insofern nicht ohne Ge-
fahr, als neue Entdeckungen einem solchen Ausspruche leicht seine
Grundlage rauben könnten. Das XIV. Jahrhundert ist in mehr als
nur einer Beziehung dem XIII. vergleichbar. Vor Allem ist der
äussere Umstand hervorzuheben, dass, als Montucla\) am Ende des
XVni. Jahrhunderts sein Meisterwerk der Geschichte der Mathematik
schuf, dem man heute noch keinen weiteren Fehler vorwerfen kann,
als dass es nicht mehr und nicht Anderes enthielt als damals den
Gelehrtesten bekannt war, dass, sagen wir, in jener Zeit das XIII.
und XIV. Jahrhundert für den Mathematiker etwa so aussah, wie eine
Landkarte des Innern von Afrika, gedruckt während Montucla die
Presse beschäftigte. Eine weisse Fläche bot sich dem Beobachter,
unterbrochen hier und da durch einen Namen, dem meistens ein vor-
sichtiges Fragezeichen beigefügt war, oder doch beigefügt hätte sein
sollen. Das hat sich wesentlich geändert. Wie in der mathematischen
Entwicklung des XIII. Jahrhunderts treten auch in der des XIV. Jahr-
hunderts bestimmte gesicherte Höhepunkte deutlich hervor. Auch
der Charakter ihrer Umgebung ist so weit bekannt, dass man die-
selbe, ohne ungerecht zu sein, eine Tiefebene wird nennen dürfen.
Aber davon ist die Gegenwart doch weit entfernt, dass sie genau alle
Verbindungsstrassen von einem zum anderen Punkte nachzuweisen im
Stande wäre, dass sie sicher wäre, nicht an ganz Wesentlichem, aber
noch nicht bekannt gewordenem, vorbeigeirrt zu sein. Der Verfasser
dieser Vorlesungen ist durchdrungen von dem Gefühle der Lücken-
haftigkeit des vorigen wie dieses Abschnittes. Er hofft auf's Höchste,
ein künftiger Geschichtsschreiber möge ihm keinen anderen Vorwurf
') Montucla, Histoire des Mathematiques. IP. edition. Paris 1799 — 1802.
Die beiden ersten Bände sind von Montucla selbst bearbeitet, der dritte und
vierte nach Montucla's Tode (18. December 1799) von Lalande. Wir citiren das
in diesem Bande mehrfach benutzte Werk kurzweg als Montucla.
110 46. Kapitel.
zu macheu habeu, als deu wir heute gegen Montucla erheben müssen.
Unter solchen Voraussetzungen ist jedem Ausspruche ein grosses
„vielleicht" hinzuzudenken, und nur innerhalb dieser selbstgezogenen
Grenzen glauben wir eine wissenschaftliche Aehnlichkeit des XIV.
mit dem XIII. Jahrhunderte behaupten zu dürfen.
Dem XIV. Jahrhunderte gebrach es so wenig als dem XIII. an
erhaltender Thätigkeit. Uebersetzungen mathematischer Werke aus
dem Griechischen, aus dem Arabischen sind wir zwar nicht im Stande
mit besonderen bekannten Namen zu belegen, aber das Vorhanden-
sein hochwichtiger mathematischer Handschriften aus dem XIV. Jahr-
hunderte in fast allen bedeutenderen Bibliotheken ist Zeugniss von
der Wahrheit unserer Behauptung. Die Uebersetzung des Buches
der drei Brüder in BaseP) ist mit grösster Wahrscheinlichkeit
von Gerhard von Cremona angefertigt. In dem vorhandenen Ver-
zeichnisse der von ihm herrührenden Uebersetzungen ist das Buch
der drei Brüder erwähnt. Dort findet sich auch die Bemerkung, Ger-
hard habe in seinen Uebersetzungen sich nie genannt-). Ist aber
die Uebersetzung anderer in dem gleichen Sammelbande befindlicher
Schriften erst im XIV. Jahrhunderte angefertigt? Sind sie bereits
Abschriften der Ergebnisse früherer Uebersetzungsarbeit? Sehen wir
in ihnen wie in den gleichzeitigen Abschriften von Werken des Jor-
danus, von Euklidübersetzungen des Atelhart und des Campanus den
Fleiss emsiger Mönche, der Werthvolles aus alter wie aus für damals
jüngerer Zeit aufzubewahren half? Wir wissen es nicht. Jedenfalls
aber zeigt das Vorhandensein solcher Handschriften so viel Interesse
für die Erhaltung mathematischer Werke, sei es bei dem abschrei-
benden Mönche selbst, sei es bei dem Vorsteher des Klosters, der
solche Abschriften zu fertigen befahl, dass wir nicht schweigend an
der Thatsache vorübergehen durften.
Wir wollen nun versuchen, die Mathematiker des XIV. Jahr-
hunderts in ihrem Heimathslande nach gebildete Gruppen zu ordnen
und beginnen mit England.
Das Rechnen mit Zahlzeichen, denen Stellungswerth beigelegt ist,
machte in diesem Jahrhunderte offenbar Fortschritte. Ausser einem
die Numeration klar darlegenden Schriftstücke in englischer Sprache^)
hat auch eine Rechentafel für Kaufleute*) sich erhalten, deren Text,
so gering er ist, ebenfalls der englischen Sprache angehört, während
die Zeichen von der eben erwähnten Art sind.
Wichtiger ist was wir über bestimmte Schriftsteller auszusagen
>) Wir reden von der berühmten Handschrift F II, 33. *) Curtze brief-
lich. ^) Halliwell, ßara Maihemcdica pag. 29—31. *) Ebenda pag. 72.
Englische Mathematiker. 111
haben. Richard von Wallingford^j, welcher etwa um 1326 die
freien Künste und Philosophie in Oxford lehrte, ist uns nur durch
die Titel einiger Abhandlungen bekannt, welche jedoch, in englischen
Bibliotheken handschriftlich erhalten, wohl verdienten einmal von
einem Fachmanue durchgesehen zu werden. Titel wie: De sinibus
demonstrativis. De chorda et arcu. De chorda et versa deuten darauf
hin, dass dem Verfasser, der solche Ueberschriften wählte, arabische
Trigonometrie und darunter jedenfalls neben anderen Quellen, die
damit nicht geleugnet sein sollen, Albategnius in der Uebersetzung
Plato's von Tivoli (Bd. I, S. 693), wo erstmalig das Wort Sinus vor-
kam, bekannt gewesen sein muss. Eine Abhandlung, welche sich in
zahlreichen Abschriften erhalten hat, ist einer Art von Zeitmesser
gewidmet, der von seiner Brauchbarkeit den Namen Insh-utnentum
Älhyon (d. h. all by one = Alles durch Eines) empfingt).
In das Gebiet der Trigonometrie gehört weiter eine Schrift von
Johannes Maudith^), welcher um 1340 in Oxford lehrte. Auch ihr
Titel: De chorda recta et umbra fordert eine Untersuchung nur um
so dringender heraus, als umbra, die Tangente der heutigen Trigo-
nometrie, eine den Arabern besonders eigenthümliche Winkelfunction war.
Und wieder dasselbe Ergebniss erhalten wir aus einer vereinzelt
bekannt gewordenen Stelle der Perspective von Bradwardinus^).
In einer Handschrift des Vatican ist nämlich die Absicht Bradwardin's
Perspective mitzutheilen von einem Abschreiber gehegt, aber mit der
Begründung aufgegeben worden, dieselbe enthalte, abgesehen von
vier Sätzen, ausschliesslich das, was in der allgemeinen (in communi
perspectiva) d. h. in der Peckham'schen Perspective sich vorfinde;
darum werden nur die erwähnten vier Sätze berichtet. In diesen
kommen aber die Wörter umbra recta und umbra versa wiederholt
vor, welche bekanntlich unserer Cotangente und Tangente ent-
sprechen, und von ihnen wird im dritten Satze ^) ausgesagt, dass sie
die Längeneinheit als mittlere geometrische Proportionale besitzen.
Simon Bredon oder Biridanus^) von Winchecombe gehört,
wiewohl eigentlich Mediciner, auch durch einige mathematische und
astronomische Abhandlungen hierher. Er verfasste sie um 1380 unter
König Richard IL So wird von ihm namentlich eine Sehnentafel er-
wähnt, deren Anfangsworte lauten sollen Arcus, sinus rectus, sinus
versus. Englische Gelehrte werden in erster Linie Veranlassung
1) Montucla, I, 529. — Suter, Math. Univ. S. 45— 46. -) Curtze
brieflich. ^) Suter, Math. Univ. S. 46. *) Max Curtze in den Beliquiae
Copernicanae , Zeitschr. Math. Phys. XX, 224. ^) Inter umbras et timbrosum
testis est proportio, quod ipsa res sempier est medio loco proportionalis inter um-
bram stiam, rectam seilicet et versam. ^) Suter, Math. Univ. S. 46.
12
46. Kapitel.
haben, diesen und den weiter oben genannten insgesammt ungedruckten
Abhandlungen diejenige Beachtung zu verschaffen, welche sie zu ver-
dienen scheinen und ihrer Heimath den Ruhm zu sichern, von den
ersten europäischen Schriftstellern über Trigonometrie er-
zeugt zu haben. Die allerersten waren sie indessen doch nicht. Das
war ein Anonymus, der bereits dem Ende des XIII. Jahrhundert an-
gehörte, dann der in Avignon lebende spanische Jude Levi ben
Gerson mit einer Abhandlung von 1321, endlich ein weiterer Ano-
nymus mit einer Schrift: De tribus notis^).
Eine Abhandlung von hohem Interesse ist dem Drucke übergeben^).
Sie ist in englischer Sprache verfasst und in einer Handschrift des
XIV. Jahrhunderts erhalten, und aus diesem letzteren Umstände
leiten wir das Recht ab, sie hier zu besprechen, wenn ihre eigent-
liche Entstehungszeit uns gleich unbekannt ist. Der Inhalt ist feld-
messerisch, wie schon die Ueberschrift besagt: J^oive sues liere a
Tretis of Geometrl wherhy you may Inoive the lieglite, depnes, and the
hrede of moshvhat erthely thynges und stellt eine Uebersetzung einer
unter dem Titel Ars metrica gehenden Bearbeitung des zweiten
Theiles der Schrift des Robertus Anglicus über den Quadranten dar^).
Geometrie, sagt der der griechischen Sprache etwas mächtige Ver-
fasser, ist zusammengesetzt aus geos, die Erde und metros, das Maass.
Zum Höhenmessen, welches am Ausführlichsten behandelt ist, werden
verschiedene Verfahren gelehrt. Die Schattenmessung ^), wie sie seit
Thaies in Uebung war (Bd. I, S. 128j, eine Messung mit Hilfe eines
Spiegels °), eine Messung mit Hilfe des Quadranten und des Quadra-
tes '') sind auseinandergesetzt, aber leider nicht durch Zeichnungen
erklärt. Ergänzt man sich solche für den Quadranten (Figur 22) und
für das genauer beschriebene Quadrat (Figur 23), so mag man die
Fig. 22. Fig. 23.
Benutzung auch dieser letzteren Vorrichtung leichter zum Verstand-
niss bringen. Das Quadrat ist aus vier gleichen je in 12 Theile
*) Curtze brieflich. ^) Halliwell, Bara Matliematica pag. 56 — 71.
^) Curtze brieflich. ■*) Halliwell, Bara Mathematica pag. G2. '") Ebenda
pag. 66. *) Ebenda pag. 58—59.
Englische Mathematiker. 113
eingetheilten Stäben zusammengesetzt. In dem einen Eckpunkte ist
ein Senkel aufgehängt, und die eine Seite ist ein Diopterlineal, durch
welches man nach dem zu bestimmenden Höhepunkt hinsieht. Man
hat dann nur zu bemerken, welcher Punkt der eingetheilten Quadrat-
seiten von dem Senkel eingeschnitten wird, um die Höhe mittels
Proportionen zu finden. Die betreffenden Eintheilungen der das
Quadrat bildenden Stäbe heissen wieder wnhre.
Und nun kehren wir zu dem hervorragendsten Vertreter der
Mathematik in England im XIV. Jahrhunderte zurück, dessen Namen
wir schon im Vorbeigehen genannt haben. Thomas de Brad-
wardina^), eigentlich Bredwardiu, aber gewöhnlich Bradwar-
dinus genannt, ist geboren zu Hartfield bei Chichester. Als sein
Geburtsjahr wird mitunter 1290 angegeben, jedenfalls fällt es noch
in das XIII. Jahrhundert. Er war Ordensgeistlicher, muthmasslich
Franciskaner. Sicherheit über seine Lebensverhältnisse beginnt mit
dem Jahre 1325, in welchem er Proctor, d. h. Procurator, der Uni-
versität Oxford wurde. Dort las er im Collegium Mertonense über
Theologie, Philosophie und Mathematik mit solchem Erfolge, dass
man ihm den Beinamen Doctor profundus beilegte. Solche ehrende
Beinamen waren übi-igens damals an der Tagesordnung. Roger Baco
wurde Doctor mirabilis, Thomas von Aquino bald Doctor angelicus,
bald Doctor universalis genannt; Duns Scotus hiess Doctor subtilis,
Raimundus LuUus Doctor illuminatus, Wilhelm von Occam
Doctor invincibilis oder Doctor singularis, Henricus Gandavensis
Doctor solenmis, Johann Baconthorp Doctor resolutus, um nur
einige der bekanntesten Namen aufzuzählen. Später wurde Brad-
wardinus Kanzler der St. Paulskirche in London, und Johann Strat-
ford, Erzbischof von Canterbury, empfahl ihn dem Könige Eduard III.
als Beichtvater. In dieser Stellung erwarb er sich die Gunst des
Königs, welchen er auf seinen Kriegszügen in Frankreich begleitete,
in so hohem Maasse, dass, als 1348 nach Stratford's Tode das Kapitel
Bradwardinus zum Erzbischof von Canterbury erwählte, der König
ihn nicht entliess. Ein an seiner Stelle neu Gewählter starb aber
noch vor der Weihe, das Kapitel einigte sich abermals auf Brad-
wardinus, und nun gab der König nach. Die Weihe fand am
19. Juli 1349 in Avignon statt. Wenige Wochen nachher wurde
^) Encyclopaedia Britannica (1875), IV, 199. — Poggendorff I, 272. —
Chasles, Äpergii liist. p. 480 und 521—523 (deutsch 550 und 611—614). Sehr
viel mehr bei Max Curtze: Ueber die Handschrift R. 4". 2 der König! .
Gymnasialbibliothek zu Thorn. Insbesondere das Biographische entnehmen wir
fast wörtlich dieser im Supplementheft der Zeitschr. Math. Phys. XIII abgedruck-
ten Abhandlung.
Cantor, Geschichte der Mathem. II. 2. Aufl. 8
114 46. Kapitel.
Bradwardinus in Lambetli von eiuer pestartigen Krankheit befallen
und starb am 26. August. Die mathematischen Schriften, welche
früh (seit 1495) im Drucke bekannt geworden sind, vorher natürlich
abschriftlich umliefen, führen die Titel: Arithmetica speculativa, De
proportionibus velocitatum, Geometria speculativa, Tractatus de qua-
dratura circuli editus a quodam archiepiscopo ordinis fratrum mino-
rum. Diese Quadratur ist dieselbe Schrift, von welcher wir (S. 101)
unter Campanus gesprochen haben, und kann unmöglich von Brad-
wardinus herstammen. Die Drucke der drei anderen vermuthlich
echten Schriften sind von grosser Seltenheit. Es wäre wünschens-
werth, wenn die Schrift von den Proportionen — oder sind es gar
deren zwei? — einmal genau untersucht würde, wie weit sie eine Ab-
hängigkeit von Jordanus (S. ßö), wie weit sie eine solche von Ahmed
Sohn des Josephus vermuthen lassen kann. Wir könneu nur über die
Geometria speculativa nach Auszügen berichten, welche deren
wissenschaftliche Bedeutung erkennen lassen. Wenn zwei Handschriften,
die eine von 1365, die andere von 1414 datirt, beide gegenwärtig in
Rom, Bradwardin's Geometrie dem Petrus von Dacien zuschreiben^),
so beruht das wohl auf Irrthum. Die Geometrie besteht aus vier
Abschnitten, von denen jeder mit Voraussetzungen, Erklärungen, For-
derungen beginnt, an welche die eigentlichen Untersuchungen sich
anschliessen.
Im 1. Abschnitte beschäftigt sich Bradwardinus mit den ßgiiris
angulorum cgredienfihiis. Sternvielecke, denn diese sind unter
jenem Namen verstanden, waren ja seit der Zeit der Pythagoräer be-
kannt. Das Sternfünfeck insbesondere (Bd. I, S, 166) war mehrfach
der Aufmerksamkeit empfohlen. Wir haben seine Gestalt ausser im
grauen Alterthum in jener französisch geschriebenen Geometrie (S. 92)
aufti-eten, seine Winkelsumme im Euklide des Campanus (S. 104) be-
stimmen sehen. Auch die Gestalt eines anderweitigen Sternvielecks
lässt sich in benachbarter Zeit nachweisen. Raimundus Lullus,
dessen schriftstellerische Thätigkeit zwischen 1285 und 1315 fällt,
muss in einer Geschichte der Mathematik immerhin genannt werden.
Er hat eine eigene Schrift über die Quadratur des Kreises und eine
Geometrie verfasst, welche in dem Uebermaasse religiösen Beiwerkes
unverständlich sind. Ebenderselbe hat in seiner Ars magna, einem
Gemenge von Logik, kabbalistischer und eigener Tollheit, unter
welches, man weiss nicht wie, einige Körner gesunden Menschen-
verstandes gerathen sind, den Umfang eines Kreises in 9 Theile ge-
1) BibUoth. vwfli. von G. Eneström 1885, pag. 94 und 196.
Englische Mathematiker. 115
theilt ^) und von jedem Theilungspunkte Verbindungsgerade nach
allen übrigen gezogen. So entsteht, ob ihm bewusst oder nicht
müssen wir in Frage lassen, ein Sternneuneck. Als Frage werfen
wir ferner auf, ob in hebräischen kabbalistischen Schriften noch
andere Stern vielecke gebunden werden mögen? Keinesfalls sind es
wissenschaftliche Untersuchungen über Sternvielecke, welche uns irgend-
wo ausser bei Campanus gegenübertreten, und nun behandelt Bradwar-
dinus mit ausdrücklicher Betonung der Neuheit des Gegenstandes,
den nur Campanus beiläufig gestreift habe , die allgemeine Figur
ähnlichen Charakters. Je mehr wir auch auf unserem Wissensgebiete
die Wahrheit der Aussprüche anerkennen, dass auf Jahrhunderte hin
eine gänzliche Abhängigkeit von der äusserlichen Stofizufuhr den
eigentlichen Grundton des Mittelalters bildete-), und dass dessen
alleiniges geistiges Motiv in der Macht der Ueberlieferung zu suchen
ist^), um so stärker treten die wenigen Persönlichkeiten hervor,
denen gegenüber jene Regel versagt. Dass aber Bradwardinus zu
ihnen gehörte, mögen folgende Sätze beweisen : Ein Vieleck mit aus-
springenden Winkeln (egrediens) wird erzeugt, indem man die Seiten
eines gewöhnlichen, nach aussen convexen Vielecks bis zum erneuten
Durchschnitte verlängert. Vollzieht man das Gleiche bei dem ent-
standenen Sternvielecke erster Ordnung, so entsteht ein Sternvieleck
zweiter Ordnung, aus welchem immer durch das gleiche Verfahren
ein Sternvieleck dritter Ordnung hervorgeht. Das Sternfünfeck ist
das erste Stemvieleck erster Ordnung und hat die Winkelsumme 2 E.
Bei wachsender Zahl der Ecken wächst die Winkelsumme immer um
2R für jedes neue Eck, wie es bei den convexen Vielecken auch der
Fall ist. Im Sternvieleck erster Ordnung mit 6, 7, 8, ... 9^ Eck-
punkten ist also die Winkelsumme 42?, 6R, 8R,...(2n — 8)B. Die
allgemeine Formel spricht Bradwardinus allerdings nicht aus, aber sie
ist doch in seiner Regel des gleichmässigen Anwachsens um je 2R
enthalten. Aus dem convexen Dreieck und Viereck entsteht kein
Stern vieleck, sondern erst aus dem Fünfeck. Aus dem Sternvieleck
erster Ordnung mit 5 oder 6 Ecken entsteht kein Sternvieleck zweiter
Ordnung, sondern erst aus dem mit 7 Ecken. So hat man den Satz,
dass das erste Sternvieleck irgend einer Ordnung durch Verlängerung
der Seiten des dritten Sternvielecks nächstniedrigerer Ordnung ge-
bildet wird. Von den Winkeln der Sternvielecke höherer Ordnung
zu reden, meint Bradwardinus, würde zu weit führen; er wolle einen
Satz aussprechen, an dessen Richtigkeit er glaube, ohne sie mit aller
^) Prantl, Geschichte der Logik im Abendlande III, 158. Künftig citiren
wir Prantl , Gesch. Log. -') Ebenda III, 2. ^) Ebenda III, 9.
y 8*
116 46. Kapitel.
Bestimmtheit behaupten zu wollen: die Summe der Winkel in dem
ersten Vielecke jeder Ordnung sei 2R, und sie nehme mit jedem
neuen Eckpunkte um 2It zu ^). Irgend welche Beweise scheint
Bradwardinus nicht geführt zu haben, an den Rand sind aber Stern-
vielecke der drei ersten Ordnungen gezeichnet, solche der ersten Ord-
nung mit 5, 6, 1, 8 Ecken, solche der zweiten Ordnung mit 7, 8, 9
Ecken, solche der dritten Ordnung mit 9, 10, 12 Ecken.
Der 2. Abschnitt enthält unter Anderem die Lehre von den
isoperimetrischen Figuren. In vier Sätzen wird gezeigt: 1. dass
unter miteinander verglichenen , isoperimetrischen Figuren diejenige
die flächengrösste ist, welche die grösste Eckenzahl besitzt; 2. dass
bei gleicher Eckenzahl die Gleichheit aller Winkel den Ausschlag
giebt; 3. dass unter der Voraussetzung gleicher Eckenzahl und unter
sich gleicher Winkel das regelmässige Vieleck, welches auch unter
sich gleiche Seiten besitzt, die grösste Fläche einschliesst; 4. dass
der Kreis endlich die flächengrösste unter allen ebenen isoperimetri-
schen Figuren ist, wie auch der Kugel die räumhch entsprechende
Eigenschaft unter den Körpern zukommt. Für diese Sätze giebt
Bradwardinus einen Ursprung nicht an, beansprucht sie aber ebenso-
wenig als sein Eigenthum. Es kann kaum einem Zweifel unter-
worfen sein, dass er sie dem Buche des Zenodorus (Bd. I, S. 341) ent-
nahm, welches jedenfalls in's Arabische und aus letzterer Sprache in's
Lateinische übersetzt dem XIV. Jahrhunderte wohl bekannt war.
Zeugniss dafür ist eine noch vorhandene Niederschrift einer solchen
Uebersetzung aus der erwähnten Zeit, welche die Mittelbarkeit ihres
Ursprunges durch Benutzung der Namensform Archimenides statt
Archimedes (Bd. I, S. 663) an den Tag legt. Ein gewisser Frater
Fridericus, welcher in der Mitte des XV. Jahrhunderts lebte, und
dem wir im 54. Kapitel begegnen werden, hat übrigens Bradwardin's
Quellen sehr gut erkannt, indem er sagte, dieser habe aus den Büchern
des Euklid, des Campanus, des Archimed, des Theodosius, des Jor-
danus und aus den Büchern über die isoperimetrischen Gebilde ge-
schöpft ^).
Der 3. Abschnitt beschäftigt sich der Hauptsache nach mit der
Lehre von den Verhältnissen. Die Proportion einer Grösse zu einer
andern wird benannt nach der Art, wie die erste zur zweiten sich
verhalte^). Stehen verschiedene Grössen in fortlaufender stetiger Pro-
portion, so ist die Proportion der äussersten Glieder aus denen aller
^) Dass in der That die Winkel summe des ä; - Stemvielecks n*^^ Ordnung mit
2n-\-Jc -\- 2 Ecken durch 2k R sich darstellt, hat Poinsot im Journal de VEcdle
polytechnique Tome IV (eahier 10) bewiesen. *) Curtze brieflich. ^) Quanta
est aliqiui quantitas ad idiam tanta denominatur jy)'oportio eins ad ipsain.
Englische Mathematiker. 117
dazwischenliegeuden zusammengesetzt. Proportionen gleicher Benen-
nung sind einander gleich^). Grössen sind gleich, wenn sie zu einer
Vergleichsgrösse in gleichem Verhältnisse stehen; Grössen sind aber
auch dann gleich, wenn Gleichvielfaehe von ihnen unter einander
gleich sind-). Diese beiden Regeln, fügt Bradwardinus sogleich hinzu,
lassen widersprechende Folgerungen ziehen. Der ersteren gemäss
sind alle unendlichen Grössen gleich, der zweiten gemäss
kann dieses nicht der Fall sein. Verhältnissmässigkeit und Mess-
barkeit sind nicht an einander gebunden, jede Grösse steht zu jeder
anderen in einem Verhältnisse, hat aber nicht mit jeder ein gemein-
sames Maass^). Haben zwei Grössen ein gemeinsames Maass, sind
sie comrminicantcs, so verhalten sie sich zu einander wie zw^ei Zahlen,
wobei Zahl jedenfalls als ganze Zahl gemeint ist. Findet kein der-
artiges Verhältniss statt, so haben die Grössen kein gemeinsames
Maass, sind inconumimcantcs. Diagonale und Quadratseite stehen in
irrationalem^) Verhältnisse, weil jede Diagonale zur Seite ihres
Quadrates eines gemeinsamen Maasses entbehrt. In diesen letzteren
Regeln ist der wechselnde Gebrauch der Wörter commensurabilis und
communicans, irrationalis und assimetrus bemerkenswerth. Die einen
gehören schon dem uns bereits bekannten Sprachschatze an. Boethius
sagt commensurabilis, Leonardo von Pisa communicans (S. 11); ob
die Wörter assimetrus und namentlich irrationalis schon vor Brad-
wardinus in mathematischem Zusammenhange irgendwo vorkommen,
ausser in Gerhard's von Cremona Uebersetzung^) des arabi-
schen Commentars des An-Nairizt zum X. Buche des Euklid V
Jedenfalls sieht man, dass eine Kunstsprache in ihrer Bildung be-
griffen, wenngleich noch nicht ganz fertig war. Der Kreis, sagt
Bradwardinus in demselben 3. Abschnitte, ist einem Rechtecke flächen-
gleich, dessen Seiten die halbe Peripherie und der halbe Durchmesser
des Kreises sind. Bradwardinus beruft sich dafür, wie auch für das
Verhältniss 22 : 7 der Kreisperipherie zum Durchmesser, auf das Buch
über Kreisquadratur des Archimenides. Ihm ist also auch die ara-
bische Ueberlieferung des Namens Archimedes und eine Uebersetzung
von dessen Kreismessung bekannt gewesen.
Der 4. Abschnitt endlich geht von der Ebene zum Räume
über, handelt von Oertern, von körperlichen Winkeln, von den fünf
^) Proportiones sunt equales quortim denominationes equales. ^) Quanti-
tates sunt equales que ad unam quantitatem conporate (sie!) proportionem habent
equalevi. Quantitates quariim equimultiplices smit equales ipse inter se sunt
equales. ^) Omnis quantitas omni quantitati pi-oportionalis, sed non omnis omni
commensurabilis. *) Dyametri quadrati ad latus eiusdem est proportio irratio-
nalis quia omnis dyameter coste sui quadrati assimetrus. ^) Curtze brieflich.
118 46. Kapitel.
regelmässigen Körpern, von der Kugel und von Kreisen auf deren
Oberfläche, wobei für die letzteren Sätze die Spliärik des Theodosius
als Quelle angerufen wird, eine Schrift, welche vielleicht auch schon
Witelo (S. 98) vorgelegen hat.
Ausser den im Drucke längst herausgegebenen Werken des Brad-
wardinus hat sich noch eines handschriftlich ganz oder wahrschein-
licher theilweise erhalten, aus welchem werthvolle Auszüge bekannt
geworden sind^), der Tractatus de continuo. Diese Abhandlung
steht in ihrem Zwecke wie in ihrem Inhalte nicht vereinzelt da. Sie
richtet sich als besondere Schrift gegen diejenige atomistische Welt-
anschauung, welche in der Scholastik überhaupt vorhanden war, und
welche auf der Zusammensetzung der stetigen Grösse aus unstetigen
Bestandth^ilen beruhte^). Roger Baco hatte sich (S. 97) in einem
Kapitel seines Opus tertium mit der Widerlegung dieser Ansicht durch
mathematische Gegengründe beschäftigt. Andere Scholastiker gingen
gleichfalls gelegentlich auf die Streitfrage ein, welche schon seit
Aristoteles und länger (Bd. I, S. 191) die Geister anregte und auf-
regte. Bradwardinus gehörte unbedingt zu den Männern, deren Ge-
dankenfolge eine vorzugsweise mathematische genaimt zu werden
verdient, und wenn- sein Tractatus de continuo einem Grenzgebiete
angehörte, wenn die Geschichte der Mathematik, die der Physik, die
der Philosophie verpflichtet sind, der Auffindung dieser merkwürdigen
Schrift Rechnung zu tragen, und bald diese, bald jene ihrer Sätze
zur Sprache zu bringen, so ist die Geschichte der Mathematik dabei
in der günstigen Lage loben ^u dürfen, worüber sie zu berichten hat.
Zu den Vorgängern des Bradwardinus in den erwähnten Untersuchungen
gehörte ja auch bis zu einem gewissen Grade Jordanus Nemorarius.
Er gab an der Spitze seiner Bücher De triangulis (S. 73) Begriffs-
bestimmungen, welche, so scholastisch abstossend sie waren, immerhin
zeigten, dass der Verfasser manchem verborgen liegenden mathemati-
schen Gedanken nachzugraben für lohnend erachtete, und dass er
auch auf der richtigen Spur war, wo das Vertiefen ansetzen müsse.
Aehnliches müssen wir von Bradwardinus rühmen. Der Wortlaut
beider Schriftsteller, des Jordanus und des Bradwardinus, ist freilich
ein ganz verschiedener und nur die eine Aeknlichkeit glauben wir
bemerklich machen zu soUen, dass der Punkt bei Beiden punctus,
nicht, wie es sonst allgemeiner Gebrauch war, punctum heisst. Bei
Bradwardinus ist das Stetige ein Quantum, dessen Theile unter ein-
^) Vergl. Max. C u r t z e in der schon angeführten Abhandlung über
die Thomer Handschrift R. 4«. 2 Zeitschr. Math. Phys. XIH, Supplementheft.
*) K. Lasswitz, Geschichte der Atomistik vom Mittelalter bis Newton I, 197
bis 199.
Englische Mathematiker. 119
ander verbunden sind^), ein offenbar dem aristotelischen öwe^sg nach-
gebildeter Ausdruck. Es giebt zweierlei Stetigkeiten, bleibende
und aufeinander folgende. Das bleibende Stetige, contimmm per-
manens (Körper, Flächen, Linien) ist ein solches, dessen einzelne
Theile zugleich bleiben, das aufeinander folgende Stetige, contimmm
successiviim (Zeit, Bewegung) ist ein solches, unter dessen Theilen
frühere und spätere sich unterscheiden lassen. Bei der näheren Er-
örterung des bleibend Stetigen tritt der Begriff der Untheilbarkeit
hervor und des Punktes, der die Untheilbarkeit an einen bestimmten
Ort bindet^). Die Zeit ist dasjenige aufeinanderfolgende Stetige, wel-
ches die Aufeinanderfolge misst. Ihr üntheilbares ist der Augen-
blick^). Die Bewegung ist das aufeinanderfolgende Stetige, welches
in der Zeit gemessen wird. Im weiteren Verlaufe der Erklärungen
kommt das Anfangen und das Aufhören zur Rede. Daran schliesst
sich von selbst der Begriff des Unendlichen, dem drei ganze Seiten
gewidmet sind. Bradwardinus hatte demnach das volle Bewusstsein
von der Wichtigkeit und zugleich von der ganz ungeheuren Schwierig-
keit dieses Begriffes. Er unterscheidet zwei Unendlichkeiten, die
kathetische imd die synkathetische^). Kathetisch oder einfach un
endlich ist eine Grösse, die kein Ende hat. Synkathetisch unendlich
ist eine Grösse, der gegenüber es eine endliche Grösse giebt und ein
anderes grösseres Endliche, und wieder Eines grösser als jenes
Grössere, und so ohne dass ein Letztes sich fände, welches den Ab-
schluss bildete; auch dieses ist immer eine Grösse, aber nicht wenn
es mit Grösserem verglichen wird. Man erkennt leicht, dass das
kathetisch Unendliche Bradwardinus' das Ueberendliche oder
Transfinite unserer neueren Philosophen ist, dem von Anfang an
das Merkmal der Begrenztheit, welches den endlichen Grössen zu-
kommt, fehlt, während das synkathetisch Unendliche mit dem
Endlosen oder Infiniten übereinstimmt, welches aus der end-
lichen Grösse durch unbegrenztes Wachsen hervorgeht-''). Wie das
Unendliche und das Untheilbare in Bradwardin's Geiste in Wechsel-
beziehung traten, zeigt die Fortsetzung des Tractates. Jede Wissen-
schaft, heisst es^), sei wahr, in welcher nicht die Voraussetzung ge-
^) Contimmm est quantum cujus partes ad invicem copulantur. *) Indivi-
sibile est quod niinquavi dividi potest. Punctus est indivisihile situatmn. ^) In-
stans est certus atlwmus (sie!) temporis. ^) Infinitmn cathetice et simpliciter est
quantum sine fine. Infinitum sitikathetice est secundum quid est quantum flnitum
et fmitum maius isto et finitum maius isto maiori et sie sine fine ultimo terminante,
et Jwc est quantum et non tarnen contra maius. ^) Wilh. Wundt, Logik II,
128 (1883). ^) Omnes scientias veras esse, uhi non supponitur continuum ex
indivisihilihus componi.
120 46. Kapitel.
macht werde, Stetiges setze sich aus Untheilbarem zusammen. Kein
Untheilbares ist grösser als ein anderes^). In der gleichen untheil-
baren Lage können nicht viele Untheilbare ihren Ort besitzen, so
lautet der Satz, in welchen Brandwardinus den Begriff der Undurch-
dringlichkeit kleidet. Das Stetige setzt sich nicht aus einer endlichen
Anzahl von Untheilbaren zusammen; es setzt sich ebensowenig aus
einer unendlichen Anzahl von solchen zusammen, es hat nur unend-
lich viele Untheilbare in sich^). Jede gerade Linie z. B. hat unendlich
viele Linien in sich, die als ihre Theile aufgefasst werden können.
Jede Oberfläche hat unendlich viele Oberflächen in sich und unend-
lich viele Linien und ähnlicherweise unendlich viele Punkte. Jedes
Stetige ist zusammengesetzt aus unendlich vielen Stetigen derselben
Art und hat unendlich viele eigene Atome ^). Aus unendHch vielen
Untheilbaren lässt kein Stetiges sich ergänzen oder zusammensetzen^).
Wir haben diese wenigen Sätze ziemlich zusammenhanglos dem
uns vorliegenden weit umfangreicheren Auszuge bald da, bald dort
entnommen. Auch die Wörter Contingenzwinkel und Form^) kommen
dort vor. Wir fügen hinzu, dass Bradwardinus, wie es dem Zwecke
seiner Auseinandersetzung entsprach, es auch an Bemängelung fremder
Ansichten nicht fehlen lässt. Ein Waltherus modernus und ein
Henricus modernus sind besondere Zielpunkte seiner Angriffe, die
regelmässig nach der Methode der Zurückführung auf Widersinniges
und Sichwidersprechendes erfolgen. Ob der moderne Walther ein
W altern s Evesham war, der 1316 astronomische Beobachtungen
machte^), ob nicht eher Walter Burleigh, welcher 1337 starb, und
welcher über Formen schrieb '') — ein Gegenstand damaliger Forschung,
von dem wir gleich zu reden haben — sei dahingestellt. Der moderne
Heinrich ist mit grosser Wahrscheinlichkeit kein Anderer als Hen-
ricus Goethaels von Gent oder Gandavensis^), welcher 1217
bis 1293 gelebt hat und als Lehrer der Philosophie in Paris sich den
Beinamen des Doctor solemnis (S. 113) erwarb.
Der Begriff der Form gehört in seiner ausführlichen Erörterung
der Geschichte der Logik an, genauer gesprochen der Geschichte
jener Streitigkeiten, in welchen so viele Geisteskraft unfruchtbar ver-
^) Nullum indivisibile malus alio esse. *) Omnia continua habere atlwma
infinita, sed ex athomis non componi. ^) Omne continuum componitur ex in-
finitis continuis eiusdem speciei et habet athoma propria inßnita. "•) Nullum
continuum ex indivisihilibus infinitis integrari vel componi. ^) Max. Curtze
1. c. S. 92 Z. 4 V. u. 6) Ebenda S. 88 in der Note **. ') Prantl, Gesch.
Log. m, 297. ^) Prantl, Gesch. Log. III, 190 flgg. und Quetelet, Histoire
des Sciences mathematiques et physiques chez les Beiges (1864) pag. 46 ügg. Letz-
teres Werk citiren wir künftig als Quetelet kurzweg.
Englische Mathematiker. 121
braucht wurde, die als Streit zweier Gelehrtenschulen ihren Anfang
nahmen, und, weil Thomas von Aquino und Duns Scotus, welche
jene Schulen gegründet hatten, den beiden auf einander eifersüchtigen
Orden der Dominikaner und Franciskaner augehörten, in einen Streit
der beiden Orden selbst ausarteten. Es war eiu Beispiel, wie solche
im Laufe der Geschichte menschlicher Geistesentwicklung wiederholt
vorgekommen sind, dass wissenschaftliche Meinungsverschiedenheiten
mit zufällig vorhandenen politischen imd religiösen Gegensätzen sich
verquickend zu einer heftigen den Streitpunkt selbst überdauernden
Fehde geworden sind. Duns Scotus^), der 1308 verstorbene Francis-
kaner, hatte forma diejenige Denkweise genannt, welche das Vor-
handensein des gedachten Gegenstandes voraussetzt, so dass dessen
Sinneswahrnehmung möglich wird. Die Sinneswahruehmung ist eine
wechselnde, und wechselnd sind die Formen. Eine zeitliche Reihen-
folge findet in ihnen statt, so dass die frühere Form auf die spätere
wirkt, und ganz besonders die Gradabstufung der Formen, die bald
zu grösserer Vollkommenheit sich erheben, bald zu allmählicher Un-
vollkommenheit herabsinken, ist der Beachtung würdig. Sie äussert
sich vorzugsweise bei den Formen der Natur: Kälte und Wärme sind
ein oft und gern gebrauchtes Beispiel. Dort heisst die Steigerung und
der Nachlass der Formen, deren Vielheit Glaubenssatz ist, intensio et
remissio formarum. Mit dem zuletzt Ausgesprochenen, d. h. mit
einem Gradunterschiede, der im Formenbegrifie hervortrete, ist nun
auch die gegnerische Schule einverstanden, aber die Form selbst sei
eine einzige, und gerade das Beispiel des Warmen und Kalten diene
als Beweis. So der Chronist Aegidius Romanus^), f 1316.
Wir dürfen den Verlauf des Streites nicht genauer verfolgen. Nur
einzelne Namen solcher Schriftsteller seien genannt, welche bald der
einen, bald der anderen Richtung huldigend in Frankreich und England
über die intensio et remissio formarum schrieben: ein Antonius An-
dreas^) f 1320, ein Armand von Beauvoir*) f 1334, ein Wal-
ter Burlei gh^) f 1337, den wir oben erwähnt haben, ein Petrus
Aureolus*^) f nicht vor 1,345, ein Wilhelm Occam'^ f 1347,
ein Johann Baconthorp^) f 1346. Der zuletzt Angeführte hat
in Oxford und Paris Philosophie und Theologie studiert, hat in Paris
mit einer Entschiedenheit, die in dem Beinamen des Doctor resolutus
(S. 113) sich geltend machte, seine Lehrmeinungen verfochten, sowohl
über die eine nur gradweise verschiedene Form, als auch auf einem
anderen nicht weniger dornenvollen Gebiete. Glaubte er doch weder
1) Prantl, Gesch. Log. III, 202 und 222. ^) Ebenda EI, 263. =*) Ebenda
III, 281. ") Ebenda III, 309. ^) Ebenda III, 297. ^) Ebenda IH, 327.
') Ebenda III, 361. ») Ebenda III, 318 und Suter, Math. Univ. S. 49.
122
46. Kapitel.
all Sterndeutung nocli au Zauberei uud schrieb gegeu beide. Nach
Eugland zurückgekehrt wurde er Provinzial des Karmeliterordeus.
Unter den Schriftstellern, welche über das Wachsen und Ab-
nehmen der Formen sich äusserten, hätte vielleicht schon im 45. Kapiel
Roger Baco genannt werden müssen, für welchen eine Handschrift
eine derartige Abhandlung in Anspruch zu nehmen scheint^). Wir
müssen Gelehrten, denen die Geschichte der Logik als Forschungs-
gebiet angehört, die Beantwortung der Frage überlassen, ob so weit
zurück schon von Formen die Rede gewesen sein kann; uns will es
mehr als zweifelhaft erscheinen, und so neigen wir eher der Meinung
zu^), es sei hier eine falsche Benennung vorhanden, und der eigent-
liche Verfasser der Schrift über die Linie der Zu- und Abnahme der
Formen sei nicht Roger Baco, sondern Roger oder Johann oder
Richard Suicet oder Suisset oder Swinshed^) gewesen. Er
soll den Namen Swnished von einem Cisterzienserkloster Vinshed auf
der Insel Holy Island an der Küste von Northumberland geführt
haben, wohin er sich im Alter zurückzog. Dem Orden selbst ge-
hörte er seit 1350 an. Sein 1520 in Venedig gedrucktes, aber schon
nach einem Jahrhunderte kaum in den berühmtesten Büchersamm-
lungen aufzufindendes Hauptwerk führt den Titel Calculator, woraus
Manche einen Beinamen des Verfassers gemacht haben. Vom Rechnen
ist trotz des Titels keine Rede. Dagegen heisst die Ueberschrift
gleich des 1. Kapitels: De intensione et remissione, woraus ein Schluss
auf den allgemeinen Inhalt sich ziehen lässt. Im 2. Kapitel De diffor-
mibus, ein Wort, dessen Bedeutung uns bald klar sein wird, befinden
sich zwei Zeichnungen (Figur 24 und 25), die wir allerdings nicht
A medium non qualificativum.
Fig. 24.
B medium qualificativum.
Fig. 25.
') Suter, Math. Univ. S. 49 Note 1 sagt hierüber: der Catalogiis Uhr.
mspt. Angl. et Hib. (2.Th. pag. 55) enthält unter den Mss. des Colleg. Corp. Christ.
ein solches mit Nro. 254 Vol. I, 8, betitelt Bogerus Bacon, De linea intentionis
et remissionis. Der Katalog von Coxe hat Tractatus Bogeri Baconi de gradua-
tione rerum compositarum sive de linea etc. *) Suter 1. c. hat diese Meinung
ausgesprochen. =*) Vossius pag. 78. — Kästner I, 50—52. — Brucker, Hi-
storia critica philosopldae (1743) III, 849—853. — Suter, Math. Univ. S. 47.
Von den drei im Textegenannten Vornamen , die sämmtlich vorkommen, scheint
Richard der richtige zu sein.
Französische Mathematiker. 123
vollständig verstehen, welche aber immerhin nur die Deutung zu-
lassen dürften, dass gewisse Veränderungen durch Latitudines ver-
sinnlicht werden sollen. Was aber unter dem Worte latitudo seit
dem XIV. Jahrhunderte verstanden wurde, wird uns gleichfalls dem-
nächst begegnen.
47. Kapitel.
Französisclie Matliematiker.
Wir gehen nach Frankreich über. Paris war im XIV. Jahr
hunderte, was es vorher im XIII. gewesen war, die geistige Haupt-
stadt der wissenschaftlich gebildeten Welt. Die Zeit nahte, in welcher
dieses Ueberge wicht ein Ende nehmen sollte, aber sie war noch nicht
da, und wenn wir in unserer doppelt angeordneten, nach Ländern
und Jahren sich gliedernden Uebersicht mit England statt mit dem
Lande, zu welchem Paris gehört, den Anfang gemacht haben, so war
diese Abweichung von der eigentlich richtigeren umgekehrten Reihen-
folge uns durch einen einzigen Umstand empfohlen: Bradwardinus
erscheint nämlich der Zeit nach früher, als der einzige Franzose,
welcher in mathematischem Range neben ihn zu treten hat, als
Oresme.
Nicht als ob Paris, und Paris war Frankreich^), gar keinen an-
deren Mathematiker des XIV. Jahrhunderts als nur Oresme zu nennen
hätte; aber wie in England unsere Betrachtung den einen Bradwar-
dinus als Mittelpunkt anerkannte, ganz ähnlich wird sein französischer
Nebenbuhler der hervorragende Vertreter seines Vaterlandes sein.
Am Anfange des Jahrhunderts begegnet uns Johannes de
Muris^) mit seinem heimathlichen Namen Jean deMeurs, geboren
etwa 1310 in der Normandie, gestorben nach 1360. Er war ein sehr
fleissiger Schriftsteller, dem die verschiedensten Wissensgebiete, welche
damals zur Mathematik mit eingerechnet wurden, zum Danke ver-
pflichtet sind. Er schrieb eine Arithmetik nach Art der gleich-
benannten Schrift des Boethius, wie wir vermuthen dürfen, für solche.
*) Darin macht uns nicht irre, dass nach einer Handschrift der Bodley.
Bibl. Toulouse als vorwiegend mathematische Universität gerühmt wird. Wie
Suter, Math. Univ. S. 36 bei Anführung jener Handschrift mit Recht bemerkt,
ist von mathematischen Leistungen in Toulouse nicht das Mindeste bekannt.
*) Poggendorff H, 132. — Suter, Math. Univ. S. 43. — Alfr. Nagl, Das
Quadripartitum des Joannis de Muris und das praktische Rechnen im XIV.
Jahrhundert. Zeitschr. Math. Phys. XXXIV, Supplementheft S. 135—146.
124 47. Kapitel.
denen die Arithmetik des Jordanus zu schwer war, und die Bearbeitung
des Johannes von Muris, welche auch 1515 im Drucke erschien, blieb
Jahrhunderte lang ein vielgebrauchtes Schulbuch^). In der Musik
vervollkommete er die Noten, indem er die Stufenzeichen mit Zeit-
zeichen versah^); die Abhandlung Speculum musicae stammt aus dem
Jahre 1321. Von einem theils in Versen, theils in Prosa geschrie-
benen Werke: Quadriparütum rimatum sind mehrere Handschriften
erhalten, darunter eine aus dem XIV. Jahrhundert selbst, also der
Lebenszeit des Verfassers sehr nahestehend. Aus dieser in Wien be-
findlichen Handschrift sind zwei Kapitel, das 11. und 14. des IL Buches,
im Drucke veröffentlicht^). Darnach scheint das Quadripai-titum unter
Anderem auch das Rechnen mit ganzen Zahlen gelehrt zu haben,
wobei die Unterstützung des Rechners durch ein Rechenbrett an
Zeiten erinnert, welche damals doch schon recht weit zurück lagen.
Beim Multipliciren soll beachtet werden, in welchen Kolumnen, etwa
der ÄJj*®"^ und \*'^^, die beiden Factoren sich befinden. Die Einer des
Productes kommen dann in die \ + Jc^ — 1*^ Kolamne. Aber ausser
der Stelle ist auch die eigentliche Ziffer zu beachten nebst ihrer Ver-
änderung bei Vereinigung der einzelnen Theilproducte, und dazu
dient eben das Rechenbrett (tabula numerorum quam abacus adin-
venit) die Erfindung von Abacus*), aus welchem Worte hier ein
Personennamen geworden ist, wie es anderwärts mit Algebra (Bd. I,
S. 672) ungefähr um die gleiche Zeit geschah. Das Rechenbrett be-
steht bis aus 27 Kolumnen (Bd. I, S. 837), doch begnügte Johannes
de Muris sich damit, neun solcher Kolumnen zu benutzen, welche er
oben durch einen kleinen Bogen, arcus, abschliesst. Er schreibt dabei
in die Bogen, rechts anfangend und nach links fortschreitend, die
Zahlen 1 bis 9 und unter jeden Bogen von oben nach unten fort-
schreitend die Zahlen 1 bis 9, welche folglich in jeder Kolumne
schon geschrieben vorhanden sind. Wird nun beispielsweise 365 mit
24 vervielfacht^), um zu erfahren, wie viele Stunden in einem Jahre
enthalten sind, so soll man so verfahren. 2 mal 3 sind 6 und zwar
in der 2 -f- 3 — 1 = 4*®'^ Kolumne. Man nimmt einen Rechenstein
(calculus) und bedeckt damit die 6 der 4. Kolumne. 2 mal 6 sind 12.
Man bedeckt die 2 der 3. Kolumne mit einem neuen Rechenstein,
hebt den über der 6 der 4. Kolumne auf, weil sie mit 1 zu vereinigen
ist, und bedeckt die 7. 2 mal 5 sind 10. Man hebt den Rechen-
steiu über der 2 der 3. Kolumne auf und bedeckt dafür die 3 der
') Günther, Unterricht MitteLi. S. 183, Note 1. ^) Poggendorff 1. c.
•■') Nagll. c. hat die Veröffentlichung unter Vorausschickung einer kurzen Ein-
leitung besorgt. ^ Ebenda S. 140 und 144. '") Ebenda S. 145.
Französische Mathematiker. 125
gleichen Kolumne, weil eine 1 dort hinzukam. So liegen jetzt die
beiden Rechensteine der Art, dass sie 7300 bedeuten. Nun wird die
Darstellung kürzer^). Man soll mit der zweiten und letzten Stelle
des Multiplicators 4 — denn mehr Stellen sind eben nicht vorhanden —
den ganzen Multiplicandus der Reihe nach vervielfachen. Zuletzt
werde 8760 erscheinen, wenn man sich die Rechensteine ansehe,
welche über den Zahlzeichen liegen^). Im Folgenden wird alsdann
eine kurze Anweisung gegeben, wie man 8760 durch 24 dividiren
solle. Auch hier zerfällt das Verfahren in zwei Theile; man fragt
nach der Kolumne, in welcher die Quotientenziffer zu erscheinen hat
und nach der Quotientenziffer selbst; beim Abziehen der Theilproducte
bedient man sich wieder der zu verschiebenden Rechensteine. Der
Gegensatz gegen die ältere Benutzung von mit Zahlzeichen versehenen
Rechensteinen, während jetzt die Zahlzeichen in jeder Kolumne vor-
räthig erscheinen und die Steine selbst ohne Bezeichnung sind, ist
sehr bemerkenswerth. In der Frage der nothwendigen Verbesserung
des Kalenders ist Johannes de Muris als einer der Ersten, und wenn
die Angabe von Baco's Vorgang auf diesem Gebiete (S. 96) unzu-
verlässig sein sollte, als der Erste überhaupt zu nennen, der 1337 mit
bestimmten Vorschlägen hervortrat"), die dahin gipfelten, man solle,
um den wirklichen und den kalendermässigen Frühlingsanfang in
Uebereinstimmung zn bringen, etwa 40 Jahre lang die Schalttage
ausfallen lassen.
Hierbei sei gelegentlich bemerkt, dass für Johann von Muris
gleich wie für die Uebrigen, welche die Kalenderverbesserung von
nun an dringender und immer dringender verlangten, zunächst kein
wissenschaftlicher Grund der bestimmende war. Ob Sommer und
Winter in vorauszusehender Frist in kalendermässigem Gegensatze zu
den wirklichen Jahreszeiten erscheinen würden, das kümmerte diese
Männer viel weniger, als die Sorge, es könne, wenn man aufhöre,
darauf zu achten, dass Ostern stets auf die Zeit des Vollmondes falle,
irgend einmal auf Charfreitag eine Sonnenfinsterniss eintreten, und
es möchte dann die wunderbare Sonnenfinsterniss beim Kreuzestode
des Heilandes, von welcher der Evangelist berichtet, für eine natür-
liche erklärt werden. Auch der Umstand, es könnten durch die Un-
richtigkeit des Kalenders die gebotenen Fasttage nicht eingehalten
werden, wirkte auf die Gemüther und erklärt eine bis zur Erregung
*) Sicut de ultima figura multiplicantis in omnes multixUicandi iam operatus
sum, sie de alia id est prima multiplicantis, cum plures modo non sint, in aliarum
singulas operubor. ^) aspectis calculis super mimeros situatis. ^) Schubring,
Zur Erinnerung an die gregorianische Kalenderreform (1883) S. 7, wo auch die
Quelle für unsere Darstellung der Gründe der Kalenderreform ist.
126 ^7. Kapitel.
sich steigernde Sorge um Abstellung des einmal erkannten Miss-
standes. Waren es sonach kirchliche Bedenken, die zur Kalender-
reform führten, so waren es andere kirchliche Bedenken, die sich dem
Verlangen widersetzen Hessen. Man fürchtete, es möchten nach ge-
troffener Veränderung die alten Messbücher nicht mehr zu benutzen
sein, und es brauchte zwei und ein halb Jahrhunderte, bis diese
Furcht durch Aufstellung eines vollständigen für denkbare Zeit aus-
reichenden Reformplanes beseitigt war.
Hier dürfte die richtige Stelle sein, einen schwedischen Magister
Sunon, vielleicht richtiger Sven^), zu erwähnen, der ohne der Pa-
riser Universität anzugehören sich 1340 erbot, in seiner Wohnung
über die Sphäre zu lesen. Im Anschlüsse an diesen aber nennen wir
auch gleich einen Norweger des XIV. Jahrhunderts, mag er nun
irgend eine Zeit in Paris zugebracht haben oder nicht. Es ist
Hauk Erlendssön^), geboren um 1264, f 1334, ein richterlicher
Beamter, welcher einen Algorismus geti-eu nach dem Muster des von
Johannes von Sacrobosco verfassten zusammengestellt hat, der nur
darin eine Abweichung zeigt, dass am Schlüsse die neun ersten Quadrat-
Lind Kubikzahlen angegeben sind, sowie platonisch-naturphilosophische
Erörterungen über die Beziehungen der vier Elemente zu den Zahlen
8, 12, 18, 27.
Johannes de Lineriis^) würden wir bei der trostlosen Menge
von Unsicherheiten, die sich an diesen ;Namen knüpfen, am liebsten
gar nicht zur Rede bringen. War er ein Picarde, ein Deutscher, ein
Sicilianer? Muss man einen Lehrer Johannes de Liveriis von
seinem Schüler Johannes de Lineriis (de Ligneres) unter-
scheiden? Gehörten beide im XIV. Jahrhunderte dem Pariser Lehr-
körper an? Das sind die Hauptfragen, welche bald so, bald so ent-
schieden worden sind*). Die meisten Schriften dieses Mannes, oder
wahrscheinlicher dieser Männer sind astronomischen Inhaltes, haben
also für uns unberücksichtigt zu bleiben. Gedruckt wurde 1483 eine
Schrift des Johannes de Liveriis über Brüche^). Zahlreiche Hand-
schriften nennen freilich den Verfasser des Algorismus de minutiis
Johannes de Lineriis, so dass der Titel des Druckes irrig zu sein
scheint. In einer Erfurter Handschrift ist der Verfasser genauer als
^) Günther, Unterricht Mittela. S. 206. ^) Eneströmin seiner Bihlio-
theca mathematica 1885, S. 199. ^) Libri II, 210 und 528. — Steinschneider
im Bulletino Boncompagni XU. — Günther, Unterricht Mittela. S. 169 — 171. —
Suter, Math. Univ. S. 42 und 46, Note 6. *) M. Steinschneider, der die
letzten eigenen Untersuchungen über den sehr verworrenen Gegenstand angestellt
hat, entscheidet sich dafür, es seien zwei Persönlichkeiten in eine verschwommen.
^) Bulletmo Boneompagni XII, 41 sqq.
Französische Mathematiker. 127
Johannes de Lineriis Anbionensis bezeichnet, wodurch die
französische Heimath dieses Schriftstellers und seine Verschiedenheit
von einem Johannes de Lineriis aus Sicilien gesichert ist^). Ausser-
dem ist ^ine in Oxford vorhandene Tabula sinus Mag. Joh. de Lig-
neriis namhaft zu machen, weil sie den bis jetzt einzigen Beleg dafür
bildet, dass auch in Paris im XIV. Jahrhunderte die Trigonometrie
nicht unbekannt war.
Eine zu Seitenstetten aufbewahrte Handschrift aus dem XIV.
Jahrhunderte mit der Bezeichnung Cod. LXXVII enthält einen ano-
nymen Algorismus de minutiis, d. h. also einen Lehrgang der Bruch-
rechnung, welcher sich durch eine sonst nirgend wahrgenommene
Erörterung auszeichnet^). Der Verfasser bemerkt nämlich, das Kenn-
zeichnende der Sexagesimalrechnnng bestehe nicht in der Zahl 60,
sondern in der systematischen Anordnung. Man könne statt 60 auch
10 oder 12 und dergleichen benutzen, und 60 sei der grossen Anzahl
seiner Theiler wegen gewählt.
Dominicusde Clavasio^), gewöhnlich nach seiner Heimath Do-
minicus Parisiensis genannt, war in der zweiten Hälfte des
XIV. Jahrhunderts Hofastrolog des Königs von Frankreich. Er
schrieb eine Practica Geomctriae in drei Büchern, welche sich in
zahlreichen Abschriften erhalten hat. In Erfurt allein sind deren
vier, von welchen eine aus dem Jahre 1378. Das I. Buch be-
handelt Längenmessungen, das IL Flächenberechnungen, das III.
Körperinhalte. Dominicus bedient sich in Quadratform gebrachter
Messwerkzeuge für Winkel, beziehungsweise deren trigonometrische
Tangenten (S. 112j. Seine Verfahren sind vielfach die altherge-
brachten, die Gerbert schon übte (Bd. I, S. 812 — 814), aber Domi-
nicus begnügt sich nicht mit Vorschriften, sondern fügt Beweise
hinzu, in welchen Verweisungen auf Euklid vorkommen. Er weiss,
dass der Kreisumfang nur näherungsweise Sy, Durchmesser beträgt
(yel ea circa), er weiss, dass auch von einer Quadratur des Kreises
nur soweit die Rede sein kann, dass kein merklicher Fehler bleibt
(ifa qiiod error sensibilis non relinquatur). Soll die Fläche eines un-
gleichseitigen Dreiecks auf dem Felde bestimmt werden, so schlägt
Dominicus vor, man solle ein ähnliches Dreieck auf eine Tafel oder
eine Wand (in tabulis suis vel in pariete) entwerfen, dessen Fläche
mit Hilfe einer auf der Zeichnung gemessenen Höbe berechnen und
') M. Curtze in Zeitschr. Math. Phys. XL, Histor.-liter. Abtlg. S. 161 Note.
^) Curtze brieflich. =*) Curtze brieflich unter beigefügter Hinweisung auf
Bulletino Boncompagni VIT, 3.50 Note, wo eine Perspective eines Magister de
Clavasio genannt ist.
128 17. Kapitel.
sich danu durch Proportionen helfen. Wie das ähnliche Dreieck
herzustellen sei, ob aus den Seitenlängen, oder ob Dominicus gar an
eine dem späteren Messtische verwandte Vorrichtung dachte, ist nicht
angegeben. Jedenfalls erkennen wir in Dominicus de Clav^sio einen
für seine Zeit hervorragenden Mathematiker.
Wir gelangen zu Nicole Oresme^) (ungefähr 1323 — 1382).
Der Name kommt in sehr verschiedenen Formen vor, z. B. Orem,
Horem, Hören; auch für den Vornamen findet man mitunter Jean
statt Nicole oder Nicolas. Ob Oresme, wie eine Ortssage berichtet,
in dem Dörfchen AUemagne bei Caen, ob in Caen selbst geboren ist,
steht nicht fest. Jedenfalls kommt der Name Oresme in Urkunden
der Stadt Caen zu sehr verschiedenen Zeiten vor, im XIV. und noch
im XVII. Jahrhunderte. Im Jahre 1348 trat Oresme in das College
de Navarre in Paris ein, dem er bis 1361 angehörte, zuerst als
Schüler, dann als Lehrer, zuletzt als Vorsteher. Da die Schüler der
Regel nach zwischen dem 20. und 30. Lebensjahre standen, so hat
mau daraus auf das etwaige Geburtsjahr des Oresme schliessen können.
Auch ein Datirungsversuch einiger Schriften ist versucht worden.
Nach den Satzungen des College de Navarre durfte kein Angehöriger
desselben in anderer Sprache als in der lateinischen schreiben, daher
müssen französische Schriften des Oresme nach 1361 entstanden sein,
während natürlich die umgekehrte Folgerung, alle seine lateinischen
Schriften müssten vor 1361 zurückgreifen, nicht gezogen werden darf.
In dem genannten Jahre wurde Oresme zum Decan der Kirche zu
Ronen ernannt und musste trotz anfänglichen Widerstrebens seinen
Wohnsitz dort nehmen. Dort trat er in Beziehung zu Karl V. dem
Weisen von Frankreich, der 1337 geboren und seit 1356 Regent, nicht
Oresme's Schüler gewesen sein kann, wie man sonst annahm. Auf
Veranlassung des Königs übersetzte Oresme mehrere aristotelische
Schriften aus den schon vorhandenen lateinischen Uebersetzungen
in's Französische. Seine Ausdrucksweise in dieser letzteren Sprache
wird sehr gerühmt. Auch sein Latein war vorzüglich, und eine Pre-
digt, welche er am Weihnachtsabend 1363 in Aviguon hielt (the
^) Max. Curtze hat diesen Mathematiker so gut wie neu entdeckt und
ihm drei Abhandlungen gewidmet, welche wir als Curtze, Oresme I, II, III
citiren werden. I. Der Alfjorismus Proportionum des Nicolaus Oresme zimi ersten
Male nach der Handschrift R. 4". 2 der Gymnas. -Bibliothek zu Thom heraus-
gegeben (1868). IL Zeitschr. Math. Phys. XIII, Supplementheft S. 92—97. HI. Die
mathematischen Schriften des Nicole Oresme (1870). — Ein Commentar des
Oresme zu den Meteorologica des Aristoteles, welchen H. Suter in der Stifts-
bibliothek zu St. Gallen entdeckte und Zeitschr. Math. Phys. XXVII, Hist.-liter.
Abthlg. S. 121 — 125 zum Theil bekannt machte, scheint sehr interessant für die
Geschichte der Physik zu sein.
Französische Mathematiker. 129
Veranlassung seines Aufenthaltes dort ist unbekannt), und in welcher
er schonungslos die Schwächen und Fehler des Papstes und seiner
Cardinäle geisselte, wird als nach Form und Inhalt vollendet be-
zeichnet. Ein zweiter Aufenthalt in Avignon von 1366 ist unwahr-
scheinlich. Den gleichen Muth wie in der erwähnten Predigt legte
Oresme in einer 1374 verfassten Schrift gegen Astrologie und Zeichen-
deuterei an den Tag, den gleichen in einer vielleicht derselben Zeit
entstammenden Schrift gegen die Bettelorden. Am 16. November
1377 wurde Oresme, unterstützt von dem König, zum Bischof von
Lisieux gewählt. Als solcher starb er am 11. Juli 1382. Wann der
französisch geschriebene Traite de la sphere verfasst ist, lässt sich
ausser durch die nothwendige oben begründete Begrenzung auf die
Zeit nach 1361 nicht bestimmen. Das in 50 Kapitel zerfallende
Werk gehört überdies seinem Inhalte nach nicht hierher, abgesehen
davon, dass es wesentlich Neues, was nicht auch schon in dem ähn-
lich betitelten Werke Sacrobosco's (S. 87) gestanden hätte, kaum
gebracht zu haben scheint. Neu war nur die Sprache, diese aber
mustergiltig für alle Zukunft, so dass heute noch die französischen
Kunstausdrücke der Sternkunde und der Erdbeschreibung fast durch-
gängig die von Oresme eingeführten sind.
Unter Oresme's mathematischen Schriften nennen wir zuerst den
Tractatus de latitudinibus formarum. Ob er vor 1361 ge-
schrieben wurde, während Oresme Lehrer am College de Navarre
war, ob die noch zu nennenden mathematischen Schriften aus dem
gleichen Zeiträume stammen, lassen wir dahingestellt. Sicher ist,
dass dieses Werk einen mächtigen Lehreinfluss übte, dass es 1482,
1486, 1505, 1515 im Drucke erschien mit einer Raschheit der Auf-
einanderfolge dieser Ausgaben, welche die Häufigkeit der Benutzung
verbürgt. Oresme selbst legte offenbar dem Gegenstande nicht ge-
ringere Wichtigkeit bei, da er ihn noch einmal, und wie es scheint
ausführlicher in einem handschriftlich gebliebenen Tractatus de
Uniformitate et difformitate intensionum behandelte^). Der
Anfang dieses erweiterten Werkes lautet: „Bei Ordnung der Erzeug-
nisse der Einbildungskraft der Alten oder meiner eigenen über Gleich-
artigkeit oder Ungleichartigkeit der messbaren Naturerscheinungen
begegnete mir einiges Andere, was ich mit hinzuzog." Wer sind
die Alten, veteres, welche Oresme hier unzweideutig als seine Vor-
gänger bezeichnet? Man hat die Worte auf arabische Schriftsteller
^) Curtze, Oresme III, 11—13 besonders S. 12 Z. 6—8: Cum ymacjinacio-
nem veterum vel meam de uniformitate et difformitate intensionum ordinäre in-
cejnssem occurerunt mild quaedam alia que huic proposito interieci.
Cantoij, Geschichte der Mathem. 11. 2. Aufl. 9
130 47. Kapitel.
deuten wollen^). Wir können uns dieser Meinung nicht anschliessen,
so lange der logische BegriiF der forma noch nicht bei Arabern nach-
gewiesen worden ist, wenn wir auch anerkennen, dass Oresme ihm
zeitlich so nahe stehende Männer, wie etwa einen Suicet, gewiss
nicht als „Alte" bezeichnet haben wird. Wir haben bei unserer
Wiedergabe der Anfangsworte einer freieren Uebertragung uns be-
dienen zu dürfen geglaubt, als da wir (S. 120 — 121) den Spuren des
Formbegriffes nachgingen, aber dass wir dem Sinne treu geblieben
sind, ist aus jenen Auseinandersetzungen und nicht weniger aus dem
zu erkennen, was bei Oresme an jene Anfangsworte sich anschliesst.
Dort heisst es ungefähr-), dass das Ausmaass der Erscheinungen
(latitudines formarum) vielfältigem Wechsel unterworfen sei, und
dass solche Vielfältigkeit nur sehr schwer unterschieden werde, wenn
ihre Betrachtung nicht auf die von geometrischen Figuren zurück-
geführt sei. Das klingt fast ebenso, als wenn ein Schriftsteller
unserer Tage verspricht, den Verlauf gewisser Erscheinungen durch
eine Zeichnung zu versinnlichen, und thatsächlich ist es auch das
Gleiche. Ausser der latitudo kommt regelmässig eine longitudo
vor, welche das vorstellt, was wir heute Abscisse nennen, während
die Latitudo unserer Ordinate entspricht. Als Länge wird nämlich
die eine Grösse z. B. die Zeit aufgetragen, welche bei den in Frage
stehenden Erscheinungen als veränderlich auftritt, und senkrecht zu
der Länge als Breite zeichnet man das an jenen Erscheinungen als
messbare Menge sich Aeussernde, z. B. die Wärme. Der Unterschied
auf einander folgender Breiten heisst gradus latitudinis. Wo gar
keine Breite vorhanden ist oder, wie man heute sagen würde, wo
die Ordinate Null ist, spricht man von nou gradus, wo sie eine be-
stimmte Ausdehnung besitzt, von certus gradus. Die Erscheinung
kann nun entweder als unveränderliche sich zeigen, die latitudo ist
uniforntis eiusdem gradus per totmn, bleibt einförmig von der gleichen
Ausdehnung über die ganze Länge hin, oder aber die Erscheinung
ist eine veränderliche, die latitudo ist difformis per qppositum, miss-
förmig durch den Gegensatz. Die latitudo secundum se totam dif-
formis zeigt als Verbindung der Endpunkte aller Breiten eine auf-
oder abwärts gerichtete krumme oder grade Linie, die latitudo secun-
dum partem difformis besitzt als solche Verbindung theilweise eine
der Längenlinie parallele Gerade. Die Veränderlichkeit der Breite
kann dieselbe als uniformiter difformis oder als difformiter difformis
1) Suter, Math. Univ. S. 48—49. -) Curtze, Oresme 11, 92: Quia for-
marum latitudines multipliciter variantur et multiplicitas difficilUme discernitur
nisi ad figuras geometrlcas consideratio referatur etc.
Französische Mathematiker. 131
erscheinen lassen. Im ersten Falle ist der excessus graduum, welcher
die Veränderlichkeit niisst, immer derselbe, im zweiten nicht; im
ersteren Falle liegen, würden wir sagen, die Endpunkte der Breiten
auf einer geneigten Geraden, im zweiten auf einer eigentlichen Curve.
Unter der letzteren Voraussetzung können die excessus graduum,
welche also hier ungleich sein müssen, eine arithmetische Progression,
die latitudines selbst also eine arithmetische Reihe zweiter Ordnung
bilden. Oresme benennt diese latitudines als uniformiter difformiter
difformes und giebt als Beispiel 0, 1, 2, 4, 7, 11, 16, 22, 29, 37, 46,
56, 67, 79, wobei allerdings der Anfang mit 0 statt mit 1 als irrig
erscheint. Diese Erläuterungen sind wohl geeignet rückwärts einiges
Licht auf die Figuren 24 und 25 zu werfen, welche wir (S. 122)
Suicet entnahmen. Wir verstehen jetzt ihr Vorkommen in einem
Kapitel, welches die Ueberschrift De diff'ormihus führt. Noch einen
Kunstausdruck Oresme's haben wir zu erörtern, die figura. Sie wird
gebildet durch zwei latitudines, das Stück longitudo, welches zwischen
ihnen sich findet, und die Verbindungslinie der Endpunkte aller
latitudines. Diese figura wird zum mindesten zwei Winkel besitzen,
wenn sie mit einem non gradus beginnt und mit einem eben solchen
aufhört, z. B. wenn sie aus der Längenlinie und einem Kreisbogen
besteht, welch letzterer nicht grösser als der Halbkreis sein darf,
eine ganz natürliche Einschränkung, ohne welche Curvenpunkte auf-
treten würden, deren Längen rückwärts vor dem Anfange der Längen
sich befinden müssten, während von solchen negativen Abscissen, um
wieder den heutigen Ausdruck zu benutzen, keine Rede sein kann.
Oresme hat den ganzen Gegenstand in drei Abschnitten be-
handelt und dabei die auftretenden Figuren geschildert. Zuletzt er
geht er sich in einigen Bemerkungen^), auf welche wir besonders
aufmerksam machen müssen, wenn wir auch nicht wissen, ob Oresme
selbst grosses Gewicht auf sie gelegt hat. Wird die Figur durch
einen Kreisabschnitt gebildet, welcher, wie wir sahen, nicht grösser als
der Halbkreis sein darf, so wächst in ihr die latitudo vom Anfang
bis zur Mitte und nimmt dann wieder bis zum Ende ab. Bei einer
solchen Figur ist die Aenderung der Geschwindigkeit
des Wachsens und Fallens am obersten Punkte am lang-
samsten, dagegen ist die grösste Geschwindigkeit der Zunahme,
beziehungsweise der Abnahme, am Anfang und am Ende der Figur
vorhanden. Das Verhältniss zwischen Form und Form ist
dasselbe wie zwischen den entsprechenden Figuren.
Unser nothdürftiger Auszug wird, denken wir, die Tragweite der
1) Curtze, Oresme II, 96.
132 47. Kapitel.
Untersuchungen des Oresme und seiner Vorgänger, gleichviel wer sie
waren, und wie viel einem Jeden angehört, erkennen lassen. Wir
sehen hier eine curvenmässige Darstellung des Verlaufes von Natur-
erscheinungen vor uns. Wir sehen die Anwendung von Coordinaten,
d. h. von gewissen in allen Fällen gleichmässig benutzten, an sich
willkürlichen Linien, welche also keineswegs jenen Hilfslinien zu
vergleichen sind, deren die griechischen Geometer des grossen Jahr-
hunderts, die Archimed und ApoUonius, sich bedienten. Wohl haben
auch jene gewisse Hilfslinien in einer ganzen Anzahl von Beweis-
führungen gezogen und dadurch die Beweise gleichmässiger zu machen
gewnsst, aber es waren Linien, die den Curven, um deren Eigen-
schaften es sich handelte, schon angehörten, welche zweckmässig
auszuwählen eine Entdeckung genannt werden mag, keine Erfindung
war. Nur die geographische Länge und Breite kann als Vorbild
gedient und die Wahl der Kunstausdrücke beeinflusst haben. Haben
wir bis hierher verhüten wollen, dass man das Neue an den latitu-
dines unterschätze, so ist nicht minder vor Ueberschätzung zu warnen.
Die Lehre von den latitudines ist keineswegs der Methode der späteren
analytischen Geometrie gleich zu achten. Ihr fehlt das Entscheidende
jener Methode: neben der begrifflichen Uebereinstimmung zwischen
analytischer Formel und geometrischer Form die Möglichkeit von der
Einen zur Anderen überzugehen, in welcher Richtung man wolle,
und auch nachdem gewisse Zwischenschlüsse nur innerhalb der einen
Vorstellungsreihe vorgenommen wurden. Auch die zuletzt oben im
Drucke hervorgehobenen Stellen ändern nichts an dieser Beschränkung.
Oresme's Augen offenbarte sich die Wahrheit des Satzes, den man
300 Jahre später in die Worte kleidete: an den Höhen- und Tief-
punkten einer Curve sei der Differeutialquotient der Ordinate nach
der Abscisse Null; dass er ihn bewiesen, nur nach einem Beweise
sich umgethan hätte, davon ist keine Spur zu entdecken, und erst
mit dem Beweise wurde das scharfsinnige Sehen zum tiefsinnigen
Verstehen. So ist uns die Methode Oresme's eine Vorläuferin der
analytischen Geometrie. Sie wird den Erfindern derselben, wenn sie
ihnen bekannt war, die wesentlichsten Dienste geleistet haben, min-
destens eben so wesentliche als das Studium der griechischen Curven-
lehre, wenn auch von ganz anderer Seite her, aber eine Erfindung
blieb noch immer zu machen.
Eine weitere mathematische Abhandlung^) Oresme's, welche 1505
in Venedig zugleich mit dem Tractatus de latitudinibus im Drucke
erschien, ist der Tractatus proportionum. Wir können rasch
^) Curtze, Oresme III, 4—6.
Französische Mathematiker. 133
an ihm vorübergehen, da sein Inhalt ein längeres Verweilen zu be-
anspruchen nicht angethan ist. Es handelt sich um Addition und
Subtraction von Verhältnissen, den bekannten Kunstausdrücken, statt
deren richtiger von Multiplication gesprochen worden wäre, da sie
a : & mit c : d vereinigend ac :hd hervorbringen und nur darin sich
unterscheiden, dass die zu vereinigenden Verhältnisse das eine Mal
beide direct oder beide indirect sind, das andere Mal Eines direct
und Eines indirect. Dergleichen Ausdrücke hat sich Jordanus im
fünften Buche seiner Arithmetik bedient, während der Anhang zum
Algorithmus demonstratus (S. 67), wie wir hier bei passenderer Ge-
legenheit ergänzen wollen, eine andere Redewendung gebraucht und
nur von einer Proportion spricht, die aus zwei anderen zusammen-
gesetzt ist^). Dann kommen bei Oresme mittlere Proportionalen zur
Rede, hierauf Verhältnisse von Verhältnissen, endlich in den drei
letzten Kapiteln Verhältnisse von Bewegungen überhaupt und Be-
wegungen der Himmelskörper, sowie die gegenseitige Messbarkeit
solcher Bewegungen.
, Ein Werk von ganz anderer wissenschaftlicher Bedeutung ist der
Algorismus proportionum ^). Drei Abschnitte bilden den-
selben. Der 1. Abschnitt beginnt mit Definitionen, was man unter
halbem, doppeltem, anderthalbfachem u. s. w. Verhältnisse verstehe.
Die Bedeutung ist die der Quadratwurzel, des Quadrates, der Quadrat-
wurzel aus dem Kubus u. s. w. unter einer bestimmten, wenngleich
nirgend ausgesprochenen Voraussetzung, dass nämlich das Vorderglied
grösser sei als das Folgeglied. Im entgegengesetzten Falle ist nie
von proportio, sondern nur von fractio die Rede. So ist z. B.
4^ = 64, 1/64 = 8, also steht 8 zu 4 in anderthalbfachem Verhält-
nisse. Heute schreibt man 8 = 4", Oresme schrieb
1^1 4 oder It^ 4.
Er war somit der Erfinder der Potenzgrössen mit gebroc^'henen
Exponenten und einer Bezeichnung derselben, welche der viel
später eingeführten Schreibweise, deren man heute sich bedient, dem
Begriffe nach gleichkommt. Ein Verhältniss zweier ganzer Zahlen,
die als solche gegeben sind, z. B. 13 : 9, wobei die erste Zahl die
zweite um — übertrifi't, ist rational^). Irrational ist ein Ver-
*) Si proportio primi ad secundum constituitur ex proportione tertii ad
quartum et quinti ad sextum. *) Der erstmalige Abdruck der in zahlreichen
Abschriften erhaltenen Abhandlung bei Curtze, Oresme I. ^) Et quecunque
134 47. Kapitel.
hältniss, bei welchem ein gebrochener Exponent auftritt. Wir haben
(S. 117) Bradwardinus im Besitze dieses Wortes gesehen, und wenn
es sich auch weder bei Bradwardinus noch bei Oresme um das Erst-
lingsrecht der mathematischen Benutzung von irrational handelt, so
lässt das doppelte Vorkommen eine sehr rasche Verbreitung ver-
muthen. Neue Regeln lehren nun das Rechnen mit rationalen sowie
mit irrationalen Verhältnissen. Addition und Subtraction der Ver-
hältnisse in dem Sinne, wie jene auch im Tractatus proportionum
vorkommen, bilden die beiden ersten Regeln. Die dritte RegeP)
lässt gleich den übrigen sich nur sehr schwer aus ihrem Wortlaute
verstehen, während die überall vorhandenen Zahlenbeispiele den wenn
auch nicht mühelos zu benutzenden Schlüssel in die Hand geben.
Setzt 2) z. B. die dritte Regel 4-' = (4^)^= 16^, so ist der Zusatz,
genau so müsse man bei anderen Zahlen verfahren, sicherlich mit
dem Sinne verbunden
(«»)"',
wozu die Folgerung sich noch beifügt^), es sei [a'P =^ ci' und all-
gemein
(.^)S
Ohne dem Texte weiter genau uns anzuschliessen, begnügen wir uns
mit der Angabe der sechs übrigen Regeln in den Zeichen heutiger
Buchstabenrechnung :
p 1 1
ycT)'^ = \a"'y = \«'V * -unter der Voraussetzung — = — ,
h" = {a" -h)" ,
1
a
1
p
poHio rationalis scribitur per suos terminos sev numeros ininwws, sicut dicitur
proportio. 13. ad. 9. qiie vocatur supopartiens quatuw nonas.
^) Si proportio irrationalis fuerit partes alicuius rationalis, ipsam possibile
est partem notare. *) Proponatur propoHio, que sit due tertie quadruple; et
quia duo est numerator, ipsa erit una tertia quadruple duplicate seu sedecuple,
et sie de aliis. ^ I)u£ tertie suhduple proportionis sunt una tertia duple. Et
sie de quihuslihet partibus.
Französische Mathematiker. 135
und unter Anwendung dieses Satzes
a^.h" = {aby.
Das Zahlenbeispiel ^) zur Regel a ■ h" = (^a« • 6J" lautet folgender-
massen: 2-^ . y = ( 2 • (— j j = (y)'= (*^t) ' ^^^^^^ ^^^S^ sich
in diesem ganzen Abschnitte einestheils als bewandert in der Arith-
metik des Jordanus, auf welche er gleich bei der ersten Regel sich
beruft, und der er in der Anwendung von Buchstaben als Vertreter
allgemeiner Zahlen nacheifert^), er geht aber anderntheils so weit
über seinen Vorgänger hinaus, dass ihm selbst erst nach mehreren
Jahrhunderten Nachfolger entstehen. Oresme fühlt auch ganz gut
das Unzutreffende in der Redewendung Addition und Subtraction von
Verhältnissen; er wendet sie nur an, weil er eben einer einmal ein-
gebürgerten Ausdrucks weise, sei sie auch falsch, entgegenzutreten für
misslich hält. Er empfindet, dass man eine Multiplication von Ver-
hältnissen zu fordern berechtigt wäre, während er keine Operation
sieht, welche dieses Verlangen erfüllte^). Verhältnisse, sagt er, kann
man nicht miteinander vervielfachen, so wenig als man die Multipli-
cation eines Menschen mit einem Esel vollziehen kann^). Der 2. Ab-
schnitt enthält Anwendungen der im 1. Abschnitte gegebenen
Regeln. Zuerst ist von dem Verhältnisse von Würfeln die Rede,
welches, um in der Sprache Oresme's zu bleiben, als das Andert-
halbfache des Verhältnisses der Grundflächen sich berechnet. Ein
Würfel a habe eine zweimal so grosse Grundfläche wie der Würfel &,
eine dreimal so grosse wie der Würfel c, dann ist a so viel wie 8^
/27\"?
von h, und h ist 1^1 von c. Das Vorkommen eines Schreib- oder
Rechenfehlers, miteis dessen h als (-';-) von c angesetzt wird, kann
kaum überraschen, da wir volles Recht haben zu zweifeln, ob der
^) Addatwr una tertia duple proportiotie sesquialtere ; continuentur ergo 3
sesquialtere cum dupla et exibit proportio seoctupla superpartiens — que est
proportio 27 ad 4. Et ista proportio sie resultans scribitur sie y • 6^ • -j- '
*) So bei der 9. Regel: si tertia pars a addatur tertie parti b exibit tertia
pars illius quod fieret ex additiotie a ad b. ^) Una vero proportio per altera m
non multiplicatur nee dividitur nisi inproprie. ^) sicut nee muUiplicare ho-
minem per asinum.
136 47. Kapitel.
Abschreiber überall verstand, fähig war zu verstehen, was er schrieb.
Aehnlich wie bei den Würfeln mit gegebenen Grundflächen ist die
Verhältnissmässigkeit bei Kugeln mit gegebenen Grösstenkreisen. Eine
musikalische Aufgabe ist folgende. Es seien h und c die Seiten
zweier Quadrate, a = c • ]/2 die Diagonale des ersten Quadrates. Nach
Boethius ^) geben über h und c gespannte Saiten Töne von einem
Halbton Unterschied, wenn a :b = 256 : 243 oder
c:h = y^ : y243"2
d.h. =]/32768 :y59Öi9. Auffallend genug ist, dass das Verhält-
niss des grösseren zum kleineren Quadrate nicht einfach als das von
59049 : 32768 bezeichnet wird, sondern als das halbe Verhältniss
(d.h. Verhältniss der Quadratwurzeln) aus 3486784401 und 1073741824.
Oresme schiebt jetzt plötzlich wieder eine Regel ein. Er nimmt als
bekannt an a :h = c : 1, ferner d = e ■ a, f=(/-b, endlich h als
Verhältniss zwischen g und e und sucht nun das Verhältniss zwischen
d und f zu bestimmen. Dabei sind drei Fälle zu unterscheiden: e = g,
6 > ö'; 9>ß- Idi ersten Falle ist d:f=^a:h sofort ersichtlich.
Im zweiten Falle ist e : g = h : 1, ausserdem a :h = c : 1 und durch
Addition (Vereinigung) der beiden letzteren Proportionen ae:hg = ch:l
d. h. d: f = ch : 1. Der dritte Fall g : c = h : 1 unterscheidet selbst
wieder die drei Unterfälle c = h, c > //, Ji > c. Ist c = h, so ist
a :h = g : e, ea ^= gh d. h. d = f. Ist c':>h, so ist a:h = c:\,
g : e = h : 1 und durch Subtraction der Verhältnisse ae : hg ^ c : h
d. h. d : f = c : li. Endlich bei Jt^ c findet die Subtraction der
Proportionen im entgegengesetzten Sinne statt, es folgt hg:ae = ]i '.c
oder f:d^^1i : c. Dem heutigen Leser wird die Nothwendigkeit der
Unterscheidung aller dieser Fälle nur dann einleuchten, wenn er sich
stets in Erinnerung hält, dass, wie oben gesagt wurde, ein Verhält-
niss nur von dem Grösseren zum Kleinereu angenommen wird, nie
umgekehrt. Anwendungen für diese Auseinandersetzung findet Oresme
in Aufgaben, welche eine Subtraction von Verhältnissen bei ihrer
Lösung erfordern. Wir übergehen ein Beispiel, welches dem Zahlen-
kampf genannten Spiele entnommen ist, ohne mehr darüber zu
sagen, als dass es immerhin bemerkenswerth erscheint, dass jenes
Spiel, über welches ein gewisser Fortolfus um das Jahr 1100 eine
Abhandlung schrieb"), auch 250 Jahre später noch in Uebung war.
Dagegen führen wir die Aufgabe an, das Verhältniss der dreifachen
^) Oresme meint, wie Curtze, Oi'esme II, 75 Note richtig bemerkt hat, die
Stelle Boethius: De institutione inusica I, 17 (ed. Friedlein pag. 204 Z. 8 — 9).
2) R. Peiper in Zeitschr. Math. Phys. XXV, Supplementheft S. 210.
Deutsche Mathematiker. 137
Diagonale eines Quadrates zu dessen vierfacher Seite zu finden. Hier
ist, wenn a die Seite, d die Diagonale bedeuten soll, 3f?:a = 3")/2 :1
neben 4a:a = 4:l, Subtraction der zweiten Proportion von der
ersten giebt 3f7 : 4«= 3"|/2 : 4 =1/--- : 1. In den beiden letzten
Aufgaben des Abschnittes handelt es sich um die Ermittelung des
Verhältnisses zweier Geschwindigkeiten, nämlich derer zweier Punkte,
die einmal die Umfange zweier Kreise von gegebenem Grössenver-
hältnisse, das andere Mal die Diagonale und die Seite eines Quadrates
in gegebenen Zeiten durchlaufen. Der 3. Abschnitt beschäftigt
sich mit regelmässigen Sehnen- und Tangentenvielecken desselben
Kreises. Derartige Dreiecke und Vierecke, Sechsecke und Achtecke
werden ihren Flächen nach in Verhältniss gesetzt. Der letzte Satz
dieser Gruppe sagt aus^), das Sehnenachteck sei mittlere geometrische
Proportionale zwischen dem Sehnen- und Tangentenvierecke, und eine
Handschrift des Algorismus proportionum fügt noch hinzu ^), was
vom Achtecke ausgesagt sei, gelte auch von anderen Figuren. Wir
erinnern uns des gleichen Satzes mit der gleichen Ausdehnung bei
Jordanus Nemorarius (S. 78). Den Schluss des Ganzen bildet eine
kürzere Untersuchung über die sogenannten Aspecten und ihre Ver-
hältnisszahlen, zeigt also Oresme als auch in astronomischen Dingen
nicht ganz unerfahren, zeigt zugleich ebenso wie die mechanischen
Aufgaben des 2. Abschnittes eine immerhin vorhandene Gedanken-
verwandtschaft zwischen dem Tractatus proportionum und Theilen
des 2. und 3. Abschnittes des Algorismus proportionum, so hoch der
letztere über dem ersteren stand. In ihm hat Oresme einen Gipfel-
13unkt erreicht, der so weit über das Vorherbekannte sich erhob, dass
gespannte Erwartung sich äussern darf, nach welcher Richtung der
nächste Fortschritt sich vollziehen werde.
48. Kapitel
Deutsche Mathematiker.
Jetzt grade trat das ein, was wir (S. 123) angekündigt haben.
Frankreich wich von der ersten Stelle, welche es wissenschaftlich
eingenommen hatte. England, das wir als nächstberechtigten Erben
zu betrachten nach den vorhergegangenen Untersuchungen allen
^) Octogonus circiüo inscriptus est medium proportionale inter quadratum
eidem circulo inscriptum et quadratum eidem circumscriptum. ^) Curtze,
Oresme I, 11 Note.
138 i^- Kapitel.
Grund haben, trat die Erbschaft nicht an. Deutschland und Italien
sind die beiden Länder, in welchen der edle Wettstreit um das Ueber-
gewicht innerhalb der Wissenschaft beginnt. Die Gründe dieser erst
im XV. Jahrhundert sich vollziehenden Wandelung liegen bereits im
XIV. Jahrhunderte und müssen hier auseinandergesetzt werden. "
Zwei grosse geschichtliche Ereignisse sind es vorzugsweise , welche
die Verschiebung der geistigen Machtverhältnisse begleiten, wenn nicht
hervorrufen. Genannt haben wir beide im Vorübergehen, und zwar
in Verbindung mit dem Xamen des grössten englischen, des grössten
französischen Mathematikers des XIV. Jahrhunderts. Von Bradwar-
dinus berichteten wir (S. 113), dass er 1340 bis 1346 König Eduard III.
auf seinen Ea-iegszügen in Frankreich begleitete, von Oresme (S. 128),
dass er 1363 in Avignon eine berühmte Predigt über oder gegen den
Papst hielt. Und nun wiederholen wir ausdrücklich, dass wir unter
den Ereignissen, welche, so fern sie wissenschaftlichen Bestrebungen
zu liegen scheinen, in der Geschichte der Mathematik eine keines-
wegs unwesentliche Rolle spielen, den englisch-französischen Erbfolge-
krieg und den vorübergehenden Aufenthalt der Päpste in Avignon
verstehen.
Philipp IV. mit dem Beinamen der Schöne war 1314 gestorben,
und der französische Thron vererbte sich auf seinen Sohn. Aber
dieser Mannesstamm erlosch 1328, und die Krone ging an die Seiten-
linie der Valois über. Eduard III. von England erhob als Schwieger-
sohn Philipp des Schönen Einsprache und verlangte, entgegen dem
in Frankreich geltenden, weibliche Erbfolge ausschliessenden, salischen
Gesetze, die französische Krone für sich. Das war der Anfang des
langwierigen, auf französischem Boden mit wechselndem Glücke ge-
führten Erbfolgekrieges, der erst 1436 mit dem Einzüge Karls VII.
in Paris als beendigt angesehen werden kann. Wogte wildes Krieges-
treiben ein Jahrhundert lang in Frankreich, so genoss England
keineswegs viel grösseren Friedens , da Kämpfe zwischen England
und Schottland in Abwechslung mit den inneren Streitigkeiten, die
man unter dem Namen der Kämpfe zwischen der weissen und der
rothen Rose kennt, das Land zerfleischten. Schiller's Jungfrau von
Orleans, Shakespeare's Königsdramen haben die Kenntniss aUer dieser
Kämpfe in weite Kreise getragen. Sie bilden die eine Gruppe von
Ereignissen, welche wir als daza angethan erwähnten, den schönen
wissenschaftlichen Anlauf zu hemmen, welchen die Geschichte der
Mathematik aus England wie aus Frankreich zu verzeichnen hatte.
Und nun die andere Gruppe von Thatsachen folgereicher Natur.
Wieder bis zu Philipp dem Schönen müssen wir zurückgreifen, zu
dessen Kämpfen mit Papst Bonifacius VIII. Bannfluch und Interdict
Deutsche Matliematiker. 139
erwiesen sich als unwirksam dem Könige sein Land zu entfremden.
Bonifacius starb 1303 moralisch besiegt. Sein Nachfolger, Benedict XL,
folgte ihm vor Jahresfrist iu's Grab, und als nun eine französische
Partei unter der hohen Geistlichkeit die Wahl des Bischofs von
Bordeaux zum Papste als Clemens V. durchsetzte, verlegte dieser 1305
den Sitz der päpstlichen Gewalt nach Avignon. Nur Franzosen
wurden 70 Jahre lang zu Päpsten gewählt. Sie fühlten sich, wie
nicht mit Unrecht gesagt worden ist, als französiche Hofbischöfe
auf ihrem Sitze zu Avignon. Gregor XL zog erst 1377 wieder nach
Rom, mit endlosem Jubel begrüsst. Sein baldiger Tod brachte Urban VI.
die päpstliche Würde, die aber nicht ohne Anfechtung blieb. Ein
französischer Gegenpapst, Clemens VII., nahm seinen Sitz in Avignon,
und die grosse Kirchenspaltung begann, welcher erst die 1417 auf
dem Concile zu Constanz getroffene Wahl des Papstes Martin V.
ein vorläufiges Ende setzte. Die Kirchenspaltung hatte, wie nicht
anders denkbar, auch den Universitäten sich mitgetheilt, den Stätten,
aus welchen die Geistlichkeit hervorging. Bis in die pariser Uni-
versität drang der Zwist, und wenn im Grossen und Ganzen die Fran-
zosen auf der Seite des Papstes von Avignon standen, so traten in
naturgemässem Gegensatze die nicht französischen, meist deutschen
Lehrer und Schüler der pariser Universität auf die Seite des in Rom
befindlichen Papstes. Sie kehrten Paris, mehr oder weniger dazu
gezwungen, den Rücken, und diese Auswanderung war erleichtert,
ermöglicht, vielleicht mit hervorgerufen durch die schon vor der
Kirchenspaltung erfolgte Entstehung neuer Universitäten in
Deutschland. Prag wurde 1348, Wien 1365, Heidelberg 1380, Köln
1388, Erfurt 1392 zur Universität, gegründet nach dem Muster von
Paris und dennoch dessen eifrige Nebenbuhler. Hierhin zog sich
freiwillig oder einem Rufe folgend, wer in Paris sich nicht mehr am
richtigen Orte fühlte, und Wien vor allen wurde die vorzugsweise
mathematische Universität.
Hier dürfte der Ort sein zunächst einzuschalten, was an mathe-
matischem Stoffe die Universität des XIV. Jahrhunderts dem Stu-
direnden bot ^). In Paris gewährte das College de Navarre, dem
Oresme seit 1348 angehörte, gemäss seiner Satzungen von 1315 nicht
mehr, als dass der leitende Magister vei-pflichtet war, täglich in einer
Stunde über ein logisches, mathematisches oder grammatisches Werk
in seiner Behausung zu lesen, je nach dem Wunsche der Mehrzahl
^) Quelle ist hierfür das vorzügliche Kapitel „Die Mathematik auf den
Universitäten" in Hankel, Zur Geschichte der Mathematik im Alterthum und
Mittelalter S. 354 — .359, zu welchem Suter, Math. Univ. weitere wesentliche
Ergänzungen hinzufügte.
140 48. Kapitel.
der Zuhörer^). Etwas besser wurde die Mathematik in der 1366 durcli
Papst Urban V. vorgenommenen Durchsicht der Universitätssatzungen
von Paris bedacht-). Das Licentiat solle nur ertheilt werden können,
wenn der Baccalaureus Vorlesungen über einige mathematische Bücher
gehört habe, aliquos libros mathematicos atidiverit. Ob freilich mehr
als das Gehörthaben, ob auch ein Verstehen jener Vorlesungen ge-
fordert wurde, davon steht in den Satzungen nichts, und ein beson-
derer Nachweis dürfte, wenn er verlangt worden sein sollte, nicht
mit unüberwindlichen Schwierigkeiten verbunden gewesen sein. Ge-
nügte doch noch im XVI. Jahrhundert ein Eid^), man habe eine
Vorlesung über die sechs ersten Bücher des Euklid gehört, statt der
Prüfung.
Aus Prag kennen wir^) Satzungen von 1367 und ein Vor-
lesungsverzeichniss von 1366. In jenen sind gewisse Vorlesungen
mit der dazu erforderlichen Zeit und dem gesetzlich dafür zu ent-
richtenden Honorare vorgeschrieben. Für 1 Groschen wurde während
6 Wochen Sphaera materialis vorgetragen, für 8 Groschen während
eines halben Jahres sechs Bücher Euklid — natürlich die sechs ersten
Bücher der Elemente. Am billigsten und schnellsten erlernte man
Algorismus für 8 Heller in 3 Wochen; am theuersten und längsten
war die Vorlesung über den Almagest angesetzt: sie dauerte ein
Jahr und kostete 1 Gulden. Einmal wenigstens scheint diese kost-
spielige Vorlesung gehalten worden zu sein , wenn man den Schluss
aus ihrer Ankündigung ni dem erwähnten Vorlesungsverzeichnisse
neben fünf anderen mathematischen Vorlesungen ziehen darf. Dar-
unter sind die sechs ersten Bücher des Euklid, darunter sonderbarer-
weise auch Computus cjrometricalis, welcher das Handrechnen, d. h.
Kopfrechnen unterstützt durch Zahlendarstellung mittels der Finger
lehrte.
Auch für Wien^) stehen Satzungen von 1389 und Vorlesungs-
verzeichnisse aus den neunziger Jahren zur Verfügung. Die Satzungen
schreiben neben den von Prag aus uns bekannten Gegenständen noch
Vorlesungen über die Proportionen und über die Latitudines formarum
vor, während die über den Almagest fehlen. Die Satzungen lassen
uns allerdings andrerseits erkennen, dass die beiden neuen Lehr-
gegenstände nicht so vollkommen eingeübt worden sein werden, wie
die Schriften des Oresme es wohl möglich gemacht hätten, wenn
auch dessen Latitudines formarum dem Unterrichte zu Grunde lagen;
^) Suter, Math. Univ. S. 26. *) Hankel 1. c. S. 355, wo aber irrigerweise
1336 als Jahreszahl steht. Suter I.e. S. 36. ^) Kästner I, 260. ') Hankel
1. c. S. 356. Suter ] c. S. 36—39. ") Suter 1. c. S. 39—40 und 51.
Deutsche Mathematiker. 141
für 3 Groschen Proportionen, für 2 Groschen Latitudines, das kann
nicht sehr viel gewesen sein, wo die fünf ersten Bücher Euklid's
6 Groschen, die Perspectiva communis 5 Groschen kostete! Nichts-
desto weniger war es ein Fortschritt, der Wien als das kennzeichnet,
was wir oben andeuteten, als die mathematischste unter den vor
1400 entstandenen Universitäten. Und ein Fortschritt war es ferner,
dass verhältnissmässig hohe Anforderungen für die Erwerbung der
Grade gestellt waren. Schon das Baccalaureat erforderte, dass voll-
ständig und ohne Trug, complete et sine dolo, nachgewiesen werde
die Vorlesung über die Sphäre, die über den Algorismus, die über
das erste Buch Euklid's. Für das Licentiat waren erforderlich die
fünf ersten Bücher Euklid's, Planeten theorie. Perspective und irgend ein
Buch, aliquis tractatus, über Latitudines, irgend eines über Musik,
irgend eines über Arithmetik. Endlich ist Wien die einzige Uni-
versität, deren Satzungen mit Bestimmtheit auch Disputationen über
mathematische Dinge anerkennen, während fast nur Philosophisches
dem mündlichen Wettstreite unterworfen war. Den satzungsmässigen
Anforderungen zu genügen hielt aber nicht allzuschwer, wo die Vor-
lesungsverzeichnisse eine reiche Auswahl von Lehrern aufzeigten, die
zu den einzelnen Unterrichtsgegenständen sich anboten. War doch
ein solcher Zudrang von Lehrern, dass am 1. September 1391 die
Artistenfacultät beschloss, die Auswahl der Gegenstände, über welche
Jeder zu lesen habe, an eine Auslosung zu knüpfen. Da finden wir
in dem genannten und in den Folgejahren Vorlesungen über Algoris-
mus de integris und Algorismus de minutiis, über Ai'ismetica, über
Proportiones Bradwardini, über Euclides und über Latitudines for-
marum, über Computus physicus und Theoria planetarum, lauter uns
bekannte oder doch leicht verständliche Gegenstände^).
Die Zeitfolge der Gründung führt uns nach Heidelberg^). Auch
hier sind für Erwerbung des Licentiates, dagegen noch nicht für die
des Baccalaureates, gewisse mathematische Voraussetzungen. Auch
hier freilich gilt wie in Paris ein Eid als hinlänglicher Beweis der
Erfüllung jener Voraussetzungen. Wer das Licientiat erwerben will,
muss schwören, dass er einige mathematische Bücher ganz, nicht
dIoss theilweise gehört habe, dass er insbesondere die Vorlesung über
die Weltkugel gehört habe, und dass er an Disputationen sich be-
theiligt habe, wobei die Frage, ob diese Disputationen einem anderen
mathematischen Wissensgebiete als dem Tractatus de spera (sie)
mundi angehört haben, für uns eine offene ist. Später werden in
^) Eine sehr übersichtliche Tabelle bei Günther, Unterricht Mittela. S. 199.
-) Suter, Math. Univ. S. 41 unter Anlehnung an Winkelmann, Urkundenbuch
der Universität Heidelberg (1886) S. 33, 38, 42.
142 48. Kapitel.
den Eidschwur auch die Latitudines formarum einbegritfen, natürlich
unter der Vorbedingung, dass sie zur Zeit gelesen worden seien, si
saltem legerentur.
In Köln vei-langten ^) die Satzungen von 1398 buchstäblich
gleichlautend mit den Wiener Vorschriften als Voraussetzung für das
Licentiat irgend ein Buch über Proportionen, irgend eines über La-
titudines, irgend eines über Musik, irgend eines über Ai-ithmetik,
daneben aber nur drei Bücher des Euklid und angewandte Fächer
wieder wie in Wien.
Diese kurze Zusammenstellung genügt, um die Wahrheit unserer
Behauptung erkennen zu lassen, dass schon am Ende des XIV. Jahr-
hunderts die deutschen Bildungsstätten mehr als die Frankreichs die
Eigenschaften in sich vereinigten, welche Mathematiker zu erziehen
unerlässlich sind, dass sie Gelegenheit zum Lernen boten und satzungs-
mässig darauf hielten, dass von dieser Gelegenheit Gebrauch gemacht
wurde. Selbst ,die Unsitte des Schwures, diese oder jene Vorlesung
gehört zu haben, als hinreichenden Nachweises des erlangten Wissens
verliert auf deutschem Boden etwas von ihrer Missgestalt, denn der
Eid, allgemein aliquos libros mathematicos gehört zu haben, reicht
nicht mehr aus; die zu hörenden Schriften sind besonders genannt
und erstrecken sich auf alle damals bearbeiteten Gebiete der Mathe-
matik, wenn auch, wie wir oben vermuthungsweise ausgesprochen
haben, nicht in ihrer ganzen Ausdehnung.
Eines freilich blieb ungeändert: die Art des Unterrichtes an
der Universität -j. Sie bestand einzig darin, dass Lehrer und
Schüler das gleiche Buch, dessen Vervielfältigung man daher frühe
angestrebt haben muss, in Händen hatten, dass Ersterer vorlas und
im freien Vortrage erläuterte und ergänzte, dass Letztere wenig oder
nichts schriftlich aufzeichneten. Irgend ein Befragen der Schüler
durch den Lehrer fand nicht statt. Nur die von uns wiederholt er-
wähnten öffentlichen Disputationen gaben Gelegenheit, einigermassen
zu erkennen, wie viel oder wenig einer der Disputirenden in den
Vorlesungen gelernt hatte. So war das Verfahren in allen Wissens-
zweigen, so auch in der Mathematik.
Wir müssen nun die Persönlichkeiten nennen, durch welche die
örtliche Verschiebung nach Osten ins Werk gesetzt wurde. Es sind
besonders zwei Gelehrte, die, obwohl Deutsche von Geburt, den An-
fang ihrer Berühmtheit in Paris erlangten, die also auch dort hätten
genannt werden können, wenn nicht genannt werden sollen, und die
\
1) Suter 1. c. S. 41. ^ Günther, Unterricht Mittela. S. 192—197.
Deutsche Mathematiker. 143
als schon allgemein bekannte Männer in die Heimatli übersiedelten:
Albert von Sachsen, Heinrich von Hessen.
Albertus de Saxonia^) war, nach der gebräuchlichsten An-
gabe, aus Riggensdorf in Sachsen. Er war, wie es scheint, Schüler
der eben gegründeten Universität Prag, ging dann nach Paris und
wurde hier Magister der freien Künste, später Doctor der Theologie.
Seit 1350 lehrte er, ein hervorragender Vertreter der Occam'schen
Richtung, aristotelische Philosophie und Mathematik. Da berief ihn
1365 Herzog Rudolf IV. von Oesterreich als Rector an die in der
Gründung begriffene Universität Wien, aber schon im folgenden Jahre
vertauschte Albert diese Stellung mit der des Bischofs von Halber-
stadt, und als solcher starb er 1390. Mitglied irgend eines Mönchs-
ordens scheint Albert von Sachsen nicht gewesen zu sein, da bei
einer so bedeutenden Persönlichkeit die Zugehörigkeit zu einem be-
stimmten Orden sich nahezu immer nachweisen lässt. Widersprechende
Angaben wie die drei über Albert vorhandenen, er sei Dominikaner,
Franciskaner, Augustiner gewesen, sind meistens alle unrichtig. Seine
philosophischen Schriften kümmern uns hier nicht. Ob eine in
Venedig handschriftlich erhaltene Abhandlung De maximo et minimo^)
ihnen zuzuzählen, ob sie mathematischen Inhaltes ist, lässt sich nicht
entscheiden, so lange sie noch nicht von einem Fachmanne unter-
sucht ist, was jedenfalls sehr wünschenswerth wäre. An mathema-
tischen Schriften des Albert von Sachsen ist ein Tractatiis de latitu-
(linihus fonuarum 1505 gedruckt, ein Liber pro2)ortionum gar in zehn
verschiedenen Ausgaben, deren erste auf 1482 zurückgeht^). Der
Inhalt der ersten Schrift scheint sich dem der gleichnamigen von
Oresme, der der zweiten der Schrift Bradwardin's über Proportionen
zu nähern. Allgemein zugänglich sind zwei Abhandlungen, welche
aus einer Handschrift der berner Stadtbibliothek ■^) in einer mathe-
^) Die Hauptquelleu sind zwei Abhandlungen von H. Suter, Zeitschr.
Math. Phys. XXIX, Hist.-liter. Abthlg. S. 81—101 und XXXII, Hist.-liter. Abthlg.
S. 41 — 56, in welchen die beiden Tractate über Kreisquadratur und über Irra-
tionalität der Diagonale des Quadrates erstmalig abgedruckt sind. Biographi-
sches in der Allgem. deutsch. Biographie I, 182—183. Dort heisst Alberts
Geburtsort: lackmersdorf. Ein Aufenthalt in Pavia wird nur von Jacoli in
Bullet. BoncotnjMgni IV, 495 ohne jede Quellenangabe behauptet. Vielleicht ist
es ein Druckfehler Pavia statt Parigi, ebenso auch die dortige Angabe, Alberts
Blüthezeit sei 1330 gewesen statt 1350. Ueber seine philosophischen Schriften
vergl. Prantl, Gesch. Log. IV. ^) Aschbach, Geschichte der Wiener Uni-
versität I, 365. ^) Bald. Boncompagni im Bullet. Boncomjmgni IV,
498 — 511. *) Codex A. 50 geschrieben am Anfange des XV. Jahrhunderts.
Eine Beschreibung der Handschrift von Suter, Zeitschr. Math. Phys. XXIX, Hist.-
liter. Athlg. S. 84—85.
144 4.S. Kapitel.
matischen Zeitschi-ift dem Drucke übergeben wurden. An der Rich-
tigkeit der Annahme, dass hier wirklich in allein erhaltener Nieder-
schi-ift zwei Abhandlungen Alberts von Sachsen vorhanden seien, ist
nicht mehr zu zweifeln, seit stylistische Vergleichung derselben mit
philosophischen Schriften des gleichen Verfassers die täuschendste
Aehnlichkeit an den Tag gelegt hat^). So schreibt z. B. Albert, und
fast nur er unter seinen Zeitgenossen, Est dare in der Bedeutung
von: es giebt oder es muss geben. So ist in philosophischen Schriften
die Zusage gegeben über Dinge, wie sie in den beiden Abhandlungen
sich vorfinden, später wo möglich sich äussern zu wollen, womit
zugleich eine Datining dieser Abhandlungen als zu den letzten Er-
zeugnissen von Alberts schriftstellerischer Thätigkeit gehörend ge-
sichert ist.
Die eine Abhandlung-) beschäftigt sich mit der Quadratur des
Kreises. In echt scholastischer Weise wird zunächst untersucht,
ob die gestellte Aufgabe gelöst werden könne, ob nicht. Gründe für
und gegen werden aufgezählt. Bei jedem werden mit gleicher Un-
parteilichkeit Gegengründe gesucht. Es ist ein Hin- und Hertasten
zwischen Ja und Nein. Es giebt, sagt der Verfasser, ein jedem
Kreise umschriebenes, ein ihm eingeschriebenes Quadrat; jenes ist
grösseren, dieses kleineren Inhaltes als der Kreis; gäbe es kein dem
Kreise genau gleiches Quadrat, so wäre der Uebergang vom Grösseren
zum Kleineren durch alle Mittelwerthe vollzogen, ohne dass man
dabei zu einem bestimmten mittleren gelangt wäre^). Der Quadratur
des Kreises zur Seite steht die Kubatur der Kugel; die Kugel aber
kann kubirt werden, wie offenbar wird, wenn wir das Wasser,
welches ein kugelförmiges Gefäss füllt, in ein würfelförmiges über-
giessen*). Nein, heisst es dann, die Quadratur des Kreises ist doch
nicht möglich, denn gäbe es eine solche, so müsste es auch eine
Circulatur des Quadrates geben ^) und eine solche ist noch niemals
überhefert worden. Ein zweiter Gegengrund wird dem Buche über
isoperimetrische Figuren entnommen, worunter offenbar jene im Mittel-
alter bekannte Nachbildung der Schrift des Zenodorus gemeint ist*^);
gäbe es ein dem Kreise flächengleiches Quadrat und wölbte man
1) Suter in Zeitschr. Math. Phys. XXXII, Hist.-liter. Abthlg. S. 41— 42.
-) Zeitschr. Math. Phys. XXIX, Hist.-liter. Abthlg. S. 87—94. ^) Fieret tran-
situs de majore ad minus, sive de extremo ad extremum transemido per omnia
media et tarnen nunquam perveniretur ad equale vel ad medium. *) Sed sphera
potest cuhicari, %it patet, si aquam replentem vas sphericum infundamus ad vas
quadraticum sive cubicum. ^) Si eirculus posset quadrari, quadratum posset
circulari. So ist das Wort Circulatur des Quadrates, welches wir Bd. I, S. 546
als Neubildung wagten, schon im XIV. Jahrhunderte in Gebrauch gewesen!
®) Sie ist z. B. im Basler Codex F 2, .33 enthalten.
Deutscho Mathematiker. 145
dessen Seiten nach aussen, so dass jeder Punkt der neuen Gestaltung
gleich weit vom Mittelpunkte entfernt wäre, ohne dass dabei der
Umfang eine Aenderung erlitte^), so müsste eine Fläche entstehen,
die weit grösser wäre, als der ursprüngliche Kreis. Drittens müsste
die Hälfte des dem Kreise gleichen Quadrates dem Halbkreise gleich
sein, eine Figur mit rechten Winkeln einer Figur mit Winkeln, die
keinem gradlinigen Winkel gleich sind, während Figurengleichheit
durch Euklid und Campanus aus der Winkelgleichheit bewiesen wird-).
Viel, meint der spitzfindige Schriftsteller, hängt davon ab, was man
Quadriren nennt. Dem Einen ist Quadriren Viertheilung des Kreises
durch zwei im Mittelpunkte sich senkrecht schneidende Durchmesser.
So Campanus in seiner Theorie und viele andere Doctoren*^). Zwei-
tens meinen Ungelehrte, man könne den Kreis in eine einem Quadrate
einigermassen ähnliche Figur verwandeln, indem man Stücke rings-
herum abschneidet und anders anlegt. Die Dritten verstehen unter
Kreisquadratur die Auffindung eines Quadrates, welches nicht etwa
dem Kreise gleich sei, sondern dessen aneinander gelegte Seiten der
zur Geraden ausgespannten Kreisperipherie gleichkommen, und so hat
Campanus den Kreis quadrirt^). Viertens können wir unter Quadri-
ren des Kreises verstehen ein dem Kreise gleiches Quadrat zu finden,
dessen Seiten überdies (cum hoc) der zur Geraden ausgespannten
Peripherie gleich kommen^). Fünftens können wir den Kreis so zu
quadriren wünschen, dass wir ein dem Kreise flächengleiches Quadrat
auffinden wollen. Nun werden wieder alle diese Auffassungen der
Reihe nach kritisch untersucht. Die erste Kreisquadratur ist mög-
lich, führt aber zu nichts. Die zweite ist unmöglich, denn die ab-
geschnittenen Stückchen geben, wie man sie auch an einander legen
mag, keinen rechten Winkel. Die dritte Art hat Campanus vollzogen,
indem er der Aussage vieler Philosophen folgend, die Länge der
Kreisperipherie zu 3y Durchmesser annahm, eine Annahme, welche,
wie es an einer späteren Stelle heisst, schwer beweisbar, aber doch
beweisbar ist^). Für Albert von Sachsen war demnach wie für
Campanus, wie für das ganze Mittelalter, jr ^ 3— kein Näherungswerth,
^) si latera quadrati extendantur equcditer a centro. ") per eqiialitatem
angulorum Euclides et Campanus probant equaUtatem figurarmn. ^) Isto modo
loquitur Campanus in theorica sua et multi alü doctorum. Welche Schrift des
Campanus gemeint ist , wissen wir nicht. *) et isto modo Campanus quadravit
circulum. Unsere Leser erinnern sich, dass wir uns S. 101 zum voraus auf diese
Stelle berufen haben. ^) Dass wir die sprachlich schwierige Stelle richtig über-
setzt haben, folgt aus Alberts späterer eigener Polemik gegen diese vierte Auf-
fassung. S. S. 146 Note 2. ^) est demonstrahile ad intellectuvi quamvis difficile.
Cantor, Geschichte der Mathem. II. 2. Aufl. 10
146 48. Kapitel.
sondern genau richtig^). Die vierte Auffassung der Kreisquadratur
ist wieder unmöglich, weil unter isoperimetrischen Figuren der Kreis
die grösste Fläche einschliesst , also mit einem isoperimetrisfchen
Quadrate nicht flächengleich sein kann ^). Somit bleibt nur eine
Quadratur des Kreises im fünften Sinne des Wortes zu vollziehen,
und jetzt wird bewiesen, dass der Kreis genau gleich sei einem
rechtwinkligen Dreiecke, dessen eine Kathete dem Kreishalbmesser,
die audere dem Kreisumfange an Länge entspricht. Zum Schlüsse
erscheinen neuerdings scholastische Haarspaltereien über die am An-
fange der Untersuchung gegen die Möglichkeit einer Quadratur er-
hobenen Einwürfe. Wir erwähnen daraus nur den letzten Satz der
Abhandlung: Wenn man sagt, Euklid und Campanus beweisen Figuren-
gleichheiten aus Winkelgleichheiten , so gebe ich das zu, aber daraus
folgt nicht, dass aus Ungleichheit von Winkeln Ungleichheit von
Figuren zu folgern sei^). Wir haben den eigentlichen geometrischen
Beweis für die Flächengleichheit des Kreises mit dem erwähnten recht-
winkligen Dreiecke noch nachzutragen. Wäre besagtes Dreieck kleiner
als der Kreis, so müsste es einem Sehnenvielecke desselben gleich
sein, das selbst in ein rechtwinkliges Dreieck übergeht, dessen eine
Kathete kleiner als der Halbmesser, die andere kleiner als die Peri-
pherie wäre, und das widerspricht der Annahme. Wäre dagegen be-
sagtes Dreieck grösser als der Kreis, so müsste es einem Tangenten-
vielecke desselben gleich sein, das selbst in ein rechtwinkliges Dreieck
mit dem Halbmesser als einer Kathete übergeht, dessen andere Ka-
thete jetzt grösser als die Peripherie wäre, und das widerspricht aber-
mals der Annahme. Folglich müssen Dreieck und Ki-eis einander
genau gleich sein.
Die zweite Abhandlung^) ist dem Verhältnisse der Diago-
nale eines Quadrates zu dessen Seite gewidmet. Albert be-
ginnt auch hier mit Erörterung der irrigen Meinung, als sei die
Diagonale doppelt so lang als die Quadratseite, welche mit drei
Gründen gestützt zu werden pflege. Erstens sei (Fig. 26) der Weg,
den ein Bewegtes von a über h nach d zurücklege, das Doppelte des
Weges hd] er könne aber durch den Weg ad ersetzt werden, also
^ ») Hieraufhat H. Suter, Zeitschr. Math. Phys. XXIX, Hist.-Iiter. Abthlg.
S. 94 aufmerksam gemacht. *) (impossibüe est) aliquod quadratum esse equale
eirculo cujus latera simul juncta sint equalia circumferentiae circuli in rectavi
extense; haec (condusio) patet ex eo qnod figura circularis inter omnes alias est
capacissima. ^) Quando dieitur, Euclides et Campanus per equalitatem angu-
lorum prohant equilitatem figiirarum, hene volo, ex hoc tarnen non sequitur, quod
inequalitatem angulorum sequeretur inequalitas figurarum. *) Zeitschr. Math.
Phys. XXXn, ffist.-liter. Abthlg. S. 43—52.
Deutsche Mathematiker. 147
sei ad = 2hd. Zweitens verhalte sich das Quadrat ah de zu seiner
Diagonale ad wie das Quadrat cfdg zu seiner Diagonale cd-^ durch
Vertausehung der inneren Glieder zeige sich, dass
das Quadrat ahdc zum Quadrate cfdg in gleichem
Verhältnisse stehen müsse wie ad zu cd-^ aber das
Quadrat ah de sei das Doppelte von dem Quadrate
cfdg, mithin auch ad =2 cd. Drittens stehe nach
dem Satze Ij 18 von Euklid^) dem grösseren Winkel
im Dreiecke die grössere Seite gegenüber; nun sei
■^acd =2 ^adc, also finde das gleiche Verhält-
niss bei den gegenüberliegenden Seiten statt, iind es
sei ad = 2ae. Alle Geometer aber missbilligen diese
Beweisführungen und das Doppelte der Quadratseite ist die Dia-
gonale nicht. Commensurable Grössen (commensurabilia) stehe.n
immer im Verhältnisse ganzer Zahlen. Wären also Quadratseite
und Diagonale commensurabel, so müssten auch sie in solchem Ver-
hältnisse stehen, und zwar entweder im Verhältnisse zweier grader,
oder zweier ungrader, oder einer graden und einer ungraden Zahl.
Alle diese Annahmen widersprechen aber der Thatsache, dass das
Quadrat der Diagonale das Doppelte des Quadrates der Seite sein
muss, wie genau nach euklidischem Muster (Bd. I, S. 170) gezeigt
wird. Es findet folglich zwischen Seite und Diagonale zwar ein Ver-
hältniss statt, aber kein rationales, sondern ein irrationales (pro-
portio irrationalis). Also auch Albert von Sachsen ist im Besitze
dieses Wortes. Im weiteren Verlaufe der Abhandlung wird erläutert,
wie wenig ein Schluss von dem Umfange einer Figur auf deren
Inhalt gerechtfertigt sei. Man halbire ein Quadrat und setze die
beiden so entstehenden Rechtecke an der kürzeren Seite an einandei-,
so vergrössere sich der Umfang bei gleich bleibendem Inhalte. Eben-
so könne man mit dem eben erzeugten Rechtecke verfahren u. s. w.,
so dass es keinen noch so grossen Umfang gebe, den man nicht ohne
Veränderung des Inhaltes noch übertrefi^en könnte. Den kleinsten
Umfang eines gegebenen Inhaltes stellt dagegen die Kreislinie dar.
Ganz ähnliche Schlüsse werden für Körper gezogen, und zwar nicht
bloss für eckige, auch für runde Körper. Um einen ersten runden
Körper herum kann man einen zweiten biegen, der gleichen Inhaltes,
aber weniger dick ist. Soll die Dicke des Körpers unverändert bleiben,
so hindert nichts ihn in zwei Körper von der halben Höhenausdehnuug
zu zerschneiden und diese beiden der Länaje nach an einander setzen
^) Albert von Sachsen citix-t nach der Euklidausgabe des Campanus
In den gewöhnlichen Ausgaben (nach Theon) ist der Satz I, 19 bezeichnet.
10*
148 48. Kapitel.
ZU lassen. Setzt man das gleiche Verfahren immer fort, und bedarf
es etwa der Hälfte einer Stunde, um die erste Zerschneidung und
Vereinigung vorzunehmen, die Hälfte der noch übrigen halben Stunde
um die zweite Zerschneidung und Vereinigung zu vollziehen u. s. w.,
ein Gedanke, den Albert in die lakonischen Worte kleidet, man be-
dürfe stets einen verhältnissmässigen Theil einer Stunde (pars pro-
portionalis horae), so sind in einer Stunde unendlich viele Körper zu
einem einzigen vereinigt, und es giebt überhaupt keine Grenze für
die Menge der Körper, die vereinigt werden können, oder für die
Grösse der Oberfläche, die ein einfacher Körper durch wiederholte
Spaltung zu erhalten im Stande ist. Nur die untere Grenze bleibt,
dass nämlich ein gegebener körperlicher Raum als Kugel gedacht die
geringste Oberfläche besitzt. Jetzt kommt der Verfasser auf die In-
commensurabilität der Seite und der Diagonale eines Quadrates zurück,
welche auch gleichmässigen Vielfachen beider Längen anhafte. Seien
zwei Kreise a und h, die in d sich schneiden, und deren Umfange
wie jene Längen sich verhalten^). Dass zu diesem Zwecke genüge,
die betreffenden Strecken als Halbmesser der Kreise zu wählen, wird
nicht gesagt. Zwei bewegliche Punkte c und /" sollen von d aus,
e auf a und f auf h , in gleichmässiger Bewegung fortrücken, so wird
niemals, auch nicht in der Ewigkeit, ein wiederholtes Zusammen-
treffen von e und f in d stattfinden-). Ein zweites Beispiel liefern
Sonne und Mond. Sind die Bewegungen beider um ihren Bewegungs-
mittelpunkt incommensurabel, wie es wahrscheinlich der Fall, oder
wovon das Gegentheil wenigstens noch nicht bewiesen sei, und be-
schreiben in Folge dessen die Mittelpunkte von Sonne und Mond in
gleichen Zeiten Bögen, denen unter sich incommensurable Winkel
im Mittelpunkte der Erde als Centriwinkel entsprechen, findet ferner
in einem Augenblicke genau gradlinige Conjunction oder Opposition
der drei Mittelpunkte statt, so war von Ewigkeit an nie eine damit
genau übereinstimmende Finsterniss und wird in Ewigkeit nicht
wiederkehren. Als wenigstens mittelbare Folge zeigt sich, dass die
Urtheile der Astrologen mitunter sehr ungewiss sind^). Eine weitere
sich anschliessende, aus dem Wesen der Incommensurabilität selbst
hervorgehende Bemerkung zeigt die Unmöglichkeit, dass Stetiges aus
üntheilbarem in endlicher Anzahl zusammengesetzt sei, weil es sonst
keine incommensurable Längen gäbe. Der Schluss kehrt zu den am
Anfange ausgesprochenen Scheingründen dafür, dass die Diagonale
^) haheat se circumferentia unius ad circumferentiam alterms siciit dyameter
guadrati et costa ejusdem. *) si isla in eternum moverentur, nunquam amplius
in puncto d eonjunger entur. ^) Ex quibus sequittir quod judicia astrologoruvi
sunt aliqiiando valde incerta.
Deutsche Mathematiker. 149
das Doppelte der Quadratseite sei, zurück und widerlegt sie. Dem
scharfsinnigsten Scheinbeweise, den wir der Abhandlung folgend als
zweiten auftreten Hessen, der aber am Schlüsse plötzlich der dritte
heisst, weiss Albert von Sachsen nur entgegenzuhalten, man dürfe
die Vertauschung von Gliedern einer Proportion nicht vornehmen,
wenn es sich nicht um Grössen derselben Art handle^). Die Aus-
führlichkeit, in welcher wir über die beiden Abhandlungen berichtet
haben, war vielleicht durch deren mathematische Bedeutung nicht ge-
rechtfertigt, allein es lag uns daran, unseren Lesern recht hervor-
ragende Beispiele davon zu geben, Avas die Scholastik als würdig ein-
gehender Bekämpfung erachtete, und wie sie ein Schema dialektischen
Hin- und Herschwankeus zwischen entgegengesetzten Meinungspolen
festhielt, welches auszufüllen war.
Henricus Hassianus"^) war die zweite von uns genannte Per-
sönlichkeit. Er wurde 1325 in Langenstein bei Marburg geboren und
gehörte wahrscheinlich dem adligen Geschlechte von Langenstein an.
Er lehrte schon 1363 in Paris vermuthlich mathematische und astro-
nomische Dinge. Später ging er zur Theologie über. Man nennt ihn
als Vater des Gedankens, die Missbräuche, welche damals — von Jedem
zugestanden, durch keinen einzelnen Willen zu beseitigen — • in der
Kirche herrsehten, durch ein allgemeines Concilium abschaffen zu
lassen^). Er war eines der Mitglieder der Sorbonne, welche 1378
durch eine Abordnung an Papst Urban VL in Rom , an der Heinrich
selbst theilgenommen haben dürfte, sich für diesen und gegen Cle-
mens VII. in Avignon entschied. Als fünf Jahre nachher die An-
hänger des letzteren in Paris die Oberhand gewannen, ging Heinrich
1383 nach Deutschland zurück, wo er im Kloster Eberbach im Rhein-
gau gastliche Aufnahme fand. Noch in demselben Jahre folgte er
einem Rufe an die Universität Wien, um welche er grosse Verdienste
sich erwarb. Er erlangte wahrscheinlich die vorher verweigerte
päpstliche Genehmigung zur Einrichtung auch einer theologischen
Facultät. Er starb in Wien am 11. Februar 1397 und liegt in der
dortigen St. Stephanskirche begraben. Eigentlich mathematische
Schriften sind von ihm nicht bekannt. Astronomisches soll in dem
ersten Buche seines Commentars zur Genesis enthalten sein^), auch
verfasste er einige astronomische Abhandlungen, darunter die Contra
astrologos conjunctionistos de eventibus futurorum, welche schon 1374
*) quod iste modus arguendi a commutata proportloncäitate non tenet in Ulis
quae sunt diversarum specienom. ^) Allgem. deutsche Biographie XVII, 672 — 673.
— Hartwig, Henricus de Lamjenstein dictus de Hassia (1857). — Aschbach,
Geschichte der Wiener Universität I, 366—402. ^) The od. Stumpf, Die
politischen Ideen des Nicolaus von Cues (1865) S. 6. ^) Kästner, II, 529.
150 48. Kapitel.
in Paris geschrieben ist. In der Geschichte der Mathematik muss
Heinrich von Langenstein nnr nm deswillen überhaupt genannt werden,
weil ein berühmter Gelehrter des XVI. Jahrhunderts ihm das Ver-
dienst zugeschrieben hat^), der Mathematik in Deutschland zu einer
bleibenden Stätte verhelfen zu haben.
Da nun weder Heinrich von Hessen noch Albert von Sachsen in
Wien eine eigene mathematische Lehrthätigkeit ausübten, so ist jeden-
falls ihre Bedeutung für jene östliche Verschiebung des geistigen
Uebergewichtes, so weit es um mathematische Wissenschaft sich han-
delt, eine mehr mittelbare gewesen, deren Erfolg sich erst im XV. Jahr-
hunderte deutlich erkennen liess. Aber ein einzelnes vorhandenes
Werk aus dem XIV. Jahrhunderte zeigt, dass schon vor ihnen Ein-
flüsse von Paris aus sich geltend gemacht hatten, welche den deutschen
Boden dazu vorbereiteten, wissenschaftlichen Samen aufzunehmen.
Wir reden von einer am Ende des Jahrhunderts lateinisch verfassten,
aber frühzeitig in deutscher Sprache neu bearbeiteten Geometrie^).
Conrad von Jungiugen^) war von 1393 bis 1407 Hochmeister
der Deutschordensritter. Kraftvoll im Kriegführen, wenn derselbe
aufgedrungen war, neigte er von Natur weit mehr zu friedlichen Be-
strebungen und liess sich die Ausmessung der von ihm beherrschten
Lande angelegen sein. Lantmesser, auch einfach Messer werden
genannt, die mit IV^ Mark wöchentlich für ihre Arbeit gelohnt
wurden; Andere verrichteten den Dienst mit der „landtmosse" als
Lehendienst. Wir müssen uns diese Landmesser, laycos men-
sores*), als blosse Handwerker vorstellen, welche lediglich in der
Ausführung von übungsmässigen Verfahren geschult waren, deren
Gründe sie kaum zu begreifen befähigt waren. Um je handwerks-
mässiger wir sie uns denken, um so noth wendiger war ihnen ein
Vorgesetzter, der wirklich die Sache verstand, die er zu leiten hatte ^),
und ein solcher war offenbar der Verfasser der Geometria Cul-
mensis. Dieser Name, welcher vom Herausgeber der Schrift bei-
behalten wurde und ihr daher auch bleiben mag, findet sich freilich
^) Petrus Ramus, Scholae mathematicae (1627) pag. 61: Henricus Hassia-
nus centesivio abhinc et octogesimo fere anno (tärca 1390) primus mathematicas
artes Lutetia Viennam transtulit', unde hrevi tempore per universam Germaniam
proseminatue matliematicorum tamquam familiae. *) Geometria CuJmensis. Ein
agronomischer Tractat aus der Zeit des Hochmeisters Conrad von Jungingen
(1393—1407) herausgegeben von Dr. H. Mendthal (1886). ^) Allgem. deutsche
Biographie XIV, 718—720. ') Geometria Cuhnensis S. 15, Z. 4—8: laycos men-
sores in arte tum calculatoria quam geometrica inperitos sepius in agrorum men-
swra contingit oherrare. ^) Ebenda S. 47, Z. 7—8: ideo laycas mensor debet esse
minister geometre.
Dei;tsche Mathematiker. 151
nur in einer Handschrift^) und ist nur dadurch unterstützt, dass
Kulmer Maasse^) vorkommen. Der Verfasser selbst nennt sich gar
nicht, und sein Buch führt im lateinischen Texte die Ueberschrift :
Liber magnitici principis Conradi de Jungegen, magistri generali
Prusie, geometrie practice usualis manualis, während in der deutschen
Bearbeitung, welche vielleicht von dem Verfasser in eigener Person
herrührt, weil man kaum annehmen kann, ein Anderer sei so frei
mit dem Wortlaute umgegangen, der Titel folgeudermassen klingt:
„Eyn buch des irluchten vorsten, Heren Conrad von Jungegen, Ho-
meysters czu Pruseu der wirkende ortmose myt Hanvbungen, in
dem so sal man leren, wy man messen sal eyn yclych ackerlant unde
Gevilde". Der Gedanke, der Hochmeister könne wirklich der Ver-
fasser des Buches sein, wird dadurch natürlich sofort erzeugt, aber
beim Weiterlesen vollständig vernichtet. Die Einleitung spendet dem
Hochmeister so überschwängliches Lob, dass es ausgeschlossen ist, er
könne sie selbst geschrieben haben. Auf eigenen Füssen steht übrigens
der Verfasser nicht, und damit erklärt sich vielleicht die bescheidene
Zurückhaltung seines Namens. Er habe, sagt er, den Stoff zusammen-
getragen^), und er beruft sich oft auf Euklid, einmal — im letzten
Abschnitte allerdings — auf einen Dominicus*), und es ist geglückt,
in diesem Schriftsteller Dominicus de Clavasio (S. 127) zu er-
kennen. Ihn hat, wie genaue Vergleichung erkennen liess^), der
Verfasser der Geometria Culmensis ausgiebig benutzt, an manchen
Stellen wörtlich ausgeschrieben, während er freilich dadurch über den
gewöhnlichen Abschreiber sich erhob, dass er bald Dinge, die dem
Landmesser, für welchen er schrieb, unverständlich gewesen wären,
wegliess, bald durch erläuternde Zusätze sie ergänzte. Ein wichtiger
Zusatz ist vor allen Dingen die Lehre von der Ausziehung der
Quadratwurzel, welche nach der Formel ]/ a^ -{- r rx) a -|- — unter der
Voraussetzung r < 2a -f" 1 vollzogen wird. Consulo quod nullus sit
mensor tum clericum quam laycus, nisi prius in algorissmo tam de
integris quam minuciis sciat computare sagt dabei der Verfasser, und
noch bestimmter erwähnt er in der deutschen Bearbeitung „czween
^) Geometria Ciihnensis S. 10, Z. 13 — 14. ^) Ebenda S. 21 : duo pedes fa-
ciunt ulnam Colmensem. ^) Ebenda S. 16 — 17: praesentem librum compilavi.
*) Ebenda S. 69 : ut patet per Doviinicum in geometria sua == als sprycht magister
Dominicus in syuer ortmose unde aucli andir meister. ^) Auf das Tom. III,
pars I, Nr. 410 des münchner Handschriftenkatalogs angeführte Wei'k hat Max.
Curtze den Herausgeber der Geometria Culmensis aufmerksam gemacht. Dieser
hat dann die Vergleichung vorgenommen und im Drucke die dem II. Buche des
Dominicus entnommenen Stellen durch Anführungszeichen kenntlich gemacht.
Geometria Culmensis S. 6—7,
152 48. Kapitel.
bucheren, dy do heyssen algorismus, der eyne von ganczen, der andir
von teilen"^). Dieser Ausspruch bestätigt neuerdings, was wir schon
verschiedentlich bemerken durften. Wie die zwei Abtheikingen des
Algorithmus demonstratus, welche das Rechnen mit ganzen Zahlen
und das mit Brüchen lehren, in der Basler Handschrift räumlich ge-
trennt und in verkehi-ter Reihenfolge vorkommen, wie in Wien an
der Universität zwei verschiedene Vorlesungen über beide Algorismen
(de integris und de minuciis) gehalten wurden, wie Sacrobosco über
ganzzahliges Rechnen, De Lineriis über Bruchrechnen schrieb, so gab
es am Ende des XIV. Jahrhunderts in Deutschland zwei Bücher,
vielleicht Nachbildungen der beiden zuletzt genannten, aus welchen
der gemeine Mann und nicht bloss der Gelehrte das Rech-
nen mit ganzen Zahlen, das Rechnen mit Brüchen sich an-
eignen konnte. Jedenfalls sind aus dem Anfange des XV. Jahr-
hunderts deutsche Uebersetzungen des Rechenbuches des Sacrobosco
und eine deutsche Abhandlung über das Bruchrechnen bekannt^).
Die Geometria Culmensis zerfällt in fünf Abtheilungen. Die beiden
ersten sind der Berechnung des Dreiecks gewidmet, die dritte dem
Viereck, die vierte dem Vieleck, die fünfte den ganz oder theil-
weise krummlinig begrenzten Räumen. Man kann im Allgemeinen
sagen, überall sei Falsches mit Geschick vermieden. Wenn z. B. in
der 1. Abtheilung das Dreieck durch das halbe Pro duct von Grund-
linie und Höhe gemessen wird, wenn im rechtwinkligen Dreiecke die
beiden den rechten Winkel bildenden Seiten als Grundlinie und Höhe
gelten, so warnt ^) der Verfasser davor, in nichtrechtwinkligen Drei-
ecken das halbe Product aneinanderstossender Seiten als Flächen-
maass zu benutzen. Die Höhe (kathetus) wird auf dem Felde mit
Hilfe eines rechten lüinlielmos (gnomon) oder eines crueze^ (Winkel-
kreuz) hergestellt und wirklich gemessen. Sie heisst meistens Dre-
hom'^). In der 2, Abtheilung wird mehr rechnend vorgegangen.
Auch wo die drei Seiten des Dreiecks auf dem Felde gemessen wurden,
soll man zu Hause ein verkleinertes Bild herstellen. So lehrte Domi-
nicus, so lehrt etwas weitläufiger der Kulmer Schriftsteller"). Zwei
Stangen sollen durch einen Nagel verbunden werden. Auf ihnen
werden die Längen von zwei Dreiecksseiten in verjüngtem Maasse
^) Geometria Culmensis 8. il . *) Curtze brieflich. ■') Geometria Culmensis
S. 31: Vidi pliires laycos mensores et audivi eorum inpericiam, qui volehant in
wreis triangularibus indifferenter in omnihus medietatem lateris unius in totale
latus alterum muUiplicare ut sie aree continencium invenirent, nescientes kuthetuni
invenire. *) Ebenda S. 31: Ueber Drebom = Driboum == triarbor yergl. ebenda
S. 8. ^) Ebenda S. 36 — 37: De hiis tribus virgis duus coniunge simul cum
clavo etc.
Deutsche Mathematiker.
153
aufgetragen. Eine dritte Stange, der dritten Dreiecksseite ent-
sprechend, wird beiden, die zu dem Behufe um den verbindenden
Nagel drehbar sind, angepasst. Dieses verjüngte Dreieck lässt jeden-
falls es zu, dass man die Höhe wirklich ziehe und messe, was auf
dem Felde vielleicht nicht möglich war. Bei rechnender Ermittelung
der Höhe, d. h. beim gleichschenkligen und beim gleichseitigen Drei-
ecke^), wird der pythagoräische Lehrsatz mit seiner Quadratwurzel-
ausziehung in Anwendung gebracht. Es mag erwähnt sein, dass die
alterthümlichen Annäherungswerthe einiger Quadratwurzeln z. B.
]/^ oo "y in der Geometria Culmensis ebensowenig vorkommen wie
die heronische Dreiecksformel, welche die drei Seiten des Dreiecks
in Anwendung bringt. Die 3. Abtheilung geht zum Vierecke über.
Hier begegnen uns im lateinischen wie nicht minder im deutscheu
Wortlaute die arabischen Namen EUmihahym und Elmipharipha des
Rhombus und des unregelmässigen Vierecks^), die uns aus den dem
Arabischen entstammenden Euklidübersetzungen (S. 103) bekannt sind,
deren aber auch Dominicus von Paris sich bediente. Ueberall werden
wieder Höhen gezogen, und dadurch neue Figuren auf schon im
Verhergehenden behandelte zurückgeführt. So ist unter den unregel-
mässigen Vierecken zuerst dasjenige besprochen, welches 2, dann
dasjenige, welches 1, zuletzt das, welches keinen rechten Winkel be-
sitzt, wobei die Figuren (Figur 27, 2^, 29) erkennen lassen, wie wir
Fig. 27. Fig. 28.
jene Zurückführung auf schon Bekanntes meinen. Ebendenselben
Figuren mag man entnehmen, dass in der ganzen Geometria Cul-
mensis die Buchstabenfolge ausnahmslos
die lateinische ist. Dass in Figur 28 der
Buchstabe i nicht benutzt ist, muss als Zu-
fall angesehen werden, in anderen Figuren
kommt er vor. In der 4. Abtheilung
werden Vielecke ausgemessen, und zwar
zuerst regelmässige, dann unregelmässige. Durch gerade Linien von
einem innerhalb des Vielecks gelegenen Punkte aus nach den Eck-
punkten wird das Vieleck in ebensoviele Dreiecke zerlegt als es Seiten
Fig. 20.
') Geometria Culmensis S. 38 und 42. ^ Ebenda S. 52.
154 49. Kapitel.
besitzt, und diese Dreiecke werden sodann gemessen. Als Punkt im
Innern des Vielecks wird der Durchschnittspunkt der Halbiruugslinien
zweier benachbarter Vieleckswinkel gewählt, der beim regelmässigen
Vielecke dessen Mittelpunkt ist. Grelegentlich wird dabei dieHalbirung
eines Winkels und die Auffindung der Winkelsiimme des Vielecks ge-
lehrt^). Auch das Vieleck mit einspringenden Winkeln^), cam])us
tortuosus seu extraeminens, oder wie der deutsche Kunstausdruck lautet,
„eyn wanschaifen geuilde" wird berücksichtigt und durch Zerlegung
in Theilfiguren, welche nicht aus- und einspringen („yczunt us darnoch
wedir yn'^ verlaufen) gemessen. Die 5. Abtheilung stellt die Auf-
gabe, solche Figuren zu messen, in deren Begrenzung krumme Linien
vorkommen. Das Verhältniss des Kreisumfangs zum Durchmesser
wird wie gewöhnlich „als waren 22 kegen 7" angenommen^), aber
immerhin ist ein wesentlicher Unterschied gegen die Art, wie etwa
Albert von Sachsen jene Zahlen auffasst. In der Geometria Culmensis
ist, genau anschliessend an Dominicus (S. 127), das Bewusstsein blosser
Annäherung deutlich ausgesprochen: das Verhältniss gelte nur so weit,
dass kein fühlbarer Irrthum übrig bleibe'). So der Hauptinhalt jenes
für die Zeit und für den Ort seiner Entstehung sehr bemerkens-
wertheu Lehrbuches. Sein Verfasser — dahin darf mau gewiss das
Urtheil zusammenfassen — wusste gute Quellen gut zu benutzen und
hat, wenn man die vielfachen Zahlenbeispiele näher ansieht, auch als
zuverlässiger Rechner sich bewährt.
49. Kapitel.
Italienische Mathematiker.
Wir wenden uns nach dem letzten Lande, dessen mathematische
Erzeugnisse aus dem XIV. Jahrhunderte wir noch zu besprechen
haben, nach Italien. Wer sich des geistvollen Kaufmannes erinnert,
der am Anfange des XIII. Jahrhunderts in Italien lebte, wer damit
unsere Ankündigung (S. 138) verbindet, Italien ringe nunmehr bald
mit Deutschland um den ersten mathematischen Preis, wird schon im
XIV. Jahrhunderte erwarten Bedeutendes sich vorbereiten zu sehen.
Dass diese Erwartung sich erfüllen könnte, wenn aus den Hand-
schriften bekannt würde, was italienische Schriftsteller damals leisteten,
will nicht unbedingt in Abrede gestellt werden. Bei aller Vorsicht,
^) Geometria Culmensis S. 57 und 60. '"■) Ebenda S. 63 — 64. =*) Ebenda
S. 07. ^) Ebenda S. 69: circuli et quadrati adinvicem mala est certa proporcio
et precise demonstrata, sed in tantiim est quod non relinquitur error sensibilis.
Italienische Mathematiker. 155
welche unbewiesenen Behauptungen des Geschichtsschreibers der
italienischen Mathematik gegenüber geboten ist, nehmen wir als
richtig an, was er mittheilt ^), dass im XIV. Jahrhunderte mehrere
hundert Bände mathematischen Inhaltes in Italien verfasst worden
seien, und es wäre gewiss wünschenswerth, dass ein Fachmann sich
der, wenn auch sicherlich grossen und keineswegs immer lohnenden
Mühe unterzöge, an Ort und Stelle die Handschriften zu prüfen und
das geschichtlich Wichtige vollständig oder mindestens im Auszuge
zu veröffentlichen.
Eine Veröffentlichung^), welche stattgefunden hat, erweist sich
bei allem Interesse, das ihr innewohnt, als geeignet, das Bild weit
eher eines Rückganges als einer fortschreitenden Entwicklung hervor-
zurufen. Introdiictonns liher qui et jnilveris clicüur in mathcmaticain
(Usciplinam lautet der Titel einer Niederschrift aus der zweiten Hälfte
des XIV. Jahrhunderts, und schon dieser Titel muss unser Staunen
erregen und giebt zunächst zu verwunderten Fragen Anlass. Ist das
kleine Buch in Italien entstanden, oder nur nach Rom verbracht
worden? Ist es eine lateinisch • verfasste oder aus dem Arabischen
übersetzte Arbeit? Ist sie im XIV. Jahrhunderte verfasst oder damals
nur abgeschrieben? Diese drei Fragen stellen sogar, je nachdem sie
beantwortet werden, unsere Berechtigung grade hier von jener Schrift
zu reden in Zweifel. Die erste Frage wird kaum genügend beant-
wortet werden können, die zweite aber muss wohl dahin entschieden
werden, dass dieses „einleitende Buch des Staubes" nicht übersetzt
ist^). Erstens fehlt jede gebetartige Gottesanrufiing, ohne welche
eine arabische Schrift kaum denkbar ist; zweitens fehlt jede Bezug-
nahme auf Inder, Pythagoras, jede Vergleichuug der Zahlzeichen mit
arabischen Buchstaben, wie sie gleichfalls kennzeichnend für die Er-
zeugnisse arabischer Rechenmeister sind; drittens ist ein Kapitel, wie
wir noch sehen werden, den römischen Minutien gewidmet, was bei
arabischem Ursprünge gradezu unmöglich wäre. Wie aber dann die
dritte Frage zu beantworten sei, scheint uns gleichfalls kaum zweifel-
haft. Der Inhalt ist so viel geringer als der von irgend anderen im
XIV. Jahrhunderte vorhandenen Schriften, dass wir an eine Abschrift
zu glauben uns nicht im Stande fühlen. Ein so schwaches Erzeugniss
kann in jedem Jahrhunderte einmal niedergeschrieben werden, und
der ungerechte Zufall kann es vor dem Untergange bewahren, aber
^) Libri II, 204 und 212 Note. ^) Sur un manuscrit du Vatican du XI V«
siede contenant un traue de calcul emprunte ä la methode Gohäri. Lettre de
M. Henri Narducci ä M. Aristide Marre (1883), Sonderabdruck aus dem Bulletin
JDarboux. ^) Der gleichen Meinung ist H. Narducci: il s'agit ici d'un tra-
vail original ecrit et public en Occident.
156 49. Kapitel.
man vervielfältigt es nicht, es sei denn, dass man geschichtliche
Forschungen dabei im Auge habe, uud das können wir bei einem Ab-
schreiber des XIV. Jahrhunderts einem solchen Schriftchen gegenüber
nicht voraussetzen. Die Schrift ist nicht mehr und nicht weniger
als ein sieben Blätter füllendes dürftiges Lehrbuch der Rechenkunst.
Der Verfasser benutzt die Ziffern mit Stellungswerth , er benutzt zu
deren Erläuterung auch die römischen Zahlzeichen. Er kennt Finger-
und Gelenkzahlen. Er lehrt Addition und Subtraction, Verdoppelung
und Halbirung, Multiplication und Division. Er geht dann zu den
Brüchen, deren Multiplication und Division über, zuerst sofern nur
Brüche, dann sofern aus ganzen Zahlen und Brüchen gemischte
Zahlen vorliegen. Dann kommt die Ausziehung der Quadratwurzel,
endlich, wie schon erwähnt, ein Kapitel über die Zerlegung der Ein-
heit in 12 Unzen, der Unze in weitere Duodecimaltheile. Ein solches
Lehrbuch aber, in den Rechnungsarten an Jordanus Nemorarius und
an Johannes de Sacrobosco erinnernd, mehr als anderthalb Jahr-
hunderte nach ihnen geschrieben, bildet entschieden einen Rückgang,
wo immer sein Verfasser wohnte, einen noch merkwürdigeren Rück-
gang, wenn wir als Heimath das Land betrachten müssen, in welchem
Leonardo von Pisa gelebt hatte.
Für eine geschichtliche Erscheinung nachträglich Gründe zu-
sammenzustellen ist ja nicht immer unmöglich, manchmal auch nicht
schwierig. Man könnte sagen: es war ein Rückgang in mathema-
tischer Beziehunof eingetreten. Noch war für Italien die Zeit nicht
wohnlich und bleibend einzurichten, weil die vorzugsweise begabten
Geister anderen Bestrebungen zugewandt waren. Giotto 1270 — 1336,
Dante 1265-1321, Petrarca 1304—1374, Bocaccio 1313 — 1375
drücken dem Jahrhunderte ihren Stempel auf. Eine Kunstschule in's
Leben rufen, die italienische Sprache bilden, sie beherrschen in
Versen und Prosa, sich versenken in die so gut wie neu entdeckten
Schätze römischer und griechischer Dichter, das war es, was den in
Italien jetzt schon erwachenden Humanismus kennzeichnete. Natur-
beschreibung, selbst ein hoher Gegenstand dichterischer Schilderung,
welche ihr die schönsten Bilder entlieh, mochte daneben blühen, für
Mathematik erwärmte sich keiner von den genannten Meistern. Nun
könnte ja freilich in kaufmännischen Kreisen die Erinnerung an
Leonardo von Pisa wach geblieben sein, könnte wenigstens auf dem
Felde der Rechenkunst Nacheiferer grossgezogen haben.
Wir werden sehen, dass in der That der italienische Kaufmann
Wissenstrieb im Sinne unseres Faches besass, aber einer sehr gedeih-
lichen Entwickelung, kann man weiter sagen, war der Umstand im
Italienische Mathematiker. 157
Wege, dass, während Leonardo ara Anfange des XIII. Jahrhunderts
die Grenze bezeichnete, you der an der unblutige Kampf zwischen
Abacisten und Algorithmikern eudgiltig als zu Gunsten der letzteren
entschieden gelten musste, im letzten Jahre desselben Jahrhunderts
ein Rückschritt in die alte Zeit, wenigstens in die alte Zahlenbezeich-
nung gesetzlich anbefohlen wurde \). Ein Verbot aus dem Jahre 1299
hat sich nämlich in Florenz erhalten, wonach es den Kaufleuten
untersagt wurde, ihre Bücher mit dem Abbacus zu führen.
Es wurde ihnen vielmehr vorgeschrieben, römische Zeichen oder die
ausgeschriebenen Zahlwörter zu benutzen. Abbacus heisst hier offen-
bar, ähnlich wie in dem Werke des Leonardo von Pisa, das was
ausserhalb Italiens den Namen Algorithmus führte. Das Florentiner
Verbot war sicherlich z.u Gunsten grösserer Sicherheit der kauf-
männischen Buchführung erlassen, sei es, dass man meinte, römische
Zahlzeichen Hessen nicht so leicht fälschende Einschiebungen zu, wie
die auf dem Stellungswerthe beruhenden Ziffern, sei es, dass man
voraussetzte, nicht Jeder würde im Stande sein, letztere lesen zu
können, was doch auch nöthig war, wenn die Bücher auf öffentlichen
Glauben Anspruch machten; aber mochte die Absicht des Verbotes
sein, welche sie wolle, sicherlich musste in Folge desselben das Ziffern-
rechnen mindestens keine Fortschritte macheu.
Solche Bemerkungen also könnte man machen, und vielleicht ist
in ihnen mehr als nur ein Körnchen Wahrheit enthalten. Vielleicht
aber auch haben wir uns durch eine Missgeburt eines Verfassers, der
das Verweilen nicht lohnte, zu ungerechtfertigten Schlüssen verlocken
lassen, zu deren Prüfung es nothweudig wäre, dass, wie wir (S. 155)
sagten, der Inhalt der zahlreichen Handschriften, welche vorhanden
sein sollen, bekannt würde. Eine Handschrift aus Kaufmannskreisen
ist bekannt^), und sie macht freilich einen ganz anderen Eindruck,
als das armselige einleitende Buch des Staubes. Sie ist in italieni-
scher Sprache verfasst, mithin jedenfalls von einem Italiener. Die
vorhandene Niederschrift stammt aus dem XIV. Jahrhunderte, einem
älteren Ursprünge widerspricht der hochbedeutende Inhalt. Ort und
Zeit weisen daher uns an, uns in diesem Kaj)itel mit dem auszugs-
weise veröffentlichten Werke zu beschäftigen.
Der Verfasser hat seinen Namen nicht genannt, dagegen äussert
^) Darauf hat für Mathematiker zuerst Hankel, Zur Geschichte der Mathe-
matik im Alterthum und Mittelalter S. 341, Note unter Berufung auf Archivio
storico Appendice T. III (Florenz 1846) pag. 528 aufmerksam gemacht. Die be-
treffende Stelle lautet: si proibisce ai mercatanti di teuere i loro registri in ul>-
haco e si prescrive Vuso delle lettere romane e la covipleta scritttira del numero.
■) Libri 11, 214, Note 1 und III, 302—349.
158 49. Kapitel.
er .sich über die Veranlassung, welche ihn zum Schriftsteller machte.
Er sei gebeten worden, Einiges über den Abacus zu schreiben, was
für Kaufleute nothwendig sei, und zwar von einer solchen Seite, dass
die Bitten ihm Befehle gewesen seien, daher werde er nicht in
dünkelhafter Weise, sondern um Gehorsam zu zeigen, sich anstrengen.
Auch hier ist das Wort alcune cose di abaco keineswegs so aufzu-
fassen, als- wäre von einem Rechenbrette die Rede. Nach den im
Drucke bekannten Auszügen war es vielmehr ein algebraisches Werk,
über welches sich der Verfasser so ausspricht, und auch au die Kauf-
leute erinnern nur gewisse eingekleidete Gleichungen, welche mit
Zinsaufgaben sich beschäftigen, und zwar ausschliesslich mit solchen,
bei welchen Zinseszinsen in Anwendung kommen, die damals die
allein gebräuchlichen gewesen zu >■ sein scheinen, da immer nur von
merito, Zins, schlechtweg ohne jeden unterscheidenden Zusatz die
Rede ist.
Die gebrauchten Kunstausdrücke sind folgende. Die Constante
der Gleichung heisst numero, die Unbekannte cosa und deren
höhere Potenzen der Reihe nach quadrato censo (oder quadrato
allein, oder auch censo allein), censo cubo (oder cubo allein),
censo di censo, censo di cubi. Ausdrücke, welche einer weiteren
Erklärung kaum bedürfen, da censo nur die italienische Form von
census ist, dessen Gerhard von Cremona (Bd. I, S. 755) wie Leonardo
von Pisa fS. 34j sich schon bedienten und höchtens könnte cosa be-
merkenswerth erscheinen, die Uebersetzung von res, während Ger-
hard von Cremona und I^eonardo meistens radix sagten, Leonardo
allerdings einmal (S. 22) auch res. Eine höhere Potenz der Un-
bekannten als die fünfte kommt in den Auszügen nicht vor. Die
zweite bis fünfte Wurzel heissen radice, radice cubo, radice de
radice, radice relata^j, wo besonders der letztere eigenthümliche
Namen zu beachten ist. Der Verfasser gebraucht beim allmählichen
Bilden des Ansatzes sowohl additive als subtractive Zahlen, letztere
mit meno, weniger, verbunden, aber die schhesslich gebildete Glei-
chung ist immer so geordnet, dass auf beiden Seiten der Gleichung
nur Positives erscheint, wie wir heute sagen würden, und dass der
letzte Schritt zur Vorbereitung der Auflösung in der Division durch
den Coefficienten der höchsten Potenz der Unbekannten besteht, beides
Gewohnheiten der arabischen Algebrakundigen seit Alchwarizmi (Bd. I,
S. 682 — 683). Von der Möglichkeit zweier Auflösungen einer quadrati-
schen Gleichung ist, so viel wir bemerken konnten, nie die Rede.
Wie weit der Verfasser in Wurzelausziehungen geübt war, ist nicht
1) Libri, TU, Uö und :^46: radice reluta di 5153632 e 22.
Italienische Mathematiker. 159
zu entscheiden. Wo immer eine nur angenäherte Berechnung irratio-
naler Wurzelgrössen vorkommen musste, hat er sie vermieden und
sich mit der Nemiung der Wurzelgrösse begnügt. Auffallen möchte
nur, dass einmal^) ohne weiteres ]/lO — 1/4— = 1/1 -^ gesetzt ist,
dass also die Umwandlungen |/l0 = 3l/l — , 1/4— =21/ 1— dem
Verfasser klar gewesen sein müssen. Dass er y 5153632 = 22 ^) anders
als durch die Vollziehung der umgekehrten Rechnung 22*^ = 5153632
ermittelt haben sollte, ist gewiss nicht anzunehmen. Die Grösse
1/ '<^ V H~ K ^T scheint er für gleichbedeutend mit 1/ '7 .^ + 1/ l/S-ir-
gehalten zu haben •^), ein Irrthum, der in so früher Zeit, avo wieder-
holte Wurzelausziehungen zu dem Schwierigsten gehört haben müssen,
nicht Grund zur Missachtung bietet, der uns aber immerhin an die
Mangelhaftigkeit damaligen Wissens deutlich mahnt. Noch lebhafter
klingt diese Mahnung aus der Auflösung vieler unter den gestellten
Aufgaben.
Den Dreisatz beherrscht der Verfasser allerdings vollkommen,
so wenn er fragt, was aus 100 Lire in zwei Jahren durch Verzinsung
Averde'^). Nach einem Jahre wird 1 cosa daraus; im zweiten Jahre
muss 100 Lire zu 1 cosa in dem gleichen Verhältnisse stehen wie
1 cosa zu der Fragezahl. Diese findet sich also durch Vervielfachung
von 1 cosa mit 1 cosa zu 1 quadrato censo und Division durch 100.
Auch quadratische Gleichungen und solche, die auf
quadratische Gleichungen sich zurückführen, löst er tadel-
los. Unter den letzteren verstehen wir solche, Avelche in unserer
heutigen Schreibart auf Null gebracht x^ -{- ax'^ -}^ hx = 0 und
x^ -j- «.<■"- -{- h = 0 heissen würden. Aus
IG
., , 5 . , 8 , l/l99
X-'+^X AVird ^=27+ Vl29'
aus a^-\-20 = 9x^ wird a; = 1/ -^ — j/*^^^ — 20 = 2 gefunden^),
wobei in dem letzteren Falle mit keiner Silbe begründet wird, weshalb
bei der erstmaligen Wurzelausziehung die negative Quadratwurzel und
1) Libri HI, 339. ") Ebenda S. 346. ^) Ebenda S. 316, Z. 3. *) Ebenda
S. 318 : Foni que li rendesse il primo anno 1 cosa tra merito e capitale: Jiora di'
100 i da 1 cosa, che dura 1 cosa? multiplica 1 via 1 cosa fa 1 quadrato censo;
XMrtendolo 100 ne vene —- di quadrato di censo. ^) Ebenda S. 30G und 314,
V
160 49. Kapitel.
nicht die positive genommen wurde. Vielleicht war ihm doch be-
kannt, dass auch die andere Wahl ihm freistand, dass also zwei
Grleichungswurzeln hier möglich waren, und er entschied sich für
20, weil sonst a; = ]/5 herausgekommen wäre, während
hier, wo es einen rationalen Werth x = 2 gab, dieser auch gefunden
werden sollte.
Bei den genannten Gleichungsformen bleibt der Verfasser bei
weitem nicht stehen. Er behandelt vielmehr Gleichungen 3., 4.
und 5. Grades nach allgemeinen Regeln, denen leider nur die
Begründung fehlt und fehlen muss, da die Regeln, wie man zu er-
warten berechtigt war, falsch sind^). Wurden schon bei den unreinen
quadratischen Gleichungen die drei bekannten Fälle unterschieden, so
ist bei den kubischen Gleichungen eine Unterscheidung von noch mehr
Fällen nur natürlich. Dass diejenigen Fälle, welche durch Division
durch die Unbekannte zur quadratischen Gleichung führen, richtige
Lösungen finden, haben wir schon erwähnt. Dass Gleichungen mit nur
zwei Gliedern wie aaf' = hx' oder ax^ = ex oder ax^ = k ebenfalls
richtig gelöst werden, ist wieder nicht zu verwundern. Bemerkt sei
nur, dass von den zur Auflösung führenden Divisionen durch die Un-
bekannte nie gesprochen wird. Der Verfasser wird sich dessen ja
bewusst gewesen sein, wieso aus 8it;^ == 3ä^ der Werth a;=|/-^-
folgt, aber gesagt hat er es nicht-). Bei Gleichungen mit drei und
vier Gliedern sind folgende Verfahren eingeschlagen, welche theils
aus den ausdrücklich ausgesprocheneu Vorschriften, theils aus den
Zahlenbeispielen in übereinstimmender Weise hervorgehen. Aus
ax^ =^ cx-\-h wird x^ = — x -\ gebildet und diese Gleichung als
quadratische weiter behandelt:
So 'Sx^= bx -\- 16, welche zu
5 I 1 /o~25'
^=l6 + y2256
^) Was Libri II, 213, Note 1 darüber sagt, beruht auf einem fast unbe-
greiflichen Missverständnisse der Stelle, um die es sich handelt. ") Libri III,
305: 8 cuhi sono equali a 3 cose; parti 3 per 8 cuhi, ne vene — e la radice de
8
— vcde la cosa.
8
Italienische Mathematiker. 101
führt ^). ax^ = hx' -4- l- mebt zunächst x^ = — x- 4- ~ und auch
diese wird weiter behandelt, als stände links x- rechts x, also
So Sx' = 9a-2 + 12 mit .^' = ^^ + l/lSs")- ^i^ viergliedrige Glei-
chung ax'^ = hx- -{- ex -)- k wird so angefasst, als hätte auch die
Constante k noch den Factor x. Sie führt mithin zu
- = ^ + l/^=»-
Wunderlich genug findet später «a" -|- hx- -{- ex =^ /.• die Auflösung
a; = [/ (t") H — r? welche nur dann richtig ist, wenn h-=^oae,
wie es in dem entsprechenden Zahlenbeispiele a;^-f-60a;^-f- 1200.t=4000
wirklich der Fall ist*), so dass a; = y 12000 — 20 eine Gleichungs
Wurzel ist.
Ganz ähnlich verhält es sich mit der Gleicliung vierten Grades
ax^ + hx^ + ex- + dx = Je, deren Wurzel x ^ ]/{^f + 4 " Vt
nur dann als richtig sich erweist, wenn h^ = li) a'-d und zugleich
hc = 6ad, wie es in dem entsprechenden Beispiele
x^ + 80a;=^ + 2400a,-- + 32000a: = 96000
wirklich der Fall ist^), so dass hier
X = y4002 + 96000 — y400 = y 256000 — 20
die Gleichung erfüllt. Aber auch die Gleichung ax'^-\-cx^-\- dx=hx^-\-h
wird besprochen**), und hier wird als Auflösung
angegeben! Während in dem vorhin beigezogenen Falle das Nicht-
auftreten des Coefficienten c sich aufdrängte, während doch wenigstens
eine vierte Wurzel und sämmtliche übrige bekannte Grössen der
Gleichung vorkommen, ist hier sowohl c als h aus dem Wurzel werthe
verschwunden und eine vierte Wurzel ist nicht zu sehen. Die zur
Auflösung vorgelegte Gleichung x^ -\- 2^6 x^ -\- 120 x = 20a;^+ 1800
wird aber gleichwohl durch it = y43 — ]/l8-|-^^ in Folge glücklicher
1) Libri III, 306—307. -; Ebenda S. 307— 308. ') Ebenda S. 308— 309.
*) Ebenda S. 316. ^) Ebenda S. 318. ^) Ebenda S. 346.
Cantor, Geschichte der Mathem. II. -'. Aufl. 11
162 49. Kapitel.
Coefficienteuwahl erfüllt. Bei diesem Beispiele gelingt es, dem Ver-
fasser auf die Spur seines Verfahrens zu kommen. Er sagt zwar, es
handle sich um die Auflösung der genannten Gleichung vierten Grades,
aber diese entsteht auf folgende Weise. Die Zahl 10 soll in zwei
Theile zerlegt werden, deren Product durch ihre Diiferenz getheilt
]/l8 als Quotient geben soll. Verallgemeinern wir die Bedingungen
dahin, dass wir 10 durch a, 18 durch ß ersetzen, so lautet also der
erste Ansatz _ = l//3, und wird derselbe quadrirt und die Glei-
chung geordnet, so erscheint x^-\-{a^ — Aß)x- -\- Aaßx = 2ax^-\- a^ß
genau wie oben. Die Auflösung kann aber auch ohne Quadrirung
vollzogen werden. Durch Multiplication mit a — 2x geht sie über
in x^ 4~ ^Yß =^ (^ + 2yß)x und daraus wird
Beide Theile von a fallen aber nur dann positiv aus, wenn von dem
Doppelzeichen gegen alle sonstige Uebuug älterer Mathematiker das
untere gewählt wird; dann sind die beiden Theile y + ]//3— l/(^) -\- ß
und -J — ]/^+ ]/(y)^+ ß- Wird wieder rückwärts a = 10, /? = 18
eingesetzt, so ist y - l/^ + Vi^f + ß^ ^ — V^ + /^^ ^i^
der Verfasser aussagt. Es fällt schwer anzunehmen, die Schlüsse seien
so, wie wir sie hier vortrugen, gezogen worden, insbesondere bezüg-
lich des Doppelzeichens. Es fällt noch schwerer unter Abweisung
unserer Wiederherstellung einen anderen Weg zu erkennen, den der
Verfasser eingeschlagen haben könnte. Jedenfalls hat er, und diese
Erkenntniss halten wir für nicht unwichtig, in die Form einer Glei-
chung vierten Grades verlarvt, was nur einer Gleichung zweiten Grades
bedurfte.
Wir erwähnen endlich eine Gleichung fünften Grades^) von der
Form ax'^ -\- bx'^ -{- cx^ -\- dx^ -\- ex = h, als deren Wurzel
3 , —
-=y^+i-i/i
auftritt! In dem Zahlenbeispiele
^5 _|_ ioo.# + 4000^^ + 80000a;2 + SOOOOOa; = 1953632
bringt die Vorschrift allerdings a:==yol53632—|^8Ö(X) = 22 — 20=
hervor, welcher Wurzelwerth der Gleichung genügt.
1) Libri III, 345— 34G.
Italienische Mathematiker. 163
Was soll inau aus diesen tolleu uud doch die jedesmaligen Zahleu-
beispiele befriedigenden Wurzelwerthen machen? Gewiss ist keine
andere Folgerung zu ziehen, als diejenige, welche wir an dem einen
Falle einer Gleichung vierten Grades zu erörtern versucht haben.
Der Verfasser jener Algebra hat irgend welche zum Theil recht kraus
aussehende Wurzelwerthe bald von vornherein angenommen, bald
durch Mittel, die er nachträglich zu verbergen wusste, aus den Glei-
chungen sich verschafft; er hat mit ihrer Hilfe Gleichungen dritten,
vierten, fünften Grades gebildet; er hat dann gesucht, die ihm be-
kannten Wurzeln aus den Coefficienten der ihm gleichfalls bekannten
Gleichung herauszurechnen; er hat endlich sieh und seine Leser mit
der Hoffnung getäuscht, die Kunststückchen, welche er unter saurem
Schweisse und nack ungezählten vergeblichen Versuchen herausgeklügelt
hatte, würden auch in anderen Zahleubeispielen ihre Schuldigkeit thuu.
Er war ein ungemein geübter Rechner. Er litt an der Krankheit
der ungenügenden, aber für genügend gehaltenen Induction, welche er
nebst den Aufgaben der kubischen und biquadratischen Gleichungen
seinen Landsleuten hinterliess. Er war trotz der hervorgehobenen
Schwäche nichts weniger als ein unbegabter Mathematiker. Den Be-
weis für diese unsere letzte Behauptung würden vermuthlich die Kennt-
nisse des Verfassers auf anderen mathematischen Gebieten als dem
der Gleichungen höherer Grade zu liefern vermögen, wenn die Aus-
züge aus seiner Schrift etwas ausgiebiger in dieser Beziehung wären.
Einmal ist ein Schild in Gestalt eines gleichseitigen Dreiecks auf
seinen Flächeninhalt zu prüfen^). Ist cosa die Seite, heisst es, dann
ist die halbe Summe der drei Seiten 1^ cose, und diese um 1 cosa
verringert geben ^ cosa, also müsse das Product gebildet werden
aus 1— cose, -- cosa, -^ cosa, — cosa, und dieses oder -^- de censo
de censo gebe das Quadrat des Flächeninhaltes; hier ist augenschein-
lich die heronische Dreiecksformel
t-
-\- b -\- c a -\- b — c a — ö-fc — a -\- b -\- c
2 2 2
unter Berücksichtigung von a = h = c in Anwendun«
dem sollen auch folgende Aufgaben behandelt sein^): In einen Kreis,
in ein Dreieck, in ein Quadrat eine gegebene Anzahl von Kreisen,
von gleichseitigen Dreiecken, von Quadraten einzuzeichnen, so dass
die Flächensumme der eingezeichneten Figuren die grösstmögliche
sei, und ebenso die Aufgabe, in einen Würfel ein Tetraeder von
grösstmöglichem Rauminhalte einzubeschreiben.
1) Libri III, 311—312. -; Ebenda 11, 214 Note.
11*
164 49. Kapitel.
Von einem Scliriftsteller des XIV. Jahrhunderts^ von Antonio
Biliotti, genannt dall' Abaco aus Florenz, wissen wir nur^), dass
er 1383 in Bologna lehrte.
Den gleichen Beinamen dall' Abaco führte Paolo Dagomari-).
Er ist etwa 1281 in Prato geboren, 1374 in Florenz gestorben. Er
führte neben dem angegebenen Beinamen auch den als Paolo Astro-
logo, als Paolo Geometra, als Paolo Arismetra. Nach einer
Angabe seien seine Werke nebst erläuternden Zusätzen des Micillus
1532 in Basel im Drucke erschienen, doch ist diese Ausgabe von
Niemand je beschrieben worden, wenn sie überhaupt vorhanden war.
Er schrieb ein Werk, in welchem die Gleichungen ersten und zweiten
Grades und diejenigen kubischen Gleichungen, welche nur aus zwei
Gliedern bestehen, behandelt sind^). Auch unbestimmte Aufgaben
kommen in der für Kaufleute verfassten Schrift vor, z. B. die Auf-
gabe, eine ganze Zahl von der Eigenschaft zu finden, dass ihr Quadrat
mit dem um 36 verminderten Quadrate vervielfacht wieder ein Quadrat
werde ^). Paolo Dagomari hat zuerst unter den Nicht-Arabern, freilich
wahrscheinlich nach arabischem Muster einen Almanadi unter dem
Titel tacmino verö£Fentlicht, welcher dieser Gattung von Schriften
lange beigeblieben ist. Dem Almanach muss allem Anscheine nach
ein arabisches Wort zu Grunde liegen, doch ist dasselbe mit Sicher-
heit noch nicht erkamit. Taccuino dagegen ist unverkennbar das
arabische taqwim, die Tabelle =''). Am bekamitesten sind die mehrfach
gedruckten Regoluzze di Maestro Paolo dall' Abbaco^). Es
sind 52 sehr kurz gefasste Regeln, welche zu einigen Bemerkungen
Anlass geben. Die 1. Regel schreibt vor, man solle die Zahlen zum
besseren Ueberblick beim Lesen derselben durch Pünktchen in Gruppen
von je drei Ziffern abtheilen. Wir wissen, dass Johaimes von Sa-
crobosco das Gleiche vorschrieb. Das Gleiche wird auch von einem wie
Dagomari dem XIV. Jahrhunderte augehörenden Paolo von Pisa^)
berichtet, der aber eine ziemlich zweifelhafte Persönlichkeit ist und
vielleicht mit unserem Paolo sich deckt. In der 11. Regel sind
Brüche, rotti, erklärt. Man schreibt sie mittels eines Bruchstriches,
') Libri 11, 205, Note 1. -) Boncompagni, Intorno ad alcune opere
di Leonardo Pisano pag. 183, 134, 137, 138, 274—327, 353—397. ») Libri II,
r)27. **) Damit x^{x- — 36) Quadrat sei, muss x^ — 36 ein solches sein, d. h.
X muss die Hypotenuse eines rechtwinkligen Dreiecks sein, dessen eine Kathete
6 ist, und ein solches Dreieck ist z. B. 6, 8, 10. Man kann daher x = 10,
x^{x^ — 36) = 6400 = 80^ setzen. ^) M. Steinschneider in der BiUiotheca
matliematica von G. Eneström 1888, pag. 13—16. **) Libri III, 296— .301. —
Frizzo, Le Eegohtzze di Maestro Paolo daW Ahhaco (Verona 1883). ') Libri
II, 206, Note 5 und 526; III, 295.
Italienische Mathematiker. 165
verga, über welchem der denommato, unter welchem der denominafore
sich findet. Die 12. Regel lehrt die rotti infiUafi kennen, jene auf-
steigenden Kettenbrüche, deren Leonardo von Pisa nach arabischem
Vorbilde (S. 10) sich bediente. In der 14., 15., 16. Regel kommt die
Multiplication und nach ihr die Addition von Brüchen zur Sprache,
das Dividiren durch eine gemischte Zahl erst in der 38. Regel.
Dazwischen schieben sich Regeln des Dreisatzes, der Zinsberechnung,
die Angabe , dass man den Kreisumfang erhalte , wenn man den
Durchmesser mit 22 multiplicire und durch 7 dividire, die Sum-
mirung der Reihe der natürlichen Zahlen. Die Regeln 42 bis 45
beziehen sich auf Kalenderanfertigung. Regel 46 lehrt die Subtrac-
tion ganzer Zahlen von einander mit Borgen von 10 im Minuenden,
wo es nöthig ist, worauf die nächste Subtrahendenstelle um 1 erhöht
wird. Regel 47 lässt die Quadratwurzel einer Zahl näherimgsweise
nach der Formel VA c^ a -\ berechnen u. s. w. Ordnung
kann man, wie diese Auszüge beweisen, den Regeln nicht nachrühmen!
Giovanni Danti von Arezzo ^) wird als Verfasser eines der
Arithmetik des Boethius entnommenen (?) Algorithmus und einer
Geometrie nach arabischen Quellen genannt.
Zu eher 0 Bencivenni") übersetzte Mancherlei astronomischen
und mathematischen Inhaltes aus dem Arabischen in das Italienische.
Bekannter ist freilich sein Name wegen eines grammatischen Ver-
dienstes, da er es gewesen sein soll, der zuerst den Mitlauter v von
dem Selbstlauter u unterscheiden lehrte.
Rafaele Canacci aus Florenz^) hat gleichfalls in italienischer
Sprache über Algebra geschrieben und zwar, wie es scheint im
Anschlüsse an Guglielmo de Lunis, wenn man an die italienische
Algebra dieses von Canacci selbst genannten Vorgängers (S. 100)
glauben darf. Diese Schrift soll namentlich geschichtliche Angaben
in bemerkenswerther Anzahl enthalten, deren Bekanntmachung zu
wünschen wäre, allerdings unter der Voraussetzung, dass sie nicht
alle jener Angabe gleichen, die sich von Canacci aus fortgeerbt zu
haben scheint (Bd. I, S. 679), als führe die Algebra ihren Namen
nach einem gewissen Geber.
Schriftsteller wie Pietro d'Abano, Cecco d'Ascoli, Andalo di Negro,
denen eine ausführliche Geschichte der Physik und der Astronomie
in Italien gerecht werden müsste, übergehen wir und nennen nur
noch Biagio da Parma^). Sein eigentlicher Name war Pelacani.
1) Libri II, 207. *) Ebenda S. 207, Note 4. ^) Ebenda S. 208. Die Hand-
schrift der Algebra des Canacci gehört der Bibliotheca Palatina in Florenz an.
*) Ebenda 209. — Gherardi, Einige Materialien zur Geschichte der mathe-
166 49. Kapitel.
Er trat an den verschiedensten Orten als Lehrer auf, so auch in
Paris, wo man, wie erzählt wird, auf ihn den Ausspruch erfand: „Aut
diabolus est, aut Blasius Parmensis." Seine erste Lehrthätigkeit ent-
wickelte er seit 1374 in Pavia, wo er selbst sich den Doctorgrad er-
worben hatte. In der üniversitäb Bologna hatte er die Professur der
Astrologie, später die der Philosophie in den Jahren 1378 — 1384 inne.
Von Bologna kam er nach Padua bis 1388, wo er wieder in Bologna
Astrologie las. Die Jahre 1404, 1406, 1407 gehören wieder Pavia,
die Zeit von 1408 bis zum 15. Oetober 1411 neuerdings Padua an.
Dann kehrte er in seine Vaterstadt Parma zurück, in welcher er am
23. April 1416 starb. Sein Charakter scheint den häufigen Aufent-
haltswechsel verschuldet zu haben; wenigstens wird glaubwürdig be-
richtet, er sei seiner Stellung in Padua verlustig geworden, weil die
Studirenden, entrüstet über seine Rohheit und Habgier, seine Vor-
lesungen nicht länger besuchten, worauf die Regierung ihn entliess.
Er beschäftigte sich unter anderem mit Statik und mit Perspective
und schrieb überdies Erläuterungen zu den Latitudines formarum des
Oresme. Letztgenannter Commentar ist 1482 in Padua im Drucke
erschienen, gehört aber heute zu den kaum auffindbaren Seltenheiten,
imd doch wären Nachrichten über ihn sehr erwünscht, sowohl wegen
der uns bekannten Bedeutsamkeit des erläuterten Werkes, als auch
um ein Urtheil zu gewimien, wie weit die Berühmtheit des Verfassers
eine verdiente war.
Wir haben das Ende des XIV. Jahrhunderts erreicht. Ueber-
blicken wir dasselbe mit nach rückwärts gewandten Augeu, so sind
es etwa folgende Punkte, die vorzugsweise sich bemerkbar machen.
Die beiden Schulen, deren Vorhandensein im XIII. Jahrhunderte wir
erkannten, sind noch immer getrennt vorhanden. Die geistliche Schule
der Universitäten, an Zahl und Bedeutung der ihr angehörenden Per-
sönlichkeiten überwiegend, bringt in England einen Bradwardinus, in
Frankreich einen Dominicus de Clavasio, einen Oresme hervoi', schickt
Sendboten einer künftigen Grösse nach Deutschland. Die weltliche
oder kaufmännische Schule bleibt noch in Italien haften ohne durch
diese Einengung des Bodens ganz zu verkümmern. Sie zählt auch
Pej-sönlichkeiten von geistiger Bedeutung, wenn auch keineswegs
dem Gründer der Schule, Leonardo von Pisa, nur annähernd gleich-
zustellen.
Ohne Alles, was das XIII. Jahrhundert hinterlassen hatte, voll-
matischen Facultät der alten Universität Bologna (deutsch von Max. Curtze
1871) S. 19. — Favaro, Galileo Galilei e lo studio di Padova (1883), I, 112—114.
— Suter, Math. Univ. S. 50.
Italienische Mathematiker. 167
ständig zu beherrschen, ist das XIV. Jahrhundert dennoch in wich-
tigen Dingen fortgeschritten. Neue mathematische Begriffe kommen
zur Entstehung, deren Reife noch Jahrhunderte auf sich warten lassen
wird. Bradwardinus legt den Grund zu einer allgemeinen Lehre von
den Sternvielecken. In seine philosophisch -mathematischen Unter-
suchungen spielt schon die Frage des Unendlichgrossen, des Unend-
lichkleinen hinein, die nicht mehr zur Ruhe kommen soll. Der Con-
ti ngenzwinkel , schon von Campanus, der auch die Untersuchung der
Sternvielecke in Fluss gebracht hatte, der Beachtung würdig erkannt,
bietet einen Gegenstand der Forschung wie des Streites. Oresme
giebt einer noch ziemlich fernen Zukunft gebrochene Exponenten.
Er giebt ihr eine Yersinnlichung von Veränderungen, aus welcher
neue Wissenschaften entstehen werden. Sind diese Keime den Ge-
lehrten der Universitäten zu verdanken, so sehen wir italienische
Kauflente mit Gleichungen von höherem Grade als dem zweiten sieh
beschäftigen. Es war ein Schritt nicht über Leonardo von Pisa hinaus,
aber neben dem von diesem gebahnten Wege, den sie wagen. Leo-
nardo hatte eine bestimmte kubische Zahlengleichung annähernd ge-
löst, nachdem er gezeigt hatte, welche Gestalt die Gleichungswurzel
nicht haben könne. Jetzt ist von bestimmten Zahlengleichungeu als
solchen nicht die Rede, die Frage nach der allgemeinen Auflösung
der kubischen, der biquadratischen Gleichung drängt sich mächtig in
den Vordergrund. Auch diese Frage wird nun nicht mehr zur Ruhe
kommen. Versuche, dieselbe zu bewältigen, scheitern und werden
noch scheitern. Ungenügende Inductionen führen höchstens zur Nei-
gung, in geheimnissvoller Weise zu verbergen, wie man die der
Induction zu Grunde liegende einzelne Gleichung behandelt hatte.
Auch diese Neigung wird sich vererben, in Italien vererben, bis
wieder in Italien der wiederholt vergebliche Versuch gelingen und die
kubische, die biquadratische Gleichung bewältigt sein wird.
XI. Die Zeit von 1400—1450.
50. Kapitel.
Deutsche Rechenlehrer. Johann von Gemundeii,
Georg von Peurbach.
Wir haben zu Beginn des 48. Kapitels ein Zurückweichen der
mathematischen Wissenschaften in Frankreich und England für den
Anfang des XV. Jahrhunderts angekündigt.
Was die englische Mathematik betriift, so könnten vielleicht For-
schungen im Lande selbst ein günstigeres Ergebniss liefern, als wir
anzunehmen geneigt sind, wenn es wahr sein sollte, was ein Schrift-
steller^) berichtet, dass gerade damals ein ganzer Flug von Mathe-
matikern (a coye of mathematicians) aufstieg. Zur Veröffentlichung
gelangten indessen bisher nur ärmliche Zeugnisse. Wenn z. B.
Höhenmessungen mit der festen Stange (Bd. I, S. 812) vor-
genommen werden^), so ist das doch ein entschiedener Rückschritt,
und einen grossen Fortschritt können wir auch nicht in den Vor-
lesungen von Johannes Norfolk^) über Progressionen, Johannis
Norfolk in artem progressionis Summula, erkennen, welche 1445 ge-
halten wurden. Als eigene Erfindung wird der Inhalt ohnehin nicht
vorgebracht. Progressionen seien von einem gewissen Könige Algor
von Castellieu (sie!) in seinem Algorismus der ganzen Zahlen gelehrt
und sollen hier nur vor Vergessenheit bewahrt werden. Die Ver-
gessenheit scheint aber allerdings schon angefangen zu haben, denn
1, 2, o, 4, 5, 6 oder 2, 7, 12, 17, 22 wird eine geometriscJie , und
1, 2, 4, 8, 16 oder 1, 3, 9, 27 eine arithmetische Progression genannt!
Nehmen wir diese Benennungen in den Kauf, so besteht Norfolk's
obendrein geborgte Weisheit darin, dass die von ihm sogenannte
geometrische Progression in stetige und unterhrochene zerfällt, je nach-
dem die Differenz 1 oder grösser als 1 ist, dass ferner unterschieden
wird, ob die Gliederzahl grad oder ungrad ist, und dass für alle vier
1) Füller, History of the worthies of England (ed. 1811) II, 41.^. ^) Halli-
well, Eara MathemaUca pag. 29—31. ^) Ebenda pag. 94-106. Die üatmmg
pag. 103.
172 50. Kapitel.
Fälle Regeln der Summenbilduug angegeben werden. Von seinen
arithmetischen Progressionen nennt Norfolk nur die der Potenzen
von 2, also 2, 4, 8, 16 u. s. w. Sie werde summirt, indem man das
erste Glied von dem verdoppelten letzten Gliede abziehe. Namen
von Lehrern der Astronomie an englischen Universitäten in diesem
Zeiträume sind uns gleichfalls aufbewahrt, aber von mathematischen
AVerken derselben etwa über das Grenzgebiet der Trigonometrie ist
nicht mehi" die Rede, so dass ein Uebergehen jener blossen Namen
mehr als nur gerechtfertigt für uns erscheint. Ferner sind uns Prü-
fungsordnungen der Universität Oxford erhalten^}. Für das
Baccalaui-eat war im Jahre 1408 Rechnen mit ganzen Zahlen und
Kirchenrechnung vorgeschrieben. Die Anforderungen für das Licen-
tiat sind von 1431 bekannt. Sie belaufen sich auf die Arithmetik
und Musik des Boethius, auf euklidische Geometrie ohne Angabe der
geforderten Bücherzahl oder statt ihrer auf die Perspective des
Witelo, endlich auf astronomische Kenntnisse nach Ptolemäus. Man
kann ja zugeben, dass diese Anforderungen schon über das in Paris
nicht gar lange vorher geforderte Maass (S. 1401 hinausgehen, aber
den Anforderungen wie den Leistungen von Prag und Wien sind sie
nicht zu vergleichen.
Haben wir soeben der Satzungen der Universität Paris
aus dem XIV. Jahrhunderte gedacht, so brachte eine 1452 durch den
päpstlichen Legaten Tuttavilleo vorgenommene Neuordnung'^) keine
Besserung. Für das Baccalaureat war Mathematik gar nicht vor-
geschrieben, für das Licentiat aliqui libri mathematici, eine irgend
nähere Bestimmung dieser Schriften fehlt.
Den niedrigen Stand der mathematischen Studien in Frankreich
bestätigt ferner die geringe Anzahl von Namen, welche wir auffinden.
Höchstens eine einzige Persönlichkeit haben wir aus der ersten Hälfte
des XV. Jahrhunderts zu nennen: Pierre d'Ailly^), gewöhnlich
Petrus de Alliaco genannt, wurde 1350 in Compiegne geboren.
Er war eine Zeit laug Vorsteher des College de Navarre in Paris,
später Rector der pariser Universität. Papst Johann XXHL ernannte
ihn zum Bischof von Cambray und zum Cardinal-Legaten für ganz
Deutschland. Er starb in Avignon etwa 70 Jahre alt; als sein Todes-
tag wird allgemein der 8. August genannt, für das Todesjahr wech-
seln aber die Angaben zwischen 1419, 1420 und 1425. D'Ailly nahm
am Concile von Konstanz theil und legte demselben einen Vorschlag
zur Kalenderverbesseruuff vor. Man solle alle 130 Jahre einen Schalt-
») Sutcr, Math. Univ. S. 52. «) Ebenda. "■) Weidler, Historia astro-
nomiae pag. 295— 296. — Poggendorff I, 19. — Suter, Math. Univ. S. 44.
Deutsche Rechenlebver. .Toliann von OemmKleii, Georg von Peurbach. 173
tag weglassen, um eleu Iirthum wieder gut zu machen, der in der
/u grossen Annalime der Jahresdauer von 365— Tagen läge. Das ist
die ganze Thätigkeit, um derenwillen wir D'Ailly allenfalls erwähnen
durften. Die Geschichte der Geographie nennt noch sein 1410 ge-
schriebenes Buch de imagine Mundi , aus welchem Columbus sich
mancherlei für seine Reisepläne nicht unwichtige Kenntnisse angeeig-
net haben soll.
Wir begeben uns nach Deutschland. Gleich mit Anfang des
XV. Jahrhunderts haben wir als kennzeichnend das Auftreten der
Modisten^) anzuführen. Ein Modist war ein Kenner der „ala-
modischen" Schreibkunst, d. h. der damals zur Mode gelangenden
Kanzleischrift im Gegensatze zu den alten Schriftzügen. Solche Kunst
und die Anfangsgründe des Wissens überhaupt lehrte der Modist
die zu ihm zur Schule gehenden Kinder, vorzugsweise Knaben, aber
auch Mädchen genossen schon einen gewissen Unterricht ^). Der
Lehrplan für die Knaben umfasste frühzeitig die Anfangsgründe der
llechenkunst, und seitdem kann man den Modisten auch als Rechen-
lehrer betrachten, der gewerbsmässig dieser Beschäftigung sieb
widmete und daraus seinen Lebensunterhalt zog. Schon 1409 wird
von Jobs Kapfer, stulschreiber in Nürnberg, berichtet, der „kint
lernt". 1422 war in Frankfurt am Main ein gewiser Heiucze,
kiuderlehrer, der auch unter dem Namen Heincze schriber der
modiste vorkommt. Aehnliche Verhältnisse walteten aller Orten in
Deutsehland, und aus den von Einzelnen ins Leben gerufenen und
geleiteten, aber amtlich erlaubten und besteuerten Unterrichtsanstalten
entwickelte sich allmählich die deutsche Schule im Gegen satze
zur Lateinschule, im ferneren Gegensatze zur nicht erlaubten, aber
darum doch in halb öffentlichem Geheimnisse entstehenden Winkel-
schule. Auf allen diesen Schulen, welcher Art sie angehörten, kann
der Rechenunterricht nicht elementar genug gedacht werden. Kaum
irgendwo wird er das Rechnen mit ganzen Zahlen überschritten haben,
Lehrbücher der Modisten scheinen sich nicht erhalten zu haben, wohl
aber ein solches für die Lateinschule^). Es ist durch eine basler
Handschrift bekannt und in derselben nach Zeit und Bestimmung
gekennzeichnet. An das R,echenbuch schliesst sich nämlich eine von
1) Günther, Unterricht Mittela. S. 294—297; über das Wort Modist S. 295.
— Unger, Methodik der i^raktischen Arithmetik in historischer Entwickeluug
vom Ausgange des Mittelalters bis auf die Gegenwart (1888) S. 17 — 19. Wir
citiren dieses Buch künftig als Unger schlechtweg. ^) Unger S. 20. ^) Das
älteste deutsche Rechenbuch herausgegeben und übersetzt von Friedrich
Unger, Zeitschr. Math. Phys. XXXHI, Histor. - liter. Abthlg. S. 125—145. Der
Text stammt aus der Handschrift F. VII. 12 der basler Universitätsbibliothek
174 50. Kapitel.
derselben Hand geschriebene andere Abhandlung an, und an deren
Ende hat der Schreiber sich als einen Hildesheimer Stiftsschüler
Bernhard unterzeichnet und das Jahr 1445 als das der Vollendung
jener Schrift angegeben. Spätestens 1445 muss also Bernhard der
Stiftsschüler auch das Rechenbuch zu Ende geschrieben haben, und
man geht wohl kaum in der Annahme fehl, er würde des Beiwortes
„Hildesheimer Stiftsschüler" sich nicht bedient haben, wenn das
Rechenbuch nicht für jene Stiftsschule bestimmt gewesen wäre,
welche unzweifelhaft eine Lateinschule war. Um so verwunderlicher
freilich erscheint es, dass das Rechenbuch nicht in lateinischer, son-
dern in niederdeutscher Sprache verfasst ist, wobei die Kunstaus-
drücke natürlich lateinische blieben. Ob Bernhard es selbst verfasst,
ob nur abgeschrieben hat, darüber fehlt jegliche Auskunft. Das
Rechenbuch Bernhardts, wie wir uns deshalb etwas doppelsinnig aus-
zudrücken bescheiden müssen, lehrt nur das Rechnen mit ganzen
Zahlen in dem uns schon oft bekannt gewordenen Umfange mit den
7 Rechuungsarten der Addition und Subtraction, der Verdoppelung
und Halbirung, der Multiplication und Division, der Wurzelausziehung.
Addition, Subtraction und Halbirung beginnen rechts (an die recht
syde), die übrigen Rechnungsarten links (an die slinker syde). Bei
der Lehre vom Anschreiben der Zahl ist der numerus digitus vom
numerus articulus und vom numenis compositus oder mixtus unter-
schieden. Beim Subtrahiren (äff treeken) ist das Borgen (äff dren)
einer Einheit von der Ziffer nächsthöherer Ordnung, welche 10 werth
ist (die een is 10 weerf) vorgeschrieben, die nächste Ziffer bleibt um
die geborgte Einheit erniedrigt. Beim Multipliciren wird 9 mal 8
in 10 weniger 1 mal S verwandelt, also 8 von 80 abgezogen. Das
Dividiren erfolgt überwärts. Quadrat- und Kubikwurzeln werden so
weit ausgezogen, als es ganzzahlig möglich ist, von weitergehender
Annäherung ist keine Rede. Man sieht, es ist das alte in den
Klosterschulen bekannte und gelehrte Rechnen, welches wir bis auf
Jordanus in Europa zurückverfolgen können. Kaum dass im Wortlaut
ein Unterschied von dem ältesten handwerksmässigen Leitfaden, dem
des Johannes von Sacrobosco, wahrnehmbar wäre.
Klopfen wir an die Thüre der deutschen Universitäten, so finden
wir zwar Mathematik über das Rechnen hinaus, das Rechnen selbst
aber auf keiner höheren Stufe als an den vorbereitenden Schulen.
Wien war, wie wir (S. 141) gesagt haben, die vorzugsweise mathe-
matische Universität. An ihr wirkte Johann von Gemunden^).
') Allgem. deutsch. Biogr. XIV, 456—457. Ueber die wissenschaftlichen
Leistungen vergl. M. A. Stern in Ersch. und Gruber's Allgeiu. Encyklop. der
Peutsche Reclienlehrer. Johann von riemunden, Georg von Peurbach. 175
Er mag um 1380 geboren sein. Für seine Heimatli hielt man bald
(imuuden am Traunsee, bald ein Dorf Gemünd in Xiederösterreicli,
bald suchte man sie in Schwäbisch Gemünd. Die letztere Meinung
stützt sich auf die Auffindung eines Computus, welchen im Jahre
1404 Johannes Wissbier de Gamundia ulme studens verfasst
hat. Dieser Yerfassersangabe hat man einestheils entnommen, dass
schon um die Wende des XIV. zum XV. Jahrhundert die ober-
schwäbische Reichsstadt eine Art von Bildungsmittelpunkt für die
süddeutschen Länder abgab, und dieses Ergebniss wird unter allen
Umständen zu bemerken sein, andern theils dass ein in Ulm dem
Studium Obliegender mit grösserer AVahrscheinlichkeit dem benach-
l)arten schwäbischen Gemündeu als dem Städtchen im Salzkammer-
gute oder gar einem niederösterreichischen Dorfe entstammte. Fraglich
bleibt die Sache immer, so lange der Familienname des gemünder
Professors in Wien nicht gesichert ist, ob er Wissbier hiess oder wie
sonst. Man findet zwar die Angabe^), jener Professor sei in dem
Todtenregister der Domherren zu St. Stephan, unter welche er 1411
aufgenommen wurde, als Johannes Nyden de Gemünden einge-
tragen, doch scheint sie urkundlich nicht nachweisbar. Besser gestützt
ist ein dritter Familienname Schindler, der gleichfalls berichtet
wird. Fünf Handschriften der Wiener Bibliothek aus dem XV. Jahr-
hundert nennen sämmtlich Johannes Schindler de Gamundia
als Verfas.ser. Von ihm müsste man dann einen Johannes Schin-
del aus Königgrätz") unterscheiden. Letzterer ist um 1375 in
Königgrätz geboren, lehrte zwischen 140G und 1410 in Wien, dann
in Prag, wo er vor 1450 starb. Im Auslande war er als Joannes
Pragensis weit und breit berühmt. Wäre Wissbier doch der rich-
tige Name, so könnte der Umstand, dass Johannes Wissbier 1404 in
Ulm studirte und Johannes von Gemunden am 21. März 1406 in
Wien zum Magister der freien Künste wurde, bei der oftmals sehr
langen Zeit, über welche Studien sich ausdehnten, einen Widerspruch
nicht bilden. Die Lehrthätigkeit an den Universitäten war damals
noch keine nach Fächern streng gesonderte, so wenig es Studirende
dieses oder jenes Einzelfaches in der Artistenfacultät gab. Eigent-
Wissenscb. u. Kunst H. Section, 22. Theil S. 188—190. — C. J. Gerhardt, Ge-
schichte der Mathematik in Deutschland (1877) S. 5 — 8. "Wir citiren dieses
Buch künftig als Gerhardt, Math. Deutschi. — Günther, Unterricht Mittela.
S. 232—235.
^) B.ud. Wolf, Geschichte der Astronomie S. 86. -) Czerny im Archiv
für Oesterreichische Geschichte (1888) LXXII, 300—301. F. J. Studnicka in
den Sitzungsberichten der königl. böhm. Gesellschaft der Wissenschaften. Jahr-
gang 189-2. S. 103 — 104.
176 50- Kapitel.
liehe Fachwissenschaften waren noch nicht so hoch entwickelt, um
eine besondere Lebensaufgabe des Einzelnen bilden zu müssen. Wer
lehren wollte, war bereit Alles zu lehren und musste um so mehr
dazu bereit sein, nachdem (S. 141) die Ueberzahl der Lehrer in Wien
den uns heute so unmöglich scheinenden Ausweg betreten liess, dass
am Jahresanfang durch Verlosung die Reihenfolge bestimmt wurde,
nach welcher die Professoren Gegenstand und Stunde der Vorlesung
sich wählen durften. Wer spät zur Wahl kam, musste in beiden
Beziehungen mit dem vorlieb nehmen, was die Vorgänger verschmäht
hatten. Vor und nach Johannes von Gemunden finden wir daher
Nichtmathematiker mit mathematischen, Mathematiker mit nichtmathe-
matischen Vorlesungen betraut, wenn wir unseren eigenen Aeusserungen
entgegen diese Bezeichnuugen beibehalten dürfen. Mathematiker nennen
wir nicht solche Persönlichkeiten einer frühen Zeit, welche ausschliess-
lich der Mathematik ihr öffentliches Leben widmeten, denn solche
gab es nicht, sondern Männer, deren Spuren die Geschichte erhalten
hat; von wem derartige Spuren nicht vorhanden sind, der ist für uns
Nichtmathematiker gewesen. Johannes von Gemunden selbst begann
mit philosophischen Vorlesungen, wie z. B. mit einer Vorlesung De
sensu et sensato. Im Jahre 1412 lehrte er den Algorismus de in-
tegris, 1414 Perspectiva communis, 1416 und 1417 Algorismus de
minutiis. Seit 1420 las er über die verschiedensten mathematischen
Gegenstände, aber ausschliesslich über solche bald über die Elemente
Euklid's und die Sphaera materialis, bald über die Theoriae planeta-
rnm, bald über den Gebrauch des Astrolabiums, welche letztere Vor-
lesung er zuerst in Wien einführte. Es mag wohl allmälig die Ge-
wohnheit sich herausgestellt haben, ihm, zu welchem Augenblicke
auch die Reihe ihn traf, denjenigen Gegenstand freizuhalten, den er
gerade vorzutragen wünschte, und damit war der allmälige Uebergang
von der Professur in der Artistenfacultät überhaupt zur Fachprofessur
der Mathematik in Wien angebahnt. Allerdings setzte eine solche
Rücksichtnahme auf persönliche Wünsche des Einzelnen eine hohe
Achtung voraus, in welcher er selbst und seine Lehrthätigkeit bei den
Mitprofessoren stehen musste. Dass dem bei Johannes von Gemun-
den so war, wird auch dadurch bestätigt, dass man ihm 1418 ge-
stattete, während einer Unpässlichkeit von längerer Dauer seine Vor-
lesungen im eigenen Hause zu halten, was gegen alle Regel war. Er
setzte seine erspriessliche Thätigkeit bis zu seinem am 23. Februar
1442 erfolgenden Tode fort. Seine Bücher und Instrumente hatte er,
unter dem Vorbehalte sie lebenslänglich frei benutzen zu dürfen,
schon 1435 der Universität geschenkt. Die Bücher sollten in der
Bibliothek cresondert aufsfestellt und tjetjen Entriehtuuof eines in die
Deutsche Rechenlehrer. Johann von Gemunclen, Georg von Peurbach. 177
Facultätskasse fliessenden Betrages auch ausgeliehen werden. So war
Johannes von Gemunden gewiss eine hochansehnliche Lehrkraft. Die
Geschichte der Astronomie hebt rühmend hervor, dass er einen, viel-
leicht auch zwei Kalender anfertigte, die in Holz geschnitten und auf
diese Weise vervielfältigt wurden ^), dass auch andere Tabellen, z. B.
die ersten Ephemeriden, von ihm berechnet wurden. In seinen Vor-
lesungen über den Algorismus de integris hat Johannes von Gemun-
den stets Sacrobosco's Leitfaden zu Grunde gelegt. In den Vor-
lesungen über das Bruchrechnen benutzte er sicherlich wenigstens
zum Theil eine von ihm selbst verfasste Anleitung, welche 1515 in
Wien gedruckt worden ist, und welche den Titel führt: Tractatus de
Minutiis phisicis compositus Viennae Austriae per M. Joannem de
Gmunden-). Welches Buch er bei dem Rechnen mit gewöhnlichen
Brüchen benutzte, darüber sind wir leider ohne Auskunft. Unter den
minutiae phisicae nämlich sind, wie immer unter diesem Ausdrucke,
Sexagesimalbrüche verstanden. Dass der 360. Theil des Kreis-
umfanges als Grad bezeichnet wird, der in GO Minuten zerfällt, wäh-
rend jede Minute aus GO Secunden u. s. w. besteht (Bd. I, S. 388), ist
bekannt genug. Aber auch nach aufwärts war ein Zusammenfassen
von Graden wünschenswerth. Dazu pflegte man sich des Thierkreises
mit seinen 12 Zeichen zu bedienen, so das ein Zeichen, signum, aus
30 Graden bestand. Das war freilich eine Regelwidrigkeit gegen die
Sechzigtheilung, und ihr konnte entgangen werden, wenn zwei Thier-
kreiszeichen, also 60 Grade, als eine höhere Einheit zusammengefasst
wurden. Dieses vollzog Johann von Gemunden und nannte die 60
Grade ein signum pliisicimi, von welchen also 6 den Kreisumfang
bildeten. Diese Neuerung, die keineswegs als eine ganz unbedeutende
zu erachten ist, da sie ein deutliches Erfassen des Grundgedankens
der Sexagesimalrechnung verräth, war übrigens nicht Eigenthum des
Johannes von Gemunden, noch wurde sie von ihm als solche in An-
sprach genommen. Er beruft sich vielmehr ausdrücklich auf König
Alfons X. von Leon als Vorgänger^), und wirklich sind auch in dessen
1252 vollendeten astronomischen Tafeln die 60 gradigen Zeichen ein-
geführt, die nur keine Nachahmung fanden. Jordanus Nemorarius
ging bei seiner Darstellung, wie wir (S. 66) ausdrücklich hervorge-
hoben haben, überhaupt nicht vom Kreise aus. Für ihn gab es dess-
') von Zach, Monatliche Corresijondenz zur Beförderung der Erd- und
Himmelskunde XVIII, 583 — 593 mit einem Abdruck einer der erhaltenen Origi-
nalholzschnitttafeln. Ferner ebenda XIX, 196—198 und 284—292. *) Wir be-
richten nach dem Auszuge bei Gerhardt, Math. Deutschi. S. 5 — 8. ^) In
tabulis vero alphoncii et in tabulis meis non ponuntur talia signa, sed signa
phisica quorum quodlihet valet duo signa communia.
Cantob, Geschichte der Mathem. II. 2. Aufl. 12
178 50. Kapitel.
halb weder Zeichen noch Grade, sondern nur Ganze und deren Bruch-
theile, die Minuten, Secunden, Tertien. Johannes von Gemunden zeigt
nun an einem Beispiele die Verwerthung der Stellung zur Angabe
des Ranges der Sexagesimalbrüche. Auch davon war bei Jordanus
keine Rede und konnte vermöge der rein theoretischen Anlage seines
Algorithmus demonstratus, in welchem Zahlenbeispiele grundsätzlich
bald gar keine, bald eine Nebenrolle spielten, kaum die Rede sein.
Johannes von Gemunden dagegen lehrt 2 Zeichen 24 Grade 36 Minu-
ten 45 Secunden werden .2. 24. 36. 45. geschrieben. Diese Schreibweise,
repraesentatio minuciarum phisicarum, inbegriffen, lehrt er 10 Rech-
nungsarten. Nämlich 2. Verwandlung von Ganzen in Brüche und
umgekehrt, sowie Zurückführung von Brüchen vei-schiedener Be-
nennung auf den gleichen Nenner und umgekehrt, 3. Addition, 4. Sub-
traktion, 5. Halbirung, 6. Verdoppelung, 7. Multiplication, 8. Division,
9. Quadratwurzel, 10. Kubikwurzel. Addiren, Subtrahiren, Halbiren
beginnen nach alter Gewohnheit rechts, dazu kommt aber abweichend
von dem früheren Brauche die Verdoppelung; sie sei nur Addition
zweier gleicher Zahlen, und desshalb müsse bei ihr wie bei der Ad-
dition verfahren werden. Bei der Multiphcation und Division kommen
als Sexagesimalbrüche höchster Ordnung solche mit dem Nenner 60^,
also ausser den Tertien noch Quarten, Quinten, Sexten vor. Beim
Ausziehen der Quadratwurzel wechseln plötzlich, sofern die Annähe-
rung weiter getrieben werden will, als der unmittelbar gegebene Radi
cand es zulässt, Sexagesimalbrüche mit Decimalbrüchen. Ganz
neu ist ja deren Anwendung auch nicht. Johannes von Luna hat
schon (Bd. I, S. 752) sich ihrer ganz ähnlich bedient. Aber dort
waren Sexagesimalbrüche nicht schon im Laufe der Rechnung benutzt.
Man soll, so ist die Vorschrift des Johann von Gemunden, den ganzen
Radicanden auf die Benennung des letzten Sexagesimalbruches bringen,
der aber noth wendig von grader Ordnung (60'") gewählt werden
muss und ihm rechts noch Nullenpaare in beliebiger Anzahl beifügen.
Dann theilt man von der Rechten anfangend den als ganze Zahl be-
trachteten neugestalteten Radicanden in zweistellige Gruppen und zieht
die Wurzel, bleibt ein Rest, so wird er weggelassen ^). Von der ge-
fundeneu Wurzel schneidet man rechts halb so viele Ziffern ab, als
Nullen angefügt waren, und verwahrt sie. Die nach links übrigen
Stellen bilden den Zähler der Wurzel, deren Nenner von halb so
hoher Ordnung (60") ist, als der anfängliche Radicand. Nun nimmt
man die vorher verwahrten Stellen, vervielfacht sie mit 60, schneidet
wieder genau so viele Ziffern rechts ab als vorher, nämlich immer
*) si Sit aUfßiid residuum x>ro nihüo computetur.
Deutsche Rechenlehrer. Johann von Gemunden, Georg von Peurbach. 179
halb so viele als Nullen angefügt worden waren n. s. w. So findet
man die Zähler weiterer Sexagesimalbrüche, und je mehr Nullen an-
gefügt worden waren, um so genauer erhält man die Wurzel^). Das
ist ein um so eigenthümlicher gemischtes Verfahren, als Theon von
Alexandria (Bd. I, S. 461) die Aufsuchung angenäherter Quadratwur-
zeln unmittelbar an Sexagesimalbrüchen genau gelehrt hatte, ein
Verfahren, welches ofienbar nicht zu den Arabern gelangt oder durch
deren Vermitteluug noch nicht wieder in das Abendland gedrungen
war, so wenig dieses mit dem griechischen Texte der Fall gewesen
sein muss.
Wir haben somit in Johann von Gemunden einen Mathematiker
und Astronomen kennen gelernt, der in mancher Leistung, als Schrift-
steller (wofür wir auch eine Abhandlung De arcubus et sinihus an-
führen könnten) wie als Lehrer, über das schon Vorhandene hinaus-
ging, der aber trotzdem es nicht verschmähte, noch dem Bildungsgange
der damals Studirenden gegenüber es verschmähen durfte, ab und zu
das niedrigste Rechnen mit ganzen Zahlen zu lehren. Nicht anders
wurde es an den anderen deutschen Universitäten gehalten.
In Prag lebte Kristan von Prachatic-) von 1392 — 1437.
Sein Älgorismus prosaycus enthält was alle ähnliche Schriften damals
boten, aber auch Einiges darüber hinaus. Bei ihm findet sich die
Netzmultiplication (Bd. I, S. 571), bei ihm ein kleines Einmaleins in
quadratischer, ein grosses Einmaleins bis zu 20 mal 20 in dreieckiger
Anordnung, bei ihm eine kleine Tafel der Quadrat- und Kubikzahlen
bis zu 81 und 729.
In Erfurt musste im XV. Jahrhunderte ein Monat auf die Vor-
lesung über den Älgorismus, ebenso ein Monat auf die über den Com-
putus verwandt werden^). Die Universität Leipzig entstand 1409
durch aus Prag dorthin sich wendende Lehrer und Studirende, welche
böhmischer Unduldsamkeit sich entzogen. Die ersten Satzungen der
neuen Hochschule verlangen für das Baccalaureat die Sphaera mate-
rialis, die zweiten Satzungen von 1436 und 1437 fügen dem die
Forderung des Älgorismus und Computus bei*), und ähnliche Vor-
lesungen Hessen sich ohne Schwierigkeit auch an anderen Universitäten
nachweisen.
Kehren wir nach Wien zurück, so wissen wir Schüler des Johann
von Gemunden als dessen Nachfolger nicht zu nennen. Er soll zwar
^) et quanto plures cifras praeposueris tanto praecisius hahehis radicem.
*) F. J. Studnicka in den Sitzungsberichten der königl. böhm. Gesellschaft der
Wissenschaften, Jahrgang 1892, S. 100 — 103 und: Älgorismus prosaycus Magistri
Christiani anno fere 1400 scr«pf«s herausgegeben von F. J. Studnicka. Prag 1893.
2) Suter, Math. Univ. S. 42. *) Ebenda S. 53.
180 50. Kapitel.
deren viele gehabt haben, aber wenn schon nach einem Jahrhunderte
von ihnen gesagt ist, dass die Zeit ihre Namen verloren gehen liess^),
so wird denselben vermuthlich nicht viel nachzurühmen gewesen
sein. Anders verhält es sich mit dem Manne, der, ohne Schüler des
Johann von Gemunden gewesen zu sein, als sein Nachfolger bezeichnet
werden darf. Er reicht zwar über die Grenze der ersten Hälfte des
XV. Jahrhunderts um einige Jahre hinaus, aber so haarscharf können
wir die Abschnitte, in welche wir diesen Band gliedern, nicht be-
grenzen, dass wir, seltene Ausnahmen vorbehalten, eine Persönlichkeit
durchschneiden, um sie in mehreren Abschnitten zu behandeln.
Georg von Peurbach^), den wir hier im Auge haben, ist geboren
den 30. Mai 1423 an der bairisch-österreichischen Grenze unweit von
Linz in dem Orte Peurbach. Die Rechtschreibung des Ortes und des
Mannes wechselt mehrfach, man findet auch Peyerbach und Bur-
bach. Peurbach, so nennt man ihn jetzt gewöhnlich mit dem Orts-
namen selbst, studirte jedenfalls in Wien und erwarb dort den Grad
eines Magisters in der Artistenfacultät. Dann begab er sich auf
Reisen, insbesondere nach Italien, wo er mit zwei Männern bekannt
wurde, von denen weiter unten die Rede sein muss, mit Bianchini
und mit Nicolaus Cusanus. Im Jahre 1453 spätestens kehrte
Peurbach nach Wien zurück und lebte dort in sehr ärmlichen Ver-
hältnissen, von Schulden bedrückt, bis er 1454 in die Stellung des
Astronomen Königs Ladislaus von Ungarn eintrat. Etwas später
finden wir ihn als Lehrer an der wiener Universität. Man würde
irren, wenn man glaubte, er habe vorzugsweise mathematische und
astronomische Vorlesungen gehalten. Einige von letzterer Art werden
allerdings erwähnt, er schrieb auch einen Algorismus für „die jungen
Studenten der hoen schnei zu Wien", allein er las mit Vorliebe über
lateinische Schriftsteller: 1456 über Juvenal, 1458 über Horaz, 1460
über die Aeneis des Vergil. Peurbach starb den 8. April 1461 und
soll im Stephansdome beerdigt worden sein. Von den Schriften
Peurbach's haben wir soeben seinen Algorismus angeführt. Derselbe
wurde seit Ende des Jahrhunderts, zuerst vielleicht 1492 unter dem
Titel Opus algorismi jocundissimum, mehrfach gedruckt und bildete
gleich Peurbach's astronomischem Lehrbuche, Theoricae planetarum,
welches in der Zeit von 1460 bis 1581 nicht weniger als 14 mal ge-
druckt worden ist, lange Zeit das stehende Lehrbuch der Universitäten.
') quorum vetustas nomina abolevit sagte Tannstetter. Vgl. Kästner LI,
529. -) Kästner I, 529—548. — Gerhardt, Math. Deutschi. S. 8—12. —
Günther, Unterricht. Mittela. S. 235—241. — Alb. Czerny, Aus dem Brief-
wechsel des grossen Astronomen Georg von Peurbach im Archiv für Oester-
reichische Geschichte LXXII, 283—304.
Deutsche Kechenlehrei-. Johann von Gemuuflen, Georg von reurbacli. 181
Peurbach, kann man sagen, löste in dieser Beziehung Sacrobosco ab.
Der Algorismus freilich, der bald Opus Algorismi jocundissimum, wie
wir schon gesagt haben, bald Opus Algorithmi, bald Institutiones in
arithmeticam, bald ohne nähere Inhaltsbezeichnung Opusculum Magistri
Georgii Peurbachii heisst, erhebt sich kaum über den, welchen er
verdrängte. Gleich dem Algorismus des Sacrobosco giebt er nur
Regeln, nirgend Beweise; gleich ihm beschleppt er sich mit Mediatio
und Duplatio als besondern Rechnungsarten; gleich ihm handelt er
in den meisten Druckausgaben nur von ganzzahligem Rechnen, ist
also ein algorithmus de integris. Man könnte dieses begreiflich
finden, auch eine Erklärung dafür darin sehen, dass für das Bruch-
rechnen, soweit es einer neuen Bearbeitung zu bedürfen schien, soeben
erst durch Johann von Gemunden gesorgt worden war, allein eine
durch Melanchthon und Yoegelin besorgte, in Wittenberg gedruckte
Ausgabe von 1536 enthält einen dem Peurbach zugeschriebenen algo-
rithmus de minuciis und einen algorithmus de proportionibus, von
welchen der erstere echt zu sein scheint, da er auch in einer Mün-
chener Handschrift des XV. Jahrhunderts vorkommt. Es will scheinen
als ob Peurbach zunächst darin sogar hinter seinem Vorgänger Sacro-
bosco zurückblieb, dass er die Kubikwurzelausziehung wegliess, wie-
Avohl aus den unter einander verschiedenen Drucken, die ja alle
mindestens 30 Jahre nach Peurbach's Tode erfolgten, ein sicherer
Schluss nicht gezogen werden kann^), wiewohl anzuerkennen ist, es
sei wahrscheinlicher, dass ein zweiter Drucker dem Bedürfnisse der
Zeit Rechnung tragend etwas hinzufügte, was er gleichviel von wem
sich anfertigen liess, als dass ein erster Drucker aus dem handschrift-
lich Vorhandenen etwas fortgelassen hätte. Die Ausführung der
Rechnungsarten hat vollends keinerlei Veränderung erhalten. Wüssten
wir von keinem anderen Werke Peurbach's, so würden wi^- die Be-
wunderung, welche ihm gezollt wurde, und welche z. B. in seiner
Grabinschrift-) ausgesprochen ist, kaum begreifen. Um so verständ-
licher wird uns dieselbe, wenn wir eine andere Arbeit in's Auge
n.
Wir meinen den Tractatus Georgii Furbachii super Propositiones
1) Gerhardt, Math. Deutschi. S. 10 sagt: In seiner ursprünglichen Gestalt
enthält der Algorismus Peurbach's die folgenden mathematischen Operationen:
Numeratio, Additio, Subtractio, Mediatio, Duplatio, Multiplicatio , Divisio, Pro-
gressio, mit welcher letzteren die Ausziehung der Quadratwurzel verbunden ist.
Günther, Unterricht Mittela. S. 237 giebt nach einem Drucke von 1503 an,
dass nach der Eadiciim extractio quadrata noch kommen: Badicum extractio
cubica, Recjula aurea sive de tre, Regula societatis, Enigma, ^) Erhalten bei
Weidler, Historiae Ästronomiae pag. 300.
182 50. Kapitel.
Ptolemaei de sinuhus et chordis, der 1541 iu Nürnberg gemeinschaftlich
mit einer Tabelle des Regiomontanus, Peurbach's berühmtestem
Schüler, gedruckt worden ist, wenn er auch eine gewisse Abhängigkeit
von Johann's von Gemunden Abhandlung De arcubus et sinibus nicht
verkennen lässt^). Bekanntlich unterscheidet sich die Trigonometrie
des Ptolemäus von der arabischen Trigonometrie wesentlich dadurch,
dass in ersterer Sehnentafeln, in letzterer Sinustafeln (Bd. I, S. 391
und 694) benutzt wurden. Diejenigen Astronomen, welche an Schriften
beiderlei Ursprungs ihre Studien machten, waren dadurch genöthigt,
mit beiden Auffassungen sich bekannt zu machen. Dass dabei die
praktischen Vortheile der Sinustrigonometrie, wenn es gestattet ist
diese Wortverbindung zu wagen, deutlich und deutlicher hervortraten,
liegt in ihnen selbst begründet. Dass damit im Zusammenhange der
Wunsch nach neuen und genauen Sinustafeln auftrat, ist leicht be-
greiflich, und diesen Wunsch zu befriedigen hat Peurbach zuerst in
Deutschland sich zur Aufgabe gestellt. Die beabsichtigte Genauigkeit
war nun in zwei Richtungen zu suchen, einmal in der Richtung, dass
der Kreishalbmesser, in dessen Theilen die Sinuslinie gemessen wurde,
möglich gross angenommen wurde, zweitens in der Richtung, dass
die Winkel, deren Sinus unmittelbar aus der Tabelle zu entnehmen
waren, in kleinstmöglichen Zwischenräumen auf einander folgten. In
letzterer Beziehung hat Peurbach die Winkel von 10 zu 10 Minuten
zunehmen lassen -). Die Länge des Halbmessers hat er mit (300000
angesetzt^). Wir glauben nicht irre zu gehen, wenn wir in dieser
für den Sinus fotus, den Sinus in seiner ganzen erreichbaren Länge,
d. h. eben den Halbmesser, gesetzten Zahl eine Nachwirkung der von
Johann von Gemunden beliebten Vermengung sexagesimaler und deci-
maler Theiluug, von der wir oben sprachen, erkennen. Jener hielt
es für nothwendig die decimale Theilung nur als Durchgangspforte
gleichsam zu behandeln und nachträglich wieder zu Sexagesimal-
brüchen überzugehen. Peurbach ersparte sich die letztere Arbeit
durch die Wahl von 60 X 10* als Längeneinheit. Der nächste
Schritt musste den Halbmesser rein decimal theilen, und wir werden
sehen, dass derselbe nicht lange mehr auf sich warten Hess. Die
Sinustafel, welche in der die Nummer 5277 tragenden Handschrift
der wiener Bibliothek sammt Erläuterungen vorhanden ist, und in
deren Beschreibung Proportionaltheile ganz wie in späterer Zeit zur
') Curtze brieflich. *) Tann.stetter sagt: Nova tabula sinus de decem
mümtis in decem per muUas niiUenarias paries. Vergl. Pfleiderer, Ebene Tri-
gonometrie mit Anwendungen und Beiträgen zur Geschichte derselben (1802)
S. 21 Note 6. Dieses allzuselten zu Rathe gezogene, ungemein gewissenhaft
gearbeitete Buch citiren wir als Pfleiderer. ^) Kästner I, 535.
Dentsclie Roclicnleliror. Jobann von Gemunden, Georg von Peurbach. 183
Anwendung empfohlen sind ^), ist nicht zum Abdrucke gelangt, wohl
aber, wie wir sagten, im Jahre 1541 die einleitenden Bemerkungen,
der Tractatus super Propositiones Ptolemaei u. s. w., und in ihnen ^)
giebt sich Peurbach als klardenkenden Mathematiker zu erkennen,
der seinen Stoff überdies durchaus beherrscht, für welchen ihm, wie
es scheint, zwei Quellen zu Gebote standen, eine der vorhandenen
Uebersetzungen des ptolemäischen Almagestes, so gut oder schlecht
sie war, und eine Uebersetzung von Werken eines westarabischen
Astronomen ArzacheT^). Auf ihn beruft sich Peurbach ausdrücklich
bei Auseinandersetzung der Rechnung, mittels deren er die Sinusse
gewisser Winkel auffindet, und welche er im Geiste Arzachels ge-
führt*) nennt. Arzachel, der gegen Ende des XI. Jahrhunderts lebte,
setzte die Länge des Durchmessers mit 300, die des Halbmessers
mit 150 an^), war also auf die von uns besonders betonte Wahl von
600000 für den Halbmesser ohne jeden Einfluss. Wohl aber dürfte
sonst mancherlei bei Peurbach auf ihn zurückzuführen sein. Peurbach
beginnt mit der Frage nach dem Verhältnisse des Kreisumfanges zum
Durchmesser. Er weiss, dass Archimed es zwischen 3-=- und 3 —
' 7 71
377
eingeschlossen hat, dass Ptolemäus es zu -^ annahm (Bd. I, S. 394),
dass die Inder (Bd. I, S. 606) es mit ]/l0 für einerlei erklären; wüsste
also Jemand die Wurzeln solcher Zahlen zu finden, welche einer
rechten Wurzel entbehren, so fände er leicht, wie viel Theile der
Durchmesser im Verhältnisse zum Kreisumfange hätte ^). Wieder
Andere, fährt Peurbach fort, sagen, jenes Verhältniss sei wie 20000
zu 62832 (Bd. I, S. 604), aber streng genommen ist ein Verhältniss
überhaupt nicht vorhanden, weil das Gerade und das Krumme nicht
Grössen derselben Art sind; dagegen waltet zwischen ihnen eine
gegenseitige Beziehung, denn der Sinus ist Sinus eines bestimmten
Bogens, und der Bogen ist Bogen eines bestimmten Sinus ^). Mit
Ptolemäus stimmt Peurbach in der Berechnung der Seiten der regel-
mässigen Sehnen Vielecke von 3, 4, 5, 6, 10 Seiten überein, mit ihm
in der Benutzung des Satzes, dass der Quotient der grösseren Sehne
getheilt durch die kleinere, kleiner ist als der Quotient der von den
Sehnen bespannten Bögen, zur Auffindung der Sehne von P.
1) Curtze brieflich. ä) Kästner I, 540 — 548. ^) R. Wolf, Ge-
schichte der Astronomie S. 72. *) Haec de mente Arsahelis. ^) Kästner
I, 524. ^) Incli vero dicunt: si qais sciret radices nwnerorum recta radice caren-
tium invenire, ille faciliter inveniret quanta esset diameter respeetu eircumferentiae.
Et secundum eos, si diameter fuerit unitas, erit circumferentia radix de decem.
'')... eo quod rectum et curvum non sunt eiusdem speciei. Est tarnen inter eos
mutua relatio, nam sinus est portionis sinus, et portio. est sinus portio.
184
50. Kapitel.
Peurbacli hat auch einen praktischen Gebrauch von seiner Sinus-
tafel zu astronomischen sowohl als zu geodätischen Zwecken gemacht.
Sie dienten ihm bei Anwendung eines von ihm erfundenen Mess-
instrumentes, dessen Beschreibung er einem Erzbischof Johannes von
Gran (Strigonium) in Ungarn zueignete^). Der gewöhnliche Name
jenes Messinstrumentes lautet Quadratum geometricum, es ist aber
nicht mit jenem Quadrate zu verwechseln, dessen man sich etwa
hundert Jahre früher in England (S. 112) zu ähnlichen Zwecken be-
diente. Jenes wurde selbst gedreht, damit man längs einer Seite des-
selben nach einem Punkte hinvisiren konnte. Einen solchen Gebrauch
gestattet Peurbach's Vorrichtung, welche weit mehr an Gerbert's
Astrolabium (Bd. I, S. 812) erinnert, schon ihrer Ausmessungen wegen
nicht. Das Quadratum geometricum (Fig. 30) aus Holz oder Metall
hergestellt, hatte Seiten von je zwei Ellen Länge. Zwei derselben,
als latus versum und latus rec-
j^ Latiis9 versjim « , i • i i • •
c>ii UM I — I mm bezeichnet, waren m je
1200 Theile getheilt, so dass
jedes Theilchen etwa 1 Milli-
meter betrug. Die Bezeichnung
1200 befand sich an jenem End-
punkte, wo die beiden getheil-
ten Seiten aneinander stiessen.
Um den diagonal gegenüber-
liegenden Eckpunkt war ein mit
zwei Dioptern ausgestattetes
Lineal drehbar. Die Aufstellung
des Quadrates wurde durch ein Bleisenkel geregelt, welches von einem
Ansätze an die senkrechte ungetheilte Quadratseite herabhing und
durch einen Schlitz in einer ähnlichen Verlängerung der wagrechten
ungetheilten Seite hindurch sich fortsetzte, so dass ihm etwas Spiel-
raum gegeben war. Von einem Stative ist keine Rede. Wurde nun
mit Hilfe des Diopterlineals irgend ein Punkt, Stern, Thurmspitze oder
dergleichen einvisirt, so schnitt das Lineal dabei eine getheilte Seite
in einem ablesbaren Punkte, z, B. im Punkte GOO des latus rectum.
Die Länge des Diopterlineals vom Drehpunkte bis zum Schnittpunkte
Fig. 30.
641
war dann 1/1200^ + 600^ = y 1800000 = 1341 -^ (sexcenta et quadra
1000
ginta una millesimae fere), mit dieser Zahl ist in 600 mal 600000,
^) Canones pro compositione et tisu gnomonis pfo Beverendissimo clomino
Joanne Archiepiscopo Strigon. a praeclarissimo Maihematico Georgio Burbachio
(sie!) compositi. Der Druck ist unter dem Namen Quadratum Geometricum 1516
in Nürnberg erfolgt. Dessen Beschreibung bei Kästner I, 529 — 540.
Deutsche Reclienlehrer. Johann von Derannden, Georg von Peurbach. 185
weil der Halbmesser als 600000 gedacht ist, zu dividiren, und das
geschieht, indem dem Dividendus noch drei Nullen angefügt werden;
man rechnet demnach 360000000000 : 1341641 und erhält 268328.
Zu dieser Zahl gehört den Sinustafeln gemäss der Winkel von
21° 33' 55", und dieser Winkel entspricht also dem Theilstriche 600
auf dem latus rectum. Wir haben der Rechnung, die nahezu wörtlich
aus dem Peurbachischen Texte übersetzt ist^), nur Weniges hinzu-
zufügen. Einmal dass aus den Sinustafeln, wenn sie, wie wir wenig
späterem Berichte folgend annahmen, für Winkel von 10 zu 10 Minu-
ten berechnet waren, der hier gefundene Winkel nicht unmittelbar
hat entnommen werden können. Peurbach muss sich also dazu eines
Interpolationsverfahrens bedient haben, welches er uns hier nicht näher
beschreibt (S. 182). Zweitens ersetzt die angestellte etwas umständ-
liche Rechnung den Mangel einer Tangententafel, denn es handelt
sich in der angeführten Aufgabe doch eigentlich um nichts anderes
als um Auffindung des Winkels, dessen Tangente y^ = y ^^^' ^^^
von Peurbach berechnete Hilfstafel zum Quadratum geometricum ist
also streng genommen eine Tafel vom Argustangens k, wo k durch
alle Zwölfhundertstel hindurchgehend die Werthe von j^ bis 1 an-
nimmt.
Peurbach's rein astronomische Schriften entziehen sich selbst-
verständlich wieder unserer Betrachtung. Nur von einer Aufgabe
haben wir noch ein Wort hier zu reden, welche Peurbach sich stellte,
welche für ihn eine Lebensaufgabe sein sollte, aber in deren Erfüllung
er durch den Tod unterbrochen wurde. Es war die Anfertigung
einer guten lateinischen Uebersetzung des ptolemäischen
Almagestes aus dem griechischen Urtexte. Wie und durch
wen Peurbach zu dieser Arbeit ermuntert wurde, mag da ausführ-
licher zur Sprache kommen, wo der Veranlasser der Arbeit, Bes-
sarion, uns beschäftigen wird.
Im Anschlüsse an die trigonometrischen Leistungen Peurbach's
sei hier aus einer Münchner Handschrift von 1446 eine geographische
Abhandlung erwähnt, in welcher die decimale Theilung der Winkel-
grade durchgeführt ist^).
') Kästner I, 535. -) Codex latinus Monacensis 11067 (Pass. 67). Blatt
174'- — 176/-: Et notandum quod in praesenü tabula quilibet gradus et hora divi-
ditur in 100 minuta, et quodlibet minutum in 100 secunda et sie de aliis.
Vergl. Petri PhiJomeni de Dada in Algorism. vulgär. loh. de Sacrobosco Comment.
edid. M. Curtze, pag. VIII in der Note.
186 51. Kapitel.
51. Kapitel.
Nicolaus Cusanns.
Der nächste deutsche Mathematiker, dem wir uns zuwenden, war
kein Universitätslehrer. Cardinal Nicolaus von Cusa^) oder Cu-
sanus hat überhaupt unserer Wissenschaft nur als ganz beiläufiger
Nebenbeschäftigung gehuldigt; um so bemerkenswerther sind seine
Leistungen. Cusanus war als Sohn eines Fischers Johannes Chryppfs
(Krebs) 1401 in dem Dorfe Cues am linken Moselufer geboren. Dem
elterlichen Hause entlaufen wuchs Nicolaus im Dienste des Grafen
von Manderscheid auf. Wissenschaftliche Vorbildung erhielt er auf
der Schule zu Deventer. Schon 1410 vor Johanni wurde er als
Nicolaus Cancer de Coesze clericus Trever. dyoc. in das
Matrikelbuch der Universität Heidelberg eingetragen^). Später wid-
mete er in Padua sich der Rechtsgelehrsamkeit. Dort war er Mit-
schüler des späteren geographischen Schriftstellers Paolo Tosca-
nelli, dessen Name in der Geschichte der Entdeckung von Amerika
genannt wird, der auch der Astronomie Dienste erwies, indem er auf
Fehler in den Alfonsinischen Tafeln aufmerksam machte. Vielleicht
waren beide, Cusanus und Toscanelli, unter den Zuhörern des Pro-
docimo de' Beldomandi, mit welchem das 52. Kapitel uns bekannt
machen wird. Wenigstens war zeitlich die Möglichkeit solcher Be-
ziehungen geboten, da Beldomandi 1422 als Professor der Astronomie
in Padua angestellt wurde, und Cusanus diese Universität 1424 nach
Erlangung der juristischen Doctorwürde verliess. Er verlor in Mainz
seinen ersten Process und wandte sich dann vollständig der Theologie
zu. An den Kirchenstreitigkeiten, welche fast während des ganzen
Lebens des Cusanus dauerten, betheiligte er sich in hervorragendem
Maasse, zuerst auf dem Basler Concile von 1432 — 1437 als berufenes
Mitglied, später als päpstlicher Legat, seit December 1448 mit dem
Titel Cardinal, zu welchem im März 1450 die Verleihung des Bisthums
Brixen hinzukam. An diese letztere Verleihung knüpften sich per-
sönliche Streitigkeiten für den Cardinal, welche nur mit seinem am
11. August 1464 in Todi in Umbrien erfolgenden Tode ein Ende
^) Biographisches vergl. in der Allg. deutschen Biographie IV, 655 — 662,
einen alle vorhandenen Lebensbeschreibungen benutzenden Artikel von Prantl.
Nur den Aufenthalt in Heidelberg konnte er nicht kennen, da damals (1876)
das Heidelberger Matrikelbuch noch nicht veröffentlicht war. *) Töpke,
Die Matrikel der Universität Heidelberg von 1386 bis 1662 (1884—1886) I, 128
Z. 4 V. u.
Nicolaiis Cusamis. 187
nahmen, und welche einen ziemlich langen Aufenthalt in Italien ver-
anlassten, bei welcher Gelegenheit er, wie (S. 180) erwähnt worden
ist, mit Georg von Peurbach persönlich bekannt wurde und zu
demselben in wissenschaftliche Beziehungen trat, welche durch Schriften-
übersendung sich äusserten. Die Werke des Cardinais Ecusa,
wie er gleichfalls oft genannt wird, sind ziemlich vielseitig. Welche
Quellen ihm zur Verfügung standen, kann noch heute aus seiner in
Cues aufbewahrten Bibliothek ersehen werden. Theologisches, Staats-
rechtliches, Philosophisches wechselt in ziemlich buntem Gemenge,
und die überall durchblickende mystisch-scholastische Färbung gehört
nicht minder ihm selbst als der Zeit an, in welcher er lebte und
schrieb. Uns beschäftigen diese philosophischen Gedanken nur so
weit sie mathematische Folgerungen erzeugten. Die sonstigen Schriften
übergehen wir vollständig mit Einschluss eines Gesprächs über Ver-
suche mit der Wage, welches der Geschichte der Physik angehört.
Die Gesammtwerke wurden im XV. Jahrhunderte in Paris dem Drucke
übergeben. Eine zweite Ausgabe, welche auch mit Anmerkungen
eines gewissen Omnisanctus (?) versehen ist, erschien in Basel
1565. Wir folgen der letzteren Ausgabe^).
Die ersten mathematischen, oder richtiger gesagt chronologisch-
astronomischen Arbeiten des Cusanus sind seine Vorschläge zur
Kalenderverbesserung und zur Verbesserung der Alfonsini-
schen Tafeln, welche zusammengehören, und mit welchen er 1436
den Versuch machte, das Basler Concil zu einer Beschlussfassung
über den Gegenstand zu veranlassen, dessen Wichtigkeit fortwährend
in der religiösen Unsicherheit gefunden wurde, welche bald einen
Fasttag halten liess, wo kein solcher geboten war, bald auch, und
darin lag die Gefahr, Fleischgenuss an Tagen gestattete, die von
Rechtswegen durch Fasten begangen werden mussten^). Das von
Cusanus vorgeschlagene Heilmittel bestand in der Weglassung von
7 Tagen in der Weise, dass im Jahre 1439 Pfingstsonntag noch am
24. Mai gefeiert werden solle, wie die vorhandenen Kalender es
wünschten. Dann aber solle man den Pfingstmontag mit der Bezeich-
nung des 1. Juni versehen und künftig regelmässig alle 304 Jahre
^) Einzeluntersucliuiigen über die mathematisch-astronomischen Leistungen
des Cusanus hat Dr. Schanz in Programmbeilagen des Gymnasiums zu Rott-
weil für die Jahrgänge 1871 — 1872 und 1872—1878 veröffentlicht: I. Der Cardi-
nal Nicolaus von Cusa als Mathematiker. IL Die astronomischen Anschauungen
des Nicolaus von Cusa und seiner Zeit. Wir citiren sie als Schanz I und
Schanz IL Die Basler Ausgabe (1565) der Werke des Cusanus citiren wir als
Cusani Opera. ^) Schanz II, 17 — 31. Cusani Opera pag. 1155—1167: Bepa-
ratio Calendarü und pag. 1168 — 1173: Correctio Tabularum Älphonsi.
188 51. Kapitel.
ein Schaltjahr wegfallen lassen, so werde die Fehlerquelle versiegen,
die darin liege, dass im julianischen Jahre mit in vierjähriger Regel-
mässigkeit eingeschobenem Schalttage die Jahresläuge genau zu
365— Tagen und damit um ein Geringes zu gross angenommen sei.
Das Basler Concil spaltete sich am 7. Mai 1437. Cusanus gehörte zu
der Minderheit, welche austrat und sofort mit Entschiedenheit auf die
Seite des Papstes sich stellte. Von einer Beschlussfassung über
Kalenderfragen war keine Rede mehr.
Ausführlicher müssen diejenigen Schriften uns beschäftigen, welche
als philosophisch-mathematische zu bezeichnen sind, und welche den
Jahren nach 1450 angehören, wenn auch der philosophische Grund-
gedanke schon in einem Werke enthalten ist, welches zwischen
December 1439 und Februar 1440 theils in einem Kloster in der Eifel,
theils in Cues, dem Heimathsorte des Verfassers, niedergeschrieben
ist, und welches den Titel De docta ignorantia^) führt. Die ge-
lehrte Unwissenheit ist ein innerer Widerspruch, welchen der Ver-
fasser folgendermassen rechtfertigt. Erkenntniss findet statt, wenn
man das Verhältniss des Erforschten zu allem, was da ist, zum Be-
wusstsein gebracht hat. Es sind folglich, entsprechend den unendlich
vielen Vergleichungsgegenständen, unendlich viele Vergleichungen an-
zustellen, und solches ist dem menschlichen Geiste unmöglich. Darum
habe schon Sokrates sich dahin ausgesprochen, er wisse nichts als die
Thatsache seiner Unwissenheit, und ihm darin nachzufolgen reizt uns
der bei alledem in uns gelegte Erkenntnisstrieb. Kommen wir über
unser Nichtwissen ins Klare, so dürfen wir von einer gelehrten Un-
wissenheit reden.
Wir haben zu dieser Erörterung des Cusanus noch einen kleinen,
aber nicht unwichtigen Zusatz zu machen. Bei jedem anderen Schrift-
steller wäre man versucht, in dem so erklärten Titel eine Absicht in
sofern zu erkennen, als solle der Leser durch eine anspruchsvolle
Ueberschrift angeregt werden, sich in die Schrift zu vertiefen. Bei
Cusanus war es wohl mehr als das, was ihn beeinflusste. Allerdings
wählte er absichtlich den sich selbst widersprechenden Titel, aber,
wie wir vermuthen möchten, desshalb, weil Vereinigung der Gegen-
sätze für ihn die Grundlage des Wissens ist. Später nennt
er eine jede derartige Vereinigung die Kunst der Coincidenzen^)
und behauptet, mittels ihrer sei das Eindringen in das Verborgene
möglich. Die gelehrte Unwissenheit selbst baut auf der Grundlage
^) Cusani Opera pag. 1 — 62. -) Ebenda pag. 1095 in der Abhandlung De
sinibus et chordis : . . . . ut videatur potentia artis coincidentiaruvi , per quam in
omni facultate occulta penetrantur.
Nicolaus Cusanus, 189
solcher Coincidenzen sich auf. Jede Untersuchung, sagten wir schon,
geht von Vergleichungen aus. Die Vergleichung führt zur Zahl, und
das habe Pythagoras wohl im Auge gehabt, als er das Urtheil ab-
gab, Alles bestehe und Alles werde begriifen durch die Kraft der
Zahlen.
Vom Grösseren und Kleineren, welches bei der Vergleichung auf-
tritt, steigt man auf zum Grössten und zum Kleinsten. Das Grösste
ist dasjenige, über welches hinaus ein Grösseres nicht gedacht werden
kann, und ebensowenig kann es selbst als kleiner gedacht werden,
weil es alles ist, was es sein kann. Aber auch das Kleinste ist ein
Solches, über welches hinaus Kleineres nicht sein kann, und weil
das Grösste von gleicher Art ist, findet zwischen dem Kleinsten und
dem Grössten Coincidenz statt ^). Die Zahl gestattet freilich ein
Aufwärtssteigen zu einer thatsächlich grössten, aber weil sie eine be-
grenzte Zahl bleibt, ist sie nicht zu dem absolut Grössten, über
welches hinaus ein Grösseres nicht sein kann, geworden, denn dieses
ist unbegrenzt^).
Das ist gleichfalls ein Gedanke, den Cusanus nie verleugnet hat.
In einer seiner spätesten Schriften kommt er auf ihn mit den Worten
zurück^): Wenn wir 10 vergangene Sonnenläufe und 100 und 1000
und alle zählen können, und es sagt Einer, alle seien durch eine Zahl
nicht angebbar, sondern es seien unendlich viele Umläufe voran-
gegangen, so ist das, als wenn er sagte, im nächsten Jahre werde
wieder ein Umlauf vollendet, und dann seien es unendlich viele und
eins, was unmöglich ist.
Wirklich unendlich ist nur Gott, aber man kann auch mit mathe-
matischen Versinnlichungen dem Unendlichen beizukommen suchen.
Die unendliche Grade ist zugleich auch Dreieck und Kreis*). Wie
diese Coincidenzen gemeint seien, wird sodann näher erörtert. Der
Kreis besitzt Krümmung und ist länger als sein Durchmesser. Je
^) Cusani Opera pag. 3 in der Docta ignorantia Lib. I, cap. 4: Maximum
sicut non potest malus esse, eadem ratione nee minus, quum sit omne id quod esse
potest. Minimum autem est, quo minus esse non potest. Et quoniam maximum
est huiiis modi, manifestum est minimum maximo concidere. ^) Ebenda pag. 4
{Docta ignor. Lib. I, cap. 5): Si ascendendo in numeris devenitur actu ad maxi-
mum, quoniam finitus est numerus, non devenitur tarnen ad maximum , quo maioi'
esse non possit, quoniam hie esset infinittcs. ^) Ebenda pag. 1113 {Complemen-
tum theologicum cap. 8) : Si enim numerare possumus decem revolutiones praeteritas,
et centum, et mille, et omnes: si quis dixerit , non omnes esse numerabiles, sed
praeteriisse infinitas, et dixerit unavi futurum revolutionem in futuro anno, essent
igitur tune infinitae et una, quod est impossihile. *) Ebenda pag. 9 {Docta ignor.
Liberi, cap. 13): Si esset linea in finita, illa esset recta, illa esset triangulus, illa
esset circulus.
190 51. Kapitel.
grösser der Durchmesser wird, um so kleiner wird die Krümmung.
Die Ki-eislinie grössten Durchmessers ist -selbst grösste Kreislinie, also
von kleinster Krümmung, also von grösster Geradheit, wodurch Coin-
cidenz des Grössten mit dem Kleinsten hergestellt ist. Mit dem
Dreiecke verhält es sich folgendermasseu. Zwei Dreiecksseiten zu-
sammen sind immer grösser als die dritte. Ist also eine Seite unend-
lich gross, so müssen es die beiden anderen auch sein. Weil ferner
zwei Unendlichkeiten nicht stattfinden können^), so kann das unend-
liche Dreieck aus mehreren Linien nicht zusammengesetzt sein. Als
Dreieck muss es aber drei Seiten besitzen, folglich ist die eine un-
endliche Gerade eine Dreiheit von Geraden, und die drei Geraden
fallen in eine zusammen. Ebenso schliesse man für die Winkel.
Jedes Dreieck habe drei Winkel, die zusammen zwei Rechte betragen.
Wird ein Winkel zu zwei Rechten, so gehen in ihm alle di-ei Winkel
auf, und die Gerade ist alsdann Dreieck. So ist das einfach Grösste
die grösste Länge, welche wir Wesenheit nennen können, und Drei-
eck, wesshalb es Dreifaltigkeit genannt werden kann, und Kreis, wess-
halb es Einheit heisst^J. Hier beginnt der mathematische Faden in
ein theologisch - philosophisches Gespinnst überzugehen und reisst
schliesslich ab. Die Geschichte der Astronomie hat dem zweiten Buche
der gleichen Schrift werthvolle Gedanken zu entnehmen, welche Cu-
sanus einen Platz in der Entwickelung der Kenntnisse von der Erd-
bewegung, von den Sonnenflecken, von der Natur der Sonne sichern.
Uns ist es gestattet, an diesem zweiten Buche und noch rascher an
dem dritten vorüberzugehen.
Wir gelangen zu einer anderen philosophischen Schrift, welche den
eigenthümlichen Titel De Beryllo''j führt. Der Beiyll, so sagt der
Verfasser, ist ein heller, weisser, durchsichtiger Stein, dem sowohl
eine concave als eine convexe Gestalt beigelegt wird, und wer durch
ihn hindurchsieht, erkennt vorher Unsichtbares. Unterbrechen wir
unseren Bericht mit der beiläufigen Bemerkung, dass die genannte
Eigenschaft des Berylls seit geraumer Zeit bereits bekannt war und
der daraus hergestellten Sehvorrichtung den Namen der Brille ver-
schafft hat. Bei den Italienern hiessen übrigens die Brillen occhiali-^
ihre Erfindung geht vermuthlich auf den 1317 gestorbenen Florentiner
Salvino degli Armati zurück^). Wir kehren zu Cusanus zurück.
Wird dem geistigen Auge, fährt er fort, ein geistiger Beryll — sagen
wir nur gradezu eine geistige Brille — vorgesetzt, die ebensowohl
^) Cusani Opera pag. 10 {Docta ignor. Liberi, cap. 14): quoniam plura esse
infinita non possunt. *) Ebenda pag. 14 {Docta i^Hor. Liberi, cap. 19). ') Ebenda
pag. 2G7— 284. ^) Heller, Geschichte der Physik I, 201.
Nicolaus Cusanus. 191
die Gestalt des Grössten als die des Kleinsten besitzt, so erkennt man
den unsichtbaren Ursprung aller Dinge. Man sieht hieraus, dass
Cusanus in der genannten Abhandlung es wieder mit der Coincidenz
der Gegensätze zu thun hat, und zwar derselben Gegensätze des
Grössten und Kleinsten, von denen in dem ersten Buche der gelehrten
Unwissenheit die Rede war. War aber dort vorzugsweise das Grösste
betrachtet worden, so wendet Cusanus im Berylle sein Augenmerk
ausschliesslich dem Kleinsten zu. Der Punkt, sagt er, ist untheilbar,
aber von übertragbarer Untheilbarkeit ^). Er ist untheilbar nach jeder
Art des stetigen Seins und der Ausdehnung. Die Arten des Seins
für das Stetige sind die Linie, die Oberfläche, der Körper. Es nimmt
die Linie Theil an der Untheilbarkeit des Punktes, insofern sie nicht-
linienhaft untheilbar ist, d. h. sie kann nicht in Stücke zerlegt werden,
die nicht Linien sind, und sie ist nach Breite und Dicke untheilbar.
Die Oberfläche nimmt Theil an der Untheilbarkeit des Punktes, weil
sie unoberflächenhaft untheilbar ist; der Dicke nach lässt sie keine
Theilung zu, weil sie eben kein Körper ist. Der Körper endlich
nimmt Theil an der Untheilbarkeit des Punktes, insofern er in Nicht-
körper nicht zerlegt werden kann, der Dicke nach ist er theilbar.
In der Untheilbarkeit des Punktes sind also alle jene anderen Un-
theilbarkeiten mit inbegriflen, und in ihnen wird nichts gefunden als
die Entfaltung der Untheilbarkeit des Punktes. Alles was im Körper
gefunden wird, ist folglich nichts anderes als der Punkt oder ihm
einzig Aehnliches ^). Und ein Punkt losgelöst vom Körper, oder der
Oberfläche, oder der Linie wird nicht gefunden, weil er das innere
Princip ist, welches die Untheilbarkeit verleiht.
Bei diesen Stellen erwacht von selbst die Erinnerung an Brad-
wardinus (S. 119), der dem Punkte die Eigenschaft beilegte, die Un-
theilbarkeit an einen bestimmten Ort zu binden , und der jede Wissen-
schaft wahr nannte, in welcher die Voraussetzung nicht gemacht werde,
Stetiges setze sich aus Untheilbarem zusammen, der auch das Unend-
lichgrosse in das Bereich seiner Betrachtungen zog. Von selbst ge-
denken wir jenes Walther, jenes Heinrich, mit denen Bradwardinus
sich auseinandersetzte. Der alte Streit über das Stetige, welcher
wohl in dem Jahrhunderte, das zwischen Bradwardinus und Cusanus
liegt, auch nicht vollständigem Frieden Platz gemacht hat, wenn er
auch mehr ein chemisch -physikalischer zu werden den Anschein ge-
winnt, findet in Cusanus eineu neuen Kämpfer. Wir wissen von ihm
^) Cusani, Opera pag. 271 (De Beryllo cap. 17): punctum autem communi-
cahilis indivisibilitas. ') Omni igitiir qiiod reperitiir in corpore, non est nisi
punctum seu simUüudo ipsius unius.
192 51- Kapitel.
selbst, dass er es liebte, Klosterbibliotbekeu zu durchstöbern. An
einem oder dem anderen Orte, wo er seine Bildung gewann, fand er
vielleicht auch Zeit und Gelegenheit, eine Vorlesung über die Latitu-
dines formarum zu hören. So mag ihm die Streitfrage, mögen ihm
die älteren Kampfmittel bekannt geworden sein, mag er der Auf-
fassung von der Zusammensetzung räumlicher Gebilde aus ihnen ähn-
lich gearteten Elementen, um nicht zu sagen aus Differentialen, sich
mehr angeschlossen haben, als dass er sie erfand. Seine Verdienste
werden durch diese Annahme keineswegs geschmälert. Es erklärt
sich nur, wie Cusanus dazu kam, seinen Coincidenzen so grosses Ge-
wicht beizulegen. Es bestätigt sich nur die Wahrheit dessen, was
wir früher andeuteten, dass die ünendlichkeitsfragen nicht wieder zur
Ruhe kamen. Xoch an ein Anderes, begrifflich einigermassen verwandt,
müssen wir bei dieser Rückschau nach den Quellen der Ansichten
des Cusanus erinnern. Campanus hat einen geometrisch- philosophi-
schen Satz an einer Stelle ausgesprochen, an einer zweiten Stelle be-
kämpft, den Satz, dass bei stetigen Grössen irgend einmal Zwischen-
zustände eintreten müssen, die ein vorgelegtes Verhältniss erfüllen
(S. 104j. Albert von Sachsen hat (S. 144) des gleichen Satzes sich
bedient. Wir werden auch an ihn genug Ankläuge finden, sobald
wir die im eigentlichen Wortsinne mathematischen Schriften des
Cusanus durchmustern, wozu wir uns jetzt anschicken.
Es war eine einzige Aufgabe, welche Cusanus sich gestellt hat,
welcher er etwa seit 1450 bis 1460, also zehn Jahre hindurch, in
verschiedenen Abhandlungen sein fast ausschliessliches Nachdenken
widmete, aber freilich eine Aufgabe schwierigster Art: die der Arcu-
fication einer Geraden. Albert von Sachsen, sagten wir früher
(S. 145 j, und mit ihm fast (S. 127 und 154) das ganze Mittelalter,
hielten n = 3— nicht etwa für einen Näherungswerth , sondern für
genau richtig. Von dieser Meinung zurückzukommen war schon ein
Fortschritt, und Cusanus machte denselben. Erleichtert war er ihm
allerdings durch den Umstand, dass, wie wir im folgenden Kapitel
sehen werden, wo wir der italienischen Mathematik der ersten Hälfte
des XV. Jahrhunderts uns zuwenden woUen, grade damals eine Ueber-
setzung des Archimed in lateinischer Sprache verfasst und
Cusanus in die Hände gegeben worden war. So musste er die
beiden Grenzen 3— und 3~ kennen lernen, zwischen denen n sich
7 11 '
befindet, so musste er zugleich die genaue Bestimmung von 7t als
eine noch nicht gelöste Aufgabe erkennen. Er versuchte ihre Be-
handlung im Sinne der Arcufication, d. h. er ging aus von einem
gegebenen gleichseitigen Dreiecke als einfachstem regelmässigen Viel-
Nicolaus Cusanus. 193
ecke, er ging dann über zu ihm umfanggleiclien regelmässigen Viel-
ecken von grösserer Seitenzahl, bis er zur Kreislinie von gleicher
Länge gelangte, deren Halbmesser gesucht wurde. Fand man diesen,
so war in der That die Länge des Dreiecksumfangs in eine Kreislinie
verwandelt. Zur Kreislinie konnte er aber auf solche Weise gelangen,
weil er sie als Un endlich vi eleck betrachtete, wie er an vielen
Stellen es ausgesprochen hat^). Das war also eine neue Fragestel-
lung verschieden von der archimedischen, verschieden von der im
Abendlande überhaupt bisher eingebürgerten, und ob die indischen
Versuche (Bd. I, S. 606) zu des Cusanus Kenntniss gelangt sein können,
ist uns mehr als zweifelhaft, wenngleich Georg von Peurbach (S. 183)
den indischen Werth tt = ]/10 kannte. Ein Werth von tc kann leicht
weitere Verbreitung gefunden haben, ohne dass die Auffassung, mittels
deren man zu ihm gelangte, sich mit verbreitet hätte. Eine neue
Fragestellung ersinnen hat aber stets als fruchtbares Förderungsmittel
der Mathematik sich erwiesen, und dieses Verdienst muss mithin
Cusanus in erster Linie angerechnet werden.
Dass bei neuer Fragestellung die Merkmale, welche die Richtig-
keit des Verfahrens bekunden sollen, um so leichter versagen, je
neuer das Verfahren selbst gleichfalls ist, darf nicht Wunder nehmen.
Grade die Geschichte der Entwicklung der Stetigkeitsbetrachtungen,
und um diese handelt es sich, zeigt auf's deutlichste, dass jeder Schritt
vorwärts von Fehlschi'itten begleitet war, die kaum Einem erspart
blieben. Auch Cusanus stellt keine Ausnahme von dieser Regel uns
dar. Sein rasch aufwallender Geist liess ihn Schlüsse für vollwichtig
halten, denen er bald selbst als allzu leicht gezogenen misstraute,
und es ist geradezu kennzeichnend, dass er, nachdem er in einer Ab-
handlung die Aufgabe gelöst haben will, sofort einer neuen Lösung
eine neue Abhandlung widmet, und dass in den späteren Schriften,
trotz der dem Gelingen näheren Versuche, die Sprache eine immer
vorsichtigere wird.
Die Ueberschrift der ersten Abhandlung lautet: De transforma-
tionibus geometricis. Sie trägt die Widmung: ad Paulum ma-
gistri dominici Physicum Florentinum, d. h. an den Florentiner Arzt
Paulus den Sohn des Magister Dominicus , worunter der frühere
^) Am deutlichsten in der Stelle Cusani Opera pag. 1110 (Complementum
theologicum cap. 5): Quanto autem polygonia aequaliuni laterum plurium fuerit angii-
lorum, tanto similior circulo; eircuhis enim si ad pölygonias attendas est infinito-
rum angulorum. Et si ad ipsum circulum tantwn respicis nulluni angulum in
eo reperies, et est interminatus , inangularis : et ita circulus inangularis et
interminatus in sc complicat omnes angulares terminationes , pölygonias datas
et dahiles.
Cantor, Geschichte der Mathem. II. 2. Aufl. 13
194
51. Kapitel.
Studiengenosse von Cusanus in Padua Paolo Toscanelli^) verstanden
ist. Es handle sich, sagt der Verfasser in der Zueignung, um die
Verwandlung von Krummem in Gerades und von Geradem in Krum-
mes. Ein rationales Verhältniss sei zwischen beiden nicht möglich.
Das Geheimniss müsse in einer gewissen Coincidenz der Extreme
verborgen liegen. Die Coincidenz beziehe sieh auf das Grösste, das
sei eben der unbekannte Kreis, müsse also an dem Kleinsten, welches
das Dreieck ist, aufgesucht werden. Cusanus denkt bei diesen Worten
oifenbar an die Eckenzahl beider Figuren. Drei ist die kleinste, un-
endhch gross die grösste Zahl der Ecken, mit denen ein Vieleck
überhaupt möglich ist. Ist (Figur 31) hcd das gegebene Dreieck,
so ist af der Halbmesser des Inneu-
kreises, ah der des Umkreises, die beide
dem Dreiecke nicht umfanggleich sein
können, da man weiss, dass der Umfang
des Innenkreises stets kleiner, der des
Umkreises stets grösser ist als der irgend
eines regelmässigen Vielecks, zu welchem
der betreffende Kreis gehört, und dass
der jedesmalige Unterschied der Um-
fange der Kreise einerseits, des Viel-
ecks andrerseits beim Dreieck am gröss-
ten ist. Der gesuchte Kreis muss folg-
lich einen Halbmesser haben, der grösser
Nun wird fh in vier gleiche Stücke
zerlegt und die Theilpunkte i, e, l werden gradlinig mit a verbunden,
diese Verbindungsgeraden ai, ae, al aber um ih, eh, Im verlängert,
so dass die Verlängerte zur Verlängerung sich verhalte wie die hc
zur Entfernung von f bis zu dem betreffenden Theilpunkte. Man
als af, kleiner als al> ist.
macht daher ih-
ai, eh =
lm = — al. Nun ist aber i dem
Punkte f, l dem Punkte h allzunahe, als dass ak oder am der ge-
suchte Halbmesser sein könnte, folglich ist ah richtig. Die Mangel-
haftigkeit der Schlüsse ist so augenscheinlich, dass es verwundem
muss, wie wenig mangelhaft das Ergebniss ausfällt. Sei &c = 8, so
ist der Dreiecksumfang 24 und dieser getheilt durch 2 ah giebt n,
oder 7t = ~^- Ferner ist
an
af.
hf=4.
?>af- = 16,
]/84
af:
ae-
4
16 , , 28
3'
*) üeber Toscanelli's Familienverliältnisse vergl. Gust. Uzielli im Bulle-
Uno Boncompagni XVI, 611 — 618.
Mcolaus Cusanus. 195
und folglich
144
wähi-end
= y9 ■ 87428571428571 • • - = 3,142337
34- = 3,142857 •• • und 3^ = 3,140845
I ' 71 '
Der Werth von 7t, dem die Construction von Cusanus entspricht, ist
also dem richtigen Werthe um 0,00052 näher als das archimedische 3--
In diesem Arcuficationsversuehe redet Cusanus von der Coincidenz,
benutzt sie aber streng genommen nicht. Desto mehr hat er dieses in
anderen Schriften gethan, welche die Titel führen: De mathematicis
complementis (Papst Nicolaus V. zugeeignet), De quadratura
circuli (Georg von Peurbach gewidmet), De una recti curvique
mensura und De mathematica perfectione. Ihnen allen ist
ein Gedanke gemeinsam, nämlich folgender. In jedem regelmässigen
Vielecke giebt es eine Primlinie und eine Secundlinie, linea prima
und linea sccunda. Die erstere ist der Halbmesser des Innenkreises,
die zweite der des Umkreises, und bezeichnen wir diese Längen durch
p und s, welchen als Stellenzeiger die Seitenzahl n des Vielecks bei-
gegeben werden mag, so ist immer Sn'>Pn, und der Unterschied 5„ — jj„
ist das, was die Sagitta genannt wird, d. h. die Mittelsenkrechte
einer Vielecksseite in ihrer Ausdehnung von der Vielecksseite an bis
zum Durchschnitte mit dem Umkreise. Diese Sagitta ist beim Dreieck
(w = 3) am grössteu , beim Kreise als Unendlichvieleck wird sie Null,
und Prim- und Secundlinie fallen bei ihm zusammen. Werden um-
fanggleiche Vielecke mit einander verglichen, so ist p,i — p^ um so
grösser, je kleiner s„ — p^ ist. Mithin ist der grösste Werth von
p,i — i>3 bei n = CO, d. h. beim Kreise , dessen Sagitta verschwindet,
erreicht. Die Primlinien sind aber den Flächeninhalten der Vielecke
selbst proportional, und somit übertrifft der Inhalt des Kreises den
des umfanggleichen Dreiecks am meisten. Da gleichzeitig, wie wir
sahen, die Dreieckssagitta Sg — p^ die grösstmögliche ist, so wird
angenommen, der Unterschied der Kreisfläche über die Dreiecksfläche
sei dieser Sagitta proportional. Heisst der Proportionalitätsfactor A,
so schreibt sich diese Annahme:
Kreisfläche — Dreiecksfläche = k(s^ — p^.
Es war aber daneben auch s^ — p^ = 0, also ebenfalls
Kreisfläche — Kreisfläche = 0 = A (s^ — p^).
Jetzt wird das Princip der Conincidenz zu Hilfe gezogen: was für das
Vieleck von der geringsten Seitenzahl 3 und von der grössten Seiten-
zahl oo wahr ist, muss bei jeder Seitenzahl wahr sein. Also muss sein:
13^^
196
51. Kapitel.
Kreisfläche — w-ecksfläche = X(s,n — j3,„),
Kreisfläche — M-ecksfläche = A(s„ — p„).
Bei der Division dieser Gleichungen durch einander fällt dann der
unbekannte Proportionalitätsfactor A heraus, und es entsteht
Kreisfläche — ??t-ecksfiäche s^^ — 2^,
Kreisfläche — «-ecksfläche g^ — p^
Aber auch diesem ersten Ergebnisse kann man eine wesentlich vor-
th eilhaftere Gestalt geben. Der gemeinschaftliche Umfang aller unter-
suchten Figuren sei U, und r heisse der Halbmesser des umfang-
gleichen Kreises, so erkennt man sofort die Richtigkeit der drei
Flächenformeln :
Kreisfläche = — U ■ r,
>«-eeksfläche
U.p,„,
w-ecksfläche = irU ■ Pn
Setzt man diese Werthe in obige Gleichung ein und kürzt den Bruch
1
links durch -— TJ
so entsteht
und folcflich
Pn^,
{^n-Pm)-{^n-Pn)
{^u - P,n) - («« - Pn)
Wir machen dabei die unter allen Umständen gestattete Annahme,
dass m < n, damit in dem Werthe von r der Zähler sowohl als der
Nenner positiv ausfällt.
Natürlich ist bei Cusauus die Schlussfolge nicht so sehr, wie es
hier geschah, unserem heutigen Gedankengange nach Form und In-
halt angepasst, aber der Hauptsache nach darf unser Bericht auf die
Bezeichnung als treu Anspruch erheben, und insbesondere geht aus
demselben hervor, worin die Man-
gelhaftigkeit des Verfahi-ens besteht,
nämlich darin, dass der Propor-
tionalitätsfactor A als ein und der-
selbe in den beiden auf das m-eck
und n-eck bezüglichen Gleichungen,
in welchen er vorkommt, betrachtet
wird, was nur sehr näherungsweise der Fall ist, wenn m und n wenig
von einander verschiedene nicht allzukleine Zahlen sind.
Gesetzt es sei m = 3, 71 = 4 und der gemeinsame Umfang
\
\
/
/
/
/
\
Nicolaus Cusanus. 197
U = 12, so ist (Figur 32) die Länge der Dreiecksseite A, die der
Vierecksseite 3. Man erkennt leicht, dass alsdann
und
Ih
2
~l/3
4
' ''~yl'
4 3
|/3 2
i^4 =
3
7' ^' =
2
ys
3
y^
vi73~>^/
-(f.
-1)
Da aber
auch dei
Umfang 12 = 2;rr, so
wird
n =
6
r
4 + y8-]/13,5 =
= 3,15419
...
i a
gefunden. Dagegen soll m = 24, n = 48 der Genauigkeit auf 4 Deci-
malen genügen und tc = 3,1415 • • • liefern. lieber die erstbesprochene
Annahme m = 3, n= A hat Cusanus eine sehr einfache Construction
des Halbmessers des gesuchten, dem gegebenen Dreiecke wie dem
gegebenen Quadrate umfanggleichen Kreises gelehrt ^). Ueber
af=2h wird (Figur 33) das Quadrat acef, über ce das
Quadrat chde gezeichnet, so dass «6 = 2p^ = s^ ist. Von
/' aus wird gegen a hin fl= s^ — p^ abgeschnitten und
in l eine Senkrechte Im = p^ errichtet. Die Gerade cm
schneidet alsdann df in h und fli = r ist der gesuchte '^ ^
Halbmesser. Bezeichnet man (was in der Druckausgabe '^'
des Cusanus nicht der Fall) den Durchschnittspunkt der Im mit der
cc durch t, so ist
7 , .17 mtxec (ml — thec (p. — i\)P%
eh :mt=ec: fc oder eh = —, = ^ — V- = , ^sjis .
tc ec — et 2h — (*4 — Pi)
Addirt man dazu ef = p^,, so entsteht
fh = ^J^S.P4 -P8S4 .
' Ps — («4 — Pi)
Aber 53 = 2^33, i% = S3 — 2h ^^^ diese Werthe liefern in den für fh
gefundenen Ausdruck eingesetzt ^ f^-^ r, d. h. den Werth
\h Ps) (*4 Pi)
von r. Es kann wohl nicht zweifelhaft sein, dass Cusanus, wiewohl
er einen Beweis nicht liefert, diese Schlüsse etwa gezogen haben
muss, die auf den euklidischen Elementen beruhend, welche er oft
anführt, ihm nahe lagen, während nicht anzunehmen ist, dass er eine
so einfache Construction erfunden haben sollte, ohne sich bewusst zu
sein, dass sie mit seiner Formel in Uebereinstimmung war.
Auch eine eigentliche Quadratur des Kreises mit Hilfe von
^) Cusani Ojyera pag. 1014.
198 51- Kapitel.
Mondchen wird zugesagt^). Das Wort lunula, sowie die Bemerkung,
die Alten hätten diesen Weg vergebens einzuschlagen versucht, er-
innern an die Mondchen des Hippokrates (Bd. I, S. 192 — 194), allein
diese Erinnerung bleibt nicht bestehen, wenn man näher zusieht.
Ein Mondchen, d. h. ein durch zwei Kreisbögen begrenztes Flächen-
stück, benutzt Cusanus überhaupt nicht. Was er so nennt, ist ein
Kreisabschnitt. Er zeichnet zu dem Kreise vom Halbmesser 7 die
Seiten des Sehnen- und des Tangentenquadrates. Das erstere besitzt
die Fläche 98, das zweite die Fläche 196. Nun wählt Cusanus —
warum, ist auch nicht leise angedeutet — ein Quadrat von der Fläche
121, bildet 121 — 98 = 23, dessen Doppeltes 46 er von 196 abzieht,
und der Rest 150 soll die gesuchte Kreisfläche sein, von der Cusanus
behauptet, sie sei desshalb etwas zu klein gerathen, weil 46 und
damit ein zu Grosses abgezogen worden sei; es hätte eigentlich statt
121= 11^ ein etwas kleineres Quadrat gewählt werden müssen, dann
wäre ein genaueres Ergebniss erschienen. In der That liefert 150
den Werth 3r = 3,061224, der beträchtlich zu klein ist. Verfolgt man
die Rechnung, indem man statt 7 den Buchstaben r setzt, 11 :^-— • — ,
98 = 2r^, 196 = 4r'', so kommt man zu 150 = r- [S — ~J- (y)"]. Wie
1 /22\ 2
aber Cusanus zu der weiteren Annahme, es sei 7t = 8 — ^ \y) S^~
langte, das ist uns unklar geblieben. Jedenfalls halten wir es den
geistvollen, wenn auch nicht immer strengen sonstigen Methoden des
Cusanus gegenüber für gewagt, die Sache einfach als geometrischen
Unsinn bei Seite schieben zu wollen.
Paolo Toscanelli, welchem die Mathematica complementa zu-
geschickt worden waren, strauchelte ofi'enbar gleichfalls über deren
unklare Vorschriften. In einem von Cusanus niedergeschriebenen Ge-
spräche zwischen ihm und dem Jugendfreunde, welches schwerlich
ganz freie Erfindung ist^), sagt Paulus ausdrücklich, die Mathematica
complementa seien ihm ganz und gar dunkel und entbehrten der Ge-
wissheit ^). Er erbittet sich leichtere Vorschriften, und Cusanus lehrt
ihn darauf eine Rectification des Kreises vollziehen, die somit
wieder nach neuen Regeln ausgeführt wird. Die Seite des dem zu
rectificirenden Kreise eingeschriebenen Quadrates wird zu dessen Halb-
^) Cusani Opera pag. 1059 flg. (Mathematica complementa): Volo nunc in-
vestigare quomodo per lunulas quadratwa circuli investigetur , quam viam veteres
frustra attentaverunt. ') Ebenda pag. 1095 flgg. : Dialogus inter Cardinalem
sancti Petri Episcopum Brixinensem et Paulum physicum Florentinum de circuli
quadratura. ^) post mihi missos tuos de Mathematicis complementis utique mihi
obscuros atqite incertos lihellos.
Nicolaus Cusaniis.
199
messer gefügt und um diese Linie als Durchmesser ein neuer Kreis
beschrieben. Der Umfang des ihm eingezeichneten gleichseitigen
Dreiecks soll dem ersten Kreise umfanggleicli sein. Ist r der ur-
sprüngliche Halbmesser, so ist die Seite des Sehuenquadrates r]/2,
also r{l -f-]/2) der Durchmesser des zweiten Kreises, der für einen
Augenblick 2q heissen mag. Die Seite des Sehnendreiecks in dem
neuen Kreise ist 9]/3 und dessen Umfang
39]/3 = 3l/3
i + y2
"|/27 + |/54
= 27tr.
mit
Diese Annahme liefert demnach 7C = ^ (V^T -\- ]/54)= 3,13615-
viel geringerer Genauigkeit, als sie in den Mathematicis complementis
erreicht war.
Das Vollkommenste, was Cusanus geleistet hat, ist in seiner letzten
Abhandlung enthalten, die er auch in stolzer Selbstzufriedenheit De
mathematica perfectione^), von der mathematischen Vollkommen-
heit, betitelte. Sie ist einem Cardinal Antonius zugeeignet und nach
der Aussage der Widmung binnen zwei Tagen niedergeschrieben,
während ein böser Fuss den Verfasser an seine Wohnung fesselte.
Wir begnügen uns damit, aus dieser inhaltreichen Schrift nur ein
Ergebniss zu entnehmen, welches über die in den .
früheren Schriften enthaltenen Dinge weit hinaus-
geht. Der Gedankengang ist etwa folgender. Es sei ^
(Figur 34) &c = — die halbe Seite eines regelmässi-
gen Sehnen-w-ecks, dessen Primlinie ah=pn, dessen
Secundliuie ac=Sn. Heisse ^hac=^(p, so ist
360''
9) = -_— • Vom Quadrate an ist nun hc^ah, wie
leicht einzusehen ist, wesshalb auch Cusanus einen
Im rechtwinkligen
360» -^ 360«
Fig. M.
Beweis zu führen unterlassen darf.
Dreiecke ahc ist nämlich -^ ach = 90" — -^^ > ^^ , sofern n > 4.
Je mehr das «-eck dem Kreise sich nähert, um so genauer ist
hc = arc. hc oder — = arc. 9) = 95 X s„. In dem gleichen Falle des
Unendlich Vielecks ist 3,1 = p„ sowie s^ -\- x = p,i -\- x , was auch x
bedeute. Im Unendlichvielecke ist folglich ebensowohl " = 1 als
1, mithin in Proportionsform geschrieben:
') Cusani Opera pag. 1110 — 1154.
200 •''l- Kapitel.
a
Sncp •■--== {Sn + x) : {pn + x) bei « = 00-
Beim Quadrate (« = 4, 9? = 45°, — = p\ wird nun gleichfalls auch
ein X vorhanden sein, welches die ganz ähnlich lautende Proportion
erfüllt:
Man erräth schon, dass Cusanus sich wieder auf sein Princip der
Coincidenz berufen wird. Die Proportion findet statt bei « = 4 so-
wohl als bei n = 00, also auch bei allen Zwischenmöglichkeiten. Er
unterzieht « = 4 und m = 6 der Rechnung.
Bei n ^ 4 ist
oder
45041/2 = (^4 + -1) : (1/2 + l) ■
Bei n = 6 ist
oder
30»:i = (l + f):(4y3 + ^).
Die beiden Proportionen werden unter allerdings unstatthafter, zum
mindesten ungenauer Voraussetzung, es sei dasselbe — in beiden vor-
handen, durch einander dividirt und liefern so die neue Proportion:
— : 1/2 = 1 :
' 4-1/3 + ^
X 2 1/3 3
und aus ihr ergiebt sich — = —^ = 1,913 • • • Mit wenigstens
^ ^n 3j/2 — 4 ^
annähernder Genauigkeit ist demnach x = 2Sn und setzt man dieses x
in die allgemeine oben ausgesprochene Proportion ein, so geht sie
in folgende über:
s„9>:y = (s« + 2s„):Q.„ + 25„).
Aus dieser aber folgt endlich
9
2 + ^
Nicolans Cusanus.
201
Man versteht die ganze Tragweite dieses Ergebnisses besser, wenn
man in der Anwendung neuerer Bezeichnungen noch um einen Schritt
weitergeht. Heute schreiben wir ^ = sin^, — = cosqD. Die Cu-
3 sinqp
sanische Näherungsformel heisst alsdann (p
Das Wort
2 -|- cos qp
Sinus hätte übrigens auch Cusanus hier in Anwendung bringen
können, wie er es sonst verschiedentlich benutzt hat, z. B. in den
Mathematischen Complementen^), wo er die Kenntniss der zu Bögen
von 1, 2, 4 u. s. w. Winkelgraden gehörenden Sehnen als eine Ver-
vollkommnung der Kunst von dem Sinus und Sehnen in Aussicht stellt.
In den Mathematischen Complementen hat eine andere Stelle^)
die Aufmerksamkeit späterer Leser besonders auf sich zu ziehen ge-
wusst. Zuerst wird gelehrt aus Metall oder Holz, in aere aut ligno,
ein Dreieck ]phq (Fig. 35) herzustellen, welches bei li rechtwinklig
sei, und dessen eine Kathete liq die Länge der halben Kreislinie be-
sitze, welche mit der anderen Kathete lip als Halbmesser beschrieben
wurde. Ist nun ein beliebiger Kreis zu rectificiren, so zeichnet man
zwei im Mittelpunkte a sich senkrecht durchschneidende Durchmesser
und legt an den einen das feste Dreieck so an, dass ph auf den
Durchmesser, der Punkt p auf die Kreislinie selbst zu liegen kommt.
Die verlängerte pq schneidet alsdann den anderen Durchmesser in
einem Punkte s, welcher von dem Mittelpunkte a um einen halben
Umkreis entfernt ist. Unmittelbar an diese erste vollständig richtige
Vorschrift knüpft sich eine zweite nicht minder richtige zur Auffin-
dung der Quadratur des Kreises. Die mittlere geometrische Propor-
tionale zwischen dem Halbmesser und der halben Peripherie des
^) Cusani Opera pag. 1025: Ex ante habitis quicquid hactenns in Geo-
mitricis ignotum fuit, inquiri poterit. Fuü autem incognita perfectio artis de
sinibus et cliordis: nemo unquam scire potuit chordam arcus gradus unius et
duorum et quatuor et ita consequenter , quae nunc sie habetur. *) Ebenda
pag. 1024.
202 öl. Kapitel.
Kreises solle gesucht werden; diese sei alsdanu die Seite des ver-
langten Quadrates. Dazu ist in der Druckausgabe eine Figur ge-
zeichnet, bei welcher der zu quadrirende Kreis zweimal gezeichnet
erscheint, beidemal berührend aufstehend auf einer und derselben
graden Linie, während über dieser als Durchmesser noch einmal ein
Halbkreis gezeichnet ist. Die genannte grade Linie ist die Summe
aus Halbmesser und halbem Umkreis des in Frage stehenden Kreises,
und der erwähnte grosse Halbkreis dient zur Ermittelung der gefor-
derten mittleren Proportionale. Nun hat 1697 ein englischer Mathe-
matiker, John Wallis^), mit Berufung auf eine ihm zu Gebote
stehende Handschrift die Behauptung ausgesprochen, die betreffende
Figur sei von dem Herausgeber des Druckes ganz gegen den Sinn
des Verfassers, omnino contra mentem Ciisani, eingefügt. Jener habe
eine Cycloide gezeichnet gehabt, deren Endpunkte durch die beiden
Bogen des gerollten Kreises bezeichnet seien. Man hat mit vollem
Rechte zwar ein abschliessendes Urtheil ausgesetzt, weil die Hand-
schrift, auf welche jene Behauptung sich wesentlich gründete, keinem
anderen Gelehrten zu Gesicht kam, trotzdem aber die Unwahrschein-
lichkeit der Wallis'schen Behauptung hervortreten lassen. Im Texte
ist nämlich mit keinem Worte von einem Wälzen des Kreises die
Rede, und wo Cusanus in einer andern Abhandlung^) wirklich einmal
von dem Wälzen eines Kreises spricht, erwähnt er nur die Thatsache,
dass der Kreis während seines Wälzens die Gerade, über die er fort-
bewegt wird, stets nur in einem Punkte berühre, während einer durch
einen Kreispunkt dabei beschriebenen Radlinie nicht entfernt gedacht
ist. Wenn gleich Cusanus, wie wir in unserer gedrängten Ueber-
sicht seiner mathematischen Leistungen an mehr als einer Stelle hei;-
vortreten lassen mussten, nicht grade als Muster schriftstellerischer
Klarheit gerühmt zu werden beanspruchen kann, das ist doch kaum
zu denken, dass er ein mechanisch -geometrisches Verfahren wie das
Wälzen eines Kreises auf gradliniger Unterlage benutzt, oder gar
näher studirt haben sollte, ohne dasselbe zu erwähnen.
Wir haben von Rechenkunst, von Geometrie, von Trigonometrie
in Deutschland zu reden gehabt. Noch eine andere Unterabtheilung
der Mathematik begann im XV. Jahrhunderte dort bekannt zu werden:
die Algebra. Wir erinnern uns, dass im XIH. Jahrhunderte zuerst von
^) Philosophical Transactions Bd. XIX für die Jahre 1695, 1696 und 1697
pag. 561 — 566. Vergl. S. Günther, War die Zykloide bereits im XVI. Jakr-
hunderte bekannt? in Eneström's Bihliotheca muthem. 1887 S. 8 — 14. ^) Cu-
sani Ojiera pag. 1112 {Complementum Theologieum cap. 8): Sed etiam non prae-
tereundum quomodo si circulus circumvolvitur super lineam rectam non tanget
eam nisi in puncto.
Italienische Mathematiker. 203
einer abendländisclien Algebra gesprochen werden konnte, dass sie
bei Leonardo von Pisa einestlieils, bei Jordanus Nemorarius andern-
tbeils in einem sofort so ausgebildeten Zustande erschien, dass man
eine schleunige Weiterentwickelung ihr zu erhoffen sich geneigt
fühlen musste. Aber die Zeitgenossen der beiden grossen Männer
waren nicht reif, deren Schriften vollständig zu verstehen, geschweige
denn sie fortzubilden, und besonders für die eigentlichen Gelehrten-
kreise gilt dieses harte Urtheil auch noch im XIV. Jahrhunderte,
während damals (S. 159 — 162) italienische Kaufleute der Algebra so
viel Verständniss entgegenbrachten, dass wenigstens versucht wurde,
Aufgaben zu lösen, welchen die früheren Schriftsteller ohnmächtig
gegenüberstanden. Jetzt im XV. Jahrhunderte, wiederholen wir,
beginnt eine deutsche Algebra. Wir müssen gleich in der ersten
Hälfte des Jahrhunderts Anfänge derselben als vorhanden annehmen,
weil es sonst kaum denkbar wäre, dass plötzlich mit dem Jahre 1450
etwa eine Lehre solche Verbreitung gewann, wie wir es sehen werden,
ohne vorher überhaupt geübt worden zu sein. Aber das ist auch
Alles, was wir hierüber zu sagen vermögen. Quellen besitzen wir
gegenwärtig erst aus der zweiten Hälfte des XV. Jahrhunderts, und
werden daher mit deren Besj)rechung noch warten müssen.
52. Kapitel.
Italienisclie Mathematiker.
Der letzte Italiener, von welchem (S. 165 — 166) die Rede war, Biagio
Pelacani von Parma, reichte bereits in's XV. Jahrhundert herüber.
Bis 1411 sahen wir ihn in Padua thätig, an jener Universität, deren
älteste Satzungen aus dem XIII. Jahrhunderte die Professur der
Astrologie schon als die wichtigste, ihren Vertreter als den noth-
wendigsten Lehrer betrachtete^), dessen Unterricht namentlich den
Aerzten nicht fehlen durfte. Astrologie war aber damals ein sehr
weiter Begriff. Ihr gehörte die Kunst an, aus Sternbeobachtungen
Schlüsse auf das Schicksal der Menschen im Allgemeinen und ein-
zelner Menschen im Besonderen zu ziehen, eine Kunst, welche den
vermeintlichen Nutzen jener Beobachtungen offenbarte, um dessen
willen in erster Linie man sie anzustellen sich übte. Zur Astrologie
gehörte aber auch die wissenschaftliche Sternkunde, zu ihr die Rechen-
kunst, die Geometrie. Der Professor der Astrologie war zunächst
^) Libri II, 54 Note 1: quem tanquam necessarissimum habere omnino vo-
lumus.
204 52. Kapitel.
Astrologe, daneben Professor der gesammten damaligen Mathematik,
und ein solcher in allen Theilen der genannten vielseitigen Thätig-
keit war jener Pelacani.
Zu den Schülern des Pelacani zählte Prosdocimo de'Beldo-
mandi^). Er gehörte einer alten Familie Padua's an. Er studirte
in den Jahren 1400 und 1402 an der Universität seiner Vaterstadt^).
Ob ein Studienaufenthalt in Bologna, wo er die Abschrift einer astro-
nomischen Tabelle anfertigte'^), früher oder später fällt, ist unbekannt.
Jedenfalls wurde er wieder in Padua am 15. Mai 1409 nach abgelegter
Prüfung, zu welcher Pelacani und zwei andere Professoren erschienen,
zum Magister befördert*). Am 15. April 1411 legte Beldomandi
gleichfalls in Padua eine medicinische Prüfung ab^). Unter den bei
letzterer Prüfung genannten Professoren war Jacopo Della Torre
aus Forli, ein berühmter Arzt, der aber auch nicht ohne philosophisch-
mathematische Kenntnisse gewesen sein muss, da er einen Tractatus
de intensione et remissione formanim verfasste, welcher muthmasslich
noch im XY. Jahrhunderte im Drucke herauskam^). Im Juli 1420
gehörte Beldomandi, der Padua nicht verlassen zu haben scheint, dem
dortigen Sacro collegio di arti e medicina an'^), 1422 erhielt er die
Professur der Astrologie^), und die gleiche Stellung behielt er bis zu
seinem Tode, welcher 1428 im kräftigsten Mannesalter ihn traf^).
Sein Geburtsjahr ist allerdings nicht bekannt, dürfte aber aus dem
Zeitpunkten, in welchen Beldomandi die einzelnen Stufen seiner ge-
lehrten Laufbahn erreichte, nach rückwärts annähernd bestimmt kaum
viel früher als 1380 zu setzen sein^").
Die schriftstellerische Thätigkeit Beldomandi's war eine mannig-
faltige. Zuerst scheint er der Musik sich zugewandt zu haben, was
wohl mit der zu seiner Zeit in Padua herrschenden Geistesrichtung
zusammenhing, denn Padua war damals der Sitz der gelehrten Theo-
retiker in der Musik ^^). Schon 1404 schrieb Beldomandi Erläuterun-
gen^^) zu einem musikalischen Werke des Johannes de Muris, und
auch selbständige Schi-iften werden genannt, so z. B. eine Abhandlung
von 1412, die den Titel Contrapunctus completus führt ^^), und in
welcher Contrapunkt dahin erklärt ist, man verstehe darunter die
^) Eine ausführliche Monographie Prosdocimo de' Beldomandi von Ant.
Favaro erschien im XII. Bande des Bidletino Boncompagni und in einem Son-
derabzuge. Wir citiren letzteren als Favaro. Eine Fortsetzung seiner Unter-
suchimgen hat der gleiche Verfasser im BiiUetino Boncompagni XYHI veröffent-
licht. 2) Bulletino Boncomp. XVITI, 420. ^) Ebenda pag. 407. *) Favaro
pag. 24. ^) Ebenda pag. 25. ^) Ebenda pag. 30. '') Ebenda pag. 31.
8) Ebenda pag. 36. ^) Ebenda pag. 37 und 40. ^") Ebenda pag. 18. ") Ebenda
pag. 186. ^^) Ebenda pag. 201. ^^ Ebenda pag. 191.
Italienische Mathematiker. 205
Stellung einer einzelnen Note gegen eine andere innerhalb einer
Melodie. Es ist begreiflich, dass der Verfasser bei solchen Unter-
suchungen auf Wohlklänge und Missklänge aufmerksam werden
musste, und so wird als Leistung Beldomandi's hervorgehoben^), er
zuerst habe die kleine Sexte als Consonanz erkannt, der Quarte eine
Mittelstellung zwischen Consonanzen und Dissonanzen angewiesen, da
sie allerdings einen Missklang gebe, aber keinen so unangenehmen
wie etwa die Secunde oder die Septime.
Die nächste Aufgabe, welche Beldomandi 1410 löste ^), war die
Anfertigung eines Algorismus de integris. Diese zweimal, 1483
in Padua und 1540 in Venedig, gedruckte Schrift^) ist für uns von
spannender Bedeutung. Nicht als ob der Inhalt in irgend einer
Weise über das Rechnen mit ganzen Zahlen sich erhöbe, aber es ist
der erste italienische Algorithmus, über welchen wir genügend unter-
richtet sind, um an seiner Hand eine culturgeschichtlich wichtige
Frage beantworten zu können. Wir haben wiederholt des Gegen-
satzes zwischen gelehrter und kaufmännischer Rechenkunst gedacht.
Wir haben Leonardo von Pisa als den Vertreter der letzteren, Jor-
danus Nemorarius und mit ihm Johannes von Sacrobosco als die Ver-
treter der ersteigen kennen gelernt. Ihre Schüler fanden wir in allen
Ländern jenseits der Alpen, wo nur Rechenunterricht nach Büchern
gegeben wurde. Auch in Italien fanden wir, und das war (S. 156)
die letzte Gelegenheit, bei welcher wir den Gegenstand berührten,
eine vereinzelte Handschrift, die es nahe legte zu vermuthen, auch
dorthin sei die minderwerthige gelehrte Rechenkunst eingedrungen
und habe unter ihrem wuchernden Unkraut den Samen fast voll-
ständig erstickt, den Leonardo eingelegt hatte. Es war nur eine
Vermuthung, welche kaum ausgesprochen wurde. Gegenwärtig wird
die Vermuthung zur Gewissheit. Die italienische Universität war,
möchten wir sagen, mehr Universität als italienisch, und ihre Rechen-
kunst war die des Sacrobosco, erhob sich über sie nur so weit, als
ein Anlehnen an den grösseren Vorgänger Jordanus es möglich machte,
und zeigte nur geringe Spuren, welche an Leonardo erinnern. Das
lehrt uns eben der Algorismus de integris des Prosdocimo de' Beldo-
mandi von 1410 sowohl in der Druckausgabe, als in Handschriften,
welche von der Druckausgabe etwas abweichen. Die Abhängigkeit
von Sacrobosco enthüllt sich schon darin, dass Beldomandi ausser
der Neunerprobe, von welcher fortwährend Gebrauch gemacht wird,
auch auf die Proben durch entgegengesetzte Rechnungsverfahren,
^) Favaro pag. 211. *) Ebenda pag. GO. ^) Ebenda pag. 43
und 48.
206 52. Kapitel.
Subtraction durch Addition u. s. w., hinweist^), deren Erfinder aus-
drücklich genannt ist, damit jeder Zweifel an dem Ursprünge schwinde.
Ebenso deutlich erkennt man den Einfluss Sacrobosco's an der Hal-
birung und Verdoppelung, welche als besondere Rechnungsarten Auf-
nahme gefunden haben-). Dagegen ist aus der Erinnerung an Leo-
nardo zu erklären die Subtraction mit Borgen einer Einheit höheren
Ranges im Minuendus, welche sodann im Subtrahendus zurückgezahlt
wird^), und ebenso die schachbrettartige Multiplication. Wir sagen
Leonardo, ohne damit ausdrücklich zu meinen, Beldomandi habe von
ihm oder seinen Schriften gewusst; das kann ja der Fall gewesen
sein, aber eben so gut kann aus der Schule Leonardo's, d. h. aus
kaufmännischen Kreisen, das Eindringen stattgefunden haben. Die
Erwähnung der Araber, als der Erfinder des Zahlenschreibens ^), kann
dagegen wieder aus Sacrobosco entnommen sein. Mit eben diesem
triift Beldomandi bei der Kubikwurzelausziehung zusammen^), wenn
auch die Bildung des Kubus nach der Formel
(a + hf = «3 + 3a(a + &)& + &3
bei Sacrobosco nicht so klar wie bei Beldomandi hervortritt, diesem
Letzteren also mehr oder weniger anzugehören scheint. In den
Druckausgaben des Beldomandi, auch in der älteren von 1483,
sind Beispiele der einzelnen Rechnungs verfahren durch Buchstaben in
der Weise dargestellt, dass das jedesmalige Ergebniss durch einen
neuen Buchstaben bezeichnet ist*'). Das erinnert täuschend an Jor-
danus, und wenn auch den vorhandenen Handschriften diese Buch-
stabeubeispiele fehlen, so ist einestheils nicht ausgeschlossen, dass
verschiedene Texte vorhanden gewesen sein können, indem Abschreiber
das, was sie nicht verstanden und darum für überflüssig hielten, weg-
liessen, anderntheils ist aber auch das blosse Vorkommen in dem
Drucke von 1483 genügender Hinweis auf das, was uns das Wich-
tigste ist: dass nämKch im XV. Jahrhunderte in der italienischen
Gelehrten weit Schriften mit Dingen verbrämt waren, welche auf
Jordanus zurückführen. Für Beldomandi selbst dürften wahrschein-
lich neben der schon erwähnten Gestalt der Kubirungsformel eigen-
thümliche Summenformeln bei geometrischen Progressio-
nen^) in Anspruch zu nehmen sein. Er lehrt nämKch, und zwar in
nahezu unverändertem Wortlaute in den Handschriften wie in den
Druckausgaben, dass unter der Voraussetzung eines ganzzahligen q
^) Favaro pag. 102: oportet uti prohationihus positis in algorismo de integris
Johannis de sacro huscho. ') Ebenda pag. 94. *) Ebenda pag. 96. *) Ebenda
pag. 93—94. ^) Ebenda pag. 101. ^) Ebenda pag. 90. ') Ebenda pag.
99—100.
Italienis.clie Mathematiker. 207
immer a -\- qa -\- q-a -\- ■ ■ ■ -{- q"-^a = q"-Ui + ^ ^7^ ^®^' ^^^^^
dass, falls q = -^^ sei (eine proportio superparticiilaris nannte er
mit dem seit Boethius gangbaren Namen einen solchen Werth von q),
die Formel dahin sich ändere, dass
«+(^)«+c-^r«+-+c-;^r«=i'C-;^r«-ö'-i)«
werde. Allerdings sind beide Formeln, deren Richtigkeit sofort durch
Umwandlung der allbekannten Summenformel sich ergiebt, nicht be-
wiesen. Sie sind auch zunächst nur für die Sonderfälle g = 2, 3, 4, 5
und }) = 2, 3, 4 ausgesprochen, aber daran knüpfen sich beidemal die
Worte et sie ultra, welche zur Gewissheit erheben, dass es für Beldo-
mandi sich nicht um einzelne Fälle, sondern um allgemeine Gesetze
handelte.
Wir bemerkten ausdrücklich, Beldomandi habe nur einen Algo-
rismus de integris verfasst. Die Druckausgaben vereinigen mit dem-
selben den Algorismus de minuciis des Johannes de Lineriis^)
(S. 126), das war also das Lehrbuch der Bruchrechnung, dessen wenig-
stens die italienische Universität sich damals neben Beldomandi's ganz-
zahligem Rechnen zu bedienen pflegte.
An den Algorismus reiht sich dem Inhalte nach eine handschrift-
lich vorhandene Arbeit des Beldomandi an, ein Canon ^) in quo
docetur modus componendi et operandi tabulam quandam. Es ist
eine Einmaleinstafel, welche von 1 mal 1 bis zu 22 mal 22 sich
ausdehnt. Sie ist als Tafel doppelten Eingangs gefertigt in
quadi-atischer Gestalt und so, dass am oberen Tafelrande von links
nach rechts und an dem linken Tafelrande von oben nach unten die
Zahlen 1 bis 22 auf einander folgen. Die Kreuzungsstellen der jedes-
maligen Zeilen und Kolumnen enthalten die betreffenden Producte.
Die Quadratzahlen, welche in der Diagonale von links oben nach
rechts imten erscheinen, heben sich gleich den Randzahlen in rothen
Schriftzügen hervor, während alles Uebrige schwarz geschrieben ist.
Das Vorhandensein einer Einmaleinstafel war ja nicht neu. Niko-
machus (Bd. I, S. 402) hat eine solche in ähnlicher viereckiger Ge-
stalt gegeben. Boethius folgte in seiner Arithmetik (Bd. I, S. 539)
dem gTiechischen Muster werke, und eine heute noch vorhandene
Arithmetik des Boethius war vermuthlich einst Beldomandi's Eigen-
thum^j. Auch Bernelinus hat (Bd. I, S. 826) seinen Lesern eine
1) Favaro pag. 43. f) Ebenda i^ag. 102 und 107—109. ^) Ebenda
pag. 121 und 128.
208 52. Kapitel.
Einmaleinstafel nicht vorenthalten, bei welcher in ganz besonders auf-
fallender Weise die Quadratzahlen fehlen. Leonardo von Pisa (S. 8)
hat nicht minder das Einmaleins, allerdings nicht in quadratischer
Anordnung. Auch des mündlichen Einübens des Einmaleins wird
wiederholt und zu verschiedenen Zeiten gedacht (Bd. I, S. 796 und
495), aber immer handelt es sich um das kleine Einmaleins, um
die Vervielfachungen von 1x1 bis zu 10 X 10. Bei Beldomandi
ist, soweit bekannt, nach Petrus von Dacien (S. 91) und neben
Kr istan von Prachatic (S. 179), erstmalig eine Ausdehnung zum grossen
Einmaleins vorgenommen, denn die Angabe von 11^ bis 20^ in
der alten französischen Geometrie des XIII. Jahrhunderts (S. 93) ist
kaum als grosses Einmaleins zu betrachten. Wesshalb grade 22 X 22
den Schluss bildet, dafür scheint kaum ein anderer Grund ersichtlich
als der, dass die Ausdehnung der Tafel nach der des Papierblattes
sich richten musste, auf welches sie geschrieben war. Der Ent-
stehungszeit nach hätten wir diesen Canon schon vor dem Algorismus
zu besprechen gehabt, denn er ist laut Angabe der Handschrift bereits
1409 in Padua vollendet. Jetzt, da wir den Algorismus schon kennen,
wird uni5 das Fehlen einer ähnlich gebauten Einmaleinstafel in ihm
als absichtliche Lücke nicht entgehen können. Wir werden auch
hierin wieder ein Anlehnen an das Althergebrachte, an das gleiche
Musterwerk zu erkennen haben, dem Beldomandi's Algorismus sich
fortwährend anschliesst.
Wir kommen nun zu einem kurzen geometrischen Bruchstücke^)
Beldomandi's. Es handelt sich (Fig. 36) darum, ein Parallelogramm
hceg zu zeichnen, welches einem
Dreiecke ahc flächengleich sei. Die
Construction wird an drei Figu-
ren ausgeführt, die sich darin
unterscheiden, dass der Dreiecks-
winkel bei c ein stumpfer, ein
*^' spitzer, ein rechter Winkel ist.
Jedesmal wird ad parallel und gleich Ic gezogen und d mit 1) ver-
bunden; wird alsdann ac in e und dh in g halbirt und eg gezogen,
so ist bceg das verlangte Parallelogramm.
Sonstige geometrische Schriften Beldomandi's sind nicht bekannt,
indem eine in einem Handschriftenkataloge ihm zugeschriebene Geo-
metrie sich bei näherer Untersuchung^) als eine Abschrift der eukli-
dischen Elemente in der üebersetzung des Campanus erwiesen hat.
Eine Schrift über das Astrolabium ^) genüge es uns genannt zu haben.
^) Favaro pag. 132. *) Ebenda pag. 129 — 131. ^) Bihliotheca mathe-
matica 1890 p. 81—90 und 113—114.
Italienische Mathematiker. 209
Ein Commentar, welchen Beldomandi 1418 zu der Sphäre des Sacro-
bosco verfasste, fordert unsere Aufmerksamkeit nur durch eine Stelle ^)
heraus, in welcher die damalige Unkenntniss griechischer Sprache bei
den berühmtesten Gelehrten zu Tage tritt. Isoperimetrischer Körper
soll nämlich so viel heissen als einer, welcher um einen anderen be-
schrieben werden kann, denn ysos heisse Figur, peri um und metros
das Maass.
Die Zeit nahte mit raschen Schritten, in welcher solche Irr-
thümer, namentlich in Italien, zu den Unmöglichkeiten gehörten.
Schon war Kenntniss des Griechischen zu einer erwünschten Zierde
geworden. Sie wurde von Einzelnen gesucht und erworben. Bald
war sie Nothwendigkeit, und griechisches Wissen auf allen Gebieten,
auf dem der Philosophie wie der Poesie, der Mathematik wie der
Astronomie, erhielt einen solchen Ruf des Uebergewichtes, dass Jeder
es sich anzueignen bestrebt war, der Eine in der Ursprache, der
Andere in Uebersetzungen, welche jetzt ausschliesslich aus der Ur-
sprache und nicht mehr mit Durchgang durch morgenländische Ueber-
tragungen hergestellt wurden. Die Uebersetzer waren theils Italiener,
theils nach Italien übergesiedelte Griechen.
Unter den Ersteren haben wir Jacob von Cremona-) zu
nennen, oder mit seinem heimathlichen Namen und Titel Jacopo
da S. Cassiano Cremonese canonico regolare. Er lebte 14 Jahre
lang in Mantua, war Schüler des Vittorino und trat um 1446 nach
dessen Tode an seine Stelle als Lehrer der Söhne des Markerrafen
Lodovico Gonzaga. Im Jahre 1449 wurde er nach Rom berufen.
Dort hatte seit März 1447 Nicolaus V. den päpstlichen Stuhl inne,
ein geistlicher Fürst von eben so feinem Kunstsinne als grosser Ge-
lehrsamkeit. Den Anstoss zum Neubau der Peterskirche in Rom
gegeben, die vaticanische Handschriftensammlung mächtig bereichert,
griechische Gelehrte nach Rom benifen oder dort festgehalten zu
haben, das sind unvergängliche Ruhmestitel des geistvollen Mannes.
Um die vorhin genannte Zeit wurde nun entweder unter Neuan-
schaffungen oder unter schon vorhandenen Handschriften ein griechi-
scher Archimed entdeckt, und dessen Uebersetzung vollzog Jacob
von Cremona im päpstlichen Auftrage. Das war die Bearbeitung,
welche Cusanus kennen lernte (S. 192), und welche er in einem Send-
1) Favaro jjag. 147: Circa hanc partem notandum primo quod isoperimeter
dicitur ab ysos graece quod est figura latine, et peri quod est circa, et metros quod
est mensura, unde corpus isoperimetrwn id est corpus habens figuram circa aliud
mensurantem sive alteri circumscriptibilem quod idem est. ^) Val, Rose in der
deutschen Literaturzeitung V. Jahrgang (1884) S. 292.
Cantok, Greschichte der Mathem. II. 2. Aufl. 14
210 52. Kapitel.
schreiben an den Papst diesem zu hoher Ehre anrechnete. Erhalten
scheint sich die Uebersetzung nicht zu haben.
Auch zu der Uebersetzung eines anderen griechischen Werkes
trat Jacob von Cremona kurze Zeit vor seinem bald nach 1449 ein-
tretenden Tode in Beziehung. Georg von Trapezunt^) hatte den
Almagest des Ptolemäus und Theon's Erläuterungen zu demselben be-
arbeitet. Dieser Grrieche war 1396 auf der Insel Kreta geboren. Er
starb 1486 in Italien. Den Namen, unter welchem er bekannt ist,
wählte er nach dem Orte, woher sein väterliches Geschlecht stammte.
Er beherrschte die griechische Sprache allerdings, aber mit dem In-
halte des von ihm übersetzten Werkes verhielt es sich keineswegs so,
und er scheint durch diesen Mangel zu schlimmen Schnitzern geführt
worden zu sein. Wenigstens trat Jacob von Cremona als feindlicher
Kritiker gegen die Uebersetzung auf.
Noch einen zweiten Feind hatte Georg von Trapezunt sich zu-
gezogen, den wir hier zu nennen haben, wenn er auf die Geschichte
der Mathematik auch nur sehr mittelbar einwirkte: Bessarion.
Bekanntlich war seit der Mitte des XL Jahrhunderts zwischen der
griechischen und lateinischen Kirche eine bleibende Trennung ein-
getreten. Gegen Ende des XIII. Jahrhunderts wurden zwar Versuche
angestellt, den Riss wieder zu heilen, aber sie misslangen. Als 1437
das basler Concil auseinanderfiel, wurden neue Versuche gemacht.
Die Partei des Concils wie die des Papstes Eugen IV. wetteiferten,
wer die Griechen zu versöhnen vermöge, wozu die immer näher
rückende Türkengefahr ohnedies mahnte. Cusanus ging im August
1438 als päpstlicher Abgeordneter nach Konstantinopel, und unter
denjenigen Würdenträgeni, welche er zu bestimmen wusste, ihn nach
Italien zu begleiten, war Bessarion der Bischof von Nicäa, der später
ganz zur römisch-katholischen Kirche übertrat und zum Cardinal er-
nannt wurde. Cardinal Bessarion, sagten wir, lebte mit Georg von
Trapezunt in Feindschaft. Der Grund war ein ganz wissenschaft-
licher. Bessarion war ein begeisterter Bewunderer Plato's, Georg von
Trapezunt ein eben solcher von Aristoteles und dagegen ein Ver-
kleinerer Plato's, den er in einer eigenen Schrift heftig tadelte. Das
war der Ursprung einer bis zum Hasse sich steigernden Aufregung
für Bessarion, das vielleicht der Grund, warum dieser auch die Alma-
gestübersetzung Georgs von Trapezunt von vornherein für verfehlt
erklärte, warum er bei einem Aufenthalte in Wien zu Peurbach in
Beziehung trat und denselben aufforderte, sich an eine Uebersetzung
des Meisterwerkes des griechischen Astronomen zu wagen.
') Kästner II, .318.
Italienische Mathematiker. 211
Wenn wir hiermit den Abschnitt beschliessen nnd nach unserer
Gewohnheit umschauend einen Ruhepunkt für unser Auge suchen, so
haftet dasselbe vorzugsweise an Nicolaus von Cusa. Andere Namen
kommen ja auch vor. Wir verweilten bei deutschen und italienischen
Rechenmeistern niederen und höheren Styles; wir sahen die Universi-
tätswissenschaft ziemlich aller Orten von gleich geringfügiger Art,
mit gleich geringen Erhebungen über den tiefstmöglichen Stand; wir
sahen auch Johann von Gemunden, Georg von Peurbach zu trigono-
metrischen Neuerungen einen Anlauf nehmen. Als genialer Kopf
mit dem Stempel des Erfinders ausgezeichnet war aber nur Einer,
nur Cusanus, und für die Mängel seiner Erfindungen ist vielleicht
verantwortlich, dass er nicht ausschliesslicher Mann der Wissenschaft,
in erster Linie Mathematiker, sein durfte.
14'
XII. Die Zeit von 1450—1500.
53. Kapitel.
Rechnen auf den Linien. Das Bamberger Rechenbuch.
Die zweite Hälfte des XV. Jahrhunderts beginnt mit einer Er-
findung, deren Erwähnung nirgend fehlen darf, wo von den Fort-
schritten menschlicher Bildung auf was immer für einem Wissensgebiete
gesprochen wird. Wir meinen natürlich die ßuchdruckerkunst.
Deutschland war, wie gegenwärtig wohl keinem Zweifel unterliegt,
die Heimath dieser Erfindung, und da wir mit der Geschichte der
Mathematik in Deutschland den Anfang unseres neuen Abschnittes
machen, so scheint eine doppelte Verpflichtung vorzuliegen, jene Er-
wähnung nicht zu versäumen. Eine Gegenbemerkung könnte gemacht
werden. Die Buchdruckerkunst trat nämlich nicht gleich von Anfang
an und nicht in Deutschland zuerst in den Dienst unserer Wissen-
schaft. Nicht vor 1471 werden wir einem in diesem Buche zu er-
wähnenden Druckwerke begegnen, und die Presse, aus der es hervor-
ging, stand in Italien. Aber mit 1472 beginnt auch die Zeit deutschen
mathematischen Druckes und rechtfertigt einigermassen unser Vor-
greifen, zumal es sich auf die einfache Erwähnung beschränkt, dass
man nicht mehr auf die Feder der Abschreiber allein angewiesen war.
Noch eine weitere Thatsache ist zu erwähnen. Die zweite Hälfte
des XV. Jahrhunderts ist die Zeit, in welcher die Stellungsarithmetik
mit ihren zehn Zahlzeichen mehr und mehr in Kreise drang, denen es
um nichts weniger als um das Rechnen zu thun war. Wir meinen
die Verwendung dieser Zahlzeichen zur Angabe der Blatt folge ge-
druckter Bücher, zur Ausprägung von mit Jahreszahlen ver-
sehenen Münzen, zur Anfertigung von Grabinschriften. Das
älteste bekannte Druckwerk mit in der angegebeneu Weise gezählten
Blättern ist ein 1471 in Köln erschienenes Werk Petrarca's ^). Dass
die Jahreszahlen auf Münzen erst mit dem Ende des XV. Jahrhunderts
in Stellungszahlen auftreten, wird von Niemand angezweifelt. Etwas
fraglicher könnte die Zeit der Anwendung auf Grabdenkmälern er-
1) Unger, S. 16.
216 53. Kapitel.
scheinen. Es werden Pforzheimer und Ulmer Grabdenkmäler aus
dem XIV. Jahrhundert erwähnt^), von noch älteren ganz zu schweigen.
Die Inschriften sind vorhanden, das ist gewiss, aber sind sie immer
zu der Zeit eingemeisselt, welche sie angeben? Ist nicht etwa der
alte Grabstein auf ii-geud eine Weise z. B. in den wüsten Bilder-
stürmereien des XVI. Jahrhunderts zerstört oder so verletzt worden,
dass eine Erneuerung nöthig wurde, welche alsdann, ohne dass irgend
Absicht vorlag, den Geschichtsforschern ein Kuckucksei in das Nest
zu legen, die alte römische Jahreszahl durch die weniger Zeichen er-
fordernde Ziffernschrift ersetzte? Die Form jener Denkmalsziffern,
welche sehr von den in Rechenbüchern der Zeit benutzten Zahlzeichen
abweicht, giebt gegründeten Anlass zu dieser Yermuthung, und ins-
besondere die Pforzheimer Inschrift dürfte nach an Ort und Stelle
eingezogenen Erkundigungen kaum früher als im XYL Jahrhunderte
entstanden sein.
Ein Drittes haben wir, beginnend in der ersten, sich verbreitend
in der zweiten Hälfte des XY. Jahrhunderts, aus Deutschland zu be-
richten: das Auftreten von Yorschriften darüber, wie auf den Linien
zu rechnen sei. Das Abacusrechnen der Römer und des frühen
Mittelalters ist jedem Leser unseres I. Bandes zur Genüge bekannt,
bekannt auch wie es zu einem Kolumnenrechnen ward, bei welchem
die Rechenpfennige auf den betreffenden senkrecht zum Rechner ge-
bildeten Kolumnen zu einem Zahlzeichen sich verdichteten, während
die Kolumnen selbst vor Einbürgerung der Null nicht entbehrt wer-
den konnten. Bekannt ist ferner, wie die Null durch die Algorith-
miker eingeführt den Kampf um das Dasein gegen die alten Methoden
eröffnete und siegreich durchführte. Jetzt, am Ende des XY. Jahr-
hunderts und bis tief in das XYL, ja in das XYII. Jahrhundert sich
erstreckend erscheint plötzlich eine neue, oder doch eine wesentlich
veränderte Rechnung mit Rechenpfennigen, und zwar in Deutsch-
land, Frankreich, England, aber nicht in Italien. Der Name
der Unterlage dieser Rechnung ist der der Rechenbank oder der
Bankir, auf welcher wagrechte Linien gezogen sind, die den Namen
des Rechnens auf den Linien zu einem ebenso berechtigten als
leicht verständlichen machen. Die Linien geben den auf ihnen liegen-
den Marken von unten nach oben je zehnfach höheren Werth; eine
zwischen zwei Linien befindliche Marke hat den fünffachen Werth als
wenn sie der unteren, den halben als wenn sie der oberen Linie an-
gehörte-, das Rechnen, insbesondere das Addiren, als die Grundlage
jedes Rechnens, vollzieht sich genau so wie bei dem ältesten Abacus.
1) Günther, Unterricht Mittela. S. 175.
Rechnen auf den Linien. Das Bamberger Rechenbuch. 217
Die Frage musste aufgeworfen werden, wie man das plötzliche
Auftreten dieses Verfahrens zu erklären habe, welches einem schon
vollständig überwundenen Standpunkte angehörend geradezu einen
Rückschritt bedeute. Man hat besonderes Gewicht auf den Gegensatz
der wagrechten Linien zu den früheren senkrechten Kolumnen gelegt
und auf ihn gestützt eine Neueinführung behauptet, deren Muster der
chinesisch -mongolische Swän pän (Bd. I, S. 622) gewesen sei, der
„während des XV. Jahrhunderts durch den Handel in Deutschland in
Gebrauch kam"^). Gegen diese Meinung ist sehr vieles einzuwenden.
Die Nachbildung eines Eingeführten pflegt doch diesem selbst ähn-
lich zu sein, und da ist nun von vornherein gar nicht richtig, dass
der alte Swän pän mit wagrechten Drähten hergestellt gewesen sei 2).
Dann ist mit Recht hervorgehoben worden, dass die Vermittlung des
chinesisch-europäischen Handelsverkehrs in den Händen der Italiener
lag, und grade diese haben das Rechnen auf den Linien nicht in
ihren Rechenbüchern gelehrt^). Es ist weiter zu beachten, dass die
Schriften über das Rechnen auf den Linien, wo sie überhaupt eines
Ursprunges gedenken, niemals auf Asiaten verweisen, sondern auf
Appuleius von Madaura (Bd. I, S. 524), und wir dürfen uns wie-
derholend jene Namensnennimg so deuten, dass es schwer halte, des
Glaubens sich zu erwehren, dass wer so bestimmt sich ausdrückte
wie jene Rechenmeister des XV. und XVL Jahrhunderts, die Schrift
Appuleius' selbst vor Augen hatte, von der freilich keine Handschrift
mehr vorhanden ist. Wir geben ferner zu bedenken, dass der Haupt-
unterschied der Richtung der Kolumnen, die aus senkrechten zu wag-
rechten wurden, erklärt werden kann, wenn wir an das Aufhängen
einer solchen Rechenvorrichtung denken, welches nur ein Verschieben
der Kugeln nach rechts und links, nicht nach oben und unten ge-
stattet, ohne behaupten zu woUen, diese Erklärung sei die richtige.
Endlich aber ist, wie uns scheint, eine vollständige Erledigung
aller Zweifel dadurch gegeben, dass die zwischen dem XII. und XV.
Jahrhunderte vorhandene Lücke, den allmählichen Uebergang von
Abacus zur Rechenbank darstellend, nunmehr ausgefüllt ist, zwar
1) Gerhardt, Math. Deutschi. S. 28—29, Anmerkung 2. *) Vergl. z. B.
Abbildung und Beschreibung des Swänpän mit gegen den Rechner senkrechten
Drähten bei Duhalde, Ausführliche Beschreibung des chinesischen Reiches und
der grossen Tartarei (aus dem Französischen), Rostock 1749. Bd. Ill, S. 350.
Kaspar Schott in seinem Cursus mathematicus von 1699 beruft sich pag. 21
und 52 ausdrücklich auf einen Missionar Martinius, durch welchen er wisse,
dass die Kugeln des chinesischen Rechenbrettes sursum atque deorsum mobiles
seien, was nur bei gegen den Rechner senkrechter Lage der Drähte möglich ist.
3) Unger, S. 69.
218 53. Kapitel.
nicht durch ein Lehrbuch, wie man mit Rechenpfennigen umgehen
solle, aber durch die Rechenpfennige selbst^). Sie führten in
französischer Sprache den Namen Jetons von jeter, werfen oder aus-
werfen, mit Bezug auf ihren Gebrauch, bei welchem sie auf die
Rechenbank geworfen wurden. Lateinisch heissen sie aus dem gleichen
Grunde projeciiUa. Die Engländer sagten coimfers, Zähler, die Deutschen
Bechenpfennig oder Raitpfennig. Es ist gelungen, eine ganze Reihe
solcher Marken selbst oder doch deren Erwähnung ausfindig zu
machen, welche ein lückenloses Vorhandensein beweisen, wenn auch
die Beweisstücke nicht alle dem gleichen Orte entstammen.
In Frankreich ist ein Rechenpfennig der Königin Blanche vor-
handen^), welche 1252 starb. In Brügge finden sich unter den Aus-
gabeposten der städtischen Rechnuugsämter solche für Anschafi'ung
von Rechenpfennigen^) aus den Jahren 1284, 1303, 1331 — 1332. Der
Gebrauch von Rechenpfennigen zur Zeit Philipp YI. von Frankreich
(f 1350) ist gesichert*), gesichert auch für die Zeit von Philipp dem
Kühnen von Burgund (y 1404), von Anton von Brabant (f 1450).
In dem alten Cataloge des Musee Cluny in Paris (vor der üeber-
siedelung der Sammlung) war unter Nr. 3245 angegeben: Tapisserie de
haute lisse aus der Zeit Ludwig XII. (1462 — 1515). Auf dieser Stickerei
gab die Dame Arithmetique Rechenuntemcht. Ein Zuhörer hielt
einen kleinen Bogen, ä la corde duquel sont suspendus des bätonncts
de longiieurs inegales, und diese verschieden langen Stäbchen müssen
doch wohl zu einem instrumentalen Rechnen gedient haben. Aehn-
lich wie wir es von Brügge aussprechen durften, sind auch in Frank-
furt am Main städtische Rechnungen erhalten^) mit Ausgabeposten
„umb ein hundert Rechenpfennige". Solche waren daher 1399, 1402,
1431 im Gebrauch. Wieder aus dem XV. Jahrhunderte kennt man
eine ganze Anzahl von Nürnberger Rechenpfennigen^), die den An-
fang eines regen Gewerbes bezeichnen. Hechenpfennigniaclier heisst
ein Hans Läufer^) am Anfange des XVII. Jahrhunderts, und auf den
heutigen Tag ist ähnliche Nürnberger Waare gi-ade so gut, nur bei
verändertem Gebrauche als Spielwerk, weit und breit zu finden, als
damals, da der genannte Hans Laufer in den In- und Umschriften
nach dem Geschmacke aller Länder sich richtete^), wohin seine Er-
zeugnisse verkauft wurden.
Ein Land fehlt in der Liste der Gegenden, wohin Rechenpfennige
') Alfred Nagl, Die Kechenpfeimigs und die operative Arithmetik in der
(Wiener) Numismatischen Zeitschrift. 19. Jahrgang (1887), S. 309—368. *) Ebenda
S. 317. 2) Ebenda S. 328. *) Ebenda S. 332—333. ^) Ebenda S. 336.
«) Ebenda S. 346. ') Ebenda S. 344. *) Ebenda S. 346.
Rechnen auf den Linien. Das Bamberger Reclienbuch. 219
gingen, und wo mit solchen umgegangen wurde: Italien^). Wenn
ein spanischer Schriftsteller Juan Martinez Silicius^) im Jahre
1514 das Rechnen auf der Linie lehrt, damit ein Nutzen für alle die
daraus erwachse, welche der Zahlzeichen unkundig seien; wenn noch
Buffon^), der berühmte Naturforscher des XVIII. Jahrhunderts, das
Rechnen mit Marken rühmt und erzählt, dass Frauen und so und so
viele andere Leute, welche nicht schreiben können oder nicht schreiben
wollen, es lieben mit Jetons zu hantiren; wenn um 1611 in Shake-
speare's Wintermärchen*) (Act IV, Scene 2) der junge Schäfer sagt:
ich kann es ohne Rechenpfennige nicht herausbringen, I cannot do't
u'itlwut counters, so spricht ein italienischer Humanist vom Ende des
XV. Jahrhunderts, Ermolao Barbaro^) (f 1495), sich mit einigem
Hochmuthe dahin aus, die Alten hätten beim Rechnen der Steinchen
sich bedient, einer Sitte, die heute noch fast bei allen ungebildeten
Völkern sich erhalten habe (qui mos hodie apud harharos fere omncs
servatur).
Diese Thatsachen und Erwägungen alle zusammengefasst scheinen
mit Nothwendigkeit die Sätze zu begründen, dass das einfache Rechnen
mit Rechenpfennigen Jahrhunderte lang neben dem wissenschaft-
licheren Kolumnenrechnen, wie neben dem Rechnen mit Zahlzeichen
mit Stellungswerth und mit der Null sich erhielt, dass es höchst
wahrscheinlich in solchen Gesellschaftsschichten erblich war, welche,
um das späte Wort Buffon's zu wiederholen, nicht schreiben konnten
oder nicht schreiben wollten, dass innerhalb der vielen Jahrhunderte
nur eine wesentliche Aenderung, die der senkrechten Linien in wag-
rechte, auf nicht mit Sicherheit nachzuweisende Art eintrat, dass von
jenem sich vererbenden Nothbehelfe grade Italien, das Mutterland des
römischen Abacus, sich vollständig reinigte.
Für diese letztere Erscheinung ist es nicht schwer, eine Be-
gründung zu geben. Haben wir doch grade in Italien ein wissen-
schaftliches Laien- und Kaufmannsrechnen entstehen sehen! Also eben
jene Kreise, die in Frankreich, in Deutschland, in England in dem
bequemen Schlendrian alter Unwissenheit weiter lebten und ihm da-
durch Erhaltung sicherten, sie waren in Italien die Träger eines
Fortschrittes, der neben der Welt der Gelehrten seine eigenen Wege
ging. Wer hätte also in Italien die Rechenpfennige und ihren Ge-
brauch zum Range eines ewigen, weil für Viele unentbehrlichen Mittels
erheben soUen?
Eine andere letzte Frage haben wir aufzuwerfen. Wenn Jahr-
1) Alfred Nagl S. 347—348. *) Ebenda S. 326. ^) Ebenda S. 32^
') Ebenda S. 333. ^) Ebenda S. 348.
220 5;^- Kapitel.
hunderte lang nördlich von den Alpen mit Rechenpfennigen gerechnet
worden ist, wenn wirklich, wie wir oben sagten, dieses Verfahren in
Gesellschaftskreisen niedrigerer Bildung erblich war, ohne dass es
nothwendig gewesen zu sein scheint, es in Schriften zu lehren, wie
kommt es, dass es nun plötzlich seit Ende des XV. Jahrhunderts in
zahllosen Werken mit und neben dem Ziffernrechnen empfohlen wird?
Wir könnten auf diese Frage mit einer Gegenfrage antworten:
wie kommt es, dass ein so hervorragender Mathematiker, als Poncelet
es war, ein Rechenbrett mit an Drähten aufgereihten Kugeln, welches
er als Kriegsgefangener in Russland zum Rechnen hatte verwenden
sehen, nach seiner Rückkehr nach Frankreich in die Schulen von Metz
einführte^), wo es den ganz passenden Namen houllier, Kugelbrett,
erhielt, dass es von da in fast alle Kinderschulen Europas drang?
Poncelet erkannte die Vorzüglichkeit einer Vorrichtung, für welche
er als Mittel zum eigentlichen Rechnen sich gewiss nie erwärmt hat,
als Lehrmittel, und ein Aehnliches nehmen wir für die Zeit des XV.
und XVI. Jahrhunderts in Anspruch. Die Buchdruckerkunst war
soeben erfunden. „Mit der Entstehung von Druckschriften wurden
die Bildungsstätten für's gemeine Volk zum Bedürfniss und zur Mög-
lichkeit, denn aus Handschriften konnten Bauernkinder nicht lesen
lernen"^). Und die Schule erzeugte wieder Unterrichtsverfahren. Man
konnte, man sollte in durch den Druck vervielfältigten Büchern Lehr-
mittel schaffen, die Jedem zugänglich seien, die der Gesammtbevölke-
rung oder doch einem weit grösseren Theile derselben, als bisher
dem Unterrichte unterworfen werden konnte, zu Gute kämen. Da
musste man bei Abfassung solcher Bücher Umfrage halten, wie es
denn in jenen Kreisen üblich sei, die bis dahin nur mündlich unter-
richtet worden waren, da musste man dazu kommen, auch die dort
herrschende Uebung, falls man ihre Lehrzweckdienlichkeit erkannte,
mit dem Freibriefe allgemeiner Anwendung zu versehen. So unsere
persönliche Meinung, die wir allerdings mit genauen Beweisen zu
unterstützen nicht im Stande sind, die aber uns wenigstens erklärt,
was erklären zu wollen noch nicht versucht wurde. Wir könnten
zum Vergleiche wie zur Unterstützung daran erinnern, dass in China
(Bd. I, S. 629) die Lehrbücher der Rechenkunst für die Addition und
Subtraction gar keine Regeln aufstellen, offenbar mit Rücksicht darauf,
dass diese Rechnungsarten auf dem Swän pän ausgeführt wurden.
Von dem ersten gedruckten deutschen Rechenbuche sind nur
geringfügige Ueberbleibsel^), 9 kleine Pergamentstreifchen , erhalten,
*) Chasles in den Comptes Hendus de l'Academie des sciences vom 26. Juni
1843. T.XVI, pag. 1409. ^) Unger, S. 2. ^) Ebenda S. 36.
Rechnen auf den Linien. Das Bamberger Rechenbuch. 221
welche der Bamberger Bibliothek aügehören. Sie genügen grade, um
durch die Schlussworte Anno cBü 1482 Jd' 16 hmii p. Henr. peczen-
steiner Bahenherge: finit Ulrich ivagner Hecliemeister Bii Nürnberg
Drucker und Verfasser kennen zu lernen. Ersterer, Heinrich Petzen-
steiner, druckte in den Jahren 1482 — 1490 in Bamberg und ist
dadurch in der Geschichte der Buchdruckerkunst wohl bekannt.
Letzterer, Ulrich Wagner, gehörte als Nürnberger Rechenmeister
einer in deutschen Landen und darüber hinaus berühmten Classe
von Männern an, welche, wie wir noch im Verlaufe dieses Ab-
schnittes sehen werden, zur Verbreitung mathematischen Wissens viel
beitrugen.
Vielleicht war Wagner auch der Verfasser eines zweiten Rechen-
buches, das 1483 bei demselben Drucker Heinrich Petzensteiner er-
schien und mit dem gleichen Schriftsatz gedruckt worden sein muss,
der ein Jahr vorher diente. Dieses Rechenbuch, von dem ersten ver-
schieden, wie aus dem erwähnten Ueberbleibsel des älteren Buches
durch Vergleichungen entnommen werden konnte, hat den Namen
des Bamberger Rechenbuchs von 1483 erhalten^). Es ist in
mehrfacher Beziehung wichtig genug, um eine etwas eingehendere
Schilderung zu erhalten. Es besteht aus 77 Blättern, zu welchen
noch ein ,,Beg ister" kommt, welches gleichsam Vorrede und Einleitung
zugleich darstellt. Me nach folget dz Begister dises Bechenpuchleins
nach seinen Capiteln und was in einem ydichen begriffen. Hierumb
den fleissigen merchem das mit gantsen fleys ersucht mit seinen Canonen ^)
und Exempeln nachvolgende und ob yndert eyn ciffern oder mer vericert
tvern. teil ich entschuldigt sein oder zu vil oder zeivenig iveren was du
gar hichtlich durch die abgemalten Canones und ir reget finden magst
alle rechnung in diesem puchlin. Auch ein idicher in teutschem Lesen
und in ciffern erfahren mag an alle unterweyffung vor im selbs soliches
gelernen und garvil alsdan in welschen, ieutschen und andern landen
in allen kauffschlagen oder kauffmanschatz wie die genant seyn not zu
wijsen ist alles ander dafs gleych magst (an allen zweyffel) vinden. und
magst auch sollichs allen nach den rechnungen der ciffern der Tolleten.
Auch der linien machen also das du fleissig merckest tvie du die rech-
nung mit der feddern oder kreyden machest das du die pfennig in
gleycher tveifs legest. Wir heben zunächst den Schlusssatz hervor, da
aus demselben deutlich hervorgeht, wie dem Verfasser das Rechnen
^) Unger, S. 37. Durch die grosse Freundlichkeit von Dr. Unger durften
wir, ausser den von ihm im Druck veröffentlichten Auszügen, eine von ihm ge-
fertigte Abschrift des ganzen Rechenbuches benutzen. ^) Im Texte steht
Caconen, was aber offenbar Druckfehler ist.
222 53. Kapitel.
auf den Linien mit Rechenpfennigen ein durchaus bekanntes war,
wenn er es auch nicht zu lehren beabsichtigte. Solches that ein 1490
bei Lotter in Leipzig gedrucktes Buch, welches den Titel Algorith-
mus linealis führt ^), vielleicht das gleiche Werk, welches (S. 217)
sich auf Appuleius beruft. Der oben abgedruckte Satz aus dem
Bamberger Rechenbuche, dessen Sinn erfordert, dass man ihn ab-
weichend von der Art, wie er gedruckt ist, "«vielmehr so lese: magst
auch solliclis allen nach den reclmungen der ciffern der Tolleten, auch
der Linien machen, enthält das Wort Tollet, welches uns hier zum
ersten Male begegnet. Die grösste Wahrscheinlichkeit besitzt die
Erklärung, welche das Wort Tollet aus dem italienischen tavoletta
= kleine Tafel herleitet und sich dai-auf beruft, dass dazu eine im
Auslande etwa vollzogene Verketzerung nicht anzunehmen sei, dass
vielmehr im venetianischen Dialekte tavola in tola, tavoletta in toleta
übergegangen sei^). Es wäre demnach eine vermuthlich bei venetianer
Kaufleuten übliche Methode gewesen, welcher wir hier auf süd-
deutschem Boden begegnen, eine Annahme, die bei dem regen Ver-
kehr, der zwischen Venedig und Nürnberg stattfand, nichts Auffallen-
des hat. Einige Bestätigung bieten sogar die in dem Register
enthaltenen Beziehungen auf u-elsche, teutsche und andern Landen und
auf Tiauffschlagen oder li au ff manschatz. Die Tolletrechnung selbst wird
in dem Bamberger Rechenbuche wirklich gelehrt, wie wir sogleich
bei der Inhaltsangabe sehen werden. Dieser Inhalt, über den wir,
weil es um das erste deutsche gedruckte Rechenbuch sich handelt,
genaueren Bericht geben zu sollen meinen^), gliedert sich in 21 Kapitel,
und zwar betreffen diese:
Kapitel 1. Das Numeriren.
Kapitel 2. Das Addiren unbenannter Zahlen nebst Anwendung
der Siebenerprobe.
Kapitel 3. a. Das Subtrahiren unbenaimter Zahlen; im Falle einer
zu grossen Subtrahendenziffer wird deren dekadische Ergänzung zur
Minuendenziffer addirt, warauf die nächste Subtrahendenziffer um 1
erhöht wird. b. Das Addiren und Subtrahiren mehrsortiger Zahlen,
c. Die Einmaleinstafel*).
Kapitel 4. Das Multipliciren unbenannter Zahlen nach fünf
Methoden, deren Verschiedenheit sich auf die Beschaffenheit der
0 Unger, S. VIU. -) Günther, Unterr. Mittela. S. 322—323 mit Be-
rufung auf H. E. Gelcich, SiüV origine della Töleta dei Veneziani in der Rivista
della marina mercantile (Triest 1884, pag. 227). ^) Wesentlich nach Unger,
S. 39—40 und der erwähnten Vergleichung des Textes. '') Wenn Unger,
S. 39 von der pythagoräischen Einmaleinstafel spricht, so ist dieser Name im
Bamberger Rechenbuche selbst nicht genannt.
Rechnen auf den Linien. Das Bamberger Rechenbuch. 223
Factoren gründet, a. Beide Factoren bestehen aus je einer bedeut-
lichen Ziifer mit Nullen, b. Der eine Factor ist einstellig, der andere
mehrstellig, c. Beide Factoren liegen zwischen 10 und 20; das Ver-
fahren folgt der Formel (10 + a) • (10 -f &) = a& + 10(a + &) + 100.
d. Beide Factoren bestehen aus je zwei bedeutlichen Ziffern und
werden übers Kreuz multiplicirt. e. Zwei vielstellige Factoren multi-
pliciren einander nach der gewöhnlichen Einrückungsmethode der
Theilproducte, wobei der Multiplicator längs einer schrägen Linie ge-
schrieben jede seiner Ziffern neben dem zu ihr gehörigen Theil-
producte erscheinen lässt. Die Multiplication 705081 mal 640180
sieht z. B. so aus:
640180
640180/1
5121440/8
oooooo/o
3200900/5
000000/0
4481260/7
451378754580
Genannt wird diese Multiplication auf dem Schachir und erinnert
durch den Namen an die schachbrettartigen Verfahren der Inder
und Araber (Bd. I, S. 571, 739, 764).
Kapitel 5. a. Das Dividiren unbenannter Zahlen, wobei Unter-
abtheilungen je nach der Grösse des Divisors gebildet sind. b. Die
Progressionen, und zwar sind Summenformeln in Worten gegeben,
welche für die arithmetische Progression der Regel
1 + 2-f 3 + ..--fiz. = (l-f iO|,
für die geometrische Progression der Regel
1 + ^ + ^/ + • • • + r-' = ^Y=T^ + ^"~'
entsprechen, welcher letzteren wir (S. 207) bei Beldomandi begeg-
net sind.
Kapitel 6. Die Multiplication von Brüchen. Die Brüche selbst,
welche hier zuerst auftreten, sind ohne Trennung des Zählers von dem
unter ihm befindlichen Nenner durch einen Bruchstrich geschrieben.
Dagegen sind die Ziffern nur halb so hoch als bei ganzen Zahlen,
wodurch eine Verwechslung verhindert ist. a. Bruch mal Bruch,
b. Bruch mal ganze Zahl. c. Gemischte mal gemischte Zahl.
Kapitel 7. Das Addiren der Brüche y + 4 = "^ ^ . Vom Auf-
224 53. Kapitel.
suchen eines etwa kleineren Gresammtnenners ist keine Rede, dagegen
5 7 82 17
kommt nachträgliche Kürzung vor, z. B. -j^ -f- — == — = 1~ .
Kapitel 8. Das Subtrahiren der Brüche ist dem Addiren der-
selben nachgebildet. '
Kapitel 9. a. Das Dividiren eines Bruches durch eine ganze Zahl,
b. Das Dividiren eines Bruches durch einen Bruch nach der Regel
y : -j = T— • Verdoppelung und Halbirung von Brüchen werden als
Sonderfälle ihrer Vervielfachung, beziehungsweise Theilung nachträg-
lich behandelt.
Kapitel 10. „Die gülden Begel", Diesen Namen führt von nun
an sehr häufig die Regeldetri, die so Tiospar und nuez ist denn alle
ander regel zu gliechen iveys als golt vhertrifft alle and metall. Es
sind nicht weniger als 6 Unterfälle unterschieden, a. Das 1. oder
3. Glied ist die Einheit, b. Kein Glied ist gleich 1. c. In einem Gliede
steht ein Bruch, d. In zwei Gliedern stehen Brüche, e. Alle drei
Glieder sind Brüche, f. Anwendung der Regeldetri in Waarenein-
kaufsrechnungen. Was wegen Verpackung nicht als Waarengewicht mit-
zurechnen ist und später Tara genannt wurde, heisst hier einfach das
Minus und wird subtrahirt.
Kapitel 11. „Vom Wechsel", d. h. Umrechnungen von Geldsorten
nach der Veränderung unterworfenen Werthverhältnissen, Der Zu-
schlag von einer Sorte zur anderen heisst auffiveclisel. Z. B. Wieviel
3
Ducaten sind 1578 EeicJisfl. wenn man auffgibt 25— auf 100 Duc.
3
Sec0 also 125 fl — gehen 100 Buc. was gehen 1578 fl
Kapitel 12. Waarenrechnung mit Gewinn- oder Verlustermittelung.
Kapitel 13. „Von geselschaffi". a. Verschiedene Einlagen der Ge-
sellschafter auf gleiche Zeit. b. Verschiedene Einlagen auf verschie-
dene Zeiten, c. Angabe der Einlagen nach Theilen, z. B. Ä hat
2 Theile, B hat 3 Theile u. s. w. d. Gegebene Bruchtheile z. B. Ä
112
hat -^ , B hat -— , G hat -^ zu fordern , wo es nicht darauf ankommt,
1 1 2 <C'
ob— -f-— -f--r-^l. e. Proportionirte Theilzahlen z. B. Ä:B=3:1,
B : C = 4 : 1. f. Gewinnberechnung, wenn die Einlagen während der
Dauer der Gesellschaft durch Vermehrung oder Verminderung sich
ändern.
Kapitel 14. Tolletrechnung^). Ein deutscher Schriftsteller des
') Treutlein, Das Rechnen im XVI. Jahrhundert. Zeitschr. Math. Phys. XXII,
Supplementheft S. 98— 100. — Unger, S. 94— 95.
Reclinen auf den Linien. Das Bambemer Rechenbuch.
225
folgenden Zeitabschnittes, Peter Apianus, hat 1532 die ToUet-
reehnung durch die Worte erklärt: „Leret durch die Rechenpfenning
ein Metall aus dem anderen ziehen" und darnach war es ein Ver-
fahren, mittels dessen das Feingold aus einem goldhaltigen Silber be-
rechnet zu werden pflegte. Es „soll uff einen Tisch die form und
gestalt der Tolleten auffgezeychnet werden wie hernach volgt", und
da diese Form darin besteht, dass drei kolumnenartige gegen den Rech-
ner senkrechte Räume hergestellt werden, welche durch Querlinien in
viereckige Felder getheilt werden, und welche den Namen camhi
führen, so ist damit bestätigt, was weiter oben über das Wort Tollet
vermuthungs weise mitgetheilt wurde, denn erstens ist wirklich eine
Tafelform gebildet, und zweitens hängt cambi unzweifelhaft mit dem
italienischen cambiare = wechseln, tauschen zusammen. Die Felder
der Cambi sind geräumig genug, um in der Mitte eine Bezeichnung
zu führen und rechts wie links von derselben Rechenpfennige nieder-
legen zu lassen, rechts solche, die den Werth einer jeweiligen Ein-
heit besitzen, links solche, die je 5 Einheiten bedeuten. Die für die
drei Cambi gleichen Bezeichnungen sind der Figur zu entnehmen:
M
M
M
1 ^
C
G
X
X
X
M
M
M
X
X
X
lot
lot
lot
halblot
halblot
halblot
1
T
1
4
1
T
1
1
1
8
1
16
1
16
1
16
1
32
1
32
1
32
1
64
1
64
1
64
1
128
1
128
1
128
1
256
1
256
1
256
Caktor, Geschichte der Mathem. II. 2. Aufl.
226 53. Kapitel.
Die Bedeutung der Felderbezeiclinung von oben nach unten ist
1000 Mark, 100 Mark, 10 Mark, Mark (oder 16 Lot), dann 10 Lot,
einfache Lot und durch fortgesetzte Halbirung gewonnene Unter-
abtheilungen des Lot, nämlich Halblot, Viertellot bis zu -r^ lot. In
das erste Cambium ist durch Rechenpfennige das ganz zerfeit Stuclc
3 3
anzugeben. Z. B. einer lau/ft ein Stuch SyTber wigt marcJc 82 loU 14-j- — •
Hier war in die 10 -Markabtheilung die Zahl 8 einzulegen, in die
Mark 2, in die 10-Lot 1, in die Lot 4 und dann jeweils 1 in die Ab-
theilunsren halblot, -r , -tt, 777 • Der Feingehalt richtet sich nach der
1 3
vorgenommenen Probe und halt die Marclz an der Proh 2 ?o^ -— -r
^ 4 16
Goldt. Xun beginnt der Rechner mit dem Haupttheile des Stückes,
d. h. mit 82 Mark, und legt die Einzelergebnisse in das dritte Cam-
bium. Die 82 Mark liefern ^2 mal 2 Lot oder 164 Lot, 82 Viertellot
oder 20 Lot und 1 Halblot, 82 Achtellot oder 10 Lot und 1 Viertel-
lot, 82 Sechzehntellot oder 5 Lot und 1 Achtellot. Nach dieser ersten
Rechnung kämen die 14 Lot des Stückes an die Reihe. Von ihnen
betrachtet der Rechner zuerst 8 Lot, die als — Mark die Hälfte von
2 Lot -r -^ 77? d. h. 1 Lot — 7^7 577 Feingehalt liefern u. s. w. Das
4 o Ib o Ib 0«
Bamberger Rechenbuch sagt selbst, dass die Regeldetri eine weit
kürzere Methode sei^j, und man wird dem beistimmen. Aber gleich-
wohl ist der Grundgedanke der vollzogenen Zerlegungen von solchem
Vortheile für die wirkliche Ausführung, dass er eine Lebensfähigkeit
bewies, die nach Jahrtausenden zu bemessen ist. Unzweifelhaft Avur-
zelnd in der Zerlegung eines Bruches in eine Summe von Stamm-
brüchen, wie sie von Aegjpteu ausging, hat das Verfahren, freilich
unter Abstreifung der Rechenpfennige und unter Annahme neuer
Namen von Italien aus über das ganze handeltreibende Europa sich
verbreitet und wird uns bald wieder begegnen. Fahren wir zunächst
fort mit der Inhaltsangabe des Bamberger Rechenbuchs, so treffen
wir auf
Kapitel 15. Stich, d. h. Waarentausch.
Kapitel 16. Goltrechnung, eine Aufgabe, welche der im 14. Kapitel
behandelten nahe verwandt ist. Das Rauhgewicht des eingekauften
Metalls ist in Mark, Lot und Quint gegeben, dazu der Feingehalt in
Karat und Gran nebst dem Preise für ein Karat Feingold, und daraus
soll der zu zahlende Preis ermittelt werden. Anschliessend ist auch
die Aufgabe Vom icandern behandelt. Es seyn ziven gesellen die gend
^) ünger, S. 95.
Rechnen auf den Linien. Das Bamberger Recbenbucli. 227
gen Botn. Eyner gd alle tag 6 meyl der ander geth an dem ersten
tage 1 meyl an dem andern zicun und alle tag eyner meyl mer dan
vor. Nu U'ildu wissen in iviviel tagen eyner als vil hat gangen als der
ander. So nim die zal ztvir die der gleych geht. Der ivirdet 12 und
dar von thu die meyl die der an dem ersten tag ging der ungleych get
Also heleyht dem noch 11 meyl so himmen sie gleich gangen an dem
11 tag. Der Verfasser wusste demnacli, dass symmetrisch liegende
Glieder der arithmetiscliea Progression gleiche Summen haben, welche
jedesmal dem doppelten Durchschnittswerthe gleichkommen. Nimmt
er also diesen doppelt und zieht das erste Reihenglied ab, so muss
als Rest das letzte bleiben, welches in der natürlichen Zahlenreihe
zugleich die Gliederzahl darstellt.
Kapitel 17. Von rechnüg vh' lant genät, das sind Preisberech-
nungen mittels einfacher Regeldetri.
Kapitel 18. Zurückführen von Brüchen von Geldsorten auf ganze
Zahlen kleinerer Münzeinheiten.
Kapitel 19, 20, 21 enthalten Tabellen, mit deren Hilfe die bei
Gold- und Silberrechnungen geforderten Multiplicatiouen umgangen,
beziehungsweise durch Addition von ein für alle mal vorberechneten
Ergebnissen ersetzt werden. Das sind jedenfalls die Canones (S. 221),
welche das Register anmeldet, und welche für das praktische kauf-
männische Leben ganz und gar nicht der Wichtigkeit entbehrten zu
einer Zeit , in welcher die Münzmannigfaltigkeit und Müuzunsicher-
heit es geradezu unumgänglich machten, als letztes Vergleichungsmittel
die Entmünzung, das Um schmelzen in Barren, vorzunehmen, und deren
Werth aus der Menge des in ihnen enthaltenen Feinmetalls, bald Gold
bald Silber, zu entnehmen.
So wird auch durch das Vorhandensein dieser Tafeln das Bam-
berger Rechenbuch wieder als das gekennzeichnet, als was wir es
wiederholt genannt haben, als ein Buch für Kaufleute und in von
Italien aus beeinflussten Kaufmannskreisen entstanden.
Genau zu dem gleichen Ergebnisse wären wir gelangt, wenn wir das
Bamberger Rechenbuch auf die Merkmale geprüft hätten , welche von
uns wiederholt angerufen wurden, wo es um Einreihung eines Werkes
in eine von den grossen, scharf getrennten Klassen von Rechen-
büchern sich handelte. Verdoppeln und Halbiren als besondere Rech-
nungsarten ausgezeichnet oder als solche ganz unbekannt, das war
das untrügliche Zeichen, ob wir die Schule des Jordanus, ob die des
Leonardo zu erkennen haben. Das Bamberger Rechenbuch weiss von
jenen Operationen als Sonderfällen, weiss nichts von ihnen als Rech-
nungsarten, also ist es auf dem Boden des südlichen Deutschlands ein
Ausfluss italienischer Lehren.
228 »4. Kapitel.
54. Kapitel.
Johannes Widmaun und die Anfänge einer dentsciieu Algebra.
Vom Bamberger Recheubuche gelangen wir zu einem anderen,
welches sechs Jahre später in Leipzig gedruckt wurde und seine Ab-
hängigkeit von jenem dadurch erweist, dass viele Stellen wörtlich
entlehnt sind^). Genannt ist die Quelle aber nicht, sondern als be-
nutzt werden nur angegeben^) : Johannes von Sacrobosco für das
eigentliche Rechnen, Euklid, Campanus, Boethius, Jordanus für Pro-
poi-tionen, endlich Julius Frontinus für Feldmesserisches.
Diese genannten Quellen neben jener nicht genannten, aber nach-
weislich benutzten, geben dem Werke ein besonderes Interesse. Sie
lassen erwarten, dass von den beiden am Schlüsse des vorigen Kapitels
genannten Schulen ein sich mischender Einfluss vorhanden sein müsse,
der sich nachträglich werde erkennen lassen. Sie lassen vermuthen,
dass der Verfasser zu den eigentlich gelehrten Kreisen gehört habe,
weil er sich nur auf solche Vorgänger beruft, deren Namen in solchen
Kreisen einen vorzugsweise guten Klang hatten. Alles dieses bestätigt
sich bei genauerem Berichte.
Johannes Widmann von Eger^) wurde 1480 im Winter-
semester in die Matrikelliste der Universität Leipzig eingetragen und
zwar als pauper, d. h. mit einem Armuthszeugnisse. Andere üni-
versitätsacten theilen mit, dass Widmann 1482 Baccalaureus, 1485
Magister unter Erlassung der Kosten wurde. Von da an lehrte er
muthmasslich an der gleichen Hochschule, welcher er seine eigene
Ausbildung verdankte, denn wenn auch nicht nachgewiesen werden
kann, dass Widmann eine leipziger Professur inne hatte, so hat sich
dafür der Wortlaut von Vorlesungsanzeigen desselben erhalten*).
Geburts- und Todesjahr Widmann's kennen wir nicht. Das Werk,
welches seinen Namen berühmt gemacht hat, heisst Behende und
') Unger, S. 41. ^ Drobisch, De Joannis Widmanni Egerani com-
pendio arithmeticae mercotorum (1840) pag. 21. ^) Das Verdienst, Job. "Wid-
mann für die Gescbicbte der Matbematik entdeckt zu baben, gebort Drobiscb
an. Vergl. die in Anmerkung 2 genannte Programmscbrift zur Säcularfeier der
Erfindung der Bucbdruckerkunst. Wichtige üntersucbungen stellte später Fürst
Bonconipagni an in BuUetino Boncompagni IX, 188—210 und Treutlein in
der Abhandlung : Die deutsche Coss, Zeitschr. Math. Pbvs. XXR", Supplementbeft,
insbesondere S. 62 flgg., llOflgg., 118 flgg. Zusammenstellungen bei Gerhardt,
Math. Deutscbl. S. 30— 36, Günther, Unten-icht Mittela. S. 304 flgg., Unger
S. 40 flgg. *) Wappler, Zur Geschichte der deutschen Algebra im 15. Jahr-
hundert. Zwickauer Gymnasialprogramm (1887) S. 10.
Johannes Widmaun und die Anfänge einer deutschen Algebra. 229
hübsche Rechnung auf allen kauffmannschafft gedruckt in
der Fürstlichen Stath Leipczick durch Couradum Kacheloffen im 1489
Jare, und die Vorrede beginnt mit den Worten: Johannes widmann
von JEger Meysier in den freyen Imnsten zu Leyptzick entheut Meyster
Sigmunden Smidmide heyerisclier nacion Jieyle und unvordrossen willig
dienste, und in dieser Persönlichkeit ist ein Sigmund Altmann aus
Schmidtmühlen in der Oberpfalz am Einflüsse der Lauterach in die
Vils erkannt worden \). Ausser der Ausgabe von 1489 sind noch
solche von 1508, 1519, 1526 bekannt, die in Pforzheim, Hagenau,
Augsburg gednickt die weite Verbreitung des Buches erkennen lassen.
Es zerfällt in drei Theile. 1. Von kunst und art der zal an yr
selbst, 2. von der Ordnung der zal, 3. von der art des messen die
da geometria genannt ist.
Die erste Abtheilung lehrt das eigentliche Rechnen an ganzen
Zahlen und Brüchen. Halbiren und Verdoppeln erscheinen wieder
als besondere Rechnungsarten. Beim Subtrahiren wird wie im Bam-
berger Rechenbuche verfahren (S. 222), d. h. nach italienisch kauf-
männischer Art. Eine Einmaleinstafel ist in zweierlei Ge-
stalt aufgezeichnet, als Dreieck und als Quadrat. Wenn
wir die letztere Gestalt von Beldomandi (S. 208) her kennen, so sagt
Widmann über die erstere: dz erst ist eyn tafel gformirt vf den triangel
gezogen vfs liebreischer zungen oder judscher. Welchen jüdischen
Schriftsteller er aber meint ist nicht gesagt. Keinenfalls ist an
Elias Misrachi zu denken^), dessen Buch der Zahl, Sefer-Hamispar,
erst 1534 im Drucke erschien, wie wir im 60. Kapitel sehen werden.
Multiplication und Division erinnern gleichfalls an das Bamberger
Rechenbuch. Die Neunerprobe wird gelehrt und neben ihr auch die
Siebenerprobe. Beim Wurzelausziehen muss der ganzzahlige Theil
einer irrationalen Zahl genügen, Näherung mittels Brüchen ist nicht
gelehrt.
Die zweite Abtheilung bringt zunächst die Lehre von den
Proportionen, und da, wie wir schon erwähnten, auch Jordanus als
Quelle für diesen Abschnitt ausdrücklich genannt ist, so bedarf es
keiner ausführlicheren Schilderung, was hier gelehrt wird. Auffallend
und geschichtlich wichtig ist nur Eines. Wo das Zusammensetzen
von Verhältnissen gelehrt ist, beruft Widmann sich neben und vor
Jordanus auf einen römischen Schriftsteller, dessen Namen wir hier
^) Günther, Unterricht Mittela. S. 304 Note 3. *) Drobisch, 1. c. pag. 22
und die Arithmetik des Elia Misrachi von Gustav Wertheim (Programm der
Realschule der israelitischen Gemeinde zu Frankfurt am Main 1893; II. Auflage,
Braunschweig 1896).
230 54. Kapitel.
am wenigsten erwarten, auf Julius Froutiuus^). Welches Werk
dieses Schriftstellers mag hier gemeint sein? Den Proportionen folgt
die Regeldetri, die gülden Begeh, deren Name wie in dem Bamberger
Rechenbuche damit gerechtfertigt ist, dass sie alle Regeln übertreffe
gleichwie das Gold alle Metalle, aber Widmann fügt noch ein weiteres
eigenthümliches Lob bei: man benutze sie gleyclier tveifs alfs eyn
Hammer in eyner schmit zu vyl hübschem Bingen gebraucht tvirt dan
er an ym selbst ist. Es folgen eine Menge einzelner Aufgaben ver-
schiedensten Namens, auf welche noch zurückgekommen werden soll.
Die Zeichen -f- und — erscheinen und werden nicht ein-
mal als neu eingeführt vorgestellt. Es heisst von ihnen nur
„was — ist das ist minus und das -|- das ist mer". Wir müssen
aus mehr als einem Grrunde mindestens an dem Wortlaute eines,
freilich eigens ausgesuchten Beispiels die Anwendung jener Zeichen
bei Widmann kennen lernen. Eyner hat Jcaufft 6 Eyer —2\ pro
4^ + 1 ey. Nu ist die frag ivie Tiupt ein ey. Die Regel dafür
lautet so: Äddir die geminderte zal der \ su der furgelegten ml der \
Und std)trahir die zal des dingefs von der andern zal yrj's gleichen
Unnd diuidir die vberige zal der \ mit der vbrige zal der gekaiifften
war. vnd der seihige teylung quocient bericht die frag. Es wäre
schwierig, eine unpassendere Aufgabe zu ersinnen als diese, in welcher
die gekaufte Waare gemindertes (also negatives) Geld einschliesst
lind in dem Preise selbst Waare vorkommt; aber es wäre schwierig,
eine geeignetere Aufgabe zu ersinnen, wenn Widmann nichts be-
absichtigte, als den Beweis zu führen, wie tief er in den Sinn der
beiden Zeichen plus und minus eingedrungen war, wie frei er mit
ihnen schaltete.
Die Frage nach dem Ursprünge der beiden Zeichen -|-
und — i.st oft gestellt, verschieden beantwortet worden. Widmann,
der, soweit man bisher weiss, die Zeichen zuerst im Drucke gebrauchte,
sagt nichts von ihrer Herkunft. Ein einziger Italiener, bei welchem
sie, wie wir später sehen werden, in einer auch kaum viel älteren
Handschrift vorkommen, ist eben so schweigsam. Spätere Schi-ift-
steller geben wieder keine Auskunft. Man ist also ausschliesslich
auf Vermuthungen hingewiesen, von welchen uns persönlich kaum eine
einzige genügt, wenn wir gleich für Pflicht halten, über einige solche
Vermuthungen zu berichten. Gewisse Waaren, meinen die Einen,
seien in Kisten verkauft worden, deren Gewicht, wenn sie angefüllt
^) vnd alfso magstu proporcionem dupliren, tripliren vnd quadrupliren,
alfs dan klerlichen aufsdi-ucken Julius frontinus Unnd auch Jordanus yn den
sechysten beschlifs seynes i-echenbuchs.
Johauues Widuiami und die Anfänge einer deutiselien Algebra. 231
waren, etwa 3 oder 4 Centner betrug. Genau stimmte dieses Soll
an Gewicht kaum jemals mit dem wirklichen Gewichte, wie es beim
Abwägen der vollen Kiste gefunden wurde. Zeigte sich so das wirk-
liche Gewicht etwa um 5 Pfund niedriger oder höher als die erwar-
teten 4 Centner, so habe man das Gewicht mit Kreide auf die Kiste
gezeichnet, das eine Mal als 4C — 5P, das andere Mal als 4 C -f- 5 F.
Weil nämlich der Fall, dass die Kiste leichter war, häufiger eintrat,
sei bei ihm das einfachste Beziehungszeichen gewählt worden, ein
kleiner wagrechter Strich, das Pluskreuz sei dann dadurch entstanden,
dass man über dem wagrechten Striche ein kleines Unterscheidungs-
merkmal anbringen wollte. Nun ist ja richtig, dass im Bamberger
Rechenbuche (S. 224) das Bruttogewicht zum Nettogewichte gemacht
wird, indem man die Verpackung als „das 3Iinns" abzieht, aber von
einem Zeichen dieses Minus, dem dort ein Plus nicht gegenübersteht,
noch gegenüberstehen kann, ist keine Rede. Wenn vollends behauptet
wird, -f~ ^^^ — seien überhaupt zuerst nur Abkürzungen, keine
Operationszeichen gewesen und hätten diese Bedeutung erst sehr all-
mälig angenommen, so wird man sich zur Bestätigung dieser Aussage
nicht auf Widmann berufen dürfen ; dafür giebt der Wortlaut der
Aufgabe Zeugniss, den wir oben abgedruckt haben, und der das deut-
liche Bewusstsein vorzunehmender Rechnungsoperationen, welche durch
-f- und — ausgedrückt sind, an den Tag legt. Konnten wir diesem
ersten Erklärungsversuche der beiden Zeichen nicht beipflichten, so
scheint uns ein zweiter nicht vorzuziehen. Dieser leitet den Minus-
strich aus dem Punkte ab, welchen die Inder über die negative Zahl
setzten (Bd. I, S. 580) und lässt dann das Pluszeichen durch ein hin-
zutretendes Unterscheidungsstrichelchen entstehen. Von einer dritten
Ableitung soll die Rede sein, wenn wir mit den italienischen Schrift-
stellern unseres Abschnittes es zu thun haben. Sagten wir oben,
Widmann biete kein Zeugniss dafür, dass -j- und — ursprünglich
Abkürzungen gewesen seien, so stehen andere Zeugnisse dafür zu
Gebote. In nicht -mathematischen Handschriften vom Anfange des
XIV., in einer mathematischen Handschrift vom Anfange des XV. Jahr-
hunderts findet sich das Wort et durch ein t, dessen senkrechter
Strich nach links oben gekrümmt war, dargestellt, etwa so ^. Blieb
das Häkchen oben weg, so war das einfache stehende Kreuz vorhan-
den^). Das Minuszeichen ist vielleicht dem griechischen oßskög ver-
^) Le Paige, Sva- Vorigine de certains signes d' Operations {Memoire lu ä la
seanee de la premiere lertion de la societe scientifique de Bruxelles le 28 Janvier
1892. — "Wilh. Schum, Excmpla codicum Ämplonianorum Erfiirtensium saecuU
IX— XIV (Berlin 1882), insbesondere Tafel XXXVI (vom Anfange des XIV. Jahr-
hunderts).
232 'ii. Kapitel.
wandt ^), einem Horizoutalstrichelclien, dessen alexandrinische Gram-
matiker sich bedienten, um das Wegfallen des Verses, dem eben der
Obelos vorgezeictinet war, anzudeuten. Von den Alexandrinern ging
das Zeichen zu den Römern über. Sueton, später Isidorus, haben es
beschrieben.
Wir haben der zahlreichen Namen gedacht, die Widmann als
Ueberschrift von Aufgaben gebraucht, und die zugleich den Auf-
lösungsregeln ihren Namen geben, mögen diese auch oft nur in be-
schränktester Weise als besondere Regeln gelten, beziehungsweise nur
ein Verfahren für viele Beispiele vorhanden sein, welches nur bald
so, bald so heisst, je nach dem Wortlaute der jedesmaligen Aufgabe.
Das ist indische üebung (Bd. I, S. 577), aber auch italienische, wie
wir an einzelnen Beispielen bei Leonardo von Pisa gesehen haben,
wie wir an solchen in beliebiger Anzahl hätten hervorheben können,
wenn wir noch weitschweifiger in der Berichterstattung über seinen
Abacus hätten sein dürfen. Gab es auch arabische Vermittlungs-
schriften, welche mit dem gleichen Namenreichthum prangten? Wir
dürfen es vermathen, wenn uns auch keine bekannt sind. Oder sollten
wir auf byzantinischem Boden diese Vermittlung zu suchen haben?
Wir streifen nur diese zur Zeit nicht spruchreife Frage. Genug, am
Ende des XV. Jahrhunderts waren die mit Namen belegten soge-
nannten Regeln aus Italien oder über Italien nach Deutschland ge-
drungen und haben in Widmann's Buche einen breiten Platz sich
angeeignet.
Da findet sich die Regula pulchra d. i. diejenige, welche wir
oben bei der Eier- und Pfennigaufgabe wörtlich mitgetheilt haben.
Da giebt es eine Regel für die Aufgabe vom Löwen, vom Hunde
und vom Wolfe, welche gemeinschaftlich ein Schaf verzehren, wozu
der Löwe allein 1 Stunde, der Wolf allein 4 Stunden, der Hund
allein 6 Stunden brauchen, während gefragt wird, in welcher Zeit
sie zusammen fertig werden. Man solle 1 mal 4 mal 6 zu 24 mul-
tipliciren, —- mal 24, -— mal 24 und -— mal 24 zu 134 zusammen-
addiren und jene 24 durch diese 34 dividiren: — Stunden macht 42
niinnten — und ist die Zeijt. Wir erwähnen ferner eine Regula in-
ventionis, fusti (Bruttorechnung), Ligar, legis, augmenti et decre-
menti, sententiarum (unbestimmte Aufgaben, die mehrere Lösungen
') So die Meinung von H. Zangemeister. Vergl. C. Suetoni Tran-
quilli praeter Caesarum Ubros Jieliquiae (ed. Aug. Reifferscheid. Leipzig 1860)
pag. 137 — 138.
Johannes Widmann und die Anfänge einer deutschen Algebra. 233
/Allassen), bona^ pluriina u. s. w. Die Regula pagamenti verdient,
dass wir bei ihr etwas verweilen.
Die Aufgabe lautet wie folgt: Eyner gent su ivyen yn eyn tvechfsel-
panch und hat 30 \ Nurmherger alfso sprechen su dem wechfsler liher
ivechfsel mir die 30 A vnd gieh mir wiener dafür als vil sy dan ivert
seyn also weifs der ivechfsler nicht wie vil er ym tviener fsol geben
vnd hegert der muncs underrichtung. Also untterweyst yenner de
wechfsler vnd spricht 7 wyener gelten 9 lincser and 8 lincser gelten
11 passawer vnd 12 passawer gelten 13 vilfshofer vnd 15 vilfshofer
gelten 10 regensperger vnd 8 regensperger gelten 18 neumercker und
5 neumercl'er gelten 4 nurmherger wie viel himmen tviener umh 30
nurmbr. Wiltu dz ivissen vnd alles des gleichen. Secz die Figur gleich
tvie die do stet
7 9 12 13 8 18 30
\ X X X X X
8 11 15 10 5 4
Un nmltiplicir in Tireucz durchaufs auf 2 teyl vnd dividir.
Darnach kommt ii . 13 . lo ■ is • 4" ^^ "'^^I^ mittels des genau
gleichen Ansatzes, den wir (S. 14 flgg.) bei Leonardo von Pisa aus
dem Satze des Menelaos haben entstehen sehen, indem die Anzahl der
zu vereinigenden Verhältnisse sich beliebig vermehren durfte. Wie
der Text der Aufgabe auf kaufmännische Beziehungen hinweist, ist
uns die Auflösung ein sicheres Kennzeichen dafür, dass es italienische
Kaufleute waren, von welchen Widmaun hier unmittelbar oder mittel-
bar gelernt hat, denn das Bamberger Rechenbuch war, wie unser
Auszug desselben darthut, an dieser Stelle unmöglich der Ort, woher
Widmann den Kettensatz bezog.
Widmann lehrt mitunter einer und derselben Gattung von Auf-
gaben auf zwei Arten beikommen, ohne dass er auf die Ueberein-
stimmung zwischen den Aufgaben selbst irgend hinweist. Es ist
dieses am deutlichsten bei unreinen quadratischen Gleichungen be-
merkt worden. Eyner leycht dem Ändern 25 fl. 2 Jar umh gewin.
Xii wen die 2 iar vergangen seyn fso gieht yenner dem ivider seyn
Hauptsum vnd für gewin vnd gewinfs gwin gieht er ym 24 fl. Nu ist
die frag. Wie viel haben die 25 fl. gewunnen in dem ersten jar.
Heisst X jener Jahreszins, so ist — ~ — mal x der Jahreszins des
zweiten Jahres, und es muss sein x -\- - — 7" = 24, x^ + 50a; = 600,
; I 25 ' ' '
X = |/25 • 24 + 252 — 25. Widmann bildet die Gleichung nicht,
sondern giebt die Regula lucri, unter hierum = Gewinn hier
Zins verstehend. Multiplicir die hauptsum yn den gewin darnach
234 54. Kapitel.
multiplicir dy JMuptsum in sich selbst quadrate Und addir das produd
zu dem ersten product Und die tvurtzel der (jansen sum so du davon
suhtrahirest dy hauptsmn hericht den geivin der licmptsmn Und Ist
Becht. Das hindert ihn aber keineswegs, ein anderes Mal für eine
Aufgabe, welche wieder die Gleichungsform x^ -^ ax = h entstehen
lässt, die Regula excessus in Anspruch zu nehmen. Also soltu
pirocedirn in dieser Regl- Midtiplicir der vhertretung das halbe teyl
in sich selbst vnd das product addir zu der Hauptsum. Darnach
nym radicem quadratam des selbige aggregates vnd davon subtrahir
das halbe teyl der vntterscheyd oder vbertretung vnd das vberig ist die
kleiner zal. zu ivelicher so du addirest die vbertretung erwechst auch
die grofser.
Hat Widmanu wirklich selbst nicht bemerkt, dass er so zwei
Mal unter zwei verschiedenen Namen das gleiche Verfahren lehrte?
Man sollte es für undenkbar halten, insbesondere da er gewusst hat,
dass es die Regel Algobre oder Gosse genannt gebe, da er
ferner von der Regel des dop^jelteu falschen Ansatzes Ge-
brauch zu machen lehrte, indem er seine Anweisung dazu mit den
Worten eröffnete: Nu soltu tvissen das Regula falsi ist eyn Regel
durch tvelche man aller Regel (hint an gesaczt Regiüam Cosse) macJien
mag. Das Wissen Widmann's wird uns noch bestätigt durch die
Thatsache, dass er Vorlesungen über Algebra gehalten hat. Also
trotz bessern Wissens scheint er der Neigung der Zeit, sich in recht
vielen Regeln zu ergehen und durch Namenreichthum die Gedanken-
armuth zn verhüllen, sich gefügt zu haben. Wir kommen auf die
Algebra zurück, wollen aber vorher den Bericht über das Widmann-
sche Buch zu Ende führen, dessen letzte Abtbeilung noch unserer
Besprechung harrt.
Die dritte Abtheilung handelt von Geometrie und beruft
sich, wie schon gesagt worden ist, auf Julius Frontinus. Wir
haben wiederholt geometrische Lehren auftreten sehen, wenn auch
deren Umfang nicht an den der Schriften über die Rechenkunst her-
anreicht. Wir haben gesehen , dass es wesentlich um griechisch-
arabische Geometrie dabei sich handelte, dass Euklidübersetzungen
und Erläuterungen dazu den Grundstock geometrischen Wissens liefer-
ten, neben welchem Einiges über Kreisquadratur in Abhängigkeit
von Archimed, daneben Trigonometrisches, in einem Falle auch etwas
Feldmessung geübt wurde. Eine Abhängigkeit von römischer
Feldmesskunst ist uns seit dem Anfange des XIII. Jahrhun-
derts nicht wieder begegnet. Bei der gegenwärtig immer noch
grossen Lückenhaftigkeit unseres Wissens ist es gewagt, allgemeine
Theorien aufzustellen. Neu nutzbar gemachte Handschriften können
Johannes Witlmann und die Anfänge einer deutschen Algebra. 235
die schönsten Begründungen über den Hänfen werfen, wenn auch
eine deutsche Geometrie von 1477 in der Münchner Bibliothek^) sich
nur als Uebersetzung der Schrift des Robertus Anglicus herausgestellt
luit; aber es will scheinen, als habe man in den etwa zweiundeinhalb
Jahrhunderten von 1200 bis nach 1450 so unbedingt unter dem Ein-
tlusse griechisch- arabisch -lateinischer Geometrie gestanden, dass man
anderes Wissen nicht aufsuchte. Die Zeit des beginnenden Humanis-
mus brachte Aenderung. Wenn Georg von Peurbach in Wien Vor-
lesungen über lateinische Dichter hielt (S. 180), so musste das er-
wachte Bewusstsein, dass römische Schriftsteller, gleichwie die grie-
chischen, Dinge hinterlassen hatten, die es verdienten gelesen zu
werden, und die vermöge der erhaltenen Kenntniss der Sprache auch
verhältnissmässig leicht zu lesen waren, eine Wissbegier erregen, die
zur Neugier anwuchs. Jetzt mussten die agrimensori sehen Hand-
schriften, wo sich etwa solche vorfinden mochten, gesucht und stu-
dirt werden, jetzt musste bei der verhältnissmässig viel geringeren
Beschäftigung mit Geometrie als mit den rechnerischen Theilen der
Mathematik prüfungslose Aufnahme finden, was bei jenen römischen
Feldmessern sich vorfand, mochte es auch Widersprüche gegen aus
griechisch-arabischen Quellen Bekanntes darbieten. Gewissenhaft ver-
einigte man beides, ohne die Widersprüche auch nur zu bemerken.
Wir haben uns die hier entwickelte Meinung zum nicht geringen
Theile an dem Widmann'schen Buche gebildet, kein Wunder, wenn
es dieselbe lediglich bestätigt. Der Name Hdnmaym für den Rhombus,
Hehnuaripha für das Trapez lassen sofort den Leser der Euklidaus-
gabe des Campanus erkennen, für das Meiste aber, was im geome-
metrischen Abschnitte des Widmann'schen Buches sich der Aufmerksam-
keit aufdrängt, ist die römische Quelle verantwortlich zu machen.
Da findet sich die Ausrechnung der Fläche des gleichseitigen
Dreiecks als Dreieckszahl, die sonstiger Vielecke als Vieleckszahl.
Es findet sich die Fläche des Vierecks als Product der halben Sum-
men einander gegenüberliegender Seiten. Es findet sich aber auch
der Durchmesser des Innenkreises eines rechtwinkligen Dreiecks als
Unterschied der Kathetensumme und der Hypotenuse, die heronische
Formel für die Dreiecksfläche aus den drei Seiten geprüft an dem
Dreiecke von den Seiten 13, 14, 15. Es finden sich die Abschnitte,
welche die Höhe eines Dreiecks auf der Grundlinie bildet. Es findet
sich ausserdem eine Berechnung des Halbmessers des Umkreises des
^) Cod. Germern. Nr. 328 Blatt 62—73. Auf diese Handschrift hat schon
Max. Curtze Zeitschr. Math. Phjs. XX, Histor.-liter. Abthlg. S. 58 aufmerksam
gemacht und sie später näher untersucht.
236 54. Kapitel.
Dreiecks mittels jener Abschnitte und der Höhe, welche darauf hin-
auskommt, dass wenn h die Höhe, h die Grundlinie, Z; deren kleineren
Abschnitt bedeutet,
-V
^''+\2 7 4 1. h^
2h / + 4.
sein muss. Diese Formel kennen wir bei keinem einzigen anderen
Schriftsteller! Entweder war sie in dem Werke des Frontinus ent-
halten, welches, nachdem Widmann es benutzt hatte, spurlos verloren
gegangen ist, oder sie war Eigenthum Widmann 's, was man nicht
als ein Ding der Unmöglichkeit betrachten darf, nachdem es gelungen
ist^), die Formel genau in der von Widmann benutzten Gestalt so
abzuleiten, dass nur einfachste Vorkenntnisse vorausgesetzt werden.
Sei (Fig. 37) AC=h, ÄD=^, ÄE = Je,
BE = h, OC=OB = r. Aus A OCD
ergiebt sich sofort r = y 0D'^-\--.-, mithin
ist nur noch OD zu finden, welches kürzer s
heissen mag. Neben r''^ — s^ = - ist aber
o 4
noch eine Gleichung bekannt. FE= OD=^s,
BF=h — 6, OF=DE = ^ — h, mithin im A BFO auch
beziehungsweise r^ — s^ = Ib^ ~^" (v — ^ — ^^^^ ^^^ durch Gleich-
setzunff der beiden Werthe für r^ — s^ endlich
■'+a
" ')"-^
" 2li
was zu finden war.
Gleichfalls neu, mithin den Zweifel anregend, ob Römisches oder
von Widmann Beigefügtes vorliege, sind die Aufgaben, die Seiten
eines Quadrates und eines gleichseitigen Dreiecks aufzufinden, welche
beide in einen Halbkreis eingezeichnet sind. Was die geometrischen
Kunstausdrücke betrifl't, so ist immerhin bemerkenswerth, dass das
römische coraiistus (Bd. I, S. 516) bei Widmann nicht vorkommt'^).
Fundus ist ein Mein Ding, das nit mi tlieilen ist. — Anguliis ist ein
^) Die Herleitung rührt von H. Ad. Lorsch, einem früheren Zuhörer unserer
Vorlesungen über Geschichte der Mathematik, her. ^) D robisch. I.e. pag. 30
Note **.
Johannes Widmann und die Anfänge einer deutschen Algebra. 237
WinJccl der da gemacht ist von ziveien Linien. Man unterscheidet
gescherjfte (spitze) und tceyte (stumpfe) Winkel. Bas centrmn das
ist die sali die do ist von centruz hifs in ivinchel u. s. w. Das sind
einige von den vorkommenden Erklärungen. Das wichtigste geschicht-
liche Ei-gebniss der dritten Abtheilung wird unbedingt darin be-
stehen, dass sie so gut wie ausser Zweifel setzt, dass das feldmesserische
Werk des Frontinus, welches im XII. und XIII. Jahrhunderte benutzt
wurde (Bd. I, S. 512 — 513), auch am Ende des XV. Jahrhunderts noch
vorhanden gewesen sein muss, um von Widmann als Quelle genannt
werden zu können.
Ungefähr um die Zeit Widmann's ist ferner das Vorhandensein
des ersten Visierbüchleins nachweisbar, gedruckt 1487 unter dem
TiteP) ein FisierhücJdein auf allerhand Eich verfasst von Hanns
Brief maier aus Nürnberg, der 1487 seinen Wohnsitz und eine
Druckerwerkstätte nach Bamberg, noch später nach Erfurt verlegte.
Als Namen des Verfassers wird neben Briefmaler auch Hanns Buch-
drucker und Hanns Sporer angegeben, welche demnach alle drei
die gleiche Persönlichkeit bezeichnen. Visierkunst heisst von dieser
Zeit an die Lösung der Aufgabe, den Rauminhalt eines Fasses zu
finden, welches entweder ganz oder theilweise mit Flüssigkeit ange-
füllt ist. Man bediente sich dazu der Visierruthe, welche durch
das Spundloch des Fasses eingeführt wurde und die Tiefe zu messen
gestattete, bei welcher der Flüssigkeitsspiegel sich befand, worauf
man nach erfahrungsmässig hergestellten, oder aus einfachsten An-
nahmen über die als Cjlinder betrachtete Fassgestalt abgeleiteten
Regeln den Inhalt bestimmte.
Vielleicht gehören der gleichen Zeit Schriften an, welche sich in
Münchner Handschriften des XV. Jahrhunderts erhalten haben: der
Liber theoreumacie in Cod. lat. Mon. 14684 und die Geometria
arithmeticalis in Cod. lat. Mon. 14783, welche letztere allerdings
nur in einer Ineinanderschiebung des erstgenannten Buches und der
Gerbert'schen Geometrie besteht-). Der Liber theoreumacie^) lässt
auf einen kurz gefassten Algorismus geometrische Lehren folgen:
Theilung einer Strecke nach vorgeschriebenem Verhältnisse, gleich-
seitiges Dreieck, Peripheriewinkel im Halbkreise, Bestimmung eines
verloren gegangenen Kreismittelpunktes, Berechnung des Rechtecks
und des Kreisinhaltes, Kubatur der Kugel, Fassberechnung, einfache
stereometrische Formen. An diese geometrische Abtheilung schliesst
sich Weniges über Musik und Astronomie.
') Günther, Unterricht Mittel a. S .'329. ^) Curtze brieflich. ^) Günther,
Unterricht Mittela. S. 128—129.
238 54. Kapitel.
Wir haben (S. 234) auch zugesagt, auf das algebraische Wissen
zurückzukommen, welches, wenn auch im geringen Maasse, in Wid-
mann's Rechenbuche sich verrieth. Wie stand es in Deutschland um
diesen Wissenszweig? Zwei Quellen waren ja auch hier, genau so
wie bei der Rechenkunst, vorhanden, aus welchen die Kenntniss der
Gleichungen und ihrer Auflösung nach Deutschland abfliessen konnten.
Die Schrift des Jordanus De numeris datis ist heute noch in
deutschen Handschriftensammlungen vorhanden; sie hat gewiss nie
gänzlich aufgehört gelesen zu werden, so selten sie auch verstanden
worden sein mag. Am Ersten dürfte das noch innerhalb des Domini-
cauerordens der Fall gewesen sein, wo es gewiss nahe lag, die Er-
innerung au eines der berühmtesten Mitglieder wach zu erhalten, und
so ist es gewiss kein Zufall, wenn schon vor 1471 ein Bruder
Aquinus oder Aquinas vom Predigerorden genannt wird^), der
in Deutschland reiste und bald da bald dort für Geld lehrte, wie
man Gleichungen auflöse. Dieser Mönch wird bald als Däne (Dacus),
bald als Schwabe bezeichnet. Er lebte 1489 in Bayern. Ein damals
dorthin an Aquinus gerichteter Brief aus Mailand ist noch vorhanden.
Der Inhalt verräth dieses Schreiben als eines unter zahlreichen, in
welchen die Briefsteller sich gegenseitig mathematische Aufgaben
vorlegten. In dem erhaltenen Briefe sollen die Aufgaben ausschliess-
lich der Geometrie angehören. Noch aus dem Jahre 1494 wird in
einer Ordensquelle über Bruder Aquinus berichtet, dass er damals bei
Otto von Bayern gelebt habe und sich durch Geist und feine Bildung
sowie durch Wissenschaftlichkeit auszeichnete. Dass aber, um zu
der anderen Quelle überzugehen, der italienische Kaufmann das
algebraische Erbtheil des Leonardo bewahrte, wissen wir nicht minder.
Dass durch ihn Theile davon nach Deutschland, nach Frankreich,
nach England, überallhin wo italienische Handelsniederlassungen
waren, oder von wo man regelmässig um des Handels willen nach
Italien zog, gelangen konnten, das steht nicht minder ausser allem
Zweifel. Es fragt sich nur, wann und von welcher Seite her das
Wissen einiger Wenigen sich zu verallgemeinern begann, und ob man
im Stande ist, eine oder die andere Persönlichkeit zu nennen, welcher
hier hervorragende Verdienste zukommen.
Die älteste Spur deutscher Algebra aus dem Jahre 1461
ist in einer münchener Handschrift enthalten. Es ist ein Sammel-
band ^), welcher theils in lateinischer, theils in deutscher Sprache die
') Gerhardt, Math. Deutschi. S. 48 Note 1. ^) Die müuchner Hand-
schrift Nr. 14908 aus St. Emmeran ist durch Gerhardt in den Monatsberichten
der Berliner Akademie 1870 S. 141 — 143 beschrieben. C. J. Gerhardt hat
Johannes Widmann und die Anfänge einer deutsclien Algebra. 239
Summe des damals in Deutschland vorhandenen mathematischen
Wissens enthält. Der Algorismus proportionum des Oresme fehlt
darin so wenig als die Geometrie des Bradwardinus. Die geometrischen
Schriften des Nicolaus Cusanus sind mit der Geometria practica
cum figuris des Domiuicus de Clavasio vereinigt. In lateinischer
Sprache ist eine, wie es scheint, vollständige Bruchrechnung (Addition,
Subtraction, Verdoppelung, Halbirung, Multiplication, Division, Aus-
ziehung von Quadrat- und Kubikwurzeln) gelehrt. Wir dürfen wohl,
ohne Zweifel zu begegnen, annehmen, diese Schriften insgesammt
stammen aus eigentlichen Gelehrtenkreisen. Nun kommt aber die
höchst auffallende Erscheinung, dass zwischen jene Schriften hinein
Abhandlungen in deutscher Sprache fallen, wenn auch selbst wieder
lateinisch untermischt. Der Schreiber, vielleicht der Verfasser der
Abhandlungen nennt sich Frater Fridericus Ordinis S. Bene-
dicti professas Monasterii St. Emmerani Ratisponensis, und
die Jahreszahlen, durch welche er die Vollendung einzelner Abschnitte
bezeugt, reichen von 1455 bis 1464. Der Inhalt stimmt einigermassen
mit Widmann's Rechenbuche überein. Arithmetisches von graden
und ungraden sowie von vollkommenen Zahlen macht den Anfang.
Daran schliessen sich Progressionen, die Regula falsi, eine Menge
einzelbenannter Regeln, wie die aurea Regula vel de tre mit theils
deutschen, theils lateinischen Beispielen, die Regula ligar, die Conversa
regula de tre. De societatibus aenigmata u. s. w.
In diesem Zusammenhange erscheint das vorerwähnte deutsche
Stück Algebra mit der Jahreszahl 1461, welches im Abdrucke 33 Zeilen
lang ist. Der Anfang lautet: Machmet in dem puech algebra und
almalcohula hat gepruchet diese Wort census, radix, numerus. Census
ist ain yede zal die in sich selb multiplicirt ivirt, das ist numerus
quadratus. Radix ist die wurtz der zal oder des zins. Numerus ist
ain zal für sich selb gemercket, nit alz sie ain zins oder ain wurtz ist.
Diese ersten Sätze zeigen deutlieh, dass ein Auszug aus der Algebra
des Alchwarizmi vorliegt, und die sechs Gleichungsformen, welche
dann nachfolgend beschrieben sind, das Zahlenbeispiel
x^ -{- 10:2; = 39
(Bd. I, S. 676 — 678) bestätigen den Ursprung. Eines leider lässt sich
überhaupt sehr erfolgreiche Forschungen über die Verbreitung der Algebra in
Deutschland angestellt. Berl. Monatsber. Akad. 1867, S. 38 ügg. und 1870
S. 141 ügg. Kaum minder wichtig ist Wappler, Zur Geschichte der deutschen
Algebra im XV. Jahrhundert (Zwickauer Gymnasialprogramm von 1887). Ab-
schliessend ist die Abhandlung: Curtze, Ein Beitrag zur Geschichte der Algebra
in Deutschland im XV. Jahrhunderte. Zeitschr. Math. Phys. XL, Supplementheft
S. 31 — 74.
240 54. Kapitel.
dem Bruchstücke nicht entnehmen, was grade das Wichtigste wäre:
auf welche Weise der Verfasser selbst zu seinem Wissen
kam. Hat er nur ein arabisches Original vor sich gehabt? Schwer-
lich: denn wie hätte er sonst genau zu den gleichen Wortformen
census, radix, numerus kommen wollen, welche von nichtdeutschen
Bearbeitern gebraucht wurden. Hat er eine lateinische Uebersetzung,
etwa die des Gerhard von Cremona (Bd. I, S. 854) benutzt, oder hat
er unmittelbar oder mittelbar Leonardo's Abacus gekannt, welchem
er (S. 34) genau das Gleiche entnehmen konnte? Darauf kommt es
uns an Auskunft zu erhalten, und darauf bleibt die münchner Hand-
schrift die Antwort schuldig. Aber nicht genug der Räthsel! Nur
vier Seiten weiter folgt, aber nicht von Frater Fridericus geschrieben,
Begiile delacose secimdum 6 capitula, Algebraisches von unzweifelhaft
italienischem Ursprünge, wie die vorkommenden Kunstausdrücke
numerus, cosa, censo, cubo, censo di censo, cubo di cubo beweisen,
deren beide erste deutsch durch zal und ding übersetzt sind. Ent-
sprechend der Verbindung das Ding heisst die Unbekannte manch-
mal auch das cosa. Censo di censo ist die 4., cuho di cubo die
6. Potenz der Unbekannten, deren Exponent 6 = 3 -f- 3 durch Addi-
tion der beiden in ihrer Wortbezeichnung vorkommenden Bestand-
theile gebildet ist. Von dem anonymen Schreiber oder Verfasser der
Regule delacose sind in dem Sammelbande auch zwei Abhandlungen
über den doppelten falschen Ansatz vorhanden. In einem Beispiele
zu der Algebra des Frater Fridericus, welches auf 4:dx-{- AI = ^9y -\- 33
= 35^ + 25 = 31?( -[- 1^ hinausläuft, ist die Regel Ta yen an-
gewandt^).
Eine wiener Handschrift") besitzt die Ueberschrift Regule Cose
vel Algobre und weist durch den ersteren Namen nach Italien
hinüber. Es ist nur bedauerlich, dass auch dieser Handschrift, weil
erst dem XVI. Jahrhunderte entstammend, eine Beweiskraft nicht
innewohnt, und so dürfte die Widmann'sche Stelle von der Regel
Älgebre oder Gösse (S. 234) die älteste sein, welche als Zeugniss dafür
betrachtet werden kann, dass der Verfasser wusste, dass in Italien,
wohin allein das Wort Gosse verweisen kann, die Kunst der Algebi-a
in Uebung war.
^) Curtze 1. c. S. 64—66 in den Fussnoten. -) Die Handschrift findet
sich in einem Bande Nr. 5277 und ist von Gerhardt Berl. Mouatsber. Akad.
1867 S. 46 und 1870 S. 143 dem XV. Jahrhundert zugeschrieben. In dem 1870
gedruckten Kataloge der Wiener Handschriften ist sie dagegen füi- das XVI. Jahr-
hundert in Anspruch genommen, und Wappler hat (1. c. S. 3 Note 2) dieses
bestätigt.
Johannes Widmann und die Anfänge einer deutschen Algebra. 241
Widmann selbst benutzte, wie nachgewiesen worden ist^), einen
Band Handschriften, welcher auf den heutigen Tag in der Dresdener
Bibliothek vorhanden ist, und in welchem verschiedene algebraische
Abhandlungen vereinigt sind. Eine derselben ist deutsch und beginnt
mit den Worten-): MeijstcrUclie lainst, äafs ist meysterlich zu ivissen
rcclumng zu machen von Den meysteren, Dy do gesogen sind aus
Czehrcyeu. Was ist unter diesen Worten zu verstehen? Jedenfalls
scheint die Meinung dahin zu gehen, die Quelle der algebraischen
Lehren sei Czebreyn, aber was bedeutet dieser Ausdruck? Ist es der
Name eines vermutheten Erfinders, oder der eines Werkes? Sollte
etwa der Doppelname der Algebra „Aldschebr walmukäbala" (Bd. I,
S. 676) durch den ersten allein ersetzt sein, der dafür die Dualforra
annahm, was arabischem Sprachgebrauche ganz angemessen ist^), so
dass alsdann unter Verlust des Artikels dschebrain zu Czebreyn
wurde?
So zweifelhaft die Erklärung der ersten Worte ist, so unzweifel-
haft ist die Bedeutung des sich daran Anschliessenden. Denn synt
6 capitell geformet, aufs den 6 capitelen dy 24 capiffell, mag man
machen alle gemeyen reclmimg, sint diircJt, eyn capitteU zu machen ge-
ivifslich. D. h. man hat G Fälle, beziehungsweise 6 Gleichungsformen
zu unterscheiden, welche sich zu 24 Formen erweitern lassen, und
in eine dieser Formen, der 6 ursprünglichen oder der 18 hinzu-
tretenden, passt jede auflösbare Gleichung. Die 24 Kapitel oder
Fälle, welche von nun an geraume Zeit in allen algebraischen Schrif-
ten erscheinen, zerfallen somit von selbst in 2 Gruppen von 6 und 18
und in der Handschrift sind es folgende, wenn wir sie in die heute
übliche Form kleiden.
I.
\. ax = h 2. ax^ = h
3. ax^ = hx 4. ax'^ -\-hx = c
5. ax"^ -\- c = hx 6. ax^ = hx -\- c.
n.
1. ax^ = hx^ 2. ax^ = hx^
3. ax^ = hx 4. ax^ ^= h
5. ax^ = hx^ 6. ax^ = hx
^) Wappler 1. c. S. 9 — 10. Der Handschriftenband Widmann's ist in der
Dresdener Bibliothek mit C 80 bezeichnet. ^) Wappler 1. c. S. 4. Wir haben
beim Abdrucke die Rechtschreibung unverändert gelassen, aber zur Erleichterung
des Verständnisses Satzzeichen eingeschoben. ^) So die Meinung unseres ver-
ehrten, der Wissenschaft allzufrüh entrissenen Freundes H. Thor b ecke.
Cantor, Goschichto der Mathem. II. 2. Aufl. 16
242 54. Kapitel.
7. ax^ = b 8. ax^ + hx^ = ex
9. ax^ = bx^ -\- ex 10. ax^ -\- ex ^ hx^
11. ax^ = bx^ + cx^ 12. a^-^ + bx^ = ex"-
13. aa^ + ca;2 = ft^c^ 14. aa;^ _ ^y^
15. ax^ = Ybx 16. «x'^ + bx^ = c
17. ax^ + e = bx^ 18. a;^;^ = bx"- + c.
Wir erkennen darin Folgendes: Man war im Stande Gleichungen
1. und 2. Grades unbedingt aufzulösen, Gleichungen .3. und 4. Grades,
sofern sie reine Gleichungen waren, oder durch Divisionen auf qua-
dratische Gleichungen sich zurückführen liessen, oder endlich diese
Zurückführung dadurch gestatteten, dass man das Quadrat der Un-
bekannten als neue Unbekannte betrachtete.
Es versteht sich von selbst, dass die 24 Gleichungsformen durch
Worte dargestellt werden, in welchen gewisse Kunstausdrücke eine
wesentliche Rolle spielen: zall, dingk, zensi, chubi, wurzeil von
der wurzeil bedeuten der Reihe nach die Gleichungsconstante und
die 1., 2., 3., 4. Potenz der Unbekannten. Nachträglich sind dann für
diese fünf Ausdrücke ebensoviele Zeichen eingeführt:
Sf, S, i, chu, tf von tf.
Die Multiplications- und Divisionsregeln für diese Grössen sind ge-
lehrt, in welchen das Vervielfältigungswort „mal" regelmässig stund
heisst. Ein Additionszeichen kommt nicht vor; statt dessen ist immer
vnnd gesagt. Dagegen erscheint der Subtractionsstrich mit der Aus-
sprache minner. Die Bedeutung des höchst überraschenden „wurzell
von der wurzell", wo man etwa zensizensi erwarten sollte, ist durch
die Multiplications- und Divisionsregeln sicher gestellt.
Einige wenige Beispiele mögen diese Angaben bestätigen : „4 S
minner 5 Sf stund 2 8 minner 3 Sf so sprich 4 S stund 2 S macht 8 J.
Nu mach 3 Sf stund 4 9 daz ist \2 S minner und mach 5 Sf stund 2 8
daz ist 10 8 minner also macht es alz sammet 8 1 und 15 Sf minner 22 5".
Ferner „8 stund chu macht yJ( von tf" sowie „teyl mir tf von if
durch 5 so kumpt l".
Was den Ursprung der Zeichen betriift, so sind die Anfangs-
laute der Wörter Dingk, Zensi, Chubi unverkennbar, wozu es keinerlei
Gegensatz bildet, dass das hier Dingk ausgesprochene Zeichen in
anderen Handschriften als regelmässige Abkürzung von Denarius auf-
tritt. Dagegen erscheint das Zeichen für Zall und das für Wurzell
von der wurzell räthselhaft. Soll das erste ein r sein? das würde
aber als Anfangsbuchstabe von res weit eher für die Unbekannte, als
für die Gleichungsconstante passen. Und nun vollends das letzte
Johannes "Widmann und die Anfänge einer deutschen Algebra. 243
Zeichen der Verdoppelung des ersten älinelud, aber doch von ihm
unterscheidbar, soll es auch mit r als Anfangsbuchstabe von radix
in Verbindung zu setzen sein? Wir wissen nicht Bescheid darüber.
Nur soviel geht aus einer Aufgabe hervor, dass das einfach ge-
schriebene tf die Bedeutung Quadratwurzel besitzt. Die Unbekannte
2 3
soll nämlich daraus gefunden werden, dass ^ derselben mal — der-
selben oder — ihres Quadrates 20 betrage. Das Quadrat ist demnach
40, und „\( von 40" ist die Unbekannte.
Wie wenig Sicherheit übrigens in der Zeit, als die Handschrift
entstand,, noch in der Benutzung der Zeichen obwaltete, mag daraus
entnommen werden, dass der gleiche Sammelband eine andere lateinische
Schrift enthält, welche wesentlich andere Zeichen benutzt, während
der übrige Inhalt sich nur durch grössere Ausführlichkeit von dem
der deutschen Algebra unterscheidet^).
0, ^, i, ^, ii
sind in dieser lateinischen Algebra die Vertreter der oben angeführten
Zeichen. Das Zeichen der Unbekannten und ihrer 3. Potenz mag
sich als d und c deuten lassen, das für die 2. und 4. Potenz der
Unbekannten ist unzweifelhaft ein einmaliges und doppeltes z; aber
das Zeichen für die Constante macht wieder Schwierigkeit. Sollte
die durchstrichene Null andeuten wollen, es sei ein Zeichen keiner
Unbekannten? Ausserdem sind in der lateinischen Algebra Zeichen
für Wurzelausziehung ^) hinzugekommen, und zwar Pünktchen, welche
dem Radicanden vorgesetzt werden. Ein Pünktchen bedeutet die
Quadratwurzel, zwei die Quadratwurzel aus der Quadratwurzel, drei
die Kubikwurzel, vier die Kubikwurzel aus der Kubikwurzel in offen-
bar ziemlich wenig folgerichtiger Anwendung. Man hat den Versuch
gemacht^) für diese Wurzelausziehungspünktchen einen arabischen
Ursprung wahrscheinlich zu machen. Wir wissen, dass bei West-
arabern, insbesondere bei einem annähernden Zeitgenossen der Schrift-
steller, die uns hier beschäftigen, bei Alkalsädi (Bd. I, S. 765 — 766)
gleichfalls ein Quadratwurzelzeichen vorkam, nämlich der über dem
Radicanden stehende Buchstabe dschim (Anfang von Dschidr= Wur-
zel). Bei der praktischen Ausziehung der Quadratwurzel benutzte
alsdann Alkalsädi Pünktchen, die jeweils über die grade in Betracht
kommende Radicandenstelle gesetzt wurden, mithin viele Pünktchen
nach einander bei derselben Quadratwurzelausziehung*). Es erscheint
1) Wappler 1. c. S. 11—30. -) Ebenda S. 13 Note 1. "") Gerhardt
in den Berl. Monatsber. Akad. 1870, 1.50—151. ^) Woepke, Traduction du
traue d'aritlmietique d'Alml Hasan Ali hen Mohammed Alcalsadi in den Atti
deir Accademia pontificia de' miovi Lmcei XII, 400 — 402.
IG*
244 54. Kapitel.
mindestens sehr gewagt aus diesen Hilfspünktchen über dem Radi-
canden die als Wurzelzeichen dienenden Pünktchen vor dem Radi-
canden ableiten zu wollen, deren Anzahl nicht yon der Ziffernzahl
des Radicanden, sondern von dem Wurzelexponenten abhängt. Eine
uns befriedigende Vermuthung an die Stelle der zurückgewiesenen zu
setzen, sind wir nicht im Stande, sondern müssen uns begnügen, wie
leider nur zu oft, auf die Möglichkeit zu vertrösten, dass neue Ent-
deckungen diese Lücke einmal ausfüllen können.
Der Verfasser dieser lateinischen Algebra muss eine in mancher
Beziehung vorzügliche Vorlage besessen haben. Er behandelt wenigstens
Alles von einem viel höheren Standpunkte aus und zeigt gleich zu
Anfang, wie und wann Gleichungen höherer Grade sich auf solche
niedrigeren Grades zurückführen und auflösen lassen. Die einzelnen
Potenzen der Unbekannten nennt er Zeichen, signa, jedenfalls im Ge-
danken an die statt derselben zu schreibenden Zeichen. Diese be-
kannten signa sollen nun von 0 beginnend der Reihe nach hinge-
schrieben werden. Man könnte fast an die nullte Potenz der Unbekannten
bei dieser Vorschrift denken, wenn unsere oben ausgesprochene Ver-
muthung über die mögliche Entstehung des Zeichens 0 richtig sein
sollte. Hat man die Zeichenreihe hergestellt, so ordnet man die
Glieder einer vorgelegten Gleichung ebenfalls dem Range nach und
setzt ihre Zeichen über die erwähnte Zeichenreihe, das niederste über
0, das andere, beziehungsweise die anderen, wenn die Gleichung drei-
gliedrig ist, über die folgenden in Entfernungen, die mit denen der
hingeschriebenen Zeichen übereinstimmen. Benutzen wir zur leich-
teren Uebersicht die heutigen Zeichen, so verlangt der Verfasser
Folgendes. Es soll die Grundreihe
hingeschrieben werden. In der vorgelegten Gleichung kommen
X", x!^, xy vor, wo u <. ß <. y und ß — a ^ m, y — a = w ist. Dann
ist x" über a;°, x!^ über ic'", x'/ über a" zu schreiben, beziehungsweise
innerhalb der Gleichung durch das „Zeichen", über welchem es sich
befindet, zu ersetzen, so ist die frühere Gleichung vom Grade y auf
eine solche vom Grade n zurückgeführt, indem eine vielleicht nicht
ganz vollbewusst vorgenommene Division durch x"- erfolgte. Dass
die Gliederzahl dabei auf 2 oder 3, der Grad der höchstvorkommen-
den Potenz in den Beispielen auf 4 beschränkt ist, müssen wir mit
in den Kauf nehmen. Erstere Beschränkung war zuverlässig eine
beabsichtigte. Man konnte nur mit 2- und 3-gliedrigen Gleichungen
umgehen. Ob die zweite Beschränkung nur in dem Mangel au
passenden Zeichen begründet war, oder ob wirklich der Potenzbegriff
Johannes Widnianu und die Anfänge einer deutschen Algebra. 245
der Zeit mit x^ zu Ende war, lassen wir dahingestellt. Uns persön-
lich scheint die erstere Annahme die richtigere, und wir finden eine
Bestätigung dafür in der nun nachfolgenden Regel ^) von ganz all-
gemeiner Fassung: Bei dreigliedrigen Gleichungen muss das mittlere
Glied gleich weit von den beiden äussersten entfernt sein, sonst fällt
die Aufgabe nicht unter die der Algebra. Das heisst doch nur, es
müsse y — ß = ß — « sein , oder die Gleichung müsse sich, um der
Auflösung fähig zu sein, auf die Glieder x^, x'^, x^"- zurückführen
lassen, ohne dass von der Beschränkung auf w = 1 und n =^ 2 die
Rede wäre. Das Wort ajtoQiö^a, welches wir mit Aufgabe wieder-
gegeben haben, heisst genauer Schwierigkeit; bei Aristoteles findet
es sich meist in der Form ä:tÖQr]^cc.
Hierauf wird noch in 7 Regeln genauer ausgesprochen, was erst
allgemein vorausgeschickt war. Sind, sagt die erste Regel ^), nächst-
benaehbarte Zeichen einander gleich, so theile das niedrigere durch
das höhere, und die Sache ist gefunden. Das bedeutet: aus ax" = hx"+^
finde man -y = x. Wir erwähnen weiter, dass in der fünften Resrel
von einem Sprunge, saltus, der Zeichen die Rede ist, wo die Glieder
von der Form a;", x"+^, x"+'^!^ sind. In Formelgestalt heissen sämmt-
liche 7 Regeln folffendermassen :
I. fl.^'" =-- hx"-^^ giebt ^ = ^
IL ax" = &a-«+2 - X = ]/|-
III. «.r« = hx^^^
IV. ax" = hx"^^
I/t
V. ax^ = hxf'+^ + cx<^+^.^ - x,^ = yÖ^ + 7 - ^
VI. hx-+(^ = ax- + cä;«+2/* - x^^ = "|/Q'_|. _|. JL
VII. ca:«+2,. = ax" + hx^^+ß - xß = l/Q" +"| + ~
Allerdings haben wir dabei die Regeln V., VI, VII. so gefasst,
wie sie lauten müssten, nicht wie sie in der Handschrift lauten, wo
zwar der mit einem Wurzelzeichen versehene Theil der Auflösung
sinnentsi^rechend beschrieben ist, das Glied ohne Wurzelzeichen da-
') Notandum eciam, qiiod in equacione triiim signorum semper medium debet
elongari equaliter ab extremis; quod si sie non fuerit, non intrat apporismata
algobre. ^ Quando signa sibi invicem proxima adequantur sibi invieem tunc
dividatur Signum minus per Signum maius et patebit valor rei.
246 54. Kapitel.
gegen in keinem der drei Fälle irgend erwähnt ist. Sämmtliche
Zahleubeispiele lassen einigermassen Zweifel zu, ob der Verfasser sich
nur undeutlich, ob er sieh irrig ausgedrückt hat. Auch letzteres
dürfen wir einem Manne zutrauen, der später, wo er die 24 Gleichungs-
formen mittheilt ^), bei der 5. Form (welche der VI. Regel entspricht)
die Möglichkeit die Wurzelgrösse additiv oder subtractiv zu nehmen
dahin missversteht, dass unter dem Wurzelzeichen — zugezählt
werden müsse, wenn es nicht abgezogen werden könne, und überdies
die Wurzelgrösse selbst nur subtractiv benutzt, also von zwei mög-
lichen Lösungen überhaupt nichts zu wissen scheint. Oder sollte in
diesem Unsinne selbst wieder eine Abhängigkeit von einem Vor-
gänger zu erkennen sein? Der Herausgeber des Abdruckes, der unserer
Darstellung zu Grunde liegt, hat in der Dresdner Bibliothek eine
andere Handschrift aus dem XV. Jahrhunderte entdeckt, welche sich
selbst als üebersetzung der Algebra des Alchwavizmi bezeichnet, und
welche in buchstäblicher Uebereinstimmung die gleichen Verkehrt-
heiten enthält. Wir kehren zu dem Handschriftenbande, der einst
Johannes Widmanu angehörte, zurück. Wir sagten, die lateinische
Algebra, von der zuletzt die Rede war, enthalte die 24 Gleiclmngs-
formen. Sie stimmen mit denjenigen der deutsch geschriebenen
Algebra dem Inhalte nach und in der ersten Gruppe auch der Reihen-
folge nach überein. Die Formen der zweiten Gruppe dagegen er-
scheinen in der eigentlich weit folgerichtigeren Anordnung 5. 6. 7.
8. 10. 9. 1. 2. 3. 12. 13. 11. 15. 14. 4. 16. 17. 18. Der Angabe
der sämmtlichen 24 Gleichungsformen folgen unter der Ueberschrift
Compendium de 5 et re, welche den Ausdruck res als Name der Un-
bekannten sichert, Zahlenbeispiele zu 16 von den Gleichungsformeu,
in welchen es an Rechenfehlern nicht mangelt. Aber auch damit ist
das Werk noch nicht zu Ende, es kommt vielmehr noch die Haupt-
sache, wenigstens das was den meisten Raum einnimmt^), die in
24 Kapitel eingetheilten Textaufgaben zu den 24 Gleichungsformen,
die sogenannten Aporisniata, wie sie mit einem uns schon bekannt
gewordenen Kunstausdrucke heissen. Wir entnehmen ihnen drei ge-
schichtlich bemerkenswerthe Dinge.
Erstens wird von dem 1. Beispiele des 5. Kapitels gesagt, es sei
gebildet luxta 29 proposicionem dati^). Das ist aber nichts anderes
als die 29. Aufgabe von der Schrift De numeris datis des Jor-
dan us, welche, was wir bisher noch zu .sagen vermieden haben.
1) Wappler 1. c. S. 13—15. *) Ebenda S. 16—30. ^j Ebenda S. 23
und in Note 2 der gleichen Seite die Beziehung zu Jordauus.
Joliiiunos Widmiinu und die Anfänge einer deutschen Algebra. 247
gleichfalls in dem betrefiendeu Sainmelbaiide und zwar vor der lateini-
schen Algebra enthalten ist. Von unserem unbekannten Algebraiker
können wir mit Bezug hierauf das Gleiche aussprechen, was in noch
verstärktem Maasse von Widmann gilt. Er gehörte zu den gelehrten
Kreisen, er hat Jordanus studirt, wenn auch zuverlässig nicht diesen
Schriftsteller allein, da aus ihm nicht der ganze Inhalt des Werkes
zu rechtfertigen, beziehungsweise bis zur Quelle zurückzuverfolgen ist.
Zweitens ist am Schlüsse desselben 5. Kapitels eiu Zusatz^) bei-
gefügt, in den Beispielen dieser Form sei die Wurzelgrösse zu addiren,
wenn mau sie nicht abziehen könne. Was also in der Darstellung
der Regel für die 5. Gleichungsform dem Verfasser, wie wir oben
sahen, noch nicht bekannt schien, das ist ihm jetzt in der Aufgaben-
sammlung klar geworden.
Drittens ist am Schlüsse des G. Kapitels, also da, wo die erste
Gruppe der Gleichungsformen abschliesst (die ursprünglichen Formen
könnte man sie im Gegensatze zu den 18 abgeleiteten Formen de)-
zweiten Gruppe nennen) bemerkt ^), man könne Alles, was mit nf aus-
geführt werde, auch ohne dasselbe macheu und habe es, allerdings
mit Hilfe von vielerlei Mitteln und Schlussfolgerungeu, multis mediis
et conclusionibus, ohne diese Gleichungsformen gemacht, bevor die
Algebra erfunden war. Eine dieser früheren Methoden wird sodann
besonders hervorgehoben als Aporisma convcrsum. Sie sei, wie in der
Geometrie ausgesprochen sei, die Erfindung des Ysac Sohn Salo-
monis. Die Beschreibung der Methode stimmt genau zu dem Um-
kehrungsverfahren (Bd. I, S. 689), welches ein Abraham, in welchem
Abraham ibn Esra vermuthet wird, unter dem Namen regula sermonis
gelehrt hat. Wer dieser Isaak Sohn Salomo's sei, wird sich schwer-
lich ermitteln lassen, da die Bezeichnung auf allzuviele Persönlich-
keiten passen kann. Schon so weit unsere Hilfsmittel reichen, sind
wir auf zwei Persönlichkeiten gestossen, welche beide berechtigt
waren, sich so zu nennen, beide Juden, beide Gelehrte, welche auch
mit Mathematik sich beschäftigten: Isaak ben Salomo Israeli^)
aus Kairwan, einem im Mittelalter berühmten Handelsplatze, heute
dem ärmlichen Städtchen Kairavan in Tunis ^), von der Mitte des X.
bis zur Mitte des XL Jahrhunderts, und ein Castilianer Isaak ben
Salomo ben Zadik Ibn Alchadib^), als dessen Blüthezeit 1370
bis 1380 angegeben ist.
^) Wappler 1. c. S. 26: Nota qiiintu regula habet jwo ceteris hoc Privilegium,
quanclo radix subtrahi non potest, debet ipsa addi. ^) Ebenda S. 27. 2) Jost,
Geschichte des Judenthums II, 397. *) S. Günther in der Beilage zur Allgemeinen
Zeitung vom 25. Januar 1892. ^) Steinschneider in seinem Artikel „Jüdische
248 54. Kapitel.
Ausser diesen Bemerkungen, zu welchen einzelne bestimmte
Stellen uns Veranlassung geben, muss nocli eine etwas allgemeinere
beigefügt werden. Am Rande der lateinischen Algebra sind von einer
anderen Hand als der des Schreibers des Textes weitere Aufgaben in
lateinischer Sprache in nicht unbeträchtlicher Zahl hingeschrieben.
Wir werden später an diese Aufgaben zu erinnern haben und wollen
sie dann kurzweg die Randaufgaben der Dresdner Algebra
nennen.
Wir haben (S. 234) die Thatsache erwähnt, dass Johannes Wid-
mann in Leipzig Vorlesungen über Algebra hielt ^). Gleich auf dem
ersten Vorsetzblatte des Dresdner Handschriftenbandes, der in Wid-
mann's Besitz war, sind zwei Vorlesungs anzeigen desselben
niedergeschrieben. Die erste bezieht sich auf das Linienrechnen.
Diese Kunst sei durch Appuleius, den in jeder Lehre hocherfahrenen
Mann überliefert. Zuerst habe man auf den Sand zwischen die Linien
Pünktchen gemacht, dann habe man sich kleiner Steine (calculi ) bedient,
woraus der Name des Calcüls entstanden sei, später sei man zu Rechen-
pfennigen von Metall (proiectilia erea) übergegangen. Dieser Theil
der Wissenschaft sei um so höher gehalten worden, weil er leichter
sei und jedem Geiste angemessen, so dass auch die, welche keine Ge-
lehrsamkeit (litteratura) besitzen, nicht wenig tüchtig darin werden
können, dann auch weil er deutlicher ist und mehr zu den Sinnen
spricht. Magister Jo. W. de Eg. wird heute um 4 Uhr einige sogen.
Kaufmannsregeln angewandt auf die Linien mit Rechenpfeunigen ein-
zuüben beginnen (regulas quasdam Mercatorum dictas ad lineas cum
proiectilibus applicatis resumere incipiet). Das Wort resumere in
dieser Anzeige, welches wir mit „einüben" verdeutscht haben, gehört
dem Sprach gebrauche der deutschen Universitäten des XV. Jahr-
hunderts an. Eigentlich ist es ein rhetorischer Kuustausdruck ebenso
wie resumptio, und die entsprechenden griechischen Kunstausdrücke
sind fTCavakaiißcivsLV^ e:tuvdh]i<tg^ italienisch riassumere. Die Meinung
ist die, dass ein und dasselbe Wort zur Verstärkung des Sinnes wieder-
holt werde. Später hat man die Wiederholung im Allgemeinen und
damit die Einübung durch resumere bezeichnet^). Die zweite An-
zeige beginnt mit einem Lobe der Arithmetik, in welches die Namen
des Pythagoras und des Boethius eingeflochten sind. M. J. W. de eg.
Literatur in Ersch und Gruber's Allg. Encvklopädie der Wissenschaften und
Künste, Section 2, Bd. 27, S. 439, Spalte 1, Z. 5.
^) Wappler 1. c. S. 9 — 10 hat diese Thatsache mit ihren Belegstücken
zuerst mitgetheilt. *) Diese Auseinandersetzung verdanken wir H. Zange-
meister, welcher sich dafür auf J. Ch. Th. Ernesti, Lexicon rJietoricum -pag. 321
und H. Sauppe, Opuscula critica pag. 163 stützt.
Johannes Witlmaun und die Anfänge einer deutschen Algebra. 249
wird heute um 2 Uhr nach der Disputation der Baccalaureen anfangen,
ein kleines kurzgefasstes und sehr nützliches Buch, welches wohl die
Grundlagen dieser ganzen Kunst umfasst, einzuüben.
Es liegt auf der Hand, dass diese beiden Vorlesungen den beiden
Rechnungsweisen der Zeit gewidmet waren, die erste dem Rechnen
auf den Linien, die zweite dem Ziffernrechnen, für welches ein be-
stimmter Name, der es von jenem anderen unterscheide, noch nicht
vorkommt, aber bald entstehen wird. Das Büchelchen, welches der
zweiten Vorlesung zu Grunde lag, kann kaum ein anderes gewesen
sein, als Widmann's „Behende und hübsche Rechnung auff allen
kauffm annschafft'', denn darüber, wer Magister Jo. W. de Eg. gewesen
sein muss, ist doch ein Zweifel nicht möglich. Beschäftigung mit
einem bestimmten Fache, gelehrter Titel, Vorname, Anfangsbuchstaben
des Familiennamens und des Heimathsortes in tadelloser Ueberein-
stimmung müssen als unwiderlegliche Beweise der Uebereinstimmung
der Persönlichkeiten gelten. Wer aber sollte das Vorsetzblatt eines
Handschriftenbandes benutzt haben, um die Anzeige zweier Vor-
lesungen darauf niederzuschreiben als der Ankündiger selbst, der viel-
leicht wiederholt in aufeinander folgenden Jahren von jenen An-
kündigungen öffentlichen Gebrauch zu machen wünschte? So dienen
die Anzeigen selbst als Beleg dafür, dass jener Handschriftenband
sich im Besitze Widmann's befand.
Und nun findet sich eine dritte Vorlesungsanzeige von
derselben Hand geschrieben auf der Rückseite des 349. Blattes des
Bandes unmittelbar vor der lateinischen Algebra. Mit Arithmetik
allein sei es nicht gethan. Schwierigeren Aufgaben komme man nur
mit jenen Methoden bei, welche ein Algobre von hellstem und nahezu
göttlichem Geiste uns in wenigen Aporismen, um seines Wortes mich
zu bedienen, überliefert hat^). Heute um 2 Uhr wird Magister Jo.
W. de Eg. nach der Predigt und nach der Disputation der Bacca-
laureen mit den Zuhörern Vereinbarungen über Stunde und Ort treffen,
um die Aporismata et Regulas Algobre einzuüben. Dieser dritten
Anzeige dürfen wir die Bestätigung dessen entnehmen, was wir aus
den beiden früheren folgerten, und wofür wir uns auch darauf be-
rufen könnten-), dass zwei Aufgaben der lateinischen Algebra in
Widmann's Rechenbuch Aufnahme gefunden haben. Aber wir ent-
nehmen ihr noch weitere Dinge, welche hervorzuheben sind.
Wir sehen hier einmal die erste nachgewiesene Anzeige einer
^) quas praeclarissimi quondam ac prope divini ingenij Algohre paucis ad-
modum Äporismatibus, ut suo vocahulo utar, nobis tradidit. ^) Wappler 1. c.
S. 22, Note 1.
250 54. Kapitel.
algebraischen Vorlesung an einer Universität. Wir sehen eine andere
Fassung als bei den offenbar eingebürgerten Vorlesungen über das
Rechnen. Ort und Stunde sollen erst vereinbart werden! Auch heute
noch kann man ähnlichen Wortlaut mitunter auf Ankündigungen an
den schwarzen Brettern unserer deutschen Hochschulen finden. Sie
bedeuten etwa so viel als: der Unterzeichnete möchte über den be-
treifenden Gegenstand lesen, vorausgesetzt, dass sich Zuhörer dazu
melden. Wir werden nicht irre gehen, wenn wir im XV. Jahrhunderte
der Klausel denselben Sinn beilegen. Es war eine ungewohnte, eine
neue Vorlesung. Sie kam zu Stande. In dem Codex 1-470 der
Leipziger Universitätsbibliothek wird berichtet, im Sommer 1486 habe
Johann von Eger (und das kann doch nur Widmann sein) in
seiner Behausung Algebra vorgetragen^). Als weitere Bestätigung
dürfen wir es ansehen, dass Widmann der lateinischen Algebra, die
er augenscheinlich der Vorlesung zu Grunde legte, an einer Stelle
einige Aufgaben zufügte^).
Und das Andere, was wir hervorzuheben haben, besteht darin,
dass für Widmann Algobre ein Mann, der Erfinder der Kunst war.
Ob er ihn auch Geber nennen zu dürfen glaubte, wie jener Canacci
im XV. Jahrhunderte (S, 165), ob damit wieder der Name Czebreyu
der deutschen Algebra des Dresdner Bandes (S. 241) sich deckt? Mög-
lich ist so ziemlich Alles, was an Nameusverketzerungen nur erdacht
werden kann.
Wir müssen aus dem weitläufiger Auseinandergesetzten die Er-
gebnisse kurz zusammenstellen. Sie gehen dahin, dass Widmann
algebraischer Schriften sich bediente, welche nach wesentlichen Merk-
malen in gelehrten Kreisen entstanden sein müssen, und Avelche
mittelbar, stellenweise unmittelbar auf Jordauus zurückweisen. Andrer-
seits war es Widmann auch bekannt, dass die algebraische Kunst
Regula cosse (S. 234) hiess. Er hat überdies, wovon wir bisher ge-
schwiegen haben, in seinem Rechenbuche ziemlich viele Aufgaben,
welche auch in Leonardo's Abacus vorkommen^), sei es, dass die
Uebereinstimmung sich auf Text und Zahlen beziehe, sei es, dass bei
gleichem Texte andere Zahlen gewählt sind. W^ir können daraus
keine anderen Folgerungen ziehen, als die, dass Algebra gelehrten
Ursprunges in der Mitte des XV. Jahrhunderts in Deutschlaud bekannt
war, dass mit ihr Algebra italienisch -kaufmännischen Ursprunges
gegen Ende des Jahrhunderts sich vereinigt hatte, dass von Schrift-
1) Curtze brieflich. ^ Wappler 1. c. S. 21, Note 1. ^) Treutlein,
Die deutsche Coss. Zeitschr. Math. Phys. XXIV, Supplementheft, S. 119, An-
merkung.
Deutsche Universitäten. Regiomontanus. 251
stellern, deren Namen wir kenneu, Johannes Widmann der erste
war, bei welchem jene Vereinigung sich nachweisen lässt, wie er auch
der erste war, der algebraische Vorlesungen an einer Universität, und
zwar in Leipzig, anzukündigen wagte.
55. Kapitel.
Deutsche Universitäten. Regiomontanus.
Wie stand es, können wir, anknüpfend an die letzten Worte des
soeben beendigten Kapitels, hier gelegentlich fragen, um die Mathe-
matik der deutschen Universitäten in der Zeit, welche uns gegen-
wärtig beschäftigt?
Leipzig^) haben wir bereits wegen der dort stattgefundenen
Ankündigung einer Vorlesung über Algebra genannt. Im Uebrigen
beschränkte sich die Auswahl der Vorlesungen, die gehalten werden
mussten, auf Euklid, Arithmetik, Musik nach De Muris, Perspective
d. h. Optik und zwei astronomische Fächer. Dem Euklid waren aller-
dings 20 bis 30 Wochen, der Perspective 12 bis 14 Wochen ge-
widmet, während die Vorlesung über Arithmetik in 4 bis 7 Wochen
vollendet sein musste.
Aus Erfurt ist uns bekan)it, dass dort der Kreis der Vorlesungen,
welche den Artisten geboten wurden, ein umfassender war. Volle 38
verschiedene Gegenstände wurden vorgetragen^), also fast doppelt so
viele als in Wien, wo es nur 21 solcher Vorlesungen gab; aber wie
viel Mathematisches sich darunter befand, wissen wir nicht. Es könnte
recht viel gewesen sein, wenn es gestattet ist, aus der Persönlichkeit
eines Lehrers einen Schluss zu ziehen, des Magisters Christian
Roder-^) aus Hamburg, der 1463 Decan der Erfurter Artisteufacultät
war, und unter welchem 80 Magister ihi-e Prüfung bestanden, denn
dieser Gelehrte erfreute sich unter den ersten Fachmännern des glän-
zendsten Rufes. Christianus Rueder de Hamborch, der im Winter-
semester 1471 auf 1472 Rector in Erfurt war^), dürfte die gleiche
Persönlichkeit bezeichnen.
Basel"^), Universität seit 1459, erkannte im Jahre 1465 nur
') Günther, Unterricht Mittela. S. 215. ^) Ebenda S. 213. ^) Doppel-
mayr, Historische Nachrichten von den Nürnbergischen Mathematicis und
Künstlern (1730), S. 6, Note hh. Dieses Werk citiren wir künftig schleehtweg
als Doppelmajr. *) Weissenborn, Acten der Erfurter Universität I, 34.5
(Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und der angrenzenden Gebiete Bd. VIII).
°) Günther, Unterricht Mittela. S. 216.
252 55. Kapitel.
Euklid und Sacrobosco als die Schriftsteller an, welche erklärt werden
müssen; 1492 ist die Sache wenigstens insofern besser geworden, als
die Vorlesungszeit über Sacrobosco von 6 Wochen auf 12 Wochen
sich erhöht hat.
Ingolstadt^) war 1472 nach dem Wiener Vorbilde eingerichtet
worden, aber ihm keineswegs ähnlich geblieben. Während zu Anfang
die Baccalaureatsprüfung die sechs ersten Bücher des Euklid, den Algo-
rismus, die Sphaera voraussetzte, während die Magisterprüfung auch
noch Planetentheorie erforderte, während Latitudines, Perspective,
Optik doch noch in den Satzungen vorkommen, wenn auch nur um
sie als nicht verbindliche Lehrgegenstände zu erklären, gehen die
Forderungen bald so weit zurück, dass nur 2 Wocheu dem Algoris-
mus, 2 Wochen dem ersten Buche Euklids, 6 Wochen der Sphaera
gewidmet werden müssen.
In dem 1477 gegründeten Tübingen^) lag die Sache durch die
Persönlichkeit eines Lehrers etwas besser. Dort wirkte Paul Scrip-
toris, der als Erklärer des Duns Scotus seine akademische Thätig-
keit begann, aber um 1494 auch über zwei mathematische Schrift-
steller las, über Euklid und über Ptolemäus; der letzteren Vorlesung,
einer Neuheit in Tübingen und auch einer Neuheit für Leute, die
von vielen anderen Universitäten nach Tübingen kamen, sollen des-
halb auch fast sämmtliche übrige Professoren beigewohnt haben.
Krakau^) muss in dieser Aufzählung deutscher Universitäten
auch genannt werden. Das „Krokaw" des XV. Jahrhunderts ist wenig
mit dem heutigen Krakau zu vergleichen. Hatten auch ursprünglich
Polen die Stadt gegründet, so waren doch seit dem XTT und XIII. Jahr-
hunderte deutsehe Ansiedler hingezogen worden, welche mit deutscher
Sprache, mit deutschem d. h. in diesem Falle mit Breslau- Magde-
burgischem Rechte eine eigene Gemeinschaft bildeten. In deutschen
Händen befand sich der ganze Grosshandel, und nur so ist eine Zu-
gehörigkeit Krakaus zum Hansabunde zu verstehen. Ein Sprosse
einer in Krakau angesiedelten deutschen Grosshandelsfamilie hat in
der Geschichte der Astronomie eine umwälzende Rolle gespielt. Die
städtischen Urkunden, soweit sie nicht in lateinischer Sprache ab-
gefasst sind, sind bis in's XVI. Jahrhundert hinein ausschliesslich
deutsch, obwohl die polnische Sprache als Schriftsprache vorhanden
war und polnische Gerichtsacten insbesondere aus dem Jahre 1400
nachzuweisen sind. In dieser Stadt Krakau hatte 1364 König Kasimir
der Grosse von Polen so ziemlich nach dem Vorbilde von Prag eine
') Günther, Unterriclit Mittela. S. 216—217. *) Ebenda S. 218. ') Prowe,
Nicolaus Coppernicus (1883) passim. — Günther, Unterricht Mittela. S. 229 — 230.
Deutsche Universitäten. Regiomontaniis. 253
Universität gegründet, welche bald in Flor kam und insbesondere,
ebenso wie Leipzig, einen grossen Nutzen daraus zog, dass Prag in
Folge kleinlicher Nörgeleien gegen Fremde wie auch durch die
Hussitenstreitigkeiten mehr und mehr auf den Rang einer Landes-
schule herabsank. Auch in Krakau galt ähnlich wie einst in Wien
die Verlosung der Vorlesungen unter den Lehrern der Universität,
aber daneben waren frühzeitig einzelne bestimmte Lehrstühle gegründet,
so ein Lehrstuhl der Astronomie, welchen zuerst Johannes Stobner
aus Krakau innehatte, der 1379 in Prag das Baccalaureat erworben
hatte. Satzungen von 1449 geben Auskunft darüber, welcherlei Vor-
lesungen der Professor der Astronomie zu Krakau zu halten verpflichtet
war: Euklid, Perspective, Arithmetik, Algorismus minutiarum, Musik
und astronomische Gegenstände werden genannt, unter letzteren seit
1475 auch eine Vorlesung über Schriften eines Gelehrten, mit welchem
wir uns im Verlaufe dieses Kapitels sehr eingehend zu beschäftigen
haben werden, des Regio montanus. Ein weiterer Lehrstuhl wurde
1450 gegründet für Astrologie. Sein erster Inhaber war Martin
Krol de Premislia. Der weitesten Berühmtheit erfreute sich am
Ende des XV. Jahrhunderts Albert Blar von Brudzewo, gewöhn-
lich Brudzewski genannt. Im Jahre 1445 geboren, gehört er mit
seiner o-anzen orelehrten Laufbalm der Universität Krakau an. An ihr
o o
wurde er 1470 Baccalaureus, 1474 Magister. An ihr stieg er in der
Artistenfacultät zu immer höherem Range, bis er 1485 Decan dieser
Facultät wurde. Gleich vielen anderen Gelehrten hat Brudzewski die
Zeit, während welcher er der niedersten Facultät bereits als ge-
achteter, von nah und fern gesuchter Lehrer angehörte, dazu benutzt,
sich einer höheren F'acultät noch als Schüler anzuschliessen. So
wurde er 1490 Baccalaureus der Theologie, eine Würde, welche ihm
das Recht verlieh, auch theologische Vorlesungen zu halten, von
welchem er aber nicht Gebrauch gemacht zu haben scheint. Er
wurde der Universität untreu und trat 1494 als Secretär in die Dienste
des Fürsten Alexander von Littauen. Als solcher starb er 1497 in
Wilna. Von 1484 bis 1489 sind aus den erhaltenen Vorlesungs-
verzeichnissen der Universität Krakau die mathematischen Lehrgegen-
stände bekannt, welche Brudzewski vortrug. Arithmetik ist die erste,
Perspective die letzte dieser Vorlesungen, die übrigen gehören der
Astronomie, nicht der reinen Mathematik an. Als Brudzewski die
Mathematik als öffentlichen Lehrgegenstand aufgab und sich nach
übereinstimmenden Ueberlieferungen damit begnügte, befähigten Schü-
lern besondere Vorlesungen zu halten, von denen die Verzeichnisse
nichts wissen, da war unsere Wissenschaft durch nicht weniger als
16 Lehrer vertreten, die allein in den Jahren 1491 bis 1495 raathe-
254 55. Kapitel.
matische und astronomische Gegenstände vortrugen. Allerdino-s waren
es ausnahmslos die uns mehr als zur Genüge bekannten elementaren
Dinge: Euklid, Arithmetik, Musik, Optik u. s. w. Von Latitudines
z. B. ist keine Rede, von Algebra ebensowenig. Wir möchten aber
aus diesem Schweigen der Vorlesungsverzeichnisse keinen allzu zu-
versichtlichen Schluss dahin ziehen, solche höhere Gegenstände seien
nie gelehrt worden. Grade was ein glücklicher Zufall uns über die
Lehrthätigkeit Widmann's in Leipzig aufbewahrt hat, könnte der
Vermuthung Bahn brechen, auch anderwärts sei die Lehrthätigkeit
mitunter über die breitgetretenen Wege des Alltäglichen hinaus-
gegangen, freilich ohne dass die Vorlesungsverzeichnisse von solchen
Ausnahmen berichten könnten.
Wien hatte uns als mathematische Musteruuiversität gegolten.
Was war aus ihr geworden? Wir haben (S. 176) in Johann von Ge-
munden einen Lehrer dort auftreten sehen, der als Professor der
Mathematik gelten durfte, ohne dass es einen solchen gab. Mit
seinem Tode hörte dieses Verhältniss — man wäre versucht, es das
naturgemässe Herausbilden eines Fachlehrerthums durch Zuchtwahl
zu nennen — wieder auf. Vielleicht 50 Lehrer^) von mathematischen
Dingen sind in der zweiten Hälfte des XV. Jahrhunderts in Wien
aufgetreten, deren Namen vergessen sind. Georg von Peurbach
(S. 180) widmete seine Lehrthätigkeit vorzugsweise humanistischen
Gegenständen, und der Mann, welchem wir uns jetzt zuzuwenden
haben, der ganz dazu angethan war, ein neues Zeitalter der Mathe-
matik in Wien zu eröffnen, gehörte der Universität nur ganz kurze
Zeit an. Es war Regiomontanus.
Johannes Müller^) ist als Sohn eines Müllers am 6. Juni 1436
in dem Städtchen Königsberg bei Hassfurt (Herzogthum Coburg) oder
in dem unweit davon gelegenen Dörfchen Unfind geboren. Den Xamen
Regiomontanus gab man ihm von dieser Heimath. Er selbst nannte
sich Joannes de Monte Regio, Johannes Germanus, Johannes
Francus, Kunisperger u. s. w. Schon im Alter von 12 Jahren
bezog er die Universität Leipzig, und zwei oder drei Jahre später
erschien er in Wien bei Georg von Peurbach mit der auf keinerlei
^) Günther, Unterriclit Mittela. S. 249. *) Ueber das Leben Regio-
montanus ist eine grosse Zahl von längeren und kürzeren guten Schriften vor-
handen. Gassendi, Tychonis Braliei vita, accessit Nicolai Copernici, Georgii
Pitrhachii et loannis Regiomontani astronotn&rum celebrium vita (1555). —
Doppelmayr, S. 1 — 23. — M. A. Stern, Joannes de Monteregio in Ersch und
Gruber's Encyklopädie , II. Section, 22. Theil, S. 205—213. — Die letzte Zu-
sammenstellung von S. Günther in der Allgem. deutschen Biographie XXIT,
564—581 unter Müller, Johannes.
Deutsche Universitäten. Regiomoutanus. 255
Empfehlung sich stützenden Bitte, ihn als Schüler annehmen zu
wollen. Mag das den Männern, die damals in Leipzig Mathematik
lehrten, kein so glänzendes Zeugniss ausstellen, als unsere Leser es etwa
erwarten zu dürfen glauben, so ist nicht zu vergessen, dass wir durch
den Gang unserer Berichterstattung innerhalb dieses unseres XIL Ab-
schnittes gegen die genaue Zeitfolge uns verstiessen. Die verschiede-
nen Druckschriften und auch Handschriften aus der zweiten Hälfte
des XV. Jahrhunderts, von denen im 54. Kapitel die Rede war, sind
sämmtlich nach, zum Theil recht lange nach der Abreise Regiomon-
tans von Leipzig entstanden, und wenn wir sie vorwegnahmen, so
war der Grund, wie wir jetzt sagen wollen, ein doppelter. Der eine
Grund liegt in dem durchaus elementaren Standpunkte, welchen jene
Schriften festhalten, die überdies herzlich wenig enthalten , was nicht
nachweislich von Anderen anderwärts längst gelehrt worden war. Der
andere Grund aber ist, dass bei dieser unserer Anordnung deutlicher
hervortritt, in wie gewaltiger Riesengrösse Regiomoutanus aus seiner
Zeit hervorragt, mag man ihn mit denen vergleichen, die unmittelbar
vor ihm, oder mit denen, die unmittelbar nach ihm wirkten.
Genug, Peurbach nahm den kaum dem Kindesalter entwachsenen
Schüler an und behielt ihn in seiner nächsten Umgebung so lange er
lebte. Wegen zu grosser Jugend soll Regiomoutanus nicht vor 1457
zum Magister ernannt worden sein, während er früher schon mit
Vorlesungen betraut war, und darin liegt wohl die Veranlassung dafür,
dass ein naher Freund seines Lehrers schon 1452 von ihm als Magister
Johannes schrieb, noch bevor er diesen Titel führen durfte^). So
hatte ihn Peurbach sich frühzeitig in jeder Beziehung zum Gehilfen
herangebildet, und so setzte er ihn später zum Erben seiner Arbeiten
ein. Schon zweimal (S. 185 und 210) hatten wir Gelegenheit von
der Almagest-Uebersetzung zu reden, welche Peurbach, vom Cardinal
Bessarion angeeifert, sich als wichtige Aufgabe gesetzt hatte. Die
letzten Worte des sterbenden Peurbach an Regiomontanus sind von
diesem der Nachwelt überliefert worden^). In rührend schöner Weise
mahnt er ihn an jene Uebersetzung. Er hinterlasse ihm als heiliges
Vermächtniss das Werk zu vollenden, und so Bessarion's Wünschen
Genüge zu leisten.,
Regiomontan trat die Erbschaft an. Das erste Ziel, welches er
anstreben musste, war, sich die griechische Sprache vollständig zu
eigen zu machen, und zu diesem Zwecke begab er sich wahrschein-
lich noch 1461 nach Rom, wohin Bessarion ihn schon früher, aller-
') Czerny im Arcliiv für österreicbisclie Greschichte LXXII, 288, Note 3.
-) Doppelmayr, S. 2 Note b.
256 55. Kapitel.
dings als vermuthlichen Begleiter Peurbach's eingeladen hatte. Dem
Studium der griechischen Sprache widmete sich der junge Deutsche
anfangs unter Leitung von Georg von Trapezunt, später selbständig,
indem er theils als Mittel zur Aneignung der Sprache, theils als
Selbstzweck eine grosse Menge älterer griechischer Handschriften,
die in Rom vorhanden waren, abschrieb. Es waren meistens Mathe-
matiker, welche abgeschrieben wurden, aber auch Bücher anderen
Inhaltes, z. B. ein griechisches neues Testament. Eine Abschrift des
Almagestes zu machen war unnöthig, da eine von Bessarion selbst
angefertigte zu Uebersetzungszwecken zur Verfügung stand. Bessa-
rion, der fortwährend vom Papste zu wichtigen kirchlich-diplomatischen
Geschäften in Anspruch genommen wurde, musste etwa im Mai 1463
Rom verlassen, um nach Griechenland zu reisen. Regiomontan be-
gleitete ihn bis Venedig. Dann wechselte sein Aufenthalt, wie er
vorher gewechselt hatte. Wir kennen eine ganze Reihe von Städten,
in welchen Regiomontanus sich aufgehalten hat: Rom zu wiederholten
Malen, Viterbo, Ferrara, Padua, Venedig, aber die Reihenfolge, in
welcher der Wohnungswechsel stattfand, ist nicht vollständig ge-
sichert. Von Regiomontanus Aufenthalt in Viterbo kennen wir einige
astronomische Beobachtungen vom Sommer und Herbst 1462. In
Ferrara verkehrte er mit dem Astronomen Bianchini, aber auch
mit den der dortigen Universität zur Zierde gereichenden Humanisten
Theodor von Gaza und Guarini. Unter Theodor von Gaza^s
Anleitung brachte er es dahin, gi-iechische Verse machen zu können,
und in Ferrara war es auch, dass er die Textreinigung des Alma-
gestes vollzog, ohne welche an eine richtige Uebersetzung nicht zu
denken war. Ob er in Ferrara auch mathematische Vorträge in
griechischer Sprache gehalten hat, wie ein Bericht meldet^), sei da-
hingestellt. Das Auffallendste daran wäre, dass für eine solche Vor-
lesung sich Zuhörer gefunden hätten. Von Ferrara scheint Regio-
montan sich nach Venedig begeben zu haben, von wo er vielleicht
im März und April 1464 einen Abstecher nach Padua machte. Jeden-
falls sind Briefe aus Venedig vom 27. Juli 1463, Februar, 27. Juni
und 6. Juli 1464 vorhanden, sowie eine Mondfinsternissbeobachtung
in Padua vom 2. April 1464. In Padua hielt Regiomontan lateinische
Vorträge über den arabischen Astronomen Alfraganus und begann
dieselbe mit einer Einleitung, welche als erste abendländische
Leistung auf dem Gebiete der Geschichte der Mathematik
unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen wird. Eine noch weit
umfassendere Thätigkeit übte Regiomontanus in Venedig aus. Dort
') D o p ij e 1 m a y r S. 4.
Deutsche Universitäten. Regiomontanns. 257
wurde das in Rom begonnene Werk De triangulis omnimodis
vollendet, dort entstand eine Streitschrift gegen Cusanus. In
Venedig beabsichtigte Regiomontan die Rückkehr seines Gönners
Bessarion aus Griechenland abzuwarten, aber sie verzögerte sich weit
über alles Erwarten, und so kehrte Regiomontan nach Rom zurück,
wo er jedenfalls am (). October 14G4 wieder beobachtet hat. In die
Zeit dieses zweiten römischen Aufenthaltes fällt eine Niederschrift
einer Kritik der Arbeiten Georgs von Trapezunt über Ptole-
mäus und Theou. Impudentissime atque perversissime hlatorator — un-
verschämtestes und verkehrtestes Plappermaul — ist die Anrede, mit
welcher jene Kritik schliesst, indem Regiomontan sich persönlich an
seinen Gegner wendet. Solche Ausdrücke liefen zwar der an Höf-
lichkeit zwischen wissenschaftlichen Gegnern nicht gewöhnten Sitte
der Zeit keineswegs zuwider, bargen aber bei der anderweitigen Sitte,
es bei Worten nicht bewenden zu lassen, sondern Dolch oder Gift
entscheiden zu lassen, wer der Unterliegende sei, manche Gefahr in
sich. Regiomontan mag sich dem nicht verschlossen haben, was ihm
bei längerem Aufenthalte in Rom bei überdies fortdauernder Ab-
wesenheit seines Beschützers Bessarion drohte, und so verliess er
1468 den gefährlichen Boden. Er kehrte nach Wien zurück, und
wie er schon als Baccalaureus, in Vei'tretung Peurbach's als junger
Magister ebeudort 1458 über Perspective, 1460 über Euklid gelesen
hatte, begann er neuerdings eine Lehrthätigkeit auszuüben, wenn
auch nicht als Inhaber einer mathematischen Professur, die es auch
jetzt in Wien noch nicht gab^). Vor Jahresfrist erfolgte ein neuer
Wohnungswechsel. Der Ungarkönig Mathias Corvinus berief Regio-
montan mit dem sehr stattlichen Jahresgehalte von 200 Goldgiüden
nach Ofen zur Ordnung und Beaufsichtigung einer unter Aufwendung
reicher Mittel angelegten Büchersammlung. Ofen wurde der Ent-
stehungsort eines abermaligen neuen Werkes von Regiomontanns,
der Tahiüae Diredionum. Sei es dass Regiomontanus jetzt mehr
und mehr das Bedürfniss empfand, einmal eine Zeit lang ausschliess-
lich den eigenen Studien zu leben, sei es dass Kriegshändel des
Königs Mathias eine Aenderung des Aufenthaltes wünschenswerth
machten, im Sommer 1471 ist Regiomontan weit von Ofen entfernt
in der Reichsstadt Nürnberg, deren Rath ihm sodann durch Beschluss
vom 29. November jenes Jahres die Erlaubniss zu längerem Verweilen
gewährte. Ob mit jener Erlaubniss ein bestimmter Auftrag zu öffent-
lichen Lehrvorträgen verbunden war, wie es von einer Seite berichtet
wird, steht actenmässig noch nicht fest. Regiomontan's Hauptab-
') Günther, Unterricht Mittela. S. 242 gegen Doppelmayr S.
Cantor , Geschichte der Mathem. II. 2. Aufl. 17
258 oö. Kapitel.
sieht war, gute zum Theil neu erfundene oder verbesserte Vorrich-
tungen zur Durchforschung des Himmels zu beschaffen, sie im Verein
mit Gelehrten jeder Herkunft anzuwenden. Beides erhoffte Regio -
montan von dem Gewerbfieiss und dem unermesslichen Fremden-
verkehr der ersten Handelsstadt in Süddeutschland, und grade danim
hatte er sie, gleichsam den Mittelpunkt von Europa, zur ewigen
Wohnstätte sich auserlesen^). Aber die Ziele steckten sich bald noch
weiter. In Nürnberg waren Druckerwerkstätten entstanden. Ihre
Thätigkeit sollte in den Dienst der mathematischen und astronomischen
Wissenschaft gestellt werden, wie man es auch in Italien soeben zu
thun begann. Ein reicher Nürnberger, Bernhard Walther, trat
zu Regiomontan in freundschaftlichste Beziehungen und richtete für
ihn drei Räumlichkeiten her, eine Sternwarte, eine Werkstätte zur
Anfertigung von Beobachtungsvorrichtungen, eine Druckerei. Schon
war der Plan entworfen, welche Werke gi-osser Mathematiker ver-
vielfältigt werden sollten, schon erschienen zwischen 1471 und 1475
unter Regiomontan's Leitung die nachgelassenen Planetentheorieen
seines geliebten Lehrers Peurbach-), die Astronomica des Manilius,
ein Verzeichniss der zum Drucke bestimmten Schriften ^j, ein Tabellen-
werk Regiomontan's selbst, da war es mit der auserlesenen ewigen
Wohnstätte schon wieder zu Ende. Papst Sixtus IV. stellte die
niemals als erledigt erachtete Aufgabe der Kalenderver-
besserung auf die Tagesordnung. Regiomontanus sollte die
Aufgabe lösen, und ihn um so geneigter zu machen, den päpstlichen
Wunsch zu ei-füllen, verband Sixtus IV. mit der Berufung nach Rom
die Ernennung zum Bischof von Regensburg. Einer in solche Form
sich kleidenden Aufforderung war nicht zu widerstehen. Im Herbste
1475 reiste Regiomontan nach Italien, um nicht wiederzukehren. Der
6. Juni 1476 war sein Todestag. Er starb in Rom und wurde im
Pantheon bestattet. Als Todesursache wird die Pest angegeben, eine
dunkle Sage spricht von Gift und nennt die Söhne Georgs von Trape-
zunt als die Schuldigen *J. Wir haben der Erzählung der Lebens-
geschichte Regiomontan's eine unverhältnissmässige Länge gegeben.
Wir haben es desshalb gethan, um die Unstetigkeit seines fast hei-
mathslosen ümherwanderns der Grösse seiner Leistungen als Hinter-
grund dienen zu lassen, und um ermessen zu können, was die Wissen-
^) Eam enim mihi delegi domum perpetuum schrieb Regiomontanus unter
dem 4. Juli 1471. -) Theoricae planetarum novae s. l. et a. ^) Ein Abdruck nach
dem Original bei Ch. G. Schwarz, De origitie typograpliie Pars. III, p. 54.
*) Diese Todesursache nannte schon Melanchthon in einer 1549 gehaltenen
Lobrede auf Regiomontanus. Fama est venenum ei datnm esse a Trapezontü
filiis. Yergl. Corpus Beformatorum Vol. XI, p. 825 (1843).
Deutsche Universitäten. Regiomontanns. 259
Schaft au dem bei seinem Tode erst 40jährigen Gelehrten verloren
hat, der nebenbei auch sogar als Dichter gekrönt war, wenn der als
Cod. 367 G. 27 bezeichneten Handschrift des Klosters Melk Glaube
geschenkt werden darf, in welcher eiiie Ueberschrift : Compositio
quadrantis Reverend. Mgi-. Johannis de Kunisperg, astronomi et poete
laureati ^) lautet.
Wir müssen nun seine einzelnen mathematischen Leistungen be-
sprechen, wie sie theils in besonderen Schriften, theils in Briefen
von seiner Hand sich erhalten haben. Wir beginnen mit der Angabe
der wichtigsten Druckveröffentlichuugen , welche Regiomontanns, wie
wir sagten, selbst vorbereitete. Das Meiste davon wird er hand-
schriftlich sich erworben und geistig sich angeeignet haben, als er
1461 bis 1462 zuerst in Rom war. Es bildet also den wissenschaft-
lichen Grundstock, welchen Regiomontanns besass, und den zu kennen
auch für uns nothwendig ist, wenn wir darüber uns klar werden
wollen, wie viel eigne Zuthat in den verschiedenen nachher zu be-
sprechenden Werken ent|ialten ist^). Die Cosmographie, der Alma-
gest und das Quadripartitum des Ptolemäus stehen an der Spitze.
Die Erläuterungen Theons von Alexandria zum Almagest fehlen
nicht. Euklid's Elemente mit dem Anaphorikos des Hypsikles waren
zum Drucke bestimmt, zwar nach der Ausgabe des Campanus, aber
frei von den Fehlern, die dieser verschuldet hatte. Eine verbesserte
Uebersetzung des Archimed unter Zugrundelegung der von Jacob von
Cremona ausgeführten war vorgesehen, ebenso die Kegelschnitte des
Apollonius, die Sphärik des Menelaus, die Sphärik des Theodosius.
Der Cylinderschnitt des Serenus und die mechanischen Probleme des
Aristoteles standen gleichfalls auf der Liste. Von diesen allen sollten
wohlverstanden keine griechischen Textausgaben, sondern lateinische
Uebersetzungen gedruckt werden, welche Regiomontanns, wenn auch
unter Benutzung schon vorhandener Uebersetzungen, neu zu schaffen
gesonnen war, vielleicht zum Theile schon angefertigt hatte. Dazu
kam der beabsichtigte Druck einiger in lateinischer Sprache geschrie-
benen Werke, der Arithmetik des Jordanus, dessen arithmetischer
Data (die Schrift De numeris datis wird damit gemeint sein?) und
des Quadripartitum (vermuthlich des so betitelten Werkes von De
Muris). Durch andei-e Quellen können wir die Liste noch um zwei
Werke vergrössem, welche Regiomontan genau kannte, vielleicht im
Drucke herausgeben wollte: den Algorithmus demonstratus hat er in
') Curtze, brieflich. -) H. Petz^ Urkundliche. Nachrichten über den
literarischen Nachlass Regiomontan's und B. Walther's in den Mittheilungen
'des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg YII, 237—262 (1888).
17*
260 55. Kapitel.
Wien sich abgeschrieben, und seine noch manches Andere, z. B. die bei
Jordanus vorhandene allgemeine indische Regel zur Auffindung der Seite
des regelmässigen Sehnenvielecks (S. 83) enthaltende Handschrift befindet
sich in Wien ^). Er hat den Diophant in Venedig entdeckt. Das Pro-
gramm der beabsichtigten Druckgebungen wäre aber auch jetzt noch
nicht vollständig, wenn wir nicht einige von den eigenen Schriften Re-
giomontan's nennten, die gleichfalls der Presse übergeben werden sollten.
Die fünf Bücher über Dreiecke, Erläuterungen zu den von Eutokius
nicht mit solchen versehenen Büchern des Archimed, geometrische
Aufgaben jeder Art, astronomische Aufgaben mit Beziehungen zum
Almagest, Gedanken über die Neuordnung des Kirchenkalenders, so
lauten die Aufschriften selbständiger Werke, zu welchen noch eine
ganze Anzahl von Streitschriften kam. Gegen Georg von Trapezunt
sollte Theon von Alexandria in Schutz genommen, gegen Nicolaus
von Cusa das Unzutreffende seiner Quadraturversuche nachgewiesen
werden. Längst verstorbene Schriftsteller blieben aber auch nicht
mit Angriffen verschont, wenn wir als Beispiel nur etwa eine Schrift
gegen Campanus nennen wollen, in welcher beabsichtigt war nachzu-
weisen, wie nothwendig es sei, dessen persönliche Meinungsäusserungen
aus der Euklidausgabe zu entfernen.
Besässen wir von Regiomontanus nichts als diese Verzeichnisse
fremder und eigener zum Drucke mehr oder weniger vorbereiteter
Werke, so würden sie genügen, uns mit Staunen über den Umfang
der Gelehrsamkeit und über die Vielseitigkeit des Wissens des seltenen
Mannes zu erfüllen, der die Vollendung des 40. Lebensjahres grade
erreichte. In Bezug auf einige der genannten Schriften geht unser
Wissen leider über die Kenntniss der Titel nicht hinaus. Sicherlich
ist es tief zu beklagen, dass von den geometrischen Aufgaben, von
der Arbeit über Kalenderverbesserung, von den Erläuterungen zu
Archimed nichts sich erhalten zu haben seheint.
Von den Schriften, welche nach und nach im Drucke veröffent-
licht worden sind, müssen wir wohl zuerst die Einleitungsrede
zu den in Padua gehaltenen Vorträgen über Alfraganus-)
^) M. Curtze, Die Quadratwurzelformel des Heron bei den Arabern und
bei Eegiomontau und damit Zusammenhängendes. Zeitschr. Math. Phys. XLII,
Hist.-liter. Abthlg. S. 145 bis 152. ^) Der Titel des seltenen 1537 in Nürn-
berg gedruckten Bandes, der diese Rede enthält, lautet: Continentur in hoc
lihro. Eudimenta astronomica Älfragani. Item Älbategnius astronomus peritis-
simus de motu stellarum, ex observationibus tum. propriis, tum Ptolemaei, omnia
cum demonstrationibus Geometricis et Additiombus loannis de Begiomonte. Item
oratio introductoria in omnes scientias Mathematicas Joannis de Begiomonte,
Patavii habita, cum Alfraganum publice praelegeret. Eiusdem utilissima intro-
ductio in elementa Enclidis. Item Epistola Philippi Melanthonis nuncupatoria,
Deutsche Universitäten. Regiomontanus. 261
besprechen. Ihre Wichtigkeit liegt insbesondere darin, dass sie auf
das mathematische Wissen Regiomontan's und die damals verbreiteten
geschichtlichen Meinungen ein helles Licht wirft. Seit zwei Jahren
und mehr, so beginnt Regiomontanus, habe er keine Vorlesung ge-
halten, der ihm gegenwärtig gewordenen Aufforderung könne er trotz
gerechten Bangens nicht widerstehen. Um die Zuhörer zu dem eigent-
lichen Gegenstande, der Erörterung der Lehren des Alfraganus, vor-
zubereiten, wolle er einen raschen Blick über die Gesammtwissenschaft
der Mathematik werfen. Sie sei die Wissenschaft von den Grössen
und zerfalle in zwei Theile, Geometrie und Arithmetik, je nachdem
die behandelte Grösse eine stetige oder eine Zahlengrösse sei. Die
Geometrie entstand in Aegypten, hervorgerufen durch die Noth wen-
digkeit, die bei den regelmässigen Nilüberschwemmungen sich ver-
wischenden Ackergrenzen wieder herzustellen. Viele haben ihre Lehren
niedergeschrieben. Euklid von Megara sammelte dieselben und ver-
einigte in 13 Büchern, was er da und dort auflas^). Hypsikles
fügte zwei Bücher bei. Boethius übersetzte alle 15 Bücher ins Latei-
nische, gab aber den Text nicht, wie er im Griechischen vorliegt^).
Später haben Atelhard und Alfred und endlich Campanus die 15
Bücher unter dem einen Namen Euklid's neu bearbeitet, die Ersten
elegant und sehr kurz, der Letzte mit grosser Klarheit. Nun folgen
ApoUonius mit seinen noch nicht übersetzten Kegelschnitten und
Archimed, dessen Schriften unter Papst Nicolaus V. durch Jacob von
Cremona übersetzt wurden. In dessen Schrift über Spirallinien ist
versucht die Kreislinie als gerade Linie darzustellen, um die Quadratur
des Kreises zu erhalten, womit viele alte Gelehrte sich beschäftigten,
ohne dass bis zu Aristoteles etwas erreicht worden sei, und in unserer
Zeit warten einige hochberühmte Männer auf diesen Ruhm^j. Archi-
med hat auch selbst eine Kreismessung u. s. w. verfasst. ApoUonius
wird, wenn er erst einmal aus dem Griechischen ins Lateinische über-
setzt ist, die allgemeine Bewunderung erregen. Um nicht ins Un-
ermessliche zu schweifen, wolle er nur Eutokius, den Erklärer des
Archimed, Theodosius, Menelaus als Schriftsteller über Sphärik nennen,
sehr viele andere Geometer, die in verschiedenen Sprachen schrieben,
verschweigen. Nun zur Arithmetik. Wo dieselbe entstanden, sei
ad Senatum Norimbergensem. Ausserdem ist die Rede aber auch irrthümlich
in Melanchthon's Werken abgedruckt worden. Corpus Beformatorum (ed. C. G.
Br et schneid er) XI, 531—544 (1843).
^) coepit in tredecim libros, quos juste vocavit Elementa, quod ex eis omnes
disciplinae pendeant^ conclusioyies passim lectas conscribere. ^) quamvis commen-
tum non, ut in Graeco jacet, expresserit. ^) cuius rei gloriam nonnulli nostra
tempestate viri clarissimi iwaestdlantim:
262 ö5. Kapitel.
kaum zu sagen, Pythagoras habe zwar durch sein Wissen von den
Zahlen Unsterblichkeit erlangt, nachdem er dasselbe von Aegyptern
und Arabern sich erwarb, aber würdigere Grundlagen schuf Euklid
in seinem 7., 8., 9. Buche, aus welchen Jordanus zehn Bücher
Elemente entnahm. Von da an verfasste derselbe auch drei sehr
schöne Bücher De numeris datis. Diophant's 13 ungemein feine
Bücher hat bisher noch Niemand aus dem Griechischen ins Latei-
nische übersetzt. In ihnen ist die Blüthe der ganzen Arithmetik ver-
borgen, nämlich die ars rei et census, welche man heute mit ara-
bischem Namen Algebra nennt ^). Als einen in diesen Dingen gelehrten
Mann unter den lateinischen Völkern finde ich Bianchini. Bei uns
hat man das Quadripartitum numerorum, ein ausgezeichnetes Buch,
den Algorithmus demonstratus und die Arithmetik des Boethius, die
aas Nikomachus geschöpft ist. Barlaam hat in sechs Büchern die
Rechenkunst griechisch dargestellt. Hierauf geht Regiomontan zur
Geschichte der Astronomie über. Wir dürfen rasch darüber hinweg-
gehen und führen nur an, dass ein geivisscr Flato von Tivoli den
Albategnius, ein gewisser Gerard von Cremona den Spanier Gebar
übersetzt habe, Ausdrncksweisen, welche in uns Zweifel rege machen
könnten, ob Regiomontan diese TJebersetzungen wohl genauer gekannt
habe, wenn sich nicht, wie wir weiter unten sehen werden, die Be-
kanntschaft mit der zweitgenannteu Uebersetzung beweisen Hesse.
Noch kürzer berühren wir, dass Regiomontan auch sonstiger Zweige
der angewandten Mathematik gedenkt, dass er mit wohlthuender
Wärme das Lob seines Lehrers und Freundes Peurbach verkündet,
dass er nach dem geschichtlichen Ueberblicke auch noch in den üb-
lichen Redensarten über den mannigfachen Nutzen der Mathematik
sich ergeht.
Aus dem, was hier etwas weitläufiger aus dem geschichtlichen
Theile ausgezogen ist, wird man die schon althergebrachte Verwechs-
lung des Mathematikers Euklid mit Euklid von Megara kaum hervor-
zuheben haben. Scheint doch Regiomontan von Euklid's Persönlich-
keit eine sehr geringe Kenntniss gehabt zu haben. Jener Druck von
1537, in welchem die geschichtHche Einleitung zur Alfraganvorlesung
veröffentlicht ist, enthält auch eine Introductio in elementa
Euclidis von Regiomontanus. Sie sollte wahrscheinlich die Einlei-
tung zu der beabsichtigten Euklidausgabe bilden, und die in Nürnberg
noch vorhandene Originalhandschrift steht auf den ersten Seiten der
*) Diophanti autem tredecim libros suUilissimos nemo usque hac ex Graecis
Latinos fecit, in quibus flos ipse totius Arithmeticae latet, ars videlicet rei et
census quam hodie vocant Ahjebram arabico nomine.
Deutsche Universitäten. Regioniontanus. 263
durch Regiomontan abgeschriebenen Euklidübersetzung des Atelhard ^).
Darin findet sich die Ungeheuerlichkeit, die Geometrie sei von Euklid
arabisch verfasst , von Atelhard ins Lateinische übersetzt worden ! ^)
So vorsichtig uns dergleichen allen Aussagen gegenüber machen muss,
die mit Euklid zusammenhängen ^ können wir doch nicht umhin, bei
dem Berichte der paduaner Rede von einer Alfred'schen Euklidbear-
beituug zu verweilen. Ist damit eine Uebersetzung gemeint, die zur
Zeit König Alfred des Grossen von England, mithin in der zweiten
Hälfte des IX. Jahrhunderts entstanden sei? Steht damit in halbem
Einklänge jener englische Bericht von einer Euklidübersetzung zur
Zeit Königs Athelstane (S. 102), der als zweiter Nachfolger Alfreds
924 — 941 regierte? Wir können nur die Frage anregen, nicht be-
antworten.
Die Bedeutung der griechischen Mathematiker schildert Regio-
montan so überzeugt, dass man annehmen darf, er habe, als er die
Rede in Padua hielt, dieselben genau gekannt. Für Euklid, für Ar-
chimed und ApoUonius, für Hypsikles, Menelaus, Theodosius, Eutokius
steht dem auch gewiss kein Zweifel gegenüber. Aber wie verhält
es sich mit den 13 Büchern des Diophant? Regiomontan kennt
ihre Zahl, hat er aber wirklich 13 Bücher selbst gekannt? Sein
Briefwechsel giebt uns darauf Antwort und gestattet zugleich eine
angenäherte Zeitbestimmung jener Vorlesung in Padua, welche mit
anderen Zeitbestimmungsgründen im Einklänge steht. Regiomontan
sagt am Anfange der Rede, er habe seit zwei Jahren und mehr keine
Vorlesung gehalten. Seine erste wiener Lehrthätigkeit endete 1461,
die Rede in Padua muss demnach etwa in den ersten Monaten von
1464 gehalten worden sein. Nun besitzen wir einen Brief ^), welchen
Regiomontanus aus Venedig an Bianchini schrieb. Der Brief ist nicht
datirt, aber er ist die Antwort auf einen Brief Bianchini's vom
5. Februar 1464, der als am 11. dieses Monats Februar, undecima
huius mensis Februarii, in Venedig angekommen bezeichnet wird.
Regiomontan's Brief ist also auch aus dem Monate Februar 1464.
Hier erzählt Regiomontan dem Freunde im Vertrauen, er habe jetzt
in Venedig den griechischen, noch nicht ins Lateinische übersetzten
Arithmetiker Diophant gefunden. Derselbe verspreche in der Vor-
rede 13 Bücher, aber die aufgefundene Handschrift enthalte deren
^) M. Curtze im Literarischen Centralblatt vom 30. Juli 1892, S. 1092.
^) Kästner II, 507: Incipit ars Geometriae continens 364 propositiones ab
Euclide in Arabico compositae et ah Atelhardo Gothico in latinum assumpta
In der Originalhandschrift steht nicht Gothico sondern Goth. ^) Christ.
Theoph. De Murr, Memordbilia Bibliothecarum publicarum Norimbergensium
et universitatis Ältdorfinae, Pars I, p. 135 (1786).
264 55. Kapitel.
nur sechs. Würde eiu vollständiges Exemplar sich auftreiben lassen,
so wollte er wegen dessen Schönheit und Schwierigkeit eine Ueber-
setzung besorgen, so viel Griechisch, als dieses erfordere, habe er
im Hause Bessarion's gelernt. Doch fragt er auch Bianchini's Rath,
ob dieser meine, man solle schon die sechs Bücher übersetzen, damit
die lateinische Literatur dieses neuen überaus werthvollen Geschenkes
nicht entbehre. Von späterer Auffindung einer ergänzenden Hand-
schrift ist nirgend die Rede, wie wir ja aiich wissen (Bd. I, S. 437),
dass auch im XHI. Jahrhunderte schon nicht mehr als sechs Bücher
aufzutreiben waren. Die paduauer Rede berichtet offenbar mit gleicher
Begeisterung wie der Brief an Bianchini von dem gleichen Funde,
und nehmen wir an, Rede und Brief seien annähernd gleichzeitig,
die Rede natürlich etwas später, so kommen wir wieder dazu, sie
(S. 256) in den Monat März oder April 1464 zu verlegen.
Damals war ein anderes Werk Regiomontau's schon sehr weit
gediehen. Wir haben zwei Briefe Bianchini's vom 21. November 1463
und vom 5. Februar 1464. Zwischen diese fällt ein Brief Regiomon-
tan's, der wieder kein Datum trägt, aber durch seine Stellung zwischen
jenen Briefen hinlänglich bestimmt ist. Er muss um Neujahr 1464
geschrieben sein. Damals sagte Regiomontan, er werde Bianchini
nächstens die Bücher von den Dreiecken schicken, welche er ge-
schrieben, aber gegenwärtig nicht bei sich habe; er lasse sie aus
Rom kommen^). Offenbar handelt es sich hier um die hochbedeutende
Schrift De triangulis omnimodis libri quinque, welche 1533
im Drucke herauskam. Wenn auch Griechen und Araber, um nur
die Völker zu nennen, deren Leistungen Regiomontan bekannt werden
konnten, der Trigonometrie zu einer hervorragenden Entwickelung
verholfen hatten, wenn auch die Sehnentafeln der Einen, die Sinus-
tafeln und Schatten der Anderen ein rechnendes Verfahren in geo-
metrischen Aufgaben mit Einbeziehung von Winkelgrössen ermöglicht
hatten, darüber war doch noch Niemand hinausgegangen. Die Trigono-
metrie anders behandeln zu sollen als in Gestalt einer Einleitung zur
Astronomie war noch Niemand eingefallen, und diesen grossartigen
Fortschritt von einem einleitenden Kapitel zum selbständigen Wissen-
schaftstheil vollzog Regiomontan. Den Gedanken freilich führt er in
der von ihm verfassten Vorrede pietätsvoll auf den geliebten Lehrer
zurück. Peurbach habe bereits beschlossen eine Kunst der Dreiecke,
tnangidorum artem, zu schreiben, welche in den ersten sechs Büchern
des Almagest als Bedürfniss sich erweise. Der Tod hatte die Aus-
führung dieses Vorhabens verhindert. Weniger genau berichtete Regio-
1) Murr, 1. c. p. 90—91.
Deutsche Universitäten. Regiomontanus. 265
moutan über andere Vorarbeiten. Wir haben (^S. 262) gesagt, er
habe die Uebersetzung des Dschäbir ibn Aflah durch Gerhard von
Cremona gekannt. Genaue Vergleichung mit den Büchern De trian-
gulis hat dieses sichergestellt^), aber genannt ist diese Quelle nirgend.
Freilich war Regiomontans Arbeit erst bis zur Niederschrift einer
Vorrede und dem Druckfertigmachen des ersten Buches gediehen, als
auch er starb. Au die vier weiteren Bücher hatte er die letzte Hand
noch zu legen. Man sieht das daran, dass in den vier späteren
Büchern in Regiomontan's Handschrift die Nummern der Sätze fehlen,
auf welche rückbeziehend die Beweise gegründet sind. Man hätte
auch die Ungleichmässigkeit der Bezeichnung als Zeichen der Un-
fertigkeit erwähnen können. Im ersten Buche heissen die Dreiecke,
von denen gehandelt ist, immer ahc, in den Folgebüchern meistens
ahg , während das fünfte Buch zu der lateinischen Buchstabenfolge
ahc zurückkehrt. Auch in diesem Zustande war die Veröffentlichung
der nachgelassenen Handschrift eine Noth wendigkeit, welcher aber
der erste Besitzer sich nicht fügte. Walther war von Regiomontan,
als er die zweite und letzte Römerreise antrat, die Aufbewahrung seiner
Handschriften u. s. w. anvertraut worden, und als nun der Freund in der
Ferne starb, nahm Walther es nur zu genau mit dem Worte der
Aufbewahrung. Er hielt Alles, was er von Regiomontan's Hand be-
sass, ängstlich verschlossen, ohne es nur Jemand sehen zu lassen.
Walther selbst starb 1504 im Alter von 74 Jahren, und nun
hätte die Sorglosigkeit der Erben leicht die gleiche Folge haben
können wie die übertriebene Sorgfalt Walther's selbst, dass die werth-
vollen Handschriften nutzlos geblieben wären. Sie wurden da und
dorthin zerstreut. Manches scheint dabei zu Grunde gegangen zu sein.
Die fünf Bücher über Dreiecke kaufte Willibald Pirckheimer,
von welchem später noch die Rede sein wird, und er übergab sie
einem gleichfalls später noch zu nennenden Johannes Schöner zur
Herausgabe, die 1533 erfolgte.
Das I. Buch mit 57 Sätzen ist zunächst nur einleitender Natur.
Das Quadrat einer gegebenen Seite ist bekannt. Die Seite eines ge-
gebenen Quadrates ist bekannt. Die Summe gegebener Grössen ist be-
kannt. Der Unterschied gegebener Grössen ist bekannt. Zwei gegebene
Grössen stehen in dem Verhältnisse ihrer Maasszahlen u. s. w., u. s. w.
Der 19. dieser einleitenden Sätze behauptet, dass die Kenntniss dreier
von vier in Proportion stehenden Grössen genüge, damit auch die
*) Nassir Eddin Tüsi und Regiomontan von A, von Brauumühl (Abhand-
lungen der Kaiserl. Leop.-Carol. Deutschen Akademie der Naturforscher Bd. 71
Nr 2. Halle 1897).
266
55. Kapitel.
vierte bekannt sei. Alle diese Sätze, so einfach sie sind, werden in
euklidischer Art bewiesen, wobei jedesmal die Grössen durch ihre
Maasszahlen ersetzt sind. Euklid freilich imterliess es in einem solchen
Falle nie eine Vorfrage zu stellen, zu untersuchen, ob gegebenen
Grössen gegebene Zahlen wirklich entsprechen, ob Rationales vor-
liege oder nicht. Bei Regiomontanus ist nichts dergleichen zu finden.
Nicht als ob er in ungründlicher Weise an der Unterscheidung
zwischen Rationalem und Irrationalem vorüberginge, er macht vielmehr,
möchte man sagen, diese Unterscheidung dadurch entbehrlich, dass
er den Begriff des Bekanntseins anders fasst^). Bekannt
will er mit einem und demselben Worte jede Grösse genannt wissen,
die entweder genau bekannt, oder einer gegebenen Grösse beinahe
gleich ist. Der 20. Satz eröfi'net die eigentliche Trigonometrie. An
der beigefügten Figur (Fig. 38) wird erörtert, dass um den Eck-
punkt o. des bei c rechtwinkligen Dreiecks ahc
mit der Hypotenuse ah, als der grössten Drei-
ecksseite, als Halbmesser ein Kreis beschrieben
und ac bis zum Durchschnitte e mit der Kreis-
linie verlängert werden solle, dann sei hc der
Sinus des Bogens he, und die dritte Dreiecks-
seite ac sei gleich dem Sinus des Complementes^)
des Bogens he. Regiomontan wendet sich aber
von diesen Definitionen gleich wieder ab zu
den Dreiecksstücken, deren Kenntniss zu erlangen ist, ohne die eben
eingeführten Längen weiter zu benutzen. Im gleichschenkligen recht-
winkligen Dreiecke seien beide Winkel gleich. In demjenigen recht-
winkligen Dreiecke, dessen Hypotenuse doppelt so lang als eine Ka-
thete ist, sei der von diesen beiden Linien gebildete
spitze Winkel doppelt so gross als der andere. Der
dritte Dreieckswinkel ergebe sich aus den beiden an-
deren. Die dritte Seite eines rechtwinkligen Dreiecks
sei durch die beiden anderen gegeben. Der 28. Satz
führt zu dem Sinus zurück, indem er ausspricht, die
Winkel (Fig. 39) eines bei c rechtwinkligen Dreiecks
seien bekannt, wenn das Verhältniss zweier Seiten des
Dreiecks bekannt sei. So sei z. B. a & : ac = 9 : 7. Nim sei der
Halbmesser, welchen Regiomontan sinus rectus totus nennt, 60000
[Peurbach nahm ihn (S. 185) in der Länge von 600000 an], der Sinus
Fig. 38.
Fig. 39.
^) Quantitatem üjitur omnem quae aut nota iwaecise fuerit mit notae quan-
titati ferme aequalis univoce notam appeUahimus heisst es bei dem Satze, dass
die Seite eines gegebenen Quadrates bekannt sei, der die Ausziehung einer
Quadratwurzel einschliesst. -) aequaJe est sinui recto complementi arcus he.
Deutsche Universitäten. Eegiomontanus. 267
des -^ahc ist also oder ungefähr (fere) 46667, und diesem
Sinus entspricht ungefähr der Winkel von 51° 3'. Ist ferner
ac : ch -= 12 : 5,
so folgt wegen 12^ -f- 5^ = 13^, dass ah : ac = 13 : 12, und damit
ist wie vorher der Weg zur Kenntniss des Winkels ahc eröffnet^).
Umkehrungen dieser Aufgaben am rechtwinkligen Dreiecke folgen,
und dann kehrt die Darstellung wieder zu nicht trigonometrischen
Betrachtungen zurück. Die Lage der Höhe eines Dreiecks wird be-
sprochen und dabei des gemeinsamen Durchschnittes der drei
Höhen erwähnt, welchen Regiomontan anderwärts bewiesen habe^).
Der Satz selbst war übrigens schon Proklus bekannt^). Im 43. Satze
führen die beiden Abschnitte, welche die Höhe auf der Grundlinie
hervorbringt, den Namen casus, welcher uns bei Leonardo von Pisa
(S. 37) und bei Jordanus (S. 83) schon auffiel. Im 51. Satze ist der
zweideutige Fall besprochen, dass zwei Dreiecksseiten und ein spitzer
der einen Seite gegeoüberliegender Winkel gegeben seien, der aber
vollständig bestimmt werde, sobald man erfahre, ob die vom Schnitt-
punkte der gegebenen Seiten auf die dritte gefällte Senkrechte diese
selbst oder ihre Verlängerung treflFe.
Das II. Buch von 33 Sätzen beginnt mit dem Satze von der
Proportionalität zweier Dreiecksseiten zu den Sinussen der gegenüber-
liegenden Winkel*). Er soll (Fig. 40) am
Dreiecke ahg bewiesen werden, und zwar
dass ah : ag = sing : sin h. Ist h ^^ 90*^, so
bedarf der Satz ebensowenig eines weiteren
Beweises, als wenn h = g. Sei also h '^ g, 6 «k hl &
mithin von den gegenüberliegenden Seiten Fig ■lo-
ag > ah. Aus h wird mit hd = ag als
Halbmesser ein Kreisbogen beschrieben , ebenso aus g mit dem
gleichen Halbmesser. So zeigt sich fZ/i = sin&, aA: = sin^, ferner
aÄ- : dh ==ha : hd,
womit der Satz bewiesen ist. Aus ihm ergeben sich die Auflösungen
mannigfaltiger Aufgaben. Z. B. ein Dreieck zu finden, wenn folgende
drei Stücke bekannt sind: zwei Winkel und die Summe der ihnen
gegenüberliegenden Seiten (II, 2); zwei Winkel und der Umfang des
^) unde ut xmus angulo ahc cognoscendo nia parata est. ^) Tres autem
perpendiculares ülae in eodem puncto se intersecabimt, quod alio in loco demonstra-
tum tradidimus. ^) Proklos Commentar zu Euklid (ed. Friedlein) p. 72,
Z. 17 — 19. *) In omni triangulo rectilineo proportio lateris ad latus est tanquam
sinus recti anguli alterum eorum respicientis ad sinum rectum anguli reliquum
latus respicientis.
268 55. Kapitel.
Dreiecks (II, 7); das gegenseitige Verhältniss der drei Seiten und die
Länge einer Höhe (II, 8); das gegenseitige Verhältniss der drei Seiten
und der Flächeninhalt (II, 10). Wir erwähnen noch den Fall II, 15,
in welchem die Grundlinie, die Summe der beiden anderen Seiten
und der von ihnen eingeschlossene Winkel gegeben sind. Man hal-
birt (Fig. 41) den Winkel bei a durch ad, so muss sein
hd : dg ^ ah : ag
oder ah :hd ^ ag : dg, also auch
(ah + ag) : (hd -\- dg) = ah :hd ^= sin ad h : sin "- •
Hier ist ah -\- ag die gegebene Seitensumme, hd -\- dg die Grund-
linie, der Winkel -^ gleichfalls gegeben ; mithin ist auch der Winkel
adh und mit ihm der ahg sowie agh gegeben, und der Fall des
Satzes II, 2 ist wieder hergestellt. Eine weitere Aufgabe II, 24 sucht
Fig. 42.
aus den drei Dreiecksseiten den Durchmesser des Umkreises. Seien
(Fig. 42) ah, hg die beiden kleinsten Dreiecksseiten, so sind die
Winkel bei g und a spitz, und die Senkrechte hz trifft die ag zwischen
ihren beiden Endpunkten. Das Dreieck ahz ist alsdann winkelgleich
mit dem dhg und hz :ha ^ hg :hd. Die Höhe hz mit Hilfe der
drei Dreiecksseiten zu finden, ist schon in I, 46 gelehrt, somit sind
in der eben angeschriebenen Proportion hz, ha, hg gegeben und
dadurch hd bekannt. Der Satz II, 5 ist durch einen (in der Druck-
ausgabe allerdings durch einen Fehler entstellten) Vorschlag bemer-
kenswerth, welchen Regiomontan macht, indem er ihn freilich selbst
zur praktischen Anwendung nicht empfiehlt^). Sind in einem Drei-
ecke die beiden Seiten ah, ag (im Drucke steht irrthümlich hg) und
der von ihnen eingeschlossene Winkel hag gegeben, so ist damit
zugleich auch die Summe der beiden anderen Winkel ahg -\- agh
und das Verhältniss ihrer Sinus gegeben sin ahg : sin agh = ag : ah.
Dann bleibe aus den letzteren beiden Angaben die Winkel einzeln
') Non tarnen per hanc viam operanduin suadeo.
Deutsche Universitäten. Regiomontanus.
269
zu finden, und das sei im III. Buche gezeigt. Veimuthlich ist diese
letztere Verweisung selbst wieder ein Druckfehler, da der betreffende
Satz, wie wir weiter unten sehen werden, als IV, 23 sich vorfindet.
Zwei Aufgaben des zweiten Buches II, 12 und II, 23 haben regel-
mässig die Aufmerksamkeit der Leser dadurch gefesselt, dass sie
algebraisch behandelt sind. In II, 12 ist eine Seite und die zu ihr
gehörende Höhe gegeben. Ausserdem ist gegeben das Verhältniss der
beiden anderen Seiten, die dann einzeln gesucht werden. Die Schlüsse
Regiomontan's sind folgende, wobei wir nur die Wörter res, census
durch X, x^ ersetzen^). Es sei (Fig. 43) ah:ag = ^:b, also ah<.ag,
so liegt d näher bei h als bei g und
wählt eg als doppelte Unbekannte = 2x,
he = hg — 2x =20 — 2x in dem vor-
liegenden Falle, wo hg = 20. Daher
ist hd==10 — x und dessen Quadrat
= 100 + X' — 20 :i-. Bei ad ^ b wird
ad^ = 25, mithin
man mache de = hd. Man
Fig. 43.
ah' = hd^ + ad' = x' + 125
20:
Ebenso ist
dg = de + eg
10
dg' =
mithin
x' -{-20x-\-\00, ag'
{x' + 125
-x-^2x = \0-^x,
dg' + ad' = x'-+ 125 + 20x,
20a:) : {x' + 125 + 20:r) = 9 : 25,
woraus IQx' + 2000 = 680 a:
und was noch erübrigt, darüber werden die Vorschriften der Kunst
belehren^). Die andere Aufgabe II, 23 nimmt
als gegeben an den Unterschied zweier Seiten
^3, die von ihrem Durchschnittspunkte aus
gefällte Höhe =10 und den Unterschied der
Abschnitte der Grundlinie = 12. Weil (Fig. 44)
eg =^ 12 das vierfache von gh=^ 3 ist, muss die
Summe ah-\- ag das vierfache von hg sein. Re-
giomontan begründet diese Behauptung nicht,
von ihrer Richtigkeit kann man sich, wie folgt,
überzeugen. Es ist
Fig. 44.
ad' ^^ ah' — hd' = ag' — dg' = (ah -\- hg)' -
= {ah + hgf-{hd-\-egf.
Daraus folgt 2ah ■ hg -\~ hg' = 2hd ■ eg -\- eg'
{de + egf
') Hoc xyrohlema geometrico more absolvere non licuit hactenus, sed per artem
rei et census itl efficere conabimur. -) quocl restat x>raec^-)ta artis edocebnnt.
270 55 Kapitel.
oder (2 ah -j- hg) : (2.hd -{- eg) = eg : hg
beziehungsweise (ah -\- ag) :hg ^= eg :hg.
Heisst nun die Grundlinie x, so ist also ah -\- ag =^ 4x. Weiter ist
hd= -X 6; ah = 2x — -, folglich geht ah^= hd~-{- ad^ über
(2^-Y)'=(f-'^r+i'^'ö, d.
4:^2 — 6;r + -J = :^ — 6a; + 36 + 100
oder ein Vielfaches von x^ gleich einer ZahP).
Das III. Buch von 56 Sätzen führt den Verfasser zur Geometrie
der Kugel. Von Ausrechnungen von Winkeln oder Seiten ist dabei
keine Rede. Da erscheinen Sätze über Grösstekreise und deren Pa-
rallelkreise auf der Kugel, über die Pole solcher Kreise, die zwar
nicht definirt werden, unter welchen jedoch nur sphärische Mittel-
punkte verstanden sein können. Da heisst es III, 35, dass bei sphä-
rischen, d. h. aus Bögen von Grösstenkreisen derselben Kugel gebil-
deten Dreiecken Gleichheit aller Seiten (latera) auch die Gleichheit
der einander entsprechenden Winkel nach sich ziehe, ferner III, 36,
dass die Gleichheit zweier Seiten und des eingeschlossenen Winkels
von der Uebereinstimmung der beiden sphärischen Dreiecke auch in
den übrigen Stücken begleitet sei. Da lehrt III, 39 den Satz, dass
die drei Seiten eines Dreiecks zusammen kleiner als ein Grössterkreis
und III, 49, dass die drei Winkel zusammen grösser als zwei Rechte
sein müssen. Als Muster für dieses Buch scheint unmittelbar oder
mittelbar die Sphärik des Menelaus (Bd. I, S. 386) gedient zu haben.
Das IV. Buch von 34 Sätzen setzt in den 14 ersten Sätzen den
Gegenstand des III. Buches fort. In IV, 15 kommt zuerst wieder
das Wort Sinus vor, und IV, 16 spricht für das rechtwinklige sphä-
rische Dreieck den in IV, 17 auf alle sphärischen Dreiecke überhaupt
ausgedehnten Satz von der Proportionalität der Sinusse von Seiten
zu denen der gegenüberliegenden Winkel aus. Nun kommen die
beiden übrigen Sätze der sphärischen Trigonometrie für das recht-
winklige Dreieck. Um sie kürzer schreiben zu
können, mögen (Fig. 45) c die Hypotenuse, a, h
die Katheten, C, A, B die gegenüberliegenden
Winkel (C = 90«) bedeuten, so ist IV, 18 der
Satz sin ^ • cos & = cos i? und IV, 19 der Satz
cos c = cos a ■ cos 6. In IV, 21, 22, 23 sind Sätze
eingeschaltet, welche wieder der Ebene angehören, und auf deren
letzten in II, 5 hingewiesen worden war, welche aber Regiomontan
^) habebimus census aliquot aecßudes numero.
Deutsche Universitäten. Regfiomontanus.
271
offenbar in vollbewusster Absicht bis zum IV. Buche aufsparte, weil
sie hier ihre wichtigste Anwendung finden sollten. Es sind die Sätze,
welche aussprechen, zwei Bögeu seien einzeln bekannt, wenn das Ver-
hältniss ihrer Sinus und ausserdem ihre Summe, beziehungsweise ihre
Differenz gegeben, die Summe überdies kleiner als der Halbkreis sei,
eine Bedingung, von welcher IV, 23 wieder Abstand nimmt. Sind
(Fig. 46) ag und gh die beiden Bögen, deren Summe ah gegeben ist,
und ist ae = Biwagj hh = sin gh, also ae : hh= r : s gegeben^), so
ist entweder r = s und dann auch arc. ag ^= gh^= ^- ah oder die
Zahlen r, s sind ungleich, etwa r > s. Wegen Aaed (\)hhd ist
ae : hh=^ ad :hd = r:s und (ad -\- hd) :bd =^ (r -{- s) : s, hd = - ,— ah,
folglich bekannt dui-ch eine Sehnen- oder Sinustafel, in welcher man
die zum Bogen ah zugehörige Sehne
ah aufsuchen kann. Ist hd und hk
= -^ (ih bekannt, so kennt man auch
dJc. Würde man die Rechnung aus-
führen, welche Regiomontau nur an-
zudeuten sich begnügt, so käme
— s . / ag -{- l>g\
_^-.sm(arc.-^^)-
Ferner ist im rechtwinkligen Dreiecke
zak sowohl ^a als ak bekannt, also
auch sk. Im rechtwinkligen Dreiecke
zkd kennt man jetzt zk und dk d. h. zwei Seiten, somit auch den
Winkel dsk oder arc. gl, und arc. la ist die Hälfte von arc. a?>,
mithin ist äre. ag und arc. hg = arc, ah — arc. ag gefunden. Durch
Anwendung dieser drei Sätze IV, 21, 22, 23, an welche noch einige
Folgerungen sich anschliessen, kommt Regiomoutan zu den beiden
merkwürdigsten Sätzen IV, 33' und 34 seines ganzen Werkes, aus
den drei Winkeln des sphärischen Dreiecks könne man die
drei Seiten, aus den drei Seiten die drei Winkel erhalten.
Es braucht wohl kaum gesagt zu werden, dass eine Ableitung einer
geschmeidigen Formel nicht von Regiomontan erwartet werden darf.
Ihm genügt es zu zeigen, dass Rechnung zum Ziele führt, gleichwie
in dem Hilfssatze IV, 23, über den wir berichtet haben, sein Bestreben
auch nicht weiter ging. Aber auch in dieser Einschränkung des
Erreichten, des zu erreichen Versuchten ist der Satz IV, 33 ein un-
bedingt neuer, und dessen ganze Bedeutung tritt bei der Erwägung
^) ut sü proportio sinus ae ad sinum hh sicut r ad s.
dk =
Fig. 4G.
272 55. Kapitel.
hervor, wie schwer es einem iu ebener Geometrie geschulten Geiste
werden musste, sich in den Gedanken zu finden, es könnten drei
Winkel zur Bestimmung eines Dreiecks ausreichen. Regiomontan's
Satz IV, 33 ist sein unbestrittenes Eigenthum. Der Satz IV, 34 tritt
zwar schon bei Albattäni auf (Bd. I, S. 694), doch ist aller Grund
anzunehmen, Regiomontan habe bei Bearbeitung seiner Bücher von
den Dreiecken die Schriften jenes arabischen Astronomen auch in
der Uebersetzung durch Plato von Tivoli nicht gekannt, oder erst
seit sehr kurzer Zeit gekannt. Dieser Annahme widerspricht nicht
die Art und Weise, in der er in Padua von einem gewissen Plato
von Tivoli (S. 262) als Uebersetzer sprach ; ihr widerspricht nicht die
Anwendung des Wortes Sinus, welches aus jener Uebersetzung in
allgemeine Benutzung längst eingedrungen war, und unterstützt wird
sie durch den Umstand, dass er sonst in jener Uebersetzung doch
wohl auch auf die Cotangenten aufmerksam geworden wäre, die ihm
bei Fertigstellung des ersten Buches der Trianguli noch fremd waren.
Wir können diesen Schluss aus I, 27 ziehen, wo die Herleitung der
Winkel eines rechtwinkligen Dreiecks aus den beiden -Katheten auf
dem Umwege erfolgt, dass zuvor mit Hilfe des pythagoräischen Lehr-
satzes die Hypotenuse ermittelt wird, anders könne man den Winkel
nicht finden^).
Das V. Buch ist das kürzeste und schliesst nur 15 Sätze und
Aufgaben in sich, die meistens der sphärischen Trigonometrie an-
gehören. Es sind zum Theil zum zweiten Male auftretende Auf-
gaben, wie z. B. IV, 34 als V, 3 und als V, 4 sich wiederholt, nur
mit anderen Auflösungsmethoden, bei welchen der Sinus versus eine
Rolle spielt. Das Wort ist uns bei Leonardo von Pisa (S. 38)
begegnet. Seine Bedeutung ist der Unterschied zwischen dem Sinus
totus und dem Sinus des Complementwinkels: sin vers. a = 1 — cos«.
Der Sinus versus tritt schon in V, 2 auf, wo er Bestandttheil einer
ausseroi'dentlich verwickelten Proportion ist, welche in neuerer Be-
zeichnung immerhin etwas übersichtlicher als iu dem schleppenden
Wortlaute Regiomontan's
sin vers. C : (sin vers. c — sin vers. (a — h)) = sinus totus : sin a ■ sin h
aussieht. Erst im XV. Abschnitte werden wir einen Schriftsteller
kennen lernen, der die Bedeutung dieses ohne grössere Schwierigkeit
in cosc = cos a ■ cos h -f- sin a • &mh ■ cos C umzuwandelnden Satzes
zu würdigen wusste. Wir erwähnen weiter den Satz V, 7, dass in
einem sphärischen Dreiecke, dessen einer Winkel halbirt ist, die
Sinusse der durch die Winkelhalbirende auf der Grundlinie hervor-
^) nam ahsque eo propositum aftingenäi non erit potestas.
Deutsclie Universitäten. Regiomontanus. 273
gebrachten Abschnitte sich wie die Sinusse der anliegenden Seiten
verhalten. Endlich ist etwa über die Winkelbezeichnung zu bemerken,
dass dieselbe in den einzelnen Büchern wechselt. In den drei ersten
Büchern sind Grade und Minuten als Worte ausgesprochen, z. B. gra-
dus 36 et niinuta 52 in II, 27. Im IV. Buche bezeichnet ein Hori-
zontalstrich über der Zahl die Grade, neben welchen durch ein Pünkt-
chen getrennt, aber sonst nicht ausgezeichnet die Minuten erscheinen,
etwa 3G: 52. Beispiele sind häufig IV, 21, 22, 25, 26, 27, 34. Im
V. Buche kommen Zahlenbeispiele überhaupt nicht vor.
Zur Bestimmung des Zeitpunktes, zu welchem die fünf Bücher
von den Dreiecken wenigstens in erster Bearbeitung vollendet ge-
wesen sein müssen, diente uns (S. 264") ein um Neujahr 1464 von
Regiomontan an Bianchini gerichteter Brief. In dem gleichen Briefe
ist auch von einer anderen Arbeit die Rede, welche Regiomontan
damals beschäftigte^). Es war ein Tabellenwerk, welches unter dem
Namen Tabula primi mobilis im Jahre 1514 bei den berühmten
wiener Buchdruckern, den Gebrüdern Alantsee, vereinigt mit an-
deren Tafeln im Drucke erschien. Regiomontan selbst nennt sie
eine Tafel doppelten Einganges — usus tabidae est intrare cum
duohus numeris — und vielleicht dürfte dieses die erste Anwendung
der später landläufig gewordenen Ausdrucksweise sein. Bedeutet
wieder (wie S. 270) C den rechten Winkel eines sphärischen recht-
winkligen Dreiecks, c die gegenüberliegende Hypotenuse, a, 1) die
beiden Katheten und A, B die ihnen gegenüberliegenden Winkel,
so ist sin a == sin c • sin Ä. Die c wachsen von Grad zu Grad und
je eine solche Grösseubestimmung eines c steht unter dem Namen
numerus transversalis oben auf einer Folioseite. Den zweiten
Eingang in die Tabellen gestatten die gleichfalls um ganze Grade
sich verändernden Winkel Ä. Sie heissen numeri laterales, weil
sie an der Seite der Tafel auftreten. Daneben findet sich alsdann
die gegenüberliegende Kathete a ausgerechnet in Graden, Minuten
und Secunden. Ihr Name i.st der der numeri areales. Die An-
wendbarkeit der Tafel wäre bei den grossen Zwischenräumen, in
welchen die in der Tafel unmittelbar stehenden Eingangsgrössen von
einander abstehen, eine sehr beschränkte, wenn Regiomontan nicht
Sorge dafür getragen hätte, dass Proportionaltheile berechnet werden
können. Das geschieht, wie folgt. Ist c = 61^, A = 75°, so ist
^) Murr, Memorahilia Bibliotheearum piiblicarum Norimbergensium et uni-
versitatis Altdorfinae. Pars I, pag. 85 und 94—98. Vergleiche insbesondere
Pfleiderer S. 130 Note c und die Beschreibung der Tabula primi mobilis bei
Kästner, E, 526—535.
Cantob, Geschichte der Mathem. U. 2. Aufl. 18
274
55. Kapitel.
a = 62^ 45' 55" angegeben. Ist wieder bei c = 67°, A = 16^, so ist
a = 63'^ 16' 24" angegeben, um 30' 29" grösser als vorher, und diese
differentia descendens oder subiectitia steht unter dem obi-
gen a. Wäre A weiter 75° geblieben, aber c zu 68° angewachsen,
so ist tafelmässig a = 63° 35' 4" angegeben, d. h. 49' 9" mehr als
vorher, und diese differentia lateralis ist nun seitlich von dem
numerus arealis abgedruckt, so dass also ein kleines Theilchen des
mit der Transversalzahl 67° überschriebenen Blattes folgendermassen
aussieht :
laterales
areales
diflf. lateralis
75
62. 45. 55
30. 29
49. 9
76
63. 16. 24
28. 54
50. 15
In dem wiederholt genannten Briefe von der Jahreswende 1463 auf
1464 sind 40 Aufgaben der praktischen Astronomie gestellt, die alle
mittels der Tafel, wenn sie fertig sei, eine leichte Lösung finden
würden. Von den 40 Aufgaben sind 36, vermehrt um 27 andere,
also insgesammt 63 Aufgaben der Druckausgabe der Tabula primi
mobilis als Einleitung vorausgeschickt. Schon aus dieser nicht un-
wesentlichen Aenderung kann man schliessen, dass die Tabula primi
mobilis zu Anfang 1464 noch nicht vollständig druckreif war. Das
Gleiche folgt mit noch grösserer Bestimmtheit aus der 43., 44. und
60. Aufgabe der gedruckten Einleitung, in welchen der Name eines
anderen Tafelwerkes vorkommt, an welches Regiomontan 1464 noch
nicht dachte.
Wir meinen die Tabula directionum. Nach einer Angabe
des Geschichtsschreiber Thuanus soU Regiomontan 1475 in Nürnberg,
bevor er seine zweite Römerreise antrat, die Drucklegung besorgt
haben \). Diese Ausgabe, die allerdings nirgend genauer beschrieben
ist und darum vielfach angezweifelt wird, soll die Ueberschrift ge-
führt haben: Liidus Pannoniensis quem alias vocare lihuit talmlas
directionum, welche zu erkennen gäbe, dass sie in Ungarn berechnet
wurde. Eine zweite durchaus gesicherte Druckausgabe fertigte Er-
hardt Ratdolt 1490 in Augsburg. Ihr Titel lautet nur Opus tabu-
larum directionum profectionumque, und die Zeit der Berechnung wird
mit den Worten Anno Dei 1467 explicit feliciter angegeben. Im Jahre
1467 war aber Regiomontan noch nicht in Ungarn. Der Widerspruch
^) Doppelmayr S. 10 Note p.
Deutsche Universitäten. Regiomontanus. 275
ist nicht anders zu beseitigen, als indem man annimmt, die Tafeln
seien zwar 14G7 in Rom berechnet, aber erst einige Jahre später in
Ungarn zum Drucke bestimmt worden. Ihre wesentlich astrologische
Bestimmung würde uns gestatten schweigend an der Tabula directio-
num vorüberzugehen, fesselte nicht eine bestimmte Abtheilung der-
selben, die Tabula foecunda, in hohem Grade unsere Aufmerksam-
keit. Sie bietet uns von Grad zu Grad die trigonometrischen Tan-
genten der Winkel. Wir haben (S. 185) gesehen, dass Peurbach sich
eine Art von Arcustangenstafel anlegte, ferner (S. 272) dass Regio-
montan, trotz dieses freilich nur bedingten Vorganges seines Lehrers
und trotz des sicheren Vorganges Albattänis, bei Niederschrift der
fünf Bücher von den Dreiecken eine Tangentenanwendung noch nicht
kannte. Jetzt war dieser Fortschritt erfolgt, war zugleich ein wei-
terer Fortschritt eingetreten, der nicht sowohl der Trigonometrie als
dem Zahlenrechnen angehört. Die Tangenten , welche aber diesen
Namen noch nicht führen, sondern einfach numeri heissen^), sind
als ganzzahlige Längen berechnet, welche naturgemäss nach einer zum
voraus angenommenen Länge des Kreishalbmessers sich bemessen.
Die Tangente von 45" muss als dem Halbmesser gleich jene Zahl
uns erkennen lassen, und bei ihr findet sich") die Zahl 100000. Zum
ersten Male ist also hier reine Decimaltheilung eingetreten,
während Peurbach (S. 182) den Halbmesser zu GOOOOO, Regiomontan
selbst ( S. 26()) ihn zu 60000 annahm, und darin noch eine Vermengung
der alten Theilung nach Sechzigsteln mit der dem Stellungswerthe
der Ziffern entsprechenden Zehntheilung benutzte. Regiomontan ist
sich — und das stellen wir fast noch höher als den Fortschritt selbst
— klar bewusst gewesen, dass er einen solchen vollzog. In der 10.
der Tabula directionum vorausgeschickten Aufgabe heisst es ausdrück-
lich^), die Rechnung werde leichter, wenn man den Sinus totus zu
100000 wähle.
Noch grössere Genauigkeit suchte Regiomontanus in zwei Sinus-
tafeln zu erreichen, welche er ursprünglich den Büchern über die Drei-
ecke als Anhang beizufügen gedachte*). Bei der spätem Herausgabe
durch Schöner 1533 unterblieb dieses aber. Statt der Tafeln wurde
ein ganz anderer Anhang gedruckt, von welchem wir gleich zu reden
haben, und die Tafeln erschienen erst 1541, wenn auch durch den-
selben Herausgeber Johannes Schöner und in derselben nürnberger
') Kästner, I, 559 bei Gelegenheit einer Beschreibung einer Druckausgabe
der Tabula directionum von 1606. ^) Ebenda 1,557. ^) Pfleiderer S.29:
Facilius tarnen idem efficies si tabula tua maximum sinum haheat 100000.
*) In der Vorrede zu JDe triangulis heisst es: Ad haec demum accedit Tabulae
sinum noit minus utilis quam nova compilatio.
18''
276 55. Kapitel.
Druckerei bei Johann Petreius (oder Hans Peterlein) zum
Drucke befördert^) wie die Büclier De triangulis. Diese Sinustafelu
gehen in den Winkehi von Minute zu Minute und nehmen den Halb-
messer in der einen Tafel zu 6000000, in der anderen zu 10000000,
auch hier also mit bewusster, aber wahrscheinlich späterer Neuerung,
denn in Regiomontan's Compositio tabularum sinuum, dem Yor-
berichte zu den Tafeln, ist von der Tafel decimalen Halbmessers gar
nicht die Rede. Was die Tafel für den Halbmesser 6000000 betrifft,
so sagt Regiomontan ausdrücklich, er habe einige der Sinusse sogar
auf den Halbmesser 600000000 berechnet, aber die Tafeln im Ganzen
bei dem Maassstabe 6000000 belassen. Ein Halbmesser von 6000000,
sagt er überdies, genüge um in den Winkeln eine Genauigkeit von
Secunden zu erzielen, während man mit dem Halbmesser 60000 aus-
komme, falls man es bei Winkelminuten bewenden lasse.
Johannes Schöner, sagten wir soeben, habe den Büchern De
Triangulis statt der grossen Sinustafeln einen anderen Anhang bei-
gefügt. Es ist die Streitschrift gegen die Kreisquadraturen
von Cusanus. Sie besteht aus verschiedenen Rechnungen, welche
mit Ort und Tagesangabe versehen sind, wo und wann Regiomontan
sie anstellte, und welche dadurch sichern, dass dieser vom 26. Juni
bis zum 9. Juli 1464 in Venedig sich aufhielt (S. 257), in angestreng-
tester Thätigkeit mit verschiedenen Arbeiten wechselnd. Damals also,
einen Monat etwa vor dem Tode des Cardinais, studirte Regiomontan
dessen Schriften, welche Peurbach bereits, zuerst vertrauend, dann
mit wachsendem Misstrauen gelesen hatte-). Regiomontan schlug
dabei denjenigen Weg ein, der immer einzuschlagen ist, wenn eine
sogenannte Kreisquadratur auch nur auf ihre angenäherte Richtigkeit
geprüft werden will. Er ging aus von der durch Archimed in strengster
Weise begründeten fortlaufenden Ungleichung 3— < ä < 3— und
suchte alsdann den aus den vorgeschlagenen Constructionen sich er-
gebenden Werth der Verhältnisszahl des Kreisumfangs zum Durch-
messer mittels Rechnung zu bestimmen. Sobald dieser Werth ausserhalb
der archimedischen Grenzen liegt, und das war bei allen Versuchen
^) Kästner, I, 540 flgg.: Tractatus Georgü Purbachü super propositiones
Ptolemaei de sinubus et chordis, idem compositio tahularum sinuum per Joannem
de Begiomonte. Adiectae sunt Tabulae sinuum duplices per eundem Regiomon-
tanum. ~) De triangulis etc. (1533) Anhang pag. 51: Georgius ille doctissimus
Mathematicorum praeceptor olim vieus quandam curvi rectificationem brevem ad-
modum mild obiecit ac factu expeditissimam, cui pn-incipio quidem pl,urimum fidei
habuit autoritute inventoris persuadente , uhi vero pro acuviine ingenii sui inven-
tum Jiuiusmodi examinare coepit, nam demonstrationem nusquam comperit, longe
aliter quam ratus erat accidere didicit.
Deutsche Universitäten. Regiomontanus. 277
von Cusanus der Fall, inuss die Construction falsch sein. Der Ton
der Streitschrift ist ein ungemein milder, und das Schärfste, was in
dem einleitenden Gespräche zwischen einem Aristophilus und einem
Critias vorkommt, ist die nicht einmal gradezu als Vorwurf auf-
tretende Behauptung, Cusanus habe sich eines philosophischen, aber
keines mathematischen Beweises bedient^). Das sticht sehr gegen
andere Streitschriften Regiomontan's ab, am vortheilhaftesten gegen
die, mit welcher er Georg von Trapezunt (S. 257) bedachte.
Die übrigen im Drucke erschienenen Werke Regiomontan's dürfen
wir übergehen, weil wir die Geschichte der Astronomie grundsätzlich
ausser Acht zu lassen fortfahren. Dagegen haben wir uns noch mit
Zusätzen zu einer Euklidhandschrift, die einst Regiomontan's
Eigenthum war, dann auch mit seinem Briefwechsel zu beschäftigen.
Die genannte Handschrift enthält die Atelhard'sche Euklidübersetzung
und ist entweder ganz oder jedenfalls zum Theile von Regiomontan
geschrieben. Man hat dieses aus der Uebereinstimmung der Schrift-
züge des Textes, einiger wichtigen Anmerkungen und einer Vorrede,
die sich selbst als Elementa Enclidis, praefatio. Joh. de Begiomonte
avtov bezeichnet, erkannt^). Das Manuscript selbst befindet sich auf
der Stadtbibliothek zu Nürnberg^). Zu dem 32. Satze des I. Buches,
mithin an der genau gleichen Stelle, zu welcher einst Campanus (S. 104)
die Wiukelsumme des Sternfünfecks herleitete, hat auch Regiomontan
eine Anmerkung von ziemlichem Umfange. Sie beginnt mit dem
Satze, jedes Vieleck besitze als Winkelsumme so viel mal zwei Rechte,
als seine Rangordnung unter den möglichen Vielecken sei. Es sei
nämlich das Dreieck das erste Vieleck, das Viereck das zweite, das
Fünfeck das dritte u. s. w., kurzum die um 2 verringerte Anzahl der
Ecken bestimme die Rangordnung^). In ebenso viele Dreiecke lasse
sich das vorgelegte Vieleck von einem Eckpunkte aus zerlegen, und
da die Winkel eines jeden dieser Dreiecke zwei Rechte betragen, so
folge der ausgesprochene Satz. Dessen Beweis könne übrigens auch
so geführt werden, dass man von einem Innenpunkte des Vielecks
nach allen Endpunkten Linien ziehe, welche genau so viele Dreiecke
hervorbringen, als das Vieleck Seiten besitze, und deren Winkel-
summe müsse dann um die vier Rechte verkleinert werden, welche
die Winkel um jenen Innenpunkt betragen. Daraus folgt als weiterer
^) De Triangulis etc. (1533) Anhang pag. 25 : Critias. Potere recordari quo
demonstrationis genere usus fuerit ille philosophus, mathematico videlicet, an alio
quopiam? Aristophilus: Mathematicum haud videtur. -) S. Günther im
BuUetino Boncompagni YL, 332—338 und Unterricht Mittela. S. 247 Note 1.
^) Die Signatur der Handschrift ist VI, 13. *) hreviter quotus est numerus an-
gulorum, inde demto binario, tota ipsa est a 2}rima.
278 55. Kapitel.
Satz, dass wenn (Fig. 47) sämmtliche Vielecksseiten nach einer Rich-
tung hin verlängert werden, die entstehenden Aussen winkel auch
vier Rechte betragen müssen, als Unterschied
beim Abziehen der Summen der Yielecks-
winkel von doppelt soviel Rechten als Ecken
vorhanden sind. Nun schliesst sich der Satz
von der Winkelsumme des Sternfünfecks an,
welcher in gleicher Weise wie von Campanus
bewiesen wird. Nur darin findet sich ein
Unterschied, dass Regiomontan das Stern-
fünfeck als ein solches beschreibt, in welchem
jede Seite zwei von den übrigen schneide ^), eine
Beschreibung, welche auch von der durch Brad-
wardinus gebrauchten (S. 115) im Wortlaute
abweicht. Diese Abweichungen erscheinen uns um so bewusster, je
sicherer bei Regiomontan's hoher Gelehrsamkeit auzuliehmen ist, dass
er mit den Leistungen von Campanus und Bradwardinus, seinen Vor-
gängern in der Lehre von den Stern vielecken, bekannt gewesen sein
muss. Die Winkelsumme jedes derartigen Vielecks, in welchem jede
Seite zwei von den übrigen schneidet, ist um acht Rechte kleiner als
ihre doppelte Eckenzahl. Diese Sternvieleckswinkel gehören nämlich
(Fig. 48) eben so vielen kleinen Dreieckchen an als es Seiten, be-
ziehungsweise Ecken gab, und von deren doppelter Anzahl (als Summe
sämmtlicher Dreieckswinkelchen in Rechten ausgedrückt) ist die Summe
der Winkel an der jedesmaligen Grundlinie abzuziehen. Letztere aber
ist, vermöge zweimaliger Anwendung des früheren Satzes von den
Vieleckaussenwinkeln, stets acht Rechte. Lässt man weitere Sternviel-
ecke so entstehen, dass jede Seite vier andere schneide, oder dass
jede Seite sechs andere schneide, so ist die Winkel-
summe in Rechten dahin zu bemessen, dass von
der doppelten Eckenzahl das eine Mal 12, das
andere Mal 20 abgezogen werden müssen. Hier
ist oifenbar ein Irrthum, da im letzteren Falle
*'^' *'^ nur 16 abzuziehen sind, im Allgemeinen das
Vierfache der von jeder Seite des Sternvielecks geschnittenen anderen
Seiten. Zum Beweise wird einfach auf das Vorhergegangene ver-
wiesen ^). Regiomontan meint offenbar die Sache folgendermassen.
•) Penthagomis cuius tonumquodque latus duos secat ex reliquis. Die Schreib-
art penthagonus mit th kann bei einem so guten Hellenigten, als Regiomontan
es war, Wunder nehmen, ist aber in der ganzen Anmerkung streng festgehalten.
*) Hae omnes et simiks ex praemissis ostenduntur.
Deutsche Universitäten. Resriomontanus.
279
wobei wir uns zur Abkürzung der Benennung Sternvielecke ver-
schiedener Ordnung bedienen, die wir früher (S. 115) benutzt haben.
Im gewöhnlichen n-eck ist die Winkelsumme (immer in Rechten aus-
gedrückt) 2n — 4, also die Summe der Aussenwinkel nach einer
Richtung 2n — {'2n — 4) = 4. Im Sternvieleck erster Ordnung ist
desshalb die Winkelsumme 2n — 2 • 4 = 2l^ — 8, also die Summe
der Aussenwinkel nach einer Richtung 2n — {2n — 8) = 8. Beim
Uebergange zum Sternvielecke zweiter Ord-
nung erscheinen (Fig. 49), wie aus der Zeich-
nung zu erkennen ist (welche übrigens eben-
sowenig wie Fig. 50 in der Originalhandschrift
gezeichnet vorkommt), nicht neun kleine
Dreieckchen, sondern Viereckchen in der An-
zahl der Ecken, also mit der Winkelsumme
4w. Von ihr ist abzuziehen zweimal die Summe
von Aussenwinkeln von Stenivielecken erster
Ordnung und einmal die Summe der ursprüng-
lichen VielecKs Winkel oder S -\- 8 -\- (2n — 4) = 2n -\- 12, .und es
bleibt An — (2% -f 12) = 2n — 12. Die neuen Aussenwinkel nach
einer Richtung haben die Winkelsumme 2n — (2n — 12) = 12.
Beim Uebergange zum Stern vielecke dritter Ordnung, sofern er aus-
führbar ist, und Regiomontan weiss, dass solches erstmalig beim
Neunecke (Fig. 50) der Fall ist, er-
scheinen neue Viereckchen, Von
ihrer Winkelsumme 4w ist abzuziehen
12 + 12 + (2n — 8) = 2n + 16
als zweimalige Summe von Aussen-
winkeln von Stern Vielecken zweiter
Ordnung und einmaliger Summe von
Winkeln von einem Sternvielecke
erster Ordnung. Es bleibt folglich
An — {2n -f 16) = 2n — 16. Die
letzteren ^Beweisführungen sind weder
bequem auszusprechen, noch sind
deren Figuren leicht zu zeichnen,
und so kann man schon von dieser
Rücksicht aus begreifen , warum Regiomontan darüber wegeilte. Er
verstand seine kurze Andeutung, und kam er dazu den Euklid (S. 259)
im Drucke herauszugeben, wozu wir jedenfalls in dieser mit An-
merkungen versehenen nürnberger Handschrift eine Vorarbeit zu
s^hen habeu, so war es noch immer Zeit, sich ausführlicher und
deutlicher auszudrücken. Einen weiteren Zusatz hatte Regiomontan
Fig. 50.
280
.55. Kapitel.
rig. 51.
zu dem euklidischen Satze III, 30 gemacht^) d. h. zu dem Satze,
dass der Winkel im Halbkreise ein Rechter sei. Man könne, sagt
Regiomontan, auf diesen Satz gestützt eine Senkrechte auf eine ge-
gebene Gerade in einem gegebenen
Punkte derselben errichten (Fig. 51).
Von einem beliebigen Punkte h aus-
serhalb der Geraden als Mittelpunkt
und mit der Entfernung dieses Mittel-
punktes h von dem Punkte a, in
welchem die Senkrechte gewünscht
wird, als Halbmesser beschreibt man
einen Kreis, der die gegebene Gerade
ausser in a noch in einem zweiten
Punkte d schneidet. Letzteren verbindet man mit dem Kreismittel-
punkte und verlängert diese Verbindungslinie bis zum abermaligen
Durchschnitte mit dem Kreise in e, alsdann ist ea die gewünschte
Senkrechte.
Wir wenden uns schliesslich zu dem im Drucke veröffentlichten
Briefwechsel"). Es sind im Ganzen sechs Briefe Regiomontan's,
wovon drei an Bianchini, zwei an Jacob von Speier, einer an
Magister Christian Roder von Hamburg gerichtet. D«f Letzt-
genannte ist uns bekannt als Professor der Universität Erfurt (S. 251).
Bianchini gehört der Geschichte der Astronomie an. Wir haben nur
zu berichten, dass er hochbetagt in Ferrara lebte, dass er schon mit
Peurbach bei dessen italienischer Reise in freundschaftlicher Ver-
bindung stand, und dass ganz ähnliche Beziehungen zu Regiomontan
sich bei des letzteren früher (S. 256) erwähntem Aufenthalte in Fer-
rara von selbst ergaben. Jacob von Speier endlich war ein deutscher
Astronom oder Astrolog, der im Dienste des Grafen Friedrich von
Urbino stand. Mit Regiomontan's Briefen sind auch zwei Antwort-
schreiben des Bianchini, eines des Jacob von Speier veröffentlicht,
zusammen also neun Briefe. Wir beabsichtigen keineswegs diese
Briefe, so merkwürdigen Inhaltes sie sind, ausführlich zu besprechen.
Nur einiges Geometrische, Einiges aus der Lehre von den bestimmten
und unbestimmten Gleichungen heben wir noch hervor, während Ein-
zelnes schon früher, wo gerade die Gelegenheit es mit sich brachte,
beigezogen werden musste.
^) Die Kenntniss dieses Zusatzes verdanken wir freundlicher Privatmit-
theilung von H. Max. Curtze vom 1. März 1889. *) Die Briefe sind gedruckt
in Christ. Theoph. de Murr, Memorabilia Bibliothecarum piiblicarum Norim-
bergensium et universüatis Ältdorfinae. Pars I (1786) S. 74 — 205.
Deutsche Universitäten. Regioraontanus. 281
Ganz eigenthümlich ist das Verhalten Regiomoutan's in
seinen Briefen Campanus gegenüber. Wenn zwischen einem
Lebenden und einem mehr als anderthalb Jahrhunderte früher Ver-
storbenen eine Feindschaft vorhanden sein könnte, müsste man geradezu
an eine solche denken. Wir wissen, dass unter den von Regio-
montan geplanten Arbeiten eine Euklidausgabe sich befand unter Zu-
grundelegung der von Campanus herrührenden, aber frei von den
durch diesen verschuldeten Fehlern^). Er kannte also zuverlässig die
Uebersetzung, welcher er Fehler vorwarf, und in dem Briefe vom
4. Juli 1471, den er aus Nürnberg an Christian Roder schrieb, hebt er in
den heftigsten Worten einen Fehler des Campanus hervor, dessen Be-
merkungen zu den Definitionen des V. Buches (S. 105), gleich als wenn
dieser des Fehlers sich schuldig gemacht hätte, den er umgekehrt
Euklid vorwarf, Dinge durch sich selbst zu erklären"). Soll man
vermuthen, Regiomontan habe nur die Fehler des Campanus bemerkt,
aber dessen am Schlüsse des IV. Buches vorgeschlagene Winkeldrei-
theilung übersehen, oder soll man annehmen, Regiomontan habe jene
Dreitheilung nirgend gefunden (S. 105) und sei unabhängig von Cam-
panus genau auf die gleiche Winkeldreitheilung verfallen? Zu einer
dieser Annahmen oder zu der einer wenig redlichen Gehässigkeit
gegen Campanus wird man gedrängt, wenn man die 1464 mit Biauchini
gewechselten Briefe durchliest. Was diese Briefe, was mathematische
Briefwechsel überhaupt so wichtig macht, das ist eine Fülle von Auf-
gaben der allerverschiedensten Natur, welche die Briefsteller einander
vorzulegen lieben, das sind die Auflösungsversuche, welche in den
Antwortschreiben sich vorfinden. So stellte Bianchini unter dem
5. Februar 1464 die Aufgabe^), aus der Sehne des Centriwinkels von
60° die des Centriwinkels von 20" zu finden, Regiomontan antwortet
darauf ebenfalls im Februar 1464, es gebe verschiedene Verfahren,
die Winkeldreitheilung auszuführen, eine davon sei folgende^), und
nun erklärt er eben die Construction, welche Campanus am erwähnten
Orte lehrt, ohne dessen Namen auch nur zu nennen.
Eine Aufgabe, welche in der Geschichte der Mathematik eine
gewisse Rolle zu spielen bestimmt war, stellte Regiomontan in dem
Briefe, welchen er um Neujahr 1464 an Bianchini richtete^): Den
^) Doppelmayr, S. 13. Der beabsichtigte Titel wai*: Euclidis Elementa
cum Anaphoricis Hypsiclis editione Campani, evulsis tarnen lilerisque mendis, quae
proprio etiam indicabuntur commentariolo. ^) Murr 1. c. pag. 191—192: Pudet
profecto recensere lahores Campani, quibus frustra stabiUre tentat principia quinti
elementarum etc. ^) Ebenda pag. 105, Nr. 7. *) Ebenda pag. 138: lubetur
septimo unguium qui est tertia pars duorum rectorum dividi in tres aequales; sunt
certi modi id faciendi quorum unum adduco. ^) Ebenda pag. 98 — 99.
282 55. Kapitel.
Inhalt des Sehnen Vierecks im Kreise vom Durchmesser 60 zu finden,
dessen Seiten sich wie die Zahlen 4, 1, 13, 17 verhalten. Bianchini
hielt die Aufgabe für unlösbar ^), worauf Regiomontan in dem mehr-
erwähnten Februarbriefe 1464 näher auf den Gegenstand einging, der
allerdings seine Schwierigkeiten habe ^). Die vier Strecken, aus denen
ein Sehnenviereck gebildet werden soll, und die etwa a, h, c, d heissen,
wovon a am kleinsten sein soll, müssen dem Gesetze gehorchen,
dass je drei zusammen grösser als die vierte seien. In den Kreis mit
dem Durchmesser a kann freilich das Sehnen viereck nicht eingezeichnet
werden, ebensowenig in den Ki-eis mit dem Durchmesser a-\-h -\- c-\- d,
weil ersterer zu klein, letzterer zu gross ist; folglich muss es einen
Zwischenkreis geben, der die Einzeichnung zulässt. Es ist beiläufig
bemerkt ersichtlich, dass diese Schlussfolgerung derjenigen des Cam-
panus wie des Cusanus nachgebildet ist, in welcher der stetige Ueber-
gang von einem Kleineren zu einem Grösseren vorgenommen wird.
Ist das Sehnenviereck einmal gebildet, so muss die Summe zweier
gegenüberstehender Winkel zwei Rechte betragen. Ma^ kann dann
immer dessen Diagonalen berechnen, weil, meint Regiomontan, deren
Product sowohl als deren Quotient gegeben ist. Das Product ist
allerdings nach dem ptolemäischen Lehrsatze gegeben, aber über die
Möglichkeit den Quotienten zu finden, geht Regiomontan sehr flüchtig
hinweg. Er begnügt sich, ähnlich wie er es in seinen Büchern vom
Dreiecke that, mit der Behauptung, dieses oder jenes Verhältniss sei
gegeben, ohne es wirklich aufzustellen, und in einem Briefe vollends
mag er es für noch weniger noth wendig gehalten haben, eine leicht
verständliche Ableitung einer Formel zu geben. Regiomontan Hess
übrigens die Lehre vom Sehnenviereck nicht mehr aus den Augen.
Unter den Aufgaben, welche er am 4. Juli 1471 an Magister Roder
einschickte, ist auch die enthalten^), Fläche und Schwerpunkt des in
den Kreis von 100 Fuss Durchmesser eingezeichneten Sehnenvierecks
zu suchen, dessen Seiten sich wie die Zahlen 4, 7, 13, 19 verhalten.
Man bemerkt sofort, dass gegen die ältere Fassung nur zwei Zahlen
sich geändert haben und die Forderung des Schwerpunktes hinzu-
getreten ist. Auch diese letztere neue Forderung stellt einen wesent-
lichen Fortschritt dar. Schwerpunktsbestimmungen gehören bald zu
ernsthaft betriebenen Forschungsgegenständen.
In dem gleichen Briefe an Bianchini verfiel übrigens Regiomontan
in einen ganz unbegreiflichen Fehler. Er, der gegen Cusanus so
richtig hervorhob, das Kennzeichen eines annehmbaren Werthes des
») Murr 1. c. pag. 101. -) Ebenda pag. 119—126. ^) Ebenda pag. 197,
Nr. 3.
Deutsche Universitäten. Regiomontanus.
283
Verhältnisses des Kreisumfanges zum Durchmesser bestehe darin, dass
er zwischen 3- und 3— oder zwischen —-^
und — ^ liege, benutzt
den Werth -j^ und schreibt ihm noch obendrein die geforderte
Eigenschaft zu^).
Wir reden nur noch von einer wesentlich geometrischen Aufgabe
aus dem Briefe an Roder: Eine 10 Fuss lange Stange ist senkrecht
aufgehängt, so dass ihr unteres Ende noch 4 Fuss vom Boden ab-
steht. Man sucht den Punkt auf dem Boden, von welchem aus die
Stange am längsten, d. h. unter grösstem Sehwinkel- erscheint, be-
ziehungsweise, da es unendlich viele solcher Punkte giebt, die alle
auf einer Kreislinie liegen, sucht man den Abstand derselben vom
unteren Ende der aufgehängten Stange^). Diese Aufgabe ist die
erste Maximalauf gäbe, welche seit ApoUonius und Zenodorus be-
kannt geworden ist, und es dürfte von Wichtigkeit erscheinen, zu
versuchen, ob nicht ein Weg gefunden werden könnte, der zur Lösung
führt und Regiomontan zugänglich war. Ein solcher Weg ist folgen-
der^): Man denke -sich (Figur 52) den gesuchten Punkt K auf CD
bereits gefunden, welcher -^ AKB zum
grösstmöglichen macht und lege durch die
drei Punkte A, B, K einen Kreis, dessen
Mittelpunkt auf der Mittelsenkrechten EG
von AB liegt. Dieser Kreis muss CD in K
berühren. Hätte er nämlich einen zweiten
Punkt L mit CD gemein, und läge auf CD
ein dritter Punkt M zwischen K und L, so
wäre -^ AMB > AKB als Winkel, dessen
Spitze innerhalb des Kreises liegt, während
er auf demselben Bogen aufsteht wie der
Peripherie Winkel AKB, Diese Schlussfolgerung scheint Regiomontan
so angemessen, dass wir kaum zweifeln, sein Gedankengang sei damit
richtig errathen. Auch wie er die Aufgabe praktisch gelöst haben
kann, ist leicht zu errathen. Der Mittelpunkt F des gesuchten
Kreises muss, sagten wir, auf EG liegen, und gleich weit, fügen wir
hinzu, von A, B und K entfernt sein. Dabei ist CE FK ein Recht-
eck, also FK= CE. Man hat daher nur mit CE im Halbmesser
^) Murr I. c. pag. 137—138: Usus sum projiortione clrcumferentie ad dia-
metruni sicut 1554 ad 497. hec enim est minor tripla sesquiseptma , maior auteni
tripla superpartiente decem septuagesimas pi'imas non tarnen hec est vera pi'O-
portio sed verüati propinqua satis. *) Ebenda pag. 201 oben. ^) Ad. Lorsch,
Ueber eine Maximalaufgabe. Zeitschr. Math. Phys. XXJII, Hist.-litter. Abthlg.
S. 120.
284 ö5. Kapitel.
von B als Mittelpunkt aus einen Kreisbogen zu schlagen, welcher
EG in F schneiden muss. Von diesem Punkte i^aus als Mittelpunkt
beschreibt man dann mit der eben benutzten Zirkelweite den Kreis
ABK und hat damit K gewonnen. Den Abstand BK endlich liefert
einmalige Anwendung des pythagoräischen Lehrsatzes.
Fast noch auffallender sind die algebraischen Aufgaben, welche
überall den geometrischen zugesellt sind, und welche Bianchini die
Worte in die Feder gaben M, dass Regiomontan in den Regeln der
Algebra hoch gelehrt sei, während er selbst nur in seiner Jugend,
während er in kaufmännischen Rechenübungen sich abackerte, einiges
zu seinem Vergnügen \ getrieben habe; beiläufig wieder ein neues
Zeugniss, wenn wir dessen bedürften, dafür, dass in Italien die Algebra
kaufmännische Uebung war. Regiomontan wechselt zwischen be-
stimmten und unbestimmten Aufgaben. Kenntniss der ersteren, wenn
auch muthmasslich in beschränkterem Maasse, als er sie später be-
sass, brachte Regiomontan gewiss schon aus Deutschland mit. Dass
in Deutschland ein Bruder Aquinas in der zweiten Hälfte des
XV. Jahrhunderts sich mit Gleichungen viel beschäftigte, haben wir
(S. 238) gesehen. Mit ihm verkehrte auch Regiomontan ^), und zwar
bevor er bei König Mathias in Ungarn war, also muthmasslich noch
weit früher, nämlich vor der ersten italienischen Reise. In Italien
dürften ihm dann Aufgaben "zu Gesicht gekommen sein, die zu kubi-
schen Gleichungen führten (S. 160). Zu eben solchen führt eine
Aufgabe, welche Regiomontan Bianchini zu lösen vorschlägt^), wenn
auch die Fassung dafür zu sprechen scheint, dass Regiomontan hier
von Bianchini forderte, was er selbst zu leisten nicht im Stande war.
In einem Dreiecke ahc (Fig. 53), dessen
Seiten ah = IS, ac = 26, bc = 29 sind,
zog ich, sagte er, von a zur Basis eine
ad, so dass das Quadrat von db mit
dem Producte von da in ah das Quadrat
von ah gab. Wie gross ist hd? Sei
ad = y, hd = x, so ist die Bedingung der Aufgabe x^ -\- ISy = 181
Es sei nun die Senkrechte ae gezogen und he =^ z, so ist
ae^ _ ^j2 _ jg2 _ ^^2 _ ^g2^ jj 1, 132 _ ^2 _ 252 — (29 — z)\
18* + 29-— 25« 270 „ 102 /270\2
'■ = 58 - -29- ' «^ = 1^ -- (-29-) '
^) Murr 1. c. pag. 105 — 106: Et haec volo sufficiant quantum ad regulas
algebre de quibus comprehendo vos doctissimum esse, ego quidem in inventute dum
operationes mercantianmi exararem aliquantiilum in hoc me delectavi. -) Ebenda
pag. 186. ^) I]benda pag. 144, Nr. 17. Am Schlüsse der Aufgabe die Worte:
Si dabitis lineaiu bd dabo cordam unius gradus.
Deutsche Universitäten. Regiomontanus. 285
de^ = (hd - hef = (^ _ ,)^ = ^^ _ ^^ + (^)^,
ad^ = ae^ -\- de^,
Nach der Bedingung der Aufgabe isty = 18 — —, y^= IS^- — 2x'^-{- ^,
also schliesslich durch Gleichsetzung der beiden Werthe von y^ und
Weglassung von 18^ auf beiden Seiten, sowie durch Einrichtung in
eine Form, bei welcher auf beiden Seiten des Gleichheitszeichens nur
Positives erscheint,
X* 540
324 I 29
+ °S^- = 3xl
Division durch x liefert endlich die kubische Gleichung:
x^ . 540 o
32i + "29; = ^^-
Ist denn, könnte man hier fragen, Regioraontan in der Lage gewesen
eine solche Ableitung vorzunehmen, welche in seinem Briefe ebenso-
wenig vorkommt, als die Schlussgleichung, zu welcher wir ihn ge-
langen liessen? Die Frage ist entschieden zu bejahen. Den Abschnitt
he, casus, wie Regiomontan (S. 2G7) ihn nannte, mit ihm zugleich
die Höhe ae zu berechnen, war eine geradezu einfache Aufgabe für
den Verfasser der Bücher De triangulis omnimodis, und was dann
noch übrig blieb, war eine einmalige Anwendung des pythagoräischen
Lehrsatzes auf das Dreieck ade in Verbindung mit dem Wortlaute
der Aufgabe. Zweifelhaft könnte nur Eines erscheinen: ob Regio-
montan die Division durch x vollzog und so die Gleichung 4. Grades
auf eine solche 3. Grades zurückführte. Aber gerade diesen Zweifel
lösen uns die Zusatzworte Regiomontan's: Gebt Ihr mir die Linie
hd, so gebe ich Euch die Sehne, welche zu dem Bogen von 1° ge-
hört. Der Zusammenhang zwischen der Sehne von 3^, welche unter
Anwendung von Quadratwurzelausziehungen gefunden werden kann,
mit der von 1^ liegt in der Gleichung:
(chorda ly + chorda 3° = 3 chorda 1«.
Die Worte Regiomontan's geben uns mithin dreierlei zu erkennen:
Erstlich, dass er wusste, dass die Ermittelung von chorda 3" mit Hilfe
von quadratischen Gleichungen möglich war, dass aber dann eine
kubische Gleichung gelöst werden musste, um chorda P zu finden.
Zweitens, dass die Lösung dieser Aufgabe seine Kräfte überstieg.
Drittens, dass er das Eingeständniss seines Nichtkönnens in die ge-
286 55. Kapitel.
heimnissvollere Maske kleidete, dass er eine andere kubische Gleichung
gleicher Form zur Auflösung aufgab. Die gleichen Mittel, so ver-
stehen wir jetzt seine Schlussworte, welche gestatten, die eben aus-
gesprochene Aufgabe durch Rechnung zu beantworten, führen auch
zur rechnenden Dreitheilung des Winkels.
Wir sprachen von unbestimmten Aufgaben, welche Regiomontanus
zu stellen liebte. Wir machen deren 10 namhaft, die wir etwas über-
sichtlicher ordnen, als sie in Regiomontan's Briefen erscheinen^), und
die wir zudem in der heute üblichen Schreibweise mittheilen:
1. x-^y + z = 240. 97rr + bQy -f 3^ = 16047.
2. 17^ + 15 = 13y + 11 = 10^ + 3.
3. 23;r + 12 =- 17^ + 7 = 10^ + 3.
4. rz; + ^ + ^= 116. a;2 + ^2 ^ ^2 _ 4624.
5. Drei in harmonischer Progression stehende Zahlen zu finden,
deren kleinste > 500000 ist.
6. Drei Quadratzahlen zu finden, welche in harmonischer Pro-
gression stehen.
7. Drei Quadratzahlen zu finden, welche in arithmetischer Pro-
gression stehen und deren kleinste > 20000 ist.
8. Drei Quadratzahlen zu finden, welche in arithmetischer Pro-
gression stehen, und deren ganzzahlige Wurzeln die Summe
214 besitzen.
9. Vier Quadratzahlen zu finden, deren Summe wieder eine
Quadratzahl ist.
10. Zwanzig Quadratzahlen zu finden, deren Summe eine Quadrat-
zahl und > 300000 ist.
Diese Aufgaben beziehen sich auf theilweise ziemlich schwierige
Gegenstände, welche auch einem heutigen Zahlentheoretiker Kopf-
brecheu zu veranlassen im Stande sind, so dass ebensowohl die Frage
berechtigt erscheint, wodurch Regiomontau veranlasst wurde, gerade
solche Aufgaben zu stellen, wie auch die andere Frage, ob er selbst
die zugehörigen Auflösungen besessen haben mag?
In ersterer Beziehung darf gewiss darauf hingewiesen werden,
dass Regiomontan so glücklich war (S. 263), eine Handschrift der
Diophautischen Arithmetik zu entdecken, und dass er den unschätz-
baren Werth des Aufgefundenen alsbald erkannte 2). Aber fragen wir
^) Die Aufgaben finden sich folgendermassen vertheilt: Muri- 1. c. pag. 99
steht Aufgabe 2 ; ebenda pag. 144 — 145 Aufgabe 1, 4, 8 ; ebenda pag.- 159 — 160
Aufgabe 3, 9, 6; ebenda pag. 201 Aufgabe 5, 7, 10. -) Ebenda pag. 135—136.
Deutsche Universitäten. Regiomontanus. 9,S7
weiter, könnte solches selbst einem Regiomontan zugetraut werden,
wäre er im Stande gewesen, das Werk sofort als in Wahrheit wunder-
schön und von grosser Schwierigkeit zu bezeichnen, wenn er ganz
unvorbereitet an den ihm ganz neuen Gegenstand herangetreten wäreV
Ist nicht weit eher anzunehmen, Regiomontan sei mit Aehnli ehern
schon vertraut gewesen, er sei in Deutschland in der dort bekannten
Regel Ta yen (S. 240 j geübt gewesen, er sei dann in Italien noch
näher der Zahlentheorie zugeführt worden durch Umgang mit dortigen
Gelehrten, welche den Lieblingsforschungen Leonardo's von Pisa nie
ganz untreu geworden waren? Erinnert doch schon die 7. wie die 8.
der obigen Aufgaben noch deutlicher an die Untersuchungen Leonar-
do's als an die des Diophant. Und auch eine weitere Berechtigung
zu unserer Annahme glauben wir in der Thatsache zu finden, dass
nicht bloss die 10 Fragen des Regiomontan, dass auch drei richtige
Antworten erhalten sind. Bianchini weiss ^), dass 2. durch 1103 auch
durch 3313 und durch viele andere Zahlen erfüllt wird. Jacob von
Speyer nennt") als Auflösung von 1. die drei Werthe 114, 87, 39,
als Auflösung von 9. die beiden Summen
1 + 4 + IG + 100 == 121 und 4 + 16 + 49 + 100 = 169.
Und wenn auch Bianchini durch die nachfolgenden Worte, er wolle
sich die Mühe nicht geben, weitere Lösungen zu suchen, zu erkennen
giebt, dass er die allgemeine Auflösung 2210 n -f- 1103 nicht besass,
so ist doch keineswegs anzunehmen, dass solche Fragen durch blosses
Herumtasten ihre Beantwortung finden konnten, ohne dass den Be-
arbeitern jemals vorher ähnliche Gegenstände vorgelegen hätten.
Die zweite von uns aufgeworfene Frage können wir nur dahin
beantworten, dass Regiomontam mindestens glaubte, zu seinen Auf-
gaben auch entsprechende Lösungen zu besitzen, mochten sie nun
richtig sein oder nicht. Antwortet er doch z. B. dem Jacob von
Speier •'^) bezüglich dessen Auflösungen von 9.: „Du giebst 4 Quadrat-
zahlen von der Art, wie ich sie verlangte. Es möchte aber schwer
halten, zehn solcher Gruppen von Quadratzahlen aufzufinden, ich
meine 40 unter einander verschiedene Quadratzahlen, die vier weise
vereinigt wieder ein Quadrat geben, wenn man nicht die Uebung
eines Kunstgi'iffes diese zu beschaffen besitzt, und diesen Kunstgriff'
gerade verlaugte ich." Es fällt schwer, sich der Meinung zu ver-
schliessen, dass Regiomontan, während er so sehrieb, sich im Besitze
eines derartigen Kunstgriffes fühlte; es fällt bei der Art, wie er
von dem Kunstgriffe spricht, fast noch schwerer anzunehmen, der-
selbe habe nur darin bestanden, aus einer bekannten Auflösung
') Murr 1. c. pag. 103. -) Ebenda pag. 167—168. ^) Ebenda pag. 175.
288 55. Kapitel.
a^ -\- })' -\- c" -f" d- = l" beliebig viele andere durch Vervielfachung
mit irgend einem n^ abzuleiten, wenn vrir uns auch versucht fühlen,
bei den Aufgaben 7. und 10. an derartige Vervielfachungen zu
denken.
Als wir von Regiomontan's wissenschaftlichen Leistungen zu
reden uns anschickten, sagten wir zum voraus, die Unstetigkeit seines
Lebens bilde den Hintergrund, von welchem die Grösse seiner
Leistungen sich abhebe. Wir liessen damit ahnen, es sei ein grosser
Verlust gewesen, den die Wissenschaft durch den Tod des erst
40jährigen Mannes erlitt. Wir dürfen nicht von Regiomontan Ab-
schied nehmen, ohne das damals Vorausgesandte zu wiederholen. Wir
haben in Regiomontanus einen Mathematiker allerersten Ranges kennen
gelernt, ebenbürtig einem Leonardo von Pisa, einem Jordanus Nemo-
rarius, einem Oresme, um nur die drei Namen zu nennen, die bisher
den besten Klang hatten von allen in diesem Bande zur Rede ge-
kommenen. Erster abendländischer Bearbeiter einer wirklichen Tri-
gonometrie hat er ihr eine Vollendung gegeben, welche bis in das
XVIIL Jahrhundert hinein nur Ergänzungen, aber keine veränderte
Behandlungs weise zuliess. Scharfsinniger Geometer, geübter Alge-
braiker, geistreicher Zahlentheoretiker hat er auf allen diesen Ge-
bieten gezeigt, dass er auf der vollen Höhe der Zeit stand, und wäre
es ihm beschieden gewesen, mehr als in kurzen Andeutungen sich zu
ergehen, hätte er Müsse gefunden, wie er es hoifte, sich eingehend
mit anderen und anderen Thei|^n der Mathematik zu beschäftigen,
so ist nicht zu ermessen, wie gewaltige Neuerungen er gewagt hätte.
Ist doch der Regiomontan, den wir zu schildern hatten, selbst nur
ein Bruchstück, wenn wir so sagen dürfen, des ganzen Regiomontan,
während die Geschichtsschreiber der theoretischen und der praktischen
Sternkunde sich mit andern grossen Leistungen des so früh Ver-
storbenen abfinden müssen.
Ohne in ihr Bereich überzugreifen, sei hier eine Vorrichtung kurz
erwähnt, die zu irdisch messenden Zwecken nicht minder anwendbar,
als sie sich bei Sternbeobachtungen als einfaches Messwerkzeug be-
währte, lange Zeit hindurch fälschlich für eine Erfindung Regio-
• montan's galt. Wir meinen den Jacobsstab ^). Nicht als ob Regio-
montan's Name gar nicht mit dem Jacobsstab in Verbindung zu
*) Günther in der Bibliotheca matliematica 1885, S. 137—140 und 1890,
S. 73—80. Ebenderselbe, Unterrieht Mittela. S. 247, Note 3. Ebenderselbe,
Martin Behaim (Bayrische Bibliothek Band XIU, Bamberg 1890), S. 22 ^gg. —
M. Steinschneider in der Bibliotheca mathematica 1889, S. 36 — 37 und 1890,
S. 107. — A. Breusing, Die nautischen Instrumente bis zur Erfindung des
Spiegelsextanten (1890), S. 36 flgg.
M I I I I I I I I I I I m
Deutsche Universitäten. Regiomontanus. 289
setzen wäre, aber es handelt sich bei ihm um eine wesentlich astrono-
mische Abart. Die einfachste Gestalt des Jacobsstabes ist die (Figur 54)
eines senkrechten Querstabes von
unveränderlicher Länge, der auf
einem in viele gleiche Theile ge- aZD
theilten Längsstabe verschiebbar ist
und daran verschoben wird, bis
das am Ende des Längsstabes be- *'^ "**■
findliche Auge des Beobachters an dem oberen Ende des Querstabes
vorbei einen Höhepunkt eiuvisirt; ein kleines Bleiloth am unteren
Eude des Querstabes regelt die senkrechte Stellung. So kann der
Höhenwinkel des einvisirten Punktes leicht bestimmt werden. Die
Vorrichtung hiess baculus, genauer baculus geometricus, auch
baculus Jacobi, wie man vermuthet von dem gesprenkelten Aus-
sehen des eingetheilten Längsstabes, der ihn jenen Stäben vergleich-
bar macht, welcher nach biblischer Sage sich Jacob einst zu ganz
anderen Zwecken^) bediente. Diesen geometrischen Stab hat schon
Levi ben Gerson (S. 112), dessen Todesjahr auf 1344 bestimmt
worden ist, beschrieben und hat dabei einen verjüngten Maassstab
eingerichtet, der ihm gestattete, an seinem Stabe einzelne Winkel-
minuten abzulesen^). Der hebräische Name seiner Abhandlung ent-
spricht dem in einer wiener Uebersetzung ^) enthaltenen Titel sccrc-
torum revelator. Der Name des Instrumentes ist baculus Jacobi. Der
gleiche Name findet sich in einem Münchener Codex ^), welchen ein
gewisser Theodorich Ruffi 1445 — 1450 niederschrieb. Regiomontan
bediente sich zur Messung des scheinbaren Durchmessers von Kometen
eines ähnlichen aber immerhin verschieden gehandhabten Jacobsstabes.
Er visirte längs dem Längsstabe auf den Mittelpunkt des Sternes und
verschob den Querstab, bis derselbe in ganzer Länge den Stern
genau verdeckte. Darum hiess der Stab auch baculus astrono-
micus und kommt hier eben so wenig genauer in Betracht, als die
nautische Bedeutung der bei den Schiffern unter dem Namen Grad-
stock in Uebung gekommenen Vorrichtung, welche Regiomontan's
Schüler Martin Behaim den Portugiesen bekannt machte.
^) Genesis Kap. .30, Vers 37 flgg. *) Curtze brieflich. ') Lateinische
Handschrift 5072. ") Cod. lat. 11067.
Cantob, Geschichte der Mathem. U. 2. Aufl. 19
290 ö6. Kapitel.
5G, Kapitel.
Ratdolt's Enklidausgabe. Alberti. Liouardo da Vinci.
Die Aritlimetilv von Treviso.
Schon unsere Untersuchungen über Regiomoutan haben uns ver-
anlasst, mit ihm den Boden Deutschlands zu verlassen und in Italien
uns umzuschauen. Wir hätten in Regiomontan's Briefwechsel den
Namen manches gelehrten Astronomen finden können. Wir unter-
liessen es, auch nur darnach zu suchen. Einzig Bianchini musste
im Vorübergehen genannt werden, neben ihm Jacob von Speier,
ein Deutscher, der, wie wir wissen, in Italien lebte.
Xoch einen anderen Deutschen haben wir in Italien zu erwähnen,
der, ohne Mathematiker zu sein, der Mathematik nicht hoch genug
anzuschlagende Dienste geleistet hat. Erhard Ratdolt^) gehörte
einer Augsburger Künstlerfamilie an und soll etwa 1443 geboren sein.
Nachdem er schon in der Heimath das Buchdruckergewerbe geübt
hatte, ging er 1475 nach Venedig und gründete daselbst eine be-
rühmte Druckerei, welcher er 11 Jahre vorstand. Dann kehrte er
1486 nach Augsbm-g zurück, wo er sein Geschäft mit nicht geringerer
Auszeichnung bis in sein hohes Alter weiter betrieb. Er soll um
1528 gestorben sein. Wir nennen ihn hier wegen seiner Euklid-
ausgabe-J von 1482. Er hat, was gewiss nicht ohne Wichtigkeit
ist, in diesem Drucke mathematische Figuren vervielfältigt
und hat in seiner Widmung an den Fürsten Mocenigo von Venedig,
die selbst eine Neuerung, nämlich die erste Anwendung von Gold-
schrift im Drucke, aufzeigt, auf jene Erfindung Gewicht gelegt. Die
Seltenheit mathematischer Drucke, sagt er, beruhe auf der seitherigen
Unmöglichkeit der Figurenherstelluug; er habe nach langer Arbeit es
dahin gebracht, dass eben so leicht wie die Theile der Buchstaben
auch geometrische Figuren gefertigt würden^). Nun ist freilich un-
richtig, was von der Unmöglichkeit der Figurenherstellung gesagt ist,
denn in der um 1472 durch Regiomoutan besorgten Druckausgabe
von Peurbach's Theorica Planetarum finden sich bereits vortreffliche
mathematische Holzschnitte. Anderntheils sind darüber, wie die
Schlussworte des angeführten Satzes zu verstehen seien, die Kenner
des Druckgewerbes selbst im Zweifel. Vielleicht handelt es sich um
1) Allgem. deutsche ßiogr. XXVII, 341— ;]4.3. ^) Kästner, I, •289—302.—
Weissenborn, Die Uebersetzungen des Euklid durch Campauo und Zamberti
(1882), S. 4 — 12. ^) ut qua facilitate Httemnim eUmenta imxtrimcmiur ea etiam
yeometrice fiyure coußcerentui:
Katdolt's Euklidausg. Alberti. Lionardo da Vinci. D. Arithmetik v. Treviso. 291
Herstellung von Figuren aus einzelnen gradlinigen oder krumm-
linigen Figureutheilen, welche, ähnlich wie Buchstaben zu Worten
aneinandergesetzt werden, sich vereinigen Hessen. War llatdolt wirk-
lich einer der Ersten, welche Figuren druckten, so hatte er noch im
gleichen Jahre 1482 einen Nacheiferer. Mattheus Cordonis von
Windischgrätz hat damals mathematische Figuren in Holzschnitt
bei einer in Padua von ihm gedruckten Ausgabe von Oresme's lati-
tudinibus in Anwendung gebracht^).
Ungleich wichtiger als die Vorgängerschaft auf dem Gebiete des
Figurendi'ucks ist die seit 1482 erst ermöglichte Verbreitung geo-
metrischen Wissens an der Hand des im Drucke nunmehr käuflichen
Elementarwerkes. Wie sehr es einem Bedürfnisse entgegenkam, ist
aus der Häufigkeit der Nachdrucke zu ermessen. Gleich im ersten
Jahre 1482 sind zweierlei Ausgaben vorhanden, beide bei Ratdolt in
Venedig gedruckt, unterschieden in dem ersten Bogen, späterhin über-
einstimmend. Es ist natürlich ganz unmöglich, zu entscheiden, ob
man hier wirklich von zwei Ausgaben zu reden hat, oder ob nur die
erste Lage noch einmal gedruckt worden ist^), wofür wir allerdings
einen Grund nicht abzusehen vermögen. Eine weitere Druckgebung
hat 148G bei Reger in Ulm stattgefunden, eine weitere 1491 bei
einem Magister Leonardo von Basel, aber ohne die Widmung an den
inzwischen 1485 verstorbenen Fürsten Mocenigo. Und mit dem Jahre
1500 beginnen erst recht neue Auflagen, die wir nur desshalb an
dieser Stelle noch nicht anführen, weil sie einen anderen Text
enthalten als die Drucke vor 1500. Letztere geben, wie nicht anders
zu erwarten, den aus dem Arabischen übersetzten Euklid in der
handschriftlich schon vei*hältnissmässig stark verbreiteten Ausgabe des
Campanus, welchen auch die Ueberschrift des selteneren von den
beiden Abdrücken von 1482 nennt ^). Die Zusätze des Campanus
sind mit den Beweisen vereinigt in kleineren Buchstaben gedruckt
als die Lehrsätze, und Ueberschriften von der Art, wie man sie später
findet, Eudides ex Campano oder Campanus oder Campani additio
oder Campani annotatio fehlen durchaus. Wer aber den Druck in
dieser Richtung leitete, darüber sind uns persönlich keine Zweifel,
das war Ratdolt selbst. Der Buchdrucker war in der Wiegenzeit jener
Kunst meistens ein feingebildeter Mann, oftmals Herausgeber der bei
1) Max. Curtze in der Zeitschr. Math. Phys. XX, Hist.-liter. Abthlg.
S. 58. *) Diese Meinimg ist, gestützt auf eine genaue Beschreibung beider
Drucke, von G. Valentin in der Biblioth. matliem. 1893 S. .33 — 38 vertreten.
^) Praedarissimum opus clementorum. Euclidis meyarensis una cum commentis
Campani pi^'t'spicacissimi in artem (jeometriam incipit feliciter.
19*
292 56. Kapitel.
ihm erscheinenden Werke, und wo er es nicht war, pflegte man den
Namen des Herausgebers nicht zu unterdrücken.
Es wird auffallen, dass auch derjenige Theil der 1482er Ausgabe,
welcher die Zusätze des Campanus hervorhebt, die Bemerkung ver-
missen lässt, Euklid's Elemente selbst seien dabei aus dem Arabischen
übersetzt . Man hat sehr richtig hervorgehoben ^) , ein solches
Schweigen könne doppelt gedeutet werden. Man schweigt über Dinge,
die man nicht weiss, man schweigt auch wohl über Dinge, die Jeder
weiss. Hier sei wohl die letztere Deutung richtig. Jeder wusste, dass
der Euklid, zu welchem Campanus Erläuterungen verfasste, dem Ara-
bischen entstammte, und wie wollte man zu einer anderen Meinung
kommen, wenn man im Texte den Wörtern helmuaym und helmuariplic
begegnete, deren Heimath nicht zweifelhaft sein konnte, mochte auch
die eigentliche Bedeutung nicht bekannt sein. Waren doch vielleicht
grade diese Namen mitschuldig, wenn, wie wir (S. 263) gesehen
haben, ein so guter Kenner des Griechischen wie Regiomontan dem
Irrthume, der Mathematiker Euklid sei der von Megara gewesen, den
viel unverzeihlicheren zugesellte, dieser Megarenser habe arabisch ge-
schrieben. Ratdolt, den wir hiermit verlassen wollen, hat übrigens
auch zu Regiomontan in buchhändlerischer Verbindung gestanden.
Er druckte für ihn 1476 ein Calendarium, in welchem besonders
hübsche Zierleisten angebracht waren. Die Vereinbarung über diese
Veröffentlichung muss wohl unmittelbar vor Regiomontan's Tode ge-
troffen worden sein.
Regiomontan hat in seinem Briefe vom Februar 1464 zwei Männer
als besonders zuverlässige Beobachter genannt, Toscanelli und
Alberti^). Toscanelli ist uns beiläufig als der Jugendfreund des
Cusanus bekannt geworden. Wir müssen jetzt Alberti's gedenken,
wiewohl er als Baumeister fast nur in mittelbarer Beziehung zur
Geschichte der Mathematik steht. Leone Battista Alberti (1404
bis 1472), ein auf den verschiedensten Wissensgebieten mit Erfolg
thätiger Schriftsteller^), hat allerdings eine kleine Schrift Ficcolezze
Matematiche verfasst*), in welcher die Vorschrift enthalten ist, einen
rechten Winkel durch Seilspannung zu erhalten, indem man Stricke
von den Längen o, 4, 5 mit einander vereinige; weniger genau werde
der rechte Winkel, wenn man die Längen 4, 5, 6 anwende. Aber
^) Weissenborn 1. c. S. 12. -) Murr, 1. c. pag. 148. In der Anmer-
kung zur gleichen Seite hat Murr die Verse von Ugolino Verius zum Abdrucke
gebracht, welche wir im Texte anführen, ^) G. Loria, Per Leon Battista
Alberti in der Biblioth. mathemat. 1895, S. 9 — 12. "') Rosei, Groma e sguadro
(1877), pag. 105.
Katdolfs Eiiklidausg. Alberti. Lionardo da Vinci. D. Arithmetik v. Treviso. 293
diese dem grauesten Alterthuin angehörende Vorschrift und ähnliche
Kleinigkeiten hätten doch nicht ausgereicht, Alberti das Lob zu ver-
dienen, mit welchem ein Florentiner Dichter ihn, den Florentiner Bau-
meister, bedenkt:
Nee minor Euclide est AlJ^rtus, vincit et ipsnm
Vitruvium. Quisquis cehas attolere moles
Äffeetat, nostri relegat monumenta Batistae.
Kleiner nicht ist als Euklid Albertus, als Sieger besteht er
Neben Vitruv. Wer immer mit grossen Massen zu thuu hat,
Lese und lese von Neuem, was unser Battista zurückliess.
Wahrscheinlich ist als das zurückgelassene Werk die Architectura
gemeint, welche 1485 in Florenz gedruckt wurde^ und von welcher
schon vor der Drucklegung Lorenzo Ghiberti in seiner Chronik von
Florenz rühmte, sie sei unvergleichlich^). „Eine Erfindung, so fährt
Ghiberti fort, die Alberti machte, ist wahrlich der Buchdruckerkunst
an Nützlichkeit gleich zu achten. Er verfertigte nämlich ein Instru-
ment, wodurch es möglich ist, allerlei Zeichnungen auf beliebige
Weise zu vergrössern und zu verkleinern." Die betreffende Vorrich-
tung ist in einer kleineren Schrift Alberti's über Malerei, welche
er am 7. September 1435 vollendete, beschrieben 2). Er nennt sie
Schleier, velo. „Man nimmt einen ganz feinen, dünn gewebten
Schleier von beliebiger Farbe, welcher durch stärkere Fäden in eine
beliebige Anzahl von Parallelogrammen getheilt ist. Diesen Schleier
bringe ich nun zwischen das Auge und die gegebene Sache, so dass
die Sehpyramide in Folge der Dünnheit des Gewebes hindurchzudringen
vermag. Sicherlich gewährt Dir dieser Schleier nicht geringe Vor-
theile." Derselbe Alberti hat nach 1464 noch eine weitere Abhand-
lung De statua geschrieben^). In ihr ergänzte er, möchten wir
sagen, für die Phantasie, was sein Schleier für das sehende Auge
leistete. War es doch für den Künstler, der nicht fortwährend den
abzubildenden Gegenstand vor sich hatte und ihn immer vergleichen
konnte, geradezu nothwendig, hergebrachte Verhältnisszahlen zu ken-
nen, welche ihn bei der Arbeit unterstützten, insbesondere, wenn es
um ein bildhauerisches Kunstwerk sich handelte. Der erste Schrift-
steller, von welchem Angaben über die Grössen Verhältnisse einzelner
Gliedmaassen der Menschen uns erhalten sind, war Vitruvius (Bd. I,
S. 508). Dann fanden wir Aehnliches bei den lauteren Brüdern
(Bd. I, S. 697). Letztere verbanden damit, wie -wir uns erinnern,
^) Aug. Hagen, Künstlergeschichten, 2. Auflage (1861) I, 176. -) Quellen-
schriften für Kunstgeschichte XI, 100. Vergl. auch Libri II, 274, Note 2.
*) Quellenschriften für Kunstgeschichte. XI, 200 ^gg.
204 50. Kapitel.
Vorschriften über die Grösse der einzelnen Striche, aus welchen Buch-
staben sich zusammensetzen, und wenn wir nicht anstehen, Alles, was
über Körpermaasse gesagt ist, in letzter Linie auf das Künstlervolk
des Alterthums, auf die Griechen zurückzuführen, so scheint die nach
Regeln geübte Ausführung von Buchstaben uns eher arabisch zu
sein. Kein Volk hat wenigstens so viel Gewicht auf Schönschrift
gelegt, als das arabische, bei welchem derselben nahezu gottesdienst-
liche Bedeutung innewohnte. Eine vereinzelte Spur ^) von der Er-
haltung der Regeln über Körperverhältnisse ist bei dem Schreiber eines
um 1200 etwa entstandenen Bruchstückes anzutreffen, der als Gewährs-
mann für Verhältnisszahlen von Gliedmaassen einen Egesippus oder
Eugippus nennt, vermuthlich einem Griechen, indem doch schwer-
lich an den sogenannten Hegesippus des Mittelalters, d. h. an den
Uebersetzer des jüdischen Krieges von Flavius Josephus in's Lateinische
zu denken sein wird. Des Weiteren soll Giotto (1276 — 1336), der
Neubegründer der Malerei in Italien, über die Verhältnisse des mensch-
lichen Körpers geschrieben haben, und Gleiches wird auch von anderen
Künstlern, von Piero della Francesca, von Ghirlandajo gerühmt.
Piero della Francesca soll daneben auch über regelmässige Vielflächner
geschrieben haben-). Alberti's Schrift De statua ist die erste selb-
ständige Abhandlung über den Gegenstand, welche der Oeffentlichkeit
übergeben ist. Er behauptet darin, die angegebenen Maasse einzelner
Körpertheile nach Länge, Breite und Dicke beruhten auf vielfachen
Messungen. Die Grundlage aller seiner Zahlen ist ein in 600 Theile
eingetheilter, Excmpcda^) genannter Maassstab von Meuschenlänge.
Bei der Verschiedenheit der Einzelgrösse von einem Menschen zum
anderen wird naturgemäss die Grösse des Exempeda und seiner Theile
von einem Menschen zum anderen wechseln, aber die Verhältniss-
mässigkeit vom Ganzen zu seinen Theilen, von der Körperlänge zu
der der Gliedmaassen, bleibt unverändert und nöthigt beim Riesen
wie beim Zwerge die gleichen Zahlen anzunehmen.
Alberti war keineswegs der einzige Künstler seiner Zeit, welcher
mathematische Neigung an den Tag legte und als Schriftsteller von
uns genannt zu werden hat. Der grösste italienische Maler des
XV. Jahrhunderts Lionardo da Vinci (1452 — 1519) steht nicht
minder gross als Mann der Wissenschaft, insbesondere der Natur-
^) Cantor, Die römischen Agrimensoren und ihre Stellung in der Ge-
schichte der Feldmesskunst (1875), S. 157 und 223. -) Staigmüller in der
Zeitschr. Math. Phys. XXXVI, Hist.-liter. Abthlg. S. 125— 127. ^) il,s^7tsS6(o
= treulich halten, beobachten. Einer Herleitung von Exempeda, welche das
Wort sechs Fuss bedeuten lässt, können wir uns nicht recht befreunden, da uns
sechs Fuss als regelmässige, also mittlere Menschenlänge zu gross erscheint.
Ratdolt's Euklidausg. Alberti. Lionardo rla Vinci. D. Arithmotik v. Treviso. 295
Wissenschaft da. Die Geschichte der Physik ermangelt nicht, sich
seiner zu rühmen^) und die Verdienste hervorzuheben, um derenwillen
man Lionardo da Vinci namentlich als einen der Begründer der
Optik preist. Die meisten wissenschaftlichen Arbeiten Lionardo's
werden in der Zeit von 1482 — 1499 entstanden sein. Damals stand
er in Mailand an der Spitze einer Anstalt, welche nach dem Namen
des Vorstehers kurzweg die Akademie des Lionardo da Vinci hiess,
und in welcher das Können wie das Wissen der zahlreichen Schüler
gleichmässige Anregung erhielt. Vielleicht zu Zwecken von Vorträgen
in der Akademie, vielleicht als Vorarbeiten zur Herausgabe von Werken,
welche Lionardo plante, aber kaum bis zur Reife des schriftlichen
Entwurfs förderte, entstanden Hefte, welche theilweise noch heute
vorhanden uns einen bewundernden Einblick in den reichsten Geist
gestatten, den das Ende des XV. Jahrhunderts in Italien hervor-
gebracht hat. Eine Anzahl solcher Hefte voll von feinen in Spiegel-
schrift von rechts nach links verlaufenden Schriftzügen ist nachweis-
lich abhanden gekommen, wahrscheinlich zu Grunde gegangen. Nur
13 Hefte haben sich erhalten, von welchen 12 mit den Buchstaben
Ä bis 31 bezeichnet in den Bibliotheksräumen der Pariser Akademie
der Wissenschaften stehen, eines früher als A^ bezeichnet, jetzt den
Namen Codice AÜanfico von seiner einem Atlas ähnlichen Gestalt
führend in der Ambrosianischen Bibliothek in Mailand sich befindet.
Eine photographische Nachbildung desselben wird vorbereitet, eine
solche der Pariser Hefte hat stattgefunden und hat sie dem allge-
meinen Studium unterbreitet^), so weit der Zustand der Aufzeich-
nungen ein Studium gestattet. Leider sind es nur zusammenhanglos
hingeworfene Bemerkungen, oft einander widersprechend, mitunter
durch ein beigeschriebenes falsch (also die Unzufriedenheit des
Verfassers selbst bezeugend und in keiner Weise ihre Zeitfolge
beglaubigend, so dass man nicht weiss, was Lionardo's frühere, was
seine spätere Meinung war. Auszüge^), welche grösstentheils dem
Codice Atlantico entnommen sind, lassen einen auch für die Geschichte
der Mathematik nicht unwichtigen Lihalt jenes stattlichen Heftes ver-
muthen, wenn auch bedauerlicher Weise die Belegstellen nicht ab-
gedruckt sind. Betrachtungen über Sternvielecke, Unterscheidung von
Curven einfacher und doppelter Krümmung, Entdeckung der Brenn-
1) Heller, Geschichte der Physik I, 222—248 (1882). °) Charles Ra-
vaisson-Mollien, Les Manuscrits de Leonard de Vinci. Tome I Manuscrit
Ä (1881). Tome II Manuscrits B, B (1883). Tome III Manuscrits C, E, K
(1888). Tome IV Manuscrits F, I (1889) Tome V Manuscrits G, L, M (1890).
Tome VI Manuscrit H und Ashh. 2038, 2037 (1891). ^) Chasles, Apergu
hist. .5.30— .5.32 (deutsch S. 625-627), — Libri IV, 42, Note 4; 46, Note 1 und 2.
296
56. Kapitel.
linien, Leuguuug der Möglichkeit einer Quadratur des Kreises, Er-
findung der Zeichen -f~ ^^d — ^^^^ Dinge, die eine genauere und
dadurch glaubwürdigere Besprechung verlangt hätten. Die Ausbeute
der bisher veröfi'entlichten Hefte zeigt uns Lionardo da Vinci nicht
als grossen Mathematiker. Sie giebt zu erkennen, dass er, der Mann
der praktischen Anwendung, auch auf die Geometrie sein Augenmerk
vorzugsweise nach der Richtung hinwandte, ob und wie sie etwa den
Zwecken des Künstlers dienstbar gemacht werden könnte. Weitaus
am häufigsten kommen Zeichnungen regelmässiger Vielecke vor^),
bald so, dass eine gegebene Kreislinie in eine gegebene Anzahl
gleicher Theile getheilt werden soll, bald so, dass über einer ge-
gebeneu Strecke als Grundlinie das betreffende Vieleck verlangt wird,
und dass diese Aufgabe alsdann durch Auffindung des Mittelpunktes
des Umkreises des Vielecks als gelöst betrachtet wird. Dabei ist häufig
die Bedingung gestellt, es solle die Zeichnung unter Festhaltung
einer einzigen Zirkelweite vollzogen werden^'). Wir wissen, dass
Abu '1 Wafä (Bd. I , S. 700) die gleiche Bedingung bei einer grossen
Anzahl von Aufgaben beobachtete. Von jetzt an ist sie dem Abend-
lande, insbesondere Italien erworben. Betrachten wir nun einige der
Vorschriften Lionardo's da Vinci. Um d (Figur 55) beschreibt man
einen Kreis, um h wenigstens einen Kreis-
bogen, um a einen zweiten, um c einen
dritten Kreisbogen immer mit derselben
Zirkelöfi'nung. Dann zieht mau die Gera-
den hc und dcf, so ist
ha
Kreis
arc. hc = -- desselb(
arc. cf
arc. af =
wie man leicht erkennt, wenn man die
Figur ergänzend die Hilfslinien ah, hd, da zieht^J. Ein anderes
MaPj wird (Figur 56) um e ein Kreis beschrieben, um a ein Kreis-
bogen, um c ein weiterer, um d ein letzter, wieder alle mit gleicher
Zirkelöifnung. Die Gerade ad liefert jetzt den Punkt n, die Gerade
*) Cantor, Ueber einige Constructionea von Lionardo da Vinci in der Fest-
schrift der Mathematischen Gesellschaft in Hamburg anlässlich ihres 200jähi-igen
Jubelfestes 1890. *) Z. B. A fol. 15 verso: Affare una linia curva divisua in
parte dispari e equali come apare in abc con un solo aprire di seste und häufiger.
3) B fol. 40 recto. ") B. fol. 27 verso.
Katdolt's Euklidausg. Alberti. Lionardo da Vinci. D. Arithmetik v. Treviso. 297
h)i))i deu Punkt m, danu soll urc. ani = ^ Kreislinie sein. Dabei
sind auf ac vier Pünktclieu angegeben, welche die Fünftheilung dieses
Bogens vollenden und je ein Theilchen als — Kreislinie auftreten
lassen; arc. cm ist ungefähr ebensogross, arc. am also g-Q^y Unter
Benutzung der auf der Figur angedeuteten Hilfslinien hat sich heraus-
/
Fig. 57.
gestellt, dass arc. cm statt 12°, die er rnessen sollte, etwa 12'' 25'
beträgt. Noch falscher ist (Figur 57) die Zeichnung eines regel-
mässigen Fünfecks^!. Ein gleichseitiges Dreieck ist beschrieben,
dessen Höhe ist gezogen und dient als Halbmesser dazu, um von dem
Fusspunkte der Höhe als Mittelpunkt aus einen Kreis zu beschreiben.
Von der Spitze des Dreiecks aus wird mit der Dreiecksseite als Halb-
messer ein Bogen beschrieben, und dessen Durchschnittspunkte mit
dem vorhergezeichneten Kreise nebst der Spitze des Dreiecks sollen
drei Eckpunkte des verlangten Fünfecks sein. Lionardo hat selbst
falso an die Figur geschrieben. Gleichwohl hat er den zu Grunde
liegenden Gedanken nicht fallen lassen. Vom Eckpunkte tn (Figur 58)
des gleichseitigen Dreiecks mnc hat er-) die Senkrechte mh nach der
Mitte der Seite nc gezogen und durch den um in als Mittelpunkt
beschriebeneu Kreisbogen ha auf der Höhe des Dreiecks den Punkt a
gefunden, der ihm Mittelpunkt des durch m und ii gelegten Kreises
wird, in welchen mn als Fünfecksseite passt. Diese Zeichnung ist
rechnungsmässig geprüft dahin zu deuten, dass sin 36"
ya
= 0,57735
^) A fol. 13 verso. -) A fol. 17 verso.
208 56. Kapitel.
angenommen ist, während sin 36° = 0,58778 sein muss
Versucli ^) liefert sin 36°
]'-
Ein dritter
0,58520. Er besteht iu Folgendem
(Figur 59). Von a und d mit ad im
Halbmesser beschriebene Kreisbögen hc
und ef schneiden einander in jj und r,
durch welche Punkte die )nrsj)]i grad-
Fig. 58.
Fig. 59.
linig gezogen wird. Dann wird
und pg =^ ~ parallel zu a
n vier gleiche Theile getheilt
, i^- ^- .-« .... gezogen. Die ga schneidet die mli im
Mittelpunkte des durch a und d hindurch-
gehenden Kreises, in welchen ad als Fünf-
ocksseite passt.
Will ein regelmässiges Siebeneck in
eiii^m Kreise von gegebenem Halbmesser
erhalten werden, so verfährt Lionardo da
Vinci folgendermassen-) (Figur 60). Aus
einem Punkte c des Kreisumfanges wird
der Bogen ad, aus d der Bogen ac be-
schrieben, cd und senkrecht dazu ah ge-
zogen, so ist ah genau die Siebeuecks-
seite''). Man erkennt hier sofort diejenige Methode, deren sich Abu 1
Wafä(Bd.I, S. 702) bediente und welche Jordanus Nemorarius (S. 83)
unter der Bezeichnung als indische Regel lehrte.
Das Achteck hat Lionardo, wie wir oben sahen, ganz richtig
^) B fol. 1.3 verso. ^ B fol. 28 recto. ^ c la linia ab e che in sopra
meza dela linea cd sara apiinto - da tutto il circulo.
del
Ratdolt's Euklidausg. Albei-ti. Lionardo da Vinci. D. Arithmetik v. Treviso. 299
constriiirt In demselben Hefte, in welchem die richtige Zeichnung
gelehrt ist, nur 23 Blätter früher, ist in näherungsweiser Zeichnung
der Mittelpunkt^) des Umkreises zu einer gegebenen Achtecksseite
gesucht (Figur 61). Die mit am als Halbmesser von a und m aus
beschriebenen Bögen schneiden sich in j? und gestatten die Mittel-
senkrechte zu am zu ziehen. Nimmt man auf dieser von }) aus nach
oben -^ hinzu, so erscheint der Mittelpunkt C des Kreises. Der
Grund für die Annahme von ^jC
ap
mag darin zu suchen sein.
dass am im Kreise vom Halbmesser a}) Sechsecksseite wäre, und dass
8:6= 1 : 1 . Von ähnlichem Gedanken aus dürfte die Vierthei-
lung einer Strecke in der letzten Fünfecksconstruction sich erklärer.
Fig. 61.
Fig. fi2.
In dem hier erhaltenen Kreise ist arc. am etwa 45" 15' 41" statt 45".
Unsere Vermuthung, wie die Achtecksconstruction entstanden sein
könnte, wird durch eine Neunecksconstruction-) gerechtfertigt. Da
9:6= 1— : 1, so müsste der Mittelpunkt des Neunecks von dem des
Sechsecks um die Hälfte des früheren Halbmessers abstehen, und
darauf kommt Lionardo's Vorschrift auch hinaus, denn es wird
(Figur 62) von n aus ng = hh == -^ aufgetragen. Das Ergebniss ist
arc. a& = 40" 12' 25" statt 40", aber Lionardo glaubte eine genaue
Zeichnung zu besitzen ^). Endlich hat sich Lionardo (Figur 63) noch
^) B fol. 17 recto. -) B fol. 29 recto. ^) e tera in se apunto 9 delle date linie.
300 56. Kapitel.
au einer Construction eines Achtzehnecks unter Beibehaltung einer
festen Zirkehveite versucht \), welche er nachträglich selbst durch ein
beigeschriebenes falso verurtheilt hat.
Die Figur ist bei Lionardo mit Buchsta-
ben versehen, aber nicht erläutert. Sie er-
klärt sich indessen von selbst und liefert
arc. mn = Iß*^ 25' 36"
anstatt 20", mithin das schlechteste Er-
gebniss unter allen.
Die Frage, deren Beantwortung un-
zweifelhaft von verhältnissmässig grösster
Bedeutung wäre, ist die nach dem Werthe,
welchen Lionardo da Vinci diesen Zeich-
nungen beilegte. Hielt er sie für richtig,
j,. gg oder hat er nur als Künstler dem Künstler
einige leichte Methoden zur Herstellung
von Figuren, wie sie als Zierrath da und dort sich anbringen Hessen,
an die Hand geben wollen? War er ferner selbst der Erfinder aller
dieser Constructionen, war er es nicht? Wir glauben auf folgende
Dinge hinweisen zu müssen. Erstens sind für eine und dieselbe Auf-
gabe der Fünfeckszeichnung mehrfache Vorschläge gemacht. Das ist
nur dadurch zu erklären, dass die früheren Vorschläge den späteren
gegenüber als mangelhaft erkannt Avurden. Zweitens steht bei einigen
Figuren ein falso, bei anderen ein apunto. Lionardo hielt demnach
erstere für falsch, letztere für genau richtig. Es will uns scheinen,
als sei darin eingeschlossen, dass er die Zeichnungen, welchen weder
das eine noch das andere Beiwort beigefügt war, auch weder für
falsch, noch für genau hielt, mithin für nur annäherungsweise richtig.
Von den beiden als richtig belobten Constructionen ist uns die des
Siebenecks, wie wir angegeben haben, längst bekannt. Sie mag wohl
Lionardo auf irgend eine Weise zur Kenntniss gebracht worden sein,
und er hielt sie für genau, wie sie ihm als genau mitgetheilt worden
war. Vielleicht ist auch die Neuneckszeichnung von anderswoher zu
ihm gedrungen, wenn wir sie gleich weder vorher noch später irgendwo
haben auftreten sehen. Vielleicht müssen wir aber auch die Neun-
eckszeichnung als Lionardo's Eigenthum anerkennen und dann frei-
lich gereicht jenes apunto nicht zu seinem Ruhme als Mathematiker.
Alle übrigen Vorschriften, die gleichfalls ausschliesslich in den Heften
Lionardi's da Vinci gefunden worden sind, schreiben wir ohne weiteres
ihm zu, es dahin gestellt sein lassend, was seine eigentliche Absicht war.
1) B fol. 13 recto.
ß.attlolt's Euldidausg. Alberti. Lionanlo da Vinci. D. Arithmetik v. Troviso. 301
In den Heften, welche man, trotzdem ihr Format von dem eines
Foliobogens bis zum kleinsten Sedez wechselt, insgesammt als Notiz-
bücher zu bezeichnen das Recht hat, deren Inhalt mitunter eine recht
kunterbunte Mannigfaltigkeit aufweist, kommen auch mathematische
Dinge ausser jenen Vielecksconstructionen noch vor. In den veröffent-
lichten Heften ist mehr Geometrisches als Rechnungen zu finden.
Letztere erscheinen vorzugsweise im Hefte E. Es sind Uebungen in
Rechnungen mit Proportionen. Ein Text ist denselben nicht bei-
gefügt. Auch im Hefte I sind mancherlei Rechnungen, welche aber
sämmtlich Lionardo's Bedeutung auf diesem Gebiete als eine recht
dürftige erscheinen lassen. Namentlich besass er vor Bruchrechnungen
eine heilige Scheu ^). Unter dem Geometrischen mögen noch folgende
Dinge erwähnt werden: die uralte Höhenmessung durch den Schatten,
welche gerühmt wird^), eine Methode, die Flussbreite zu messen^),
welche genau mit derjenigen übereinstimmt, die einst Sextus Julius
Africanus lehrte (Bd. I, S. 410), das Dreieck^) mit den Seiten 13, 14,
15, welches zu dem unverwüstlichen Bestände der Geometrie fast aller
Himmelsstriche gehört, und welches aus den beiden aneinander-
hängenden rechtwinkligen Dreiecken 5, 12, 13 und 9, 12, 15 ent-
standen ebenso leicht wiederholt gebildet als übertragen worden sein
kann. Eine Figur-'') mit den beigeschriebenen Zahlen der Längen-
maasse versinnlicht den Satz der Proportionalität einer Kreistangente
und den beiden Abschnitten einer von einem Punkte der Tangente
ausgehenden Secante. Die Quadratur eines Kreisausschnittes'') er-
folgt, man sollte sagen, nach indischem Vorbilde (Bd. I, S. 014) durch
Zerschneiden in kleinere, aber dem Ganzen ähnliche Theile, welche
beim Geradmachen des gebogenen Theiles der Figur eine kammartige
Gestalt annehmen, so dass zwei solcher
Figuren vermöge eines Ineinanderschie-
bens ein Rechteck hervorbringen. Ein
anderer Versuch, die Kreisquadratur zu
verdeutlichen, besteht darin''), dass (Fi-
gur 64) ein Kreisausschnitt durch Gerad-
biegen seiner Wölbung unmittelbar in ein
gradliniges Dreieck übergeführt wird, wo- Fig. g4.
bei das Dreieck mit ebeusovielem Flächen-
raume aus dem Kreisausschnitte heraustritt, als es im Innern des Aus-
schnittes freilässt. Ein dritter Versuch ist höchst bemerkenswerth,
weil er die Quadratur mittels des Rollens eines Rades her-
') I fol. 135 (87) verso. -) A fol. C recto: e bona regola. ^) E fol. 51 verso.
*) E fol. 73 (25) verso. '^) E fol. 72 (24) recto . ^) E fol. 25 recto. ') E fol. 25 verso
302 TjC. Kapitel.
stellt. Dabei ist zwar ein grober Schreibfehler untergelaufen, aber
der Sinn ist nicht misszuverstehen. Man soll ein RacP), dessen Dicke
dem halben Radius gleich ist (irrthümlich ist dafür der halbe Durch-
messer gesagt), ganz umrolleu, so lässt es eine Spur zurück, welche
dem Kreise des Rades flächengleich ist. In einem anderen Hefte ^)
ist der Schwerpunkt der Pyramide von dreieckiger Grundfläche richtig
bestimmt, indem behauptet wird, er liege auf der Axe der Pyramide
und zwar so, dass die Entfernungen zur Spitze und zur Grundfläche
sich wie 3 zu 1 verhalten. Fehlerhaft und mehr als ein Sehreibfehler
ist es dagegen, wenn in dem gleichen Hefte behauptet wird^), das
doppelte Diametralviereck eines Würfels sei so gross wie das Diametral-
viereck des doppelten Würfels. Das Diametralviereck des Würfels
von der Seite a (h) ist a^y2{h~y2). Soll ?r|/2 = 2a-]/2 sein, so
folgt h = «1/2, wäkrend die Verdoppelung des Würfels h = ay~2
erfordert. Wieder in einem anderen Hefte (dem Hefte I) sind ziem-
lich viele geometrische Figuren gezeichnet, aber meistens ohne be-
gleitenden Text. Eine ganze Anzahl derselben ist augenscheinlich
dem pythagoräischen Lehrsatze gewidmet, so die bekannte Figur zum
euklidischen Beweise des Satzes, aber auch eine andere
(Figur 65), welche den Sonderfall des gleichschenklig
rechtwinkligen Dreiecks erläutert. Wir begnügen uns
mit diesen Auszügen, die immerhin gestatten, den wei-
tei-en Veröfi'entliehungen mit einiger Spannung entgegen-
zusehen, ob also der Codice atlantico wirklich das ent-
hält, was frühere Untersucher behauptet haben.
Eigentliche Mathematiker waren die italienischen Künstler, von
denen hier die Rede sein musste, nicht. An solchen fehlte es aber
keineswegs, Xamen, Schriften haben sich erhalten, auch der Druck
hat ihre Schriften, mitunter sogar in wiederholten Ausgaben, ver-
vielfältigt. Die älteste derartige Druckschrift, von der man gegen-
wärtig Kenntniss besitzt*), besteht aus 62 Blättern von je 32 Zeilen
auf der Seite. Die Typen sind gothisch. Das Buch hatte seinen
Ursprung in Treviso in der Druckerei eines bekannten dortigen
Meisters Michiel Manzolo oder Manzolino im Jahre 1478. Der Drucker
ist zwar nicht genannt, aber die vorhandene Angabe des Drnckortes
^) E fol. 25 verso : La intern revolutione della rota della qiiaJe la grossezza
sia equale al suo semidiamitro lasscia di se vesstigio equah alla quadratura del
suo cierchio. *) F fol. 51 recto. ^ F fol. 59 recto. *) Vergl. Bald. Bon-
compagni in seiner sehr umfassenden Abhandlung in den Atti deW Accademia
Pontißcia de' Xiwvi Lincei (1862—1863), T. XVI pag. 1—64, 101—228, 301—364,
389—452, 503-630, 683—842, 909—1044. Ein Exemplar der Arithmetik von
Treviso ist im Be.sitze der Abtei Gottweih.
Ratdolt's Euklidausg. Alberti. Lionardo da Viuci. D. Antbmetik v. Treviso. 303
und des Jahres verbunden mit den Typen haben durch sorgsame Ver-
gleichung zu jenem kaum anzuzweifelnden Ergebnisse geführt. Wer
dagegen der Verfasser der Arithmetik von Treviso, wie sie
künftig bei uns heissen mag, war, hat nicht ermittelt werden können.
Nur den Zweck seines Werkes giebt er kund, indem er sagt, er sei
von jungen Leuten, die dem Kaufmannsstande sich widmen wollten,
inständig gebeten worden, die Rechnungsregeln zusammenzustellen,
lieber einige dieser Rechuungsregeln giebt der Auszug, dessen wir
uns bedienen konnten, Auskunft, und sie erinnern vollständig an das,
was uns als Kaufmannsarithmetik bekannt ist.
Die Multip lication wird nach sehr mannigfaltigen Methoden
gelehrt. Die erste Methode heisst nioltiplicarc per colona^). Sie wird
geübt, wenn man es nur mit einem einziifrigen Multiplicator zu thun
hat und lässt das Product einfach unter den Multiplicandus setzen.
Sind beide Factoren zweiziffrig, so wird die kreuzweise Multiplication
angewandt"), welche den Namen des nioltiplicare per croxetfa führt.
Die dritte Methode heisst moltiplicare per scachiero^). Um sie aus-
führen zu können, bedürfe man nur der Uebung in der ersten Methode
per colona, deren wiederholte Anwendung sie sei. Als Beipiel ist
abcredruckt:
829
24
1
6
3316
1658
19896
6
wobei die am Rande mitgeführten Zahlen die der Neunerprobe sind.
Wird an diesem Beispiele nicht recht klar, woher der Name der
schachbrettartigen Multiplication rühre, so erkennt man solches um so
deutlicher an einem Beispiele, welches auf dem folgenden Blatte in
vier verschiedenen Formen abgedruckt ist*). Es handelt sich um 314
mal 934, und die Musterrechnungen sehen folgendermassen aus:
9 3 4
3736/4
934/1
2802 /3
3 7 3 6
9 3 4
2 8 0 12
29
*) Boncompagui, 1. c. pag. 60.
pag. 102— 1U3. *j Ebenda pag. 330.
*) Ebenda pag. 101.
Ebenda
304
')&. Kapitel.
9
3
4
9 3 4
0/
/2
3
1
4
3 \| 1\| l\.
4
1
3
6
0/
/9
0/
/3
0/
,/ 4
\9
o\
\3
o\
7
3/
/6
1/
X
\7
2\
2
\9
o\
\ 2
1\
2
2
7
6
9
3
Der Gedanke ist offenbar immer der gleiche und auch die Be-
nennung der Methode die gleiche, trotzdem werden fünf Unterarten der-
selben unterschieden, die darauf beruhen, ob der Multiplicator gleich
unter dem Multiplicandus oder seitlich von den Theilproducten steht,
ob senkrecht einander kreuzende Striche ein Schachbrett bilden, ob
auch noch Diagonalen der einzelnen Schachfelder vorhanden sind, die
von rechts oben nach links unten, die aber auch von links oben nach
rechts unten gezogen sein können.
Beim Dividiren wird zuerst^) der modo de imrUre per colmia
gelehrt. Es ist die Division durch einen einziffrigen Divisor, der
links vom Dividenden geschrieben wird, während der Quotient unter
dem Dividenden zu stehen kommt. Die Zwischenrechnungen (Bildung
von Producten einzelner Quotientenstellen in den Divisor und Sub-
traction vom Dividenden) werden im Kopfe ausgeführt, genau so wie
es bei der Multiplication gleichen Namens geschah. Hat der Divisor
mehr als nur eine Ziffer, so tritt das ^)ar//rc jjer hafelJo^) in sein Recht,
d. h. das Uebersichdividiren mit den vielfachen Durchstreichungen
von Zahlen, welche dem Beispiele die Umrisse eines Segelschiffes ver-
leihen.
Au die beiden wichtigsten Rechnungsarten schliessen sich An-
wendungen an und zwar zuerst die regida de le tre cose"'), womit
selbstverständlich die Regeldetri gemeint ist; dann kommt die
Mischungsrechnung ^), bei welcher Legirungen feinen Metalls mit ge-
riugwerthigem vorgenommen werden. Die Beimischung von Kupfer
heisst consolare. Den Ursprung des Namens hat man^) sehr scharf-
sinnig mit astrologischen Träumereien in Verbindung gebracht. Die
Sonne bringt nämlich nach der Meinung der Astrologen Gold hervor,
ist also auch im Stande, geringe Metalle in Gold zu verwandeln, und
wenn auch keine Umwandlung des Kupfers bei der Vermischung mit
Edelmetallen erzielt wird, so vermehrte sich doch die Gewichtsnienge
der allerdings jetzt geringerwerthigen Legirung. Das vorgenommene
^) Boncompagni 1. c. pag. 554. -) Ebenda pag. 559 — 560. *) Ebenda
pag. 562. •*) Ebenda pag. 565. ^) Peacock in der Encydopedia metropoU-
tana Vol. I, pag. 466 s. v. Ärithmetic.
RatiloH's Euklidaiisg. Alberti. Lionardo da Vinci. D. Arithmetik v. Treviso. 305
Geschäft selbst führt den kaum verständlichen Namen la diredana
impromissa^) (die un versprochene Enterbung?). Von anderen An-
wendungen nennen wir la regula de le do cose che se consongeno^),
d. h. die Kurieraufgabe und la regiäa de le do cose die se cazano^),
d. h. die Aufgabe von dem Hunde, der einen Hasen jagt. Gegen
Schluss des Werkes ging der Verfasser zu Fragen über, welche bei
der Anfertigung von Kalendern von Wichtigkeit waren. So lehrt er
trovare lo aiireo numero^), die Auffindung der goldenen Zahl, d. h. des
um 1 vergrösserten Restes der Jahreszahl bei Division derselben durch 19.
So giebt er die Dauer eines Monats^) zu 29 Tagen 12 Stunden und
793 Punkten an, von welchen 1080 auf eine Stunde gehen. In dieser
letzten Angabe liegt ein Beweis dafür, dass der Verfasser in der
Kalenderkunde der Schüler jüdischer Astronomen war, denn diese
haben seit dem XL Jahrhundert mindestens und bis in das XVIL Jahr-
hundert hinein die Stunde in 1080 Gelachim eingetheilt.
Ausser und nach der Arithmetik von Treviso sind noch viele
andere ihr verwandte Bücher am Ende des XV. Jahrhunderts ge-
schrieben und die einen etwas früher, die anderen etwas später ge-
druckt worden''). Der Nizzarde Pellos, der Parmesaner Giovanni
Tedaldo, die Venetianer Girolamo Tagliente und Piero Borgi
(oder Borgo oder Borghi) sind von ihren Zeitgenossen hochgeschätzte
Schriftsteller gewesen. Besonders der Thesoro universale des Tagliente '^)
wurde wiederholt gedruckt. In ihm findet sich bestimmt ausge-
sprochen, die Ziifern seien indischen Ursprunges und seien im Jahre
1200 nach Italien gebracht worden. Die Arithmeüca des Borgi^)
von 1484 zeichnet sich gleichfalls durch manche Neuerungen aus.
Borgi kennt die Wörter nuUa und millione, welche er eingehend
erklärt. Er lehrt an sechs Beispielen, wie man durch a • 10" divi-
dire, indem man vom Dividenden n Stellen rechts abschneide und die
links verbleibende Zahl durch a dividire. Ein solches Beispiel, in
welchem die letztere Division nicht aufgeht, ist —55-57^ • Borgi be-
schreibt im Texte ganz genau, man solle 2345 durch 3 teilen, wobei
781 als Quotient und 2 als Rest erscheine, man solle an diese 2
die abgeschnittenen Stellen 678 anhängen und erhalte dadurch als
') Boncompagni 1. c. pag. 565. ^) Ebenda pag. 570. ') Ebenda pag. 575.
*) Ebenda pag. 581. ^') Ebenda pag. 688 und 1040. «) Vergl. Libri III, 147
mit Boncompagni 1. c. pag. 141, 146, 162, 332, 554, 581 u. s. w. ^) Von
Libri unrichtigerweise einem Lucas Antonio de Uberti zugeschrieben. Vergl.
Boncompagni 1. c. pag. 160 — 162. ®) Wir verdanken diese Angaben gleich
vielen anderen Hen-n G. Wertheim, dessen Bibliothek an mathematischen
Seltenheiten reich ist. Wir werden, wo wir künftig auf seine Mittheilungen uns
stützen „Wertheim brieflich" citiren.
Cantor, Geschichte der Mathem. II. 2. Aufl. 20
306 57. Kapitel.
endgültiges Eregebniss der Division 781^-- Am Rande steht ausser-
dem das Bild der Rechnung, nämlich
p. 3000
2345 I 678
781 1^
„_, 2678
781
3000
Aber keines dieser Werke übte einen so nachhaltigen Eindruck, einen
so weit über die Grenzen Italiens hinaus sich erstreckenden Einfluss,
als die Schriften des Luca Paciuolo, mit denen wir uns in ent-
sprechend ausführlicher Darstellung zu beschäftigen haben.
57. Kapitel.
Luca Paciuolo.
Luca Paciuolo^) dürfte am richtigsten in dieser Namensform
geschrieben werden. In einer italienischen Eingabe an den Dogen
von Venedig nennt er sich zwar de Pacioli, anderwärts Pacci-
uolus und Paciolus, sein Biograph Baldi (1553 — 1615) sagt aber
ausdrücklich fu de la famiglia de Faciuoli. Paciuolo also ist etwa
1445 in Borgo San Sepolcro im oberen Tiberthale geboren zu einer
Zeit als dort der Maler Pier o della Francesca lebte, der wenigstens
den Namen eines tüchtigen Geometers (S. 294) hinterlassen hat. Ob
Paciuolo dessen Unterricht empfing, ob er, was wahrscheinlicher ist,
da ein Bildniss Paciuolo 's von Piero nach 1494 gemalt im Besitze
des Fürsten von Urbino sich befand, erst in späteren Lebensjahren
in freundschaftlichem Verkehr zu ihm seine Einwirkung empfand,
steht dahin. Im Jahre 1464 kam Paciuolo nach Venedig in das Haus
eines Kaufherrn Antonio de Rompiasi^), das in der Judenstadt (la
Giudecca) lag. Er wurde, selbst kaum 20 Jahre alt, der Erzieher
von dessen drei Söhnen und erhielt gemeinschaftlich mit ihnen den
mathematischen L'nterricht eines Domenico Bragadino, dessen
Name durch Paciuolo auf uns gekommen ist. Jedenfalls verweilte
Paciuolo mehrere Jahre bei dem Rompiasi, und dort legte er wohl
') Die Biogi-aphie des Luca Paciuolo ist am gründlichsten behandelt
von H. Staigmüller, Zeitschr. Math. Phys. XXXIV, Histor.-liter. Abthlg. S. 81—102
und 121 — 128. ^) In der Ausgabe der Summa des Paciuolo von 1494 steht
Rompiasi, in der Ausgabe von 1523 Ropiansi. Nachforschungen, welche Carl
Peter Kheil (lieber einige ältere Bearbeitungen des Buchhaltungstractates
von Luca Pacioli S. 68 — 69) in Venedig veranlasste, haben den Namen Rompiasi
actenmässig bestätigt.
Luca Paciuolo. 307
auch den Grund zu kaufmännischen Kenntnissen, von denen seine
Schriften Zeugniss ablegen. Jedenfalls schrieb Paciuolo 1470 sein
erstes mathematisches Lehrbuch für die mehrgeuannten Schüler, war
aber 1471 in Rom im Hause des uns bekannten Leon Battista
Alberti, der damals von Florenz dorthin zog. Zwischen 1470 und
147G trat Paciuolo dem Franziscanerorden bei, und seit dieser Zeit
führte er ziemlich ausschliesslich den Namen Fra Luca di Borgo
Sancti Sepulchri. Seine Ordensobern verschafften ihm meistens
Verwendung als Professor der Mathematik an verschiedenen Orten.
In Perugia, in Rom, in Neapel, in Venedig, in Mailand, in Florenz,
in Bologna hat er gelehrt, an mehreren dieser Orte zu wiederholten
Malen nach kürzerer oder längerer Abwesenheit. Man darf ihn daher
fast einen Wanderlehrer der mathematischen Wissenschaften nennen.
Nach 1514 wird er aber in den Acten keiner Universität mehr er-
wähnt. Um diese Zeit also muss er gestorben sein. Seiner Be-
ziehungen zu den beiden Künstlergelehrten Piero della Francesca
und Alberti ist gedacht worden. Auch der dritten von uns in dieser
Eigenschaft weitläufiger besprocheneu Persönlichkeit stand er nahe.
In Mailand waren Paciuolo und Lionardo da Vinci eng befreundet.
Ersterer berechnete für letzteren, der, wie wir wissen, kein grosser
Rechenkünstler war, die Gewichtsmenge Erz, welche zur Herstellung
eines Reiterstandbildes erforderlich war, das errichtet werden sollte.
Letzterer beeinflusste den ersteren bei der Abfassung eines Buches,
von welchem wir noch zu reden haben, und zeichnete die Figuren
zu demselben. Man findet in einer selbstbiographischen Stelle des
Hauptwerkes von Paciuolo den Satz^): „Seit wir als Unwürdige das
Kleid des seraphischen heiligen Franziscus nach einem Gelübde an-
legten, kam es uns zu, durch verschiedene Länder zu wandern." So
schrieb er 1487, und man hat sonst den Satz so aufgefasst, dass eine
Reise ins Morgenland damit gemeint sei, welche seinem Ordenseintritte
unmittelbar folgend in die Jahre 1470 — 147G fallen müsste; auf
dieser Reise habe er arabische Mathematik kennen gelernt. Gewiss
mit Recht hat man dagegen gesagt^), Paciuolo würde einer solchen
Reise, von der auch sein ältester Biograph, Baldi, schweigt, in an-
deren Worten gedacht haben, als in so allgemeinen, die ohne jeden
Zwang auf seine an den verschiedensten Orten Italiens wechselnde
Lehrthätigkeit gedeutet werden können. Man hat hinzugefügt, dass
Paciuolo jedenfalls damals bei Arabern nicht viel Mathematik mehr
^) Staigmüller 1. c. S. 86 hat die ganze Stelle aus der Summa fol. 67
verso im Urtexte und in deutscher Uebersetzung abgedruckt. '') Ebenda
S. 98—99.
20*
308 '>"■ Kapitel.
lernen konnte, selbst wenn er der Sprache durchaus mächtig gewesen
wäre. Der Ulüg Beg'sche Gelehrtenkreis, die letzte Vereinigung von
tüchtigen Mathematikern im Morgenlande (Bd. I, S. 735 i war 20 Jahre
nach der Ermordung jenes Fürsten wohl schon zerstreut. Endlich
ist auch die Kenntniss der arabischen Sprache Paciuolo abgesprochen
worden, denn würde ein des Arabischen Kundiger gesagt haben:
certa regola ditta El cataym quäle seciindo alcuni e vocaholo araho^),
würde er an anderer^) Stelle den Zweifel geäussert haben: Algebra et
almucabida in lingua arabica over caldea secondo alcuni?
Wir müssen nun zur Uebersicht über die Werke des Paciuolo
uns wenden. Wir haben oben gesagt, dass er 1470 ein Lehrbuch
der Mathematik seinen Schülern, den Brüdern Rompiasi, widmete. Ein
zweites Lehrbuch kürzerer Fassung schrieb er 1476 in Perugia für
seine dortigen Schüler, ein drittes über feinere Gegenstände 1481 in
Zara. Alle drei sind verschollen und sind verschmolzen zu der 1487
wieder in Perugia niedergeschriebenen, 1494 in Venedig gedruckten
Summa de Anthmetica Geometria Froportioni et Proportionalita, welche
gemeiniglich kurzweg die Summa des Paciuolo genannt wird und
auch von uns so genannt werden soll. Ein neuer Abdruck ist 1523
erfolgt. Wieder in Venedig und zwar 1509 erschien eine Euklid-
ausgabe des Paciuolo, im gleichen Jahre am gleichen Druckorte
seine Divina proportione, welche zwar schon 1497 in Mailand
vollendet war, aber erst 1509 vermehrt durch eine damals fertig
gestellte Abhandlung über die Baukunst in Druck gegeben
wurde. Ein viertes Werk Paciuolo's De viribus quantitatis be-
findet sich handschriftlich in der Universitätsbibliothek zu Bologna^);
über dessen Inhalt ist Genaues nicht veröffentlicht. Fünftens hat
Ebenderselbe eiue Abhandlung über das Schachspiel^) verfasst,
von welcher er an zwei Orten redet, welche aber sonst keine Spur
hinterlassen hat. Sie war eine der ersten, wenn nicht die erste über
diesen Gegenstand, dessen Literatur zu verfolgen unseren Zwecken
natürlich sanz fremd ist. Eine sechste Schrift endlich woUte Pa-
ciuolo noch veröffentlichen''), scheint aber die Zeit dazu nicht mehr
gefunden zu haben. Er leitet nämlich die Abhandlung über Baukunst
von 1509 mit einem Briefe ein, in welchem er verspricht dieser Kunst
ein grösseres Werk zu widmen und damit eine Lehre von der
Perspective vereinigen zu wollen, welche sich auf die Schriften
von Piero della Francesca stützen werde, von denen er einen Auszug
sich bereits gemacht habe.
^) Summa fol. 98 verso. *) Ebenda fol. 144 recto. ^) Staiginüller 1. c.
5. 99. ") Ebenda S. 100. ^) Ebenda S. 127.
Luca Pacinolo. 309
Die Summa') besteht der Inhaltsübersicht, Snmmario, zufolge
aus fünf Haupttheilen, parte principale prima bis quinta, deren Inhalt
freilich in nicht sehr deutlicher Weise sich gliedert. Der erste Haupt-
theil, welcher ungefähr mit dem sich deckt, was die früheren Schrift-
steller als Arithmetik und was sie als Algorismus bezeichneten, son-
dert sich verhältnissmässig leicht ab, ebenso der fünfte geometrische
Haupttheil; dagegen ist bei den drei zwischenliegenden Haupttheilen
kaufmännischer Rechnungsaufgaben nicht gut einzusehen, warum über-
haupt eine Scheidung in Haupttheile bei ihnen versucht wurde. Der
gleichen Meinung scheint im Grunde Pacinolo auch gewesen zu sein,
da im Werke selbst die eben auseinandergesetzte, in der Vorrede an-
gekündigte Scheidung nicht festgehalten wird. Hier sind nur zwei
getrennte Haupttheile , ein arithmetischer und ein geometrischer,
vorhanden, jeder mit besonderer von 1 anfangender, nicht selten
fehlerhafter Blattbezeichnung, während die Rückseiten der Blätter
unbezeichnet sind. Jeder dieser beiden thatsächlich vorhandenen Haupt-
theile zerfällt in Bistinctiones , jede Distinctio in Tradatus, jeder
Tractat in Articidi. Wir gedenken der Druckfolge nach Einzelheiten
hervorzuheben , . ohne einem bestimmten geistigen Zusammeiihange
nachspüren zu wollen, wo kein solcher vorhanden ist.
Die vollkommenen Zahlen endigen abwechselnd mit 6 und 8 und
können eine andere Randziffer nicht haben, denn die Traurigen leben
ordnungslos, die Guten und Vollkommenen bewahren immer die vor-
geschriebene Ordnung-).
Regelmässige Vielflächner kann es nur fünferlei geben ^). Zur
Ecke gehören mindestens drei Winkel, deren Summe 3G0" nicht über-
steigen darf; drei Sechseckswinkel sind aber schon zusammen 360''
und bilden daher keine Ecke. Folglich sind die einzigen Möglich-
keiten der Eckenbildung die aus drei Fünfeckswinkeln, aus drei Vier-
eckswinkeln, aus drei, vier oder fünf Dreieckswinkeln.
Der 4. Artikel des 2. Tractates der 1. Distinctio kehrt zu den
vollkommenen Zahlen zurück"^) und giebt für deren Bildung die euklidi-
sche Regel (Bd. I, S. 253 — 254) unter Nennung seiner Quelle.
Der 7, Artikel des 4. Tractates der 1. Distinctio wendet sich
zu den Numeri congrui. Schon im vorhergehenden Artikel ist
Leonardo von Pisa mit seiner Schrift über die Quadratzahlen als
mas.sgebend bezeichnet, und ihm folgt Paciuolo auch hier, noch ge-
genauer allerdings im 6. Tractate der 2. Distinctio, wo die allgemeine
^) Kästner I, 65—82. — Chasles, Äjiergu liist. 533—539 (deutsch 629—
636). — Libri III, 137—143. ^) Summa fol. 3 recto. ^) Ebenda fol. 4 recto.
^) Ebenda fol. 6__verso.
310 57. Kapitel.
Formel (er -f- ß^) + 4«/3(«^ — ß^) als nur Quadratzahlen enthaltend
angegeben ist, während an der erstgenannten Stelle ausschliesslich
von dem Sonderfalle /3 = « + 1 die Rede ist^).
Die Einleitung^) zum 1. Tractat der 2. Distinctio nennt die
verschiedenen Rechnungsverfahren, deren man sich bediene: 1. Nume-
ratio, 2. Additio, 3. Subtractio, 4. Multiplicatio, 5. Divisio, 6. Pro-
gressio, 7. Extractio. Die früheren Schriftsteller wie Giovanne de
sacro husco und Frodocimo de heldomandis da Padua nahmen aller-
dings neun s^yetie della pratica numerale an. Da aber Duplation
und Mediation in der Multiplication und Division enthalten
sind, so kann man sie entbehren. An diese Einleitung schliesst
sich unmittelbar die Numeration an, die mancherlei zu erwähnen ge-
bietet: die alten Ausdrücke digitus und articulus sammt ihrer Erklä-
rung; das Vorkommen der Wörter mdla oder cero und des Wortes
miUione, welches dann auch weiter in Zusammensetzungen gebraucht
wird, z. B. niilUone de millioni'^ Punkte, welche au Anzahl zunehmend
unter die jeweils 4. Ziffer gesetzt das Aussprechen der Zahlen er-
leichtern sollen z. B.
8 659 421 635 894676.
Die Zahlen werden von rechts nach links geschrieben nach Art der
Araber, welche nach Einigen die Erfinder der Kunst sind, die als-
dann aus Unwissenheit statt modo ardbico fälschlich Äbaco genannt
wurde; Andere leiten dagegen Abaco von einem griechischen Worte
ab; und nun folgt ein leerer Platz, der vermuthlich dazu bestimmt
war, das Wort aßat, oder ein ähnliches zu enthalten, welches aber
nicht gedruckt werden konnte.
Beim Addiren^) bedienen sich die Kaufleute der Umkehrung
der Reihenfolge als Probe, indem sie einmal hinauf- und einmal hin-
unteraddiren. Gelehrte bedienen sich der Neuner- und der Siebener-
probe. Die Siebenerprobe ist die zuverlässigere^), weil die Neuner-
probe zwei grosse Mängel hat: man kann bei ihr nicht erkennen,
ob Nullen ausgelassen wurden, oder Ziffern in verkehrter Reihenfolge
geschrieben worden sind.
Der 2. Tractat der 2. Distinction wendet sich zu der Subtrac-
tion und behandelt sie in verschiedenen Artikeln, namentlich den
Fall berücksichtigend, dass eine Subtrahendenziffer grösser ist als die
^) Summa fol. 13 verso (statt 13 ist 15 gcdi'uckt) und fol. 46 recto. -) Ebenda
fol. 19 recto. ^) Ebenda fol. '20 recto und verso (gedruckt ist 10 für 20).
"■) Ebenda fol. 22 recto.
Luca Paciuolo.
311
Minuenden Ziffer gleichen Ranges^). Ist 6432 von 8621 mit dem Reste
2189 abzuziehen, so sagt man: 2 von 1 geht nicht, aber 2 von 10
ist 8 und 8 und 1 ist 9; dann ist 3 und 1 zusammen 4, aber 4 von 2
geht nicht, dagegen 4 von 10 ist () und 6 und 2 ist 8; 4 und 1 ist 5
von 6 bleibt I5 6 von 8 bleibt 2. Eine zweite Methode borgt von
der nächsten Minuendenziffer, vrenn nöthig, eine 1 in Gestalt von
10 und sagt 2 von 11 bleibt 9, 3 von 11 bleibt 8, 4 von 5 bleibt 1,
6 von 8 bleibt 2. Eine dritte Methode endlich borgt 10, ersetzt sie
aber durch Erhöhung der nächsten Subtrahendenziffer um 1; sie sagt
2 von 11 bleibt 9, 4 von 12 bleibt 8, 5 von 6 bleibt 1, 6 von 8
bleibt 2.
Der 3. Tractat der 2. Distinction hat die Multiplication zur
Aufgabe, die in nicht weniger als acht Methoden gelehrt wird"). Die
erste Methode heisst in Venedig scacherii, in Florenz hericocoU. Das
Musterbeispiel ist :
y876
6789
8
8
8
8 ;4
7
9
0
0|8|
6i9
1 3
2
h
9 2 ! 5 6
67048164
Der venetianer Name ist uns aus der Arithmetik von Treviso bekannt,
der florentiner stammt von einer dort üblichen aus Aprikosenteig
geformten und mit Viereckchen bedruckten Leckerei. Die' zweite
Methode heisst casteUucio und setzt in Theilmultiplicationen 9000 mal
6789, dann 800 mal, dann 70 mal, endlich 6 mal die gleiche Zahl 6789:
9876
6789
61101000
5431200
475230
40734
17048164
Die dritte Methode a colonna oder per tavoletta kennen wir gleich-
falls. Hier ist ein Fortschritt insofern, als auch ein kleiner zwei-
ziff'riger Multiplicator wie 1 3 zur gleichzeitigen " Vervielfachung b6-
') Summa fol. 24 verso und 25 recto. ") Ebenda fol. 20 recto bis 29 recto.
312
57. Kapitel.
nutzt wird. Die vierte Methode per crocetta oder per casella bedarf,
sagt Paciuolo, etwas mehr Einbildungskraft und Gehirn als die an-
deren, vole alquanto pin fantasia e cervello che alcuno defjli altri, was
freilich bei dem kreuzweisen Verfahren nicht in Abrede gestellt wer-
den kann. Verschiedene Musterbeispiele wie
aber auch solche mit vierziffrigen Factoren dienen zur Erläuterung.
Die fünfte Methode heisst per quadrilatero, offenbar weil die schach-
brettartige Figur zum Rechtecke geordnet erscheint, wie es auch in
der Arithmetik von Treviso bei einem Verfahren der Fall war:
5432
5432
1
0
8
6
4
16 2 9
e'
2 17 2 8
2
7
1
6 0 i
Sind auch noch die Diagonalen der einzehieu Feldchen gezeichnet,
sei es von links oben nach rechts unten, sei es umgekehrt, so ent-
steht dadurch die sechste Methode gelosia oder jt)er graticula. Die
Namen rechtfertigt der Verfasser, indem er das Aussehen der Rech-
nung einem Gitterwerke, graticula, vergleicht, welches auch gelosia
genannt werde, weil man die Fenster derjenigen Räume, in welchen
Frauenzimmer wohnen, eifersüchtigerweise vergittere, um den Verkehr
mit Männern zu hindern^), und ähnlich sei es bei Klöstern, an denen
Venedig einen Ueberfluss besitze. Die siebente Methode ist die per
repiego, wo unter repiego^) verstanden sei, dass man eine Zahl als
Product zweier anderen betrachte. Wolle man also 24 mal 29 rech-
nen, so zerlege man 24 in 4 mal 6, nehme 4 mal 29 oder 116 und
dann 6 mal 116 und finde 696. Die achte Methode heisst a scapegrjo
oder das Verfahren mit Köpfen. Der eine Factor wird geköpft, d. h.
in beliebige Summanden zerlegt, mit welchen leicht multipliciren ist.
Statt 24 mal 42 setzt man 4 -f- 6 -|- 5 -|- 0 mal 42, rechnet die ein-
') Bekanntlich lieissen auch in Frankreich sowie in manchen Gegenden
Deutschlands die Fensterläden Jalousien. ^) ripiego = Ausweg.
Luca Paciuolo. 313
zelneii Theilprodukte 168, 252, 210, 378 und vereinigt sie durch
Addition zu 1008.
Der 4. Tractat der 2. Distinction ist der Division gewidmet^).
Neben der Division a tavoletta bei einziffrigem Divisor, neben der
a repiego dureb Factorenzerlegung des Divisors erscheint unter dem
Namen danda, dessen die Praktiker sich bedienen, das Dividiren
unterwärts. Das Beispiel dafür (07535376 : 9876 = 9876) benutzt
den Namen Divisor im gleichen Sinne, wie wir ihn gebrauchen; statt
des Wortes Quotient dient Proveniens. Die Gestalt ist folgende:
Divisor Proveniens
9876 9876
97535376
88884
86513
79008
75057
69132
59256
Nach dieser Methode danda, deren Name sich dadurch rechtfertigt,
dass bei Auffindimg jeder neuen Ziffer des Proveniens der Divisor
so oft gegeben werden müsse, als es möglich sei, kommt erst das
Dividiren überwärts, welches mit einem uns ähnlich schon bekannten
Ausdrucke a galea heisst. Sie war offenbar noch immer die häufigere,
da sie an weitaus den meisten Beispielen gelehrt wird, und da ihr
Name nicht nur mit dem segelschiffartigen Aussehen der Beispiele
gerechtfertigt wird, sondern auch damit, dass sie die schnellste sei,
wie die Galeere das schnellste Schiff'. Eine Bestätigung der Behaup-
tung, die Methode danda sei die der Praktiker gewesen, hat sich in
einer Krakauer Handschrift des XV. Jahrhunderts gefunden"). Dort
übt ein gewisser Magister Matheus Moretus de Brixia das
Dividiren imter sich an 2482 : 165. Das Beispiel sieht dort so aus:
165
2482
165
825
7
15 Il65
Ausser allem Zusammenhange mit dem Uebrigen erscheint eine
Seite voll Zeichnungen^) verschieden gekrümmter Hände, durch welche
die Zahlen 1—9, 10—90, 100—900, 1000—9000 in Zeichen dar-
gestellt werden sollen, dann geht der 5. Tractat der 2. Distinction
1) Summa fol. 31 verso bis 34 recto. ^) Curtze brieflich unter Berufung
auf Codex Cracoviensis 601. ') Summa fol. 36 verso.
314 ö7. Kapitel.
zu den Progressionen über, mit denen die verschiedenartigsten Dinge
vermengt sind. Da erscheinen Summationen von Quadratzahlen ^),
von Kubikzahleu-); da ist die Anzahl der Versetzungen von zehn Per-
sonen berechnet^); dazwischen treten Kurieraufgaben'*) auf und dann
wieder die Aufgabe von der Belegung der 64 Felder des Schach-
brettes mit Weizenkömern in fortwährend verdoppelter AnzahP).
Beweise oder Ableitungen von Regeln, nach Avelchen verfahren wird,
sind grade bei den etwas schwierigeren Aufgaben nicht vorhanden,
dagegen ist aber einmal auf L. P. (natürlich Leonardo Pisano) ver-
wiesen, der in seiner Schrift De numeris quadratis genaue Beweise
geliefert habe^). Für mancherlei Kenntnisse mögen ja da und dort
ältere Quellen zu entdecken sein. Eine Münchener Handschrift des
XIII. Jahrhunderts'') enthält z. B. die allgemeine Regel, dass aus
n Elementen 1 ■ 2 ■ Z • ■• n Versetzungen gebildet werden können.
Der 6. Tractat der 2. Distinction ist der Wurzelausziehung
gewidmet, und dabei ist besonders auf die angenäherte Berechnung
irrationaler Quadratwurzeln^) geachtet, welche snrdi genannt werden
und bei welchen das Zeichen Fl der Quadratwurzel in Anwendung
tritt. Sei ]/j. eine irrationale Quadratwurzel mit dem ersten Nähe-
rimgswerthe u, so ist a-\ = a, ein zweiter, a, -\ ^.v^- =«»
ein dritter Näherungswerth u. s. w. So allgemein stellt zwar natür-
lich Paciuolo die Sache nicht dar, aber das Verfahren an bestimmten
Beispielen ist deutlich genug. So setzt er
, . 1
y6rv2 + ^ = 2l; yö^2i + ^ = 2.^;
1
6 — 6
9 , 400 ^881
^«~2f„ + — F = 2
1960
^ 1
und dieser Werth genüge, weil dessen Quadrat 6 nur um ]t^^^ über-
steige. Ist die Quadi-at Wurzel aus einem Bruche verlangt^), so muss
die Wurzel aus Zähler und Nenner einzeln gezogen werden, um dann
die Division auszuführen, was sehr misslich sei, wenn eine oder gar
beide Zahlen sich irrational erweisen; von einem Rationalmachen
der Brüche ist somit nicht die Rede. Die Kubikwurzelausziehung *°)
') Summa fol. 38 verso. *) Ebenda fol. 44 recto. ^) Ebenda fol. 43
verso. *) Ebenda fol. 42 recto. ^) Ebenda fol. 43 recto. ^) Ebenda fol. 39
recto. ^ Curtze brieflich unter Berufung auf Cod. lat. Mon. 234. *) Summa
fol. 45: De approximatione rudicum in surdis. ®) Ebenda fol. 45 verso.
^") Ebenda fol. 46 verso und 47 recto.
Liica Paciuolo. 315
beschränkt sich auf den Fall einer genauen Kubikzahl ohne Ausdeh-
nung auf Irrationalwerthe und deren nur angenäherte Berechnung.
Jetzt erst folgt, wiewohl Brüche schon vorkamen , die 3. und
4. Distinction von den Brüchen^). Sie werden mit einem Bruch-
striche, riga, geschrieben, unter welchem der Nenner, denominatore,
über welchem der Zähler, numeratore oder denominato, steht. Ihre
Keuntniss muss noch nicht sehr verbreitet gewesen sein, wenn Paciuolo
erzählen kann-), in einer gewissen italienischen Stadt, in der er selbst
gelebt habe, hätten Kaufleute bei Handelsgeschäften die Brüche durch
die nächsthöhere ganze Zahl ersetzt, unter der Redensart, die Casse
wolle nicht verlieren. Die Aufsuchung des grössten Gemeintheilers,
schisaforc, von Zähler und Nenner kann in verschiedener Weise er-
folgen ^). Man kann die Division durch alle Primzahlen , welche
kleiner sind als die kleinere der zu prüfenden Zahlen durchprobiren,
wozu auch Tabellen ausgerechnet worden sind; man kann besser die
Methode anwenden, welche Euklid lehrte, und sei es auch nur in der
Gestalt, wie sie bei Boethius auftrete, wo statt der Division wieder-
holte Subtraction gelehrt werde. Bei der Auseinandersetzung des
Rechnens mit Brüchen geht die Multiplication der Addition voraus^),
denn Brüche und Ganze sind so durchaus verschieden, dass bei dem
Einen als leichter zuerst abzuhandeln ist, was bei dem Andern als
schwieriger nachfolgt. Nachdem beide Rechnungsarten und auch die
Subtraction besprochen sind, kommt Paciuolo zu einem Zweifel, den
wir als kennzeichnend erörtern wollen. Ist es , fragt er in der
4. Distinction^), nicht ein Widerspruch, wenn Brüche bei der Mul-
tiplication mit einander sich gegenseitig kleiner machen, während
multipliciren, vervielfachen, auf das Grösserwerden hinweise, wie
auch gesagt sei: Wachset und vervielfältigt euch und füllet die
Erde! Eine der Spitzfindigkeiten, mit welchen Paciuolo sich über
diese Schwierigkeit — für ihn ist es eine solche — hinweghilft, be-
steht darin, dass er meint, grösser werden heisse sich mehr von der
Einheit entfernen, und das könne nach der Richtung der Ganzen
wie nach der der Brüche geschehen, und in diesem Sinne sei wirklich
— = — • — grösser als jeder der Factoren. Das Einreihen, inßgare,
von Brüchen ist nichts anderes als das Bilden aufsteigender Ketten-
brüche, wie es Leonardo von Pisa (S. 10) schon übte. Nur der neue
^) Summa fol. 47 verso bis 56 verso. ^) Ebenda fol. 47 verso : E quando
hauo a scotere li rotti tali costuma'Ao farli sani dicendo la cassa non vol perdere
sicommo in certa degne citta ditalia dove personalmente mi son trovato e questa
mala observantia atesa. ^) Ebenda fol. 49 recto bis 50 recto. ^) Ebenda
fol. 50 recto. ^) Ebenda fol. 53 verso.
316 57. Kapitel.
Name ist inzwischen dazugekommen, der aber, wie wir wissen, nicht
von Paciuolo herrührt, sondern seit Paolo Dagomari dall' Abaco
(S. 165) weit verbreitet war\). Die Aufgaben sind doppelter Natur.
2 12 5
Einmal soll • r- • • der Infilzation unterworfen werden.
o 4 5 6
Wir würden dafür sagen, man sucht den Werth von
A + _i_ _i_ - _| « _ _ - • l+_i . - j !
3 ~ 3-4 ' 3-4-5 I 3-4-5-6 3-4 ' 3 • 4 • 5 l^ 3 • 4 • 5 • 6
_ 9-5 + 2 5 _ 47-6 + 5 _ 287
3-4-5 ~l3-4 5-6 3-4-5-6 360 '
Das andere Mal soll aus ^- eine Bruchreihe nach den Nennern 3,
4, 5, 6 gebildet werden. Man dividirt 287 durch 6; der Quotient
ist 47, der anzuschreibende Rest 5. Dann dividirt man 47 durch 5;
der Quotient ist 9, der anzuschreibende Rest 2. Die weitere Division
von 9 durch 4 giebt den Quotient 2 mit dem anzuschreibenden
Reste 1. Endlich liefert die Division von 2 durch 3 den Quotient 0
mit dem anzuschreibenden Reste 2. Mithin ist
287 ^1 2 5
36Ö ■ T ' T ' 5 " T '
wiederhergestellt, wobei auf die einzelnen Pünktchen, welche einen
wesentlichen Bestandtheil der Schreibweise bilden, zu achten ist.
Die 5. Distinction macht ausführlich mit der Regeldetri be-
kannt^). Am Ende dieses Abschnittes sind die Abkürzungen angege-
ben, deren man sich bediene, und zwar ebensowohl Abkürzungen des
gewöhnlichen Rechnens, als solche, die caratteri alf/ebraici genannt
werden, und die man in der regula della cosa oder der Algebra und
Almucabala anwende. An dieser Stelle ist es, dass Paciuolo von
seinen früheren Schriften spricht, und jenen kurzen Bericht über
seine Lebensschicksale giebt, der (S. 306 — 307) die Grundlage unseres
Wissens davon bildete. Unter den algebraischen Zeichen sind die
Wurzelzeichen, nämlich 1^ mit nachfolgendem Wurzelexponenten, zu
bemerken. Für ß:2 steht auch ß: allein. Dann folgt R3 oder Reu.,
3;,4 oder Rß: und dann nur mit Zahlenzeiger weiter bis B:30 für die
di-eissigste Wurzel. Ferner sind Namen und Zeichen der bekannten
Zahl und der verschiedenen Potenzen der Unbekannten mit positiv
ganzzahligen Exponenten vorhanden. Die bekannte Zahl heisst numero
und wird n^ geschrieben, Namen und Zeichen der Potenzen der Un-
bekannten sind:
^) Summa fol. 56 recto : TJn altro acto se reeerca nel travagliare degli rotti
äetto (kil viilgo infUrare. -) Ebenda fol. 57 recto bis 67 recto.
Luca Paciuolo. 317
cosa = CO. ceuso = ce. cubo = cu. censoceuso = ce ce.
primo relato = p^r". censo de cubo = cubo de censo = ce cu. seeundo relato =2''r".
censo de censo de censo = ce ce ce. cubo de cubo = cu cu.
censo de primo relato = cep"r".
Die Reihe der Potenzen der Unbekannten setzt sieh bis zur 29. fort.
Die Zusammensetzungen der Wörter haben stets multiplicative Be-
deutung, und da es die Exponenten sind, welche einander multipli-
ciren, so ist die wiederholte Potenzirung gemeint, z. B. censo de cubo
= (a;^)" = x^. Daraus folgt die Nothwendigkeit neuer Namen der
Potenzen, so oft eine Primzahl als Exponent auftritt. Primo relato
und secoudo relato für x^ und x'^ haben wir angegeben; ter^o relato
= x^^ folgt u. s. w. bis septimo relato = x-^. Nun tritt aber eine
Unregelmässigkeit ein: x^^ = {x^y sollte primo relato de primo relato
heissen, und heisst statt dessen octavo relato und x"'^^ sodann nono
relato. Die Verwandtschaft der Wörter primo relato, seeundo relato
mit dem akoyog TtQCJtog, ccXoyog ÖsvrsQog, deren Michael Psellus
(Bd. I, S. 473) sich bediente, ist unabweisbar. Schwieriger ist es,
eine Erklärung dafür zu geben, wie uXoyog zu relato werden konnte?
Man hat wohl versucht^) als arabische Uebersetzung des a}.oyog
'a'mä = unvernünftig zu vermuthen, dann wäre die fünfte Potenz
durch ein ä^oyog verwandt = per 'a'mä relato und falsch gelesen
primo relato. Die Geschichte der Wortverunstaltungen wäre dann um
ein schlagendes Beispiel reicher. Aber wo bleibt seeundo relato u. s. w.,
wo die radice relata (S. 158)?
In der 6. Distinction werden Proportionen behandelt-). Paciuolo
giebt hier gelegentlich eine Liste von solchen Schriftstellern, welche
früher schon mit dem Gegenstande sich beschäftigt hätten: Euklid,
Boethius, Thebit, Ameto Sohn Josephs, Giordano, Thomas beduar-
din, Blasius de Parma, Albertutius de Saxonia, Plato, Aristoteles,
Archimed werden genannt. Bei Thebit wird ein auffallender Zusatz
gemacht: Tliebit ancora degno philosoplio (del quäle molto Boetio ex-
2)onendo Euclide fa mentione, maxime nel quinto), das klingt, als wenn
Paciuolo eine Euklidausgabe gekannt hätte, welche Boethius zuge-
schrieben war, und in deren fünftem Buche Thebit mehrfach erwähnt
wurde. In Bezug auf Archimed ist beigefügt, er habe 3^ und 3—
als Grenzen für das Verhältniss des Kreisumfangs zum Durchmesser
erkannt, während die untere Grenze Archimed's in Wahrheit 3— war
und 3- nur bei Vitruvius einmal (Bd. I, S. 508) als Näherungswert!!
^) Briefliche Mittbeilung von H. Armin Wittstein. -) Summa fol. 67
verso bis 98 verso.
318 r,7. Kapitel.
der Zahl n erscheint. Woher mag Paciuolo diese untere Grenze ge-
kannt haben, die allerdings der Ungleichung 3 < ;i; < 3— genügt?
Wir sehen keinerlei Antwort anf diese nicht unwichtige Frage. Den
eigentlichen Inhalt der G. Distinctiou brauchen wir nicht näher zu
erörtern. Es sind lauter längst bekannte Dinge, für die Folgezeit
wenig erheblich.
-Die 7. Distinctiou kommt zu den Regeln des falschen Ansatzes^)
und zwar des einfachen wie des doppelten. Paciuolo weiss in beiden
sehr gut Bescheid. Ihm ist z. B. die Bedeutung des Wortes Elcha-
tayn, die zwei Fehler (Bd. I, S. 689;, bekannt gewesen: JEl cataym
quäle (secondo alcimi) e vocabiäo arabo e in nostra lengua sona quanto
che a dire regola delle doi false positioni, und die Rechnung selbst
wusste er auf's deutlichste auseinanderzusetzen. Das erste Beispiel
für den doppelten falschen Ansatz verlangt 44 Ducaten unter 3 Per-
sonen theilen zu lassen, sodass die zweite doppelt so viel als die
erste und noch 4, die dritte soviel als die beiden ersten zusammen
und noch 6 erhalte. Hat der erste 8, so hat der zweite 20, der
dritte 34, alle drei haben 62 statt 44, also 18 zu viel. Hat der
erste 6, so hat der zweite 16, der dritte 28, alle drei haben 50
statt 44, also 6 zu viel. Der Unterschied der beiden Annahmen für
den Besitz des ersten ist 8 — 6 = 2, der der Fehler 18 — 6 = 12;
12 als Fehlerunterschied stammt aus 2 als Annahmeunterschied, also
würden 6 weitere Fehlerunterschiede aus einem weiteren Annahme-
unterschiede um 1 sich herleiten und es muss der erste 5, der zweite
14, der dritte 25 erhalten. Nach dieser Begründung folgt erst die
mechanische Regel geknüpft an das Schema:
48 Gü 108
Man soll links die Zahlen der einen, rechts die der anderen Annahme
schreiben, darunter die Fehler, darüber die jeweiligen Producte der
Annahme in den gegenüberstehenden Fehler. Zwischen diesen Pro-
ducten und ebenso zwischen den Fehlern stehen die Unterschiede
derselben. Der Quotient der beiden Unterschiede giebt die Wahrheit,
vorausgesetzt dass beide Annahmen in dem Sinne irrig waren, dass
*) Summa fol. 1)8 verao bis 111 ver.so.
Luca Paciuolo. 319
beidemal zai viel entstand. Die anderen Möglichkeiten des doppelten
falschen Ansatzes, dass beidemal zu wenig oder einmal zu wenig,
einmal zu viel entsteht, sind dann gleichfalls, natürlich an anderen
Zahlen, durchaus genügend erörtert.
In der umfangreichen S. Distinction geht Paciuolo zur Algebra
über^). Er beginnt mit der Erklärung der Zeichen p' und lu, welche
2ih(S und minus oder piu und meno heissen, und deren Nothwendig-
keit am deutlichsten sich erweise, wo Grössen verschiedener Art in
Verbindung treten. So könne man 4 co. (cosa) und o co. zu 7 co.
ohne weiteres vereinigen, aber wenn co. (cosa) und ce. (censo) ver-
einigt oder von einander abgezogen werden sollen, könne man nur
4 ce. p 3 CO. oder 3 co. m 4 ce. und dergleichen schreiben. Dabei sei
besonders zu beachten, dass die Stellung rechts und links von p gleich-
gültig sei, nicht aber so bei m, d. h. 3 co. p" 4 ce. und 4 ce. p^ 3 co.
seien gleichwerthig, nicht aber 3 co. in 4 ce. und 4 ce. m 3 co. Bei
der Multiplication finden vier Regeln statt ^):
plus mal plus macht immer plus,
minus mal minus macht immer plus,
plus mal minus macht immer minus,
minus mal plus macht immer minus.
Dass minus mal minus als Product plus liefere, sei anscheinend Un-
sinn, da klarerweise minus 4 weniger als Null sei (peroche chiaro e
che ni 4 e manco che nulla), allein mau könne die Richtigkeit be-
weisen. Es sei 10 m 2 soviel als 8, also 10 m 2 mal 10 in 2 gewiss
04. Nun sei bei zweitheiligen Factoren eine Multiplication anzu-
wenden, derjenigen vergleichbar, die mau kreuzweise nenne, z. B.
a^h vervielfache sich mit a p h so, dass erst a mal a, dann a mal h
zweimal, dann & mal h genommen werde. So erhält man bei 10 in 2
mal 10 in 2 erst 10 mal 10 oder 100, dann 2 mal 10 mal m 2 oder
iii 40, welche mit dem 100 zu 60 sich vereinigen, und endlich m 2
mal m 2, die 'p 4 geben müssen, damit 64 als Endergebniss erscheine ^).
Den vier Multiplicationsregeln entsprechen ebensoviele Divisionsregeln,
welche gleichfalls ausgesprochen sind. Dann kommen die vier Ad-
dition sregeln ^) :
plus zu plus addirt giebt immer plus,
, minus zu minus addirt giebt immer minus,
plus zu minus addirt zieht immer ab (abatte) und giebt den Namen
des Grösseren,
minus zu plus addirt zieht immer ab und giebt den Namon des Grösseren.
^) Summa fol. 111 verso bis 150 recto. -) Ebenda fol. 112 verso. ^) Ebenda
fol. 113 recto. *) Ebenda fol. 114 recto.
■520 57. Kapitel.
Die Subtractionsregeln ähulicli zusammengestellt^) beschliessen den
1. Tractat der 8. Distinctiou. Vorher sind aber zahlreiche Subtrac-
tionsbeispiele durchgerechnet und ist als maassgebend ausgesprochen,
dass bei gutem Subtrahiren eine Grösse übrig bleiben müsse, welche
zu dem Abgezogenen addirt das wieder hervorbringe, wovon man
subtrahirt habe^). Was die benutzten Anfangsbuchstaben p, m be-
trifft, deren Ursprung keiner Rechtfertigung bedarf, so sind Manche
geneigt, aus ihnen -\- und — abzuleiten. Man habe bei sehr raschem
Schreiben nur die allerallgemeinste Gestaltung der Buchstaben bei-
behalten, die dann als Striche sich kundgaben. Ohne für diesen Er-
klärungsversuch einzutreten, bemerken wir, dass er immerhin dem
Verticalstriche im Pluszeichen eine Bedeutung giebt, und sich nicht
damit begnügt, ihn als blosses Unterscheidungsmerkmal zu dem
Horizontalstriche hinzutreten zu lassen. Wir persönlich ziehen die
S. 231 angegebene Herleitung vor.
Die drei folgenden Tractate derselben 8. , Distinctiou sind dem
Rechnen mit Wurzelgrössen gewidmet^), einem Gegenstande, der an
Schwierigkeiten überreich war und seii; musste, so lange eine all-
gemeine Potenzenrechnung nicht vorhanden war, und diese fehlte
noch geraume Zeit trotz Oresme's Vorgange. Das Multipliciren und
Dividiren einfacher Wurzelgrössen geht noch leidlich genug, aber
schon deren Addition wird mittels eines Kunstgriffes bewerkstelligt,
der an dem Beispiele^) yiÖ -f ]/4Ö = ]/9() gelehrt auf
Ya 4- yh = Va^ 6 + 2 Y^ _
liinausläuft, d. h. die Rationalität von Yah voraussetzt. Ist ]/afe
irrational, so entsteht eine radice universale oder radice legativ'), d. h.
die Wurzel aus einer Grösse, welche selbst aus theilweise oder ganz
irrationalen Bestandtheilen durch Addition oder Subtraction zusam-
mengesetzt ist, z. B. kS — 1/60 = ]/5 — 1/3. Das Zeichen der ver-
einigten Wurzel «J ist ^V, also z. B. ^V 40 m ß: 320 bedeutet
V -iO — ]/320. Paciuolo bewegt sich, wie er selbst ausdrücklich er-
klärt, auf dem Boden des X. Buches der euklidischen Elemente, und
wo er diesen Boden verlässt und Allgemeines selbst zu leisten versucht,
so etwa wo er dreitheilige Grössen unter einem Wurzelzeichen be-
handeln will, verfällt er in Irrthum^).
^) Ebenda fol. 115 recto. ^) Ebenda fol. 114 verso: a voler ben sottrare
hisognn che remanga teil quantita de ditio sottramento che gionta dlla quantüa
che Vomo cava refacia la quantita da laqual si cavo. ^) Ebenda fol. 115 verso
bis 144 recto. *) Ebenda fol. 116 verso. ^) Ebenda fol. 117 verso. ^) Ebenda
fol. 122 verso. ') Ebenda fol. 142 verso.
Luca Paciuolo. 321
Der 5. Tractat führt zu der eigentliclien Algebra, „Angelangt
sind wir, rief Paciuolo wahrhaft begeistert^), an dem vielbegehrteu
Orte, bei dem Ursprünge aller Fälle, bei der Regula de la cosa, wie
die Leute sie nennen, oder bei der Arte maggiore [die grössere Kunst,
vermuthlich im Gegensatze zur kleineren Rechenkunst] d. h. dem
speculativen Verfahren, welches in arabischer oder, wie Andere wollen,
in chaldäischer Mundart Algebra und Almucabala genannt wird. In
unserer Sprache würde es klingen wie Herstellung und Gegenüber-
stellung, Algebra nämlich ist Herstellung und Almucabala ist Gegen-
überstellung." Die richtige Uebersetzung der beiden Fremdwörter
geht bei Paciuolo Hand in Hand mit richtigem Verstau dniss dessen,
was nun eigentlich Herstellung, was Gegenüberstellung sei, denn
man solle, sagt er später-), aufpassen, dass man die Gleichungen
dadurch wiederherstelle, dass man die beiderseitigen Glieder (li ex-
tremi de la equatione) richtig einander gleichsetze und dann Ueber-
flüssiges beseitige (levando li superflui), wie die beiden Wörter des
Namens es vorschreiben (Bd. I, S. 676).
Drei einfache und drei zusammengesetzte Fälle sind zu unter-
scheiden. Jene kommen auf
ax' = bx, ax^==c, hx =^ c
hinaus, diese auf
ax^-\-hx = c, hx -\- c-= ax'^, ax^ -{- c = bx.
Die Auflösung der zusammengesetzten Fälle ist in je vier Hexametern
gelehrt ^) :
Primi canonis versus.
Si res et census numero coequantur, a rebus
Dimidio sumpto censum producere debes
Addereque numero, cuius a radice totiens
Tolle semis rerum, census latusque redibit.
Secundi canonis versus.
Et si cum rebus dragme quadrato pares sint,
Adde sicut primo numerum producto quadrato
Ex rebus mediis, eiusque radice recepta
Si rebus mediis addes, census patefiet.
1) Summa fol. 144 recto: Gionti con Vaiuto de dio al luogo molto desideraio:
cioe ala madre de tutti U casi detta dal vulgo la regola della cosa over Arte
magiore cioe pratica speculativa , altramente chiamata Algebra et almucabala in
lingua arahica over caldea secondo alcuni che in la nostra sona quanto che a dire
restaurationis et oppositionis. Algebra id est Restauratio. Almucabala id est
Oppositio. *) Ebenda fol. 148 recto : Secondum essentiale notandum. ^) Ebenda
fol. 145 recto.
C AKTOR, Geschicbte der Mathem. II. 2. Aufl. 91
322 57. Kapitel.
Tertii canonis versus.
At si cum numero census radices equabit,
Dragmas a quadrato deme rerum medietarum,
Cuiusque supererit radicem adde traheve
A rebus mediis, sie census costa notescet.
Erlernen wird aus diesen Versen sehr zweifelhafter Güte Niemand
die Auflösung der quadratischen Gleichungen; wer dieselbe aber kennt,
wird sie in den Beschreibungen wiederfinden mit Einschluss der zwei-
fachen Möglichkeit der Auflösung des dritten Falles.
Zunächst werden nun Beispiele der einfachen Fälle behandelt
und dabei die Frage aufgeworfen, ob nicht auch die zwei Fälle zu
unterscheiden seien, in welchen ax = hx oder ax^ ^ hx^ vorgelegt
wäre; von einem Falle a = h könne an sich keine Rede sein. Aber
auch jene beiden Fälle sind nicht als solche vorhanden. Ist nämlich
in ax = hx eine Uebereinstimmung zwischen a und &, so ist die
Frage unbestimmt odei-, wie Faciuolo sagt, el quesito sarehe conduso,
die Frage wäre damit abgeschlossen. Ist dagegen a von h verschieden,
so ist die Aufgabe unmöglich, weil ein Mehr einem Weniger nicht
gleich sein kann; ganz ähnlich verhält es sich mit ax^ == hx^. An
die Auflösung a: = 0 denkt mithin Paciuolo nicht. Bei den zusam-
mengesetzten Fällen kommt es bei Handhabung der Regeln darauf
an, die Gleichung vorher so umzuformen, dass das quadratische GHed
nur mit 1 vervielfacht auftrete, und unsere Leser werden auch be-
merkt haben, dass die oben abgedruckten Verse diese Umformung
bereits als vorgenommen voraussetzen. Man solle sich merken, dass
alle vorgelegten Aufgaben, sofern sie der Auflösung fähig sind, sich
auf einen der sechs Fälle oder auf einen denselben proportionalen
Fall, at alcun altro a qndli proportionato, zurückführen lassen^). Man
solle sich ferner merken, dass im dritten zusammengesetzten Falle
nach richtiger Umwandlung in die Form x^ -{- c='bx die Ungleichung
— ^ c stattfinden müsse, weil sonst eine Auflösung nicht mög-
lich sei ^).
Auch von Gleichungen mit zwei Unbekannten ist gelegentlich
die Rede^). Die älteren Handbücher hätten gewöhnlich erste und
zweite Cosa dafür gesagt. Die neueren sagten lieber cosa für die
eine Unbekannte, quantita für die andere.
Nun zu den Fällen, welche Paciuolo proportionale genannt hatte.
Sie sind^), wenn der Uebersichtlichkeit wegen wieder die heutige
Schreibweise benutzt wird, folgende acht:
') Summa fol. 145 verso. *) Ebenda fol. 147 recto. ^) Ebenda fol. 148
verso: Quartum essenticde nvtandnm. *) Ebenda fol. 149 recto.
Luca Paciuolo. 323
1. ax^ = e. 2. ax^ = dx. 3. ax^ = cxr. 4. ax" -\- cx^ = dx.
5. ax^ -\- dx ^^ cx'\ 6. ax^ -j- e = cx^. 7. ax'^ + <^^^ = ^«
8. ax^ = c.r^ + ^■
Neben 4. sowohl als neben 5. ist das Wort Impossibile gedruckt.
Es scheint uns keinem Zweifel unterworfen, dass Paciuolo sich
vollbewusst war, dass Gleichungen zwischen ax^, cx'^, e von wesent-
lich übereinstimmender Art mit solchen zwischen ax-'^, ex", e sind,
die dem entsprechend aufgelöst werden können. Einen an-
deren Sinn vermögen wir dem Ausspruche^) nicht beizulegen, was
vom vierten Grade gesagt sei, gelte für jeden anderen, sofern die
Verhältnissmässigkeit gewahrt bleibe. Ebensowenig dürfen wir zwei-
feln, dass die doppelte Betonung der Unmöglichkeit der Formen
ax^ -\- cx^ = dx, ax^ -\- dx = cx^ auch auf die kubischen Glei-
chungen ax^ -\- ex ^^ d, ax^ -\- d ^= ex sich beziehe. Sagt der Verfasser
doch in der Weitschweifigkeit, welche ihn kennzeichnet, man habe
bisher bei Gleichungen zwischen hx^, cx^, e oder ax'^, bx^, e u. s. w.
noch keine guten Regeln aufstellen können, und schliesst er doch die
Auseinandersetzung mit den Worten-): wo die einzelnen Glieder nicht
verhältnissmässige Gradunterschiede zeigen, sei die Kunst bis jetzt
ihrer Aufgabe noch nicht gewachsen, gerade so wie eine Quadratur
des Kreises noch nicht gefunden sei. Impossibile heisst demnach für
Paciuolo die kubische Gleichung nicht in dem Sinne, als ob ihre
Auflösung überhaupt unmöglich wäre, sondern weil man sie noch
nicht vollziehen konnte. Mit diesem Wechsel auf die Zukunft,
möchten wir beinahe sagen, schliesst die 8. Distinction. Aber bevor
wir den Gegenstand verlassen , müssen wir zurückgreifen auf eine
Gleichung vierten Grades, welche schon in der 2. Distinction vor-
gekommen war. Wir haben (S. 314) die Summenformel für Kubik-
zahlen angeführt, welche in der 2. Distinction enthalten sei. Sie
ist auch in der That dort vorhanden^), aber nicht ohne weiteres. Sie
ist eingeführt durch eine Aufgabe, welche in heutiger Gestalt als die
Gleichung erschiene
(1 + 2 H [- ^) -f (13 _^ 03 -I \-x'') = 20400.
Die Summirung beider eingeklammerter Reihen
*) Sumuia fol. 149 verso: E quello che habiamo dedutto di censo de censo
se liahi a intendere di qualunca altra dignita over quantita proportiondbiliter.
-) Ebenda fol. 150 recto: Quando in li toi agiiaglimanti te ritrovi termini de
diversi intervalli fra loro disproportionati dirai che l'arte ancora a tal caso
non a dato modo si commo ancora non e dato modo al quadrare del cerchio.
^) Ebenda fol. 44 recto.
21*
324 57. Kapitel.
gestattet die Umformung in x^ ^ 2x^ -{- iix^ -{- 2x = 81600 und
durch beiderseitige Addition von 1 entsteht (x^ -\- x -{- ly = 81601.
Daraus folgt x'-{-x-j-l =Y8160i, x = ]/y8l6ÖI — A _ i_ . Ob
Paciuolo das Gefühl hatte, dass nur die eigen thümliche Gestaltung
der Zahlencoefficienten (noch deutlicher hervortretend , wenn man
x(x -\- 1)
../ — = y setzen würde) dort eine Auflösung zuliess, und er dess-
halb von der Aufgabe schwieg, wo sie in der 8. Distinction recht
eigentlich hätte erwähnt werden müssen, ob sein Grund zum Schweigen
vielmehr der war, dass in der 8. Distinction nur zwei- und drei-
gliedrige Gleichungen vorgeführt wurden, das dürfte kaum zu ent-
scheiden sein. Die Stärke des Einwandes aber, dass jene Formeln
für 1 + 2 H h a^ und für P -f 2^ -| \- x^ nur unter der An-
nahme ganzzahliger Werthe von x Geltung haben, dass sie also in
dem hier in Frage kommenden Beispiele gar nicht benutzt werden
dürfen, hat Paciuolo nicht einmal geahnt.
Die 9. und letzte Distinction der ersten Abtheilung der Summa ^ )
ist eine ungemein reichhaltige. Ihr 1. Tractat benennt sich von den
Gesellschaftsrechnungen, de societatibus. Unter einer Menge von Auf-
gaben ist auch die bekannte Testamentgeschichte ^) von der Wittwe,
welche nach dem Tode des Mannes Zwillinge verschiedenen Ge-
schlechtes zur Welt bringt und doppelt so viel als das Mädchen,
halb so viel als der Sohn erhalten soU (Bd. I, S. 523). Paciuolo
scheint an dieser Aufgabe besonderes Gefallen gefunden zu haben,
denn er erzählt ausdrücklich, sie sei ihm am 16. December 1486 in
dem Tuchladen des Giuliano Salviati in Pisa von einem würdigen
florentiner Kaufmann Nofrio Dini mitgetheilt worden. Der 2. Trac-
tat benennt sich nach Viehpacht um halbe Nutzung, soccita, und
Wohnungsmiethe , der 3. nach Tauschgeschäften , de harattis , von
Waaren verschiedener Gattung und verschiedener Werthe gegen ein-
ander, der 4. Tractat führt Wechselgeschäfte, de canihiis, als Ueber-
schrift und belehrt ebensowohl über die Form des Wechsels, als über
die Art wie die verschiedenen Münzen, welche da und dort in Uebung
sind, in gegenseitiges Verhältniss zu bringen seien, damit Niemand
übervortheilt werde. Im 5. Tractate handelt es sich um Zinsrech-
nung, de meritis, und zwar zuerst um einfachen Zins, dann um Zinses-
zins, im 6. um Legirung edler Metalle, del modo a legare e consolare
le monete. Die Geschichte des italienischen Handels wie des Handels
^) Summa fol. löO recto bis 224: verso. -j Ebenda fol. Iü8 recto.
Luca Paciuolo. 325
überhaupt darf die sechs ersten Tractate dieser 9. Distinction als
reiche Fundgrube erkennen, welche vielleicht noch nicht zur Genüge
ausgebeutet ist. Der Geschichte der Mathematik geben dieselben
kaum Anlass zum längeren Verweilen. Wir nehmen höchstens davon
Vermerk, dass die Ueberschrift del modo a saperc componere le tavole
de merito uns zeigt, dass damals bereits Zinstafeln in Gebrauch
waren, und dass in Paciuolo's Zinszinsrec-hnungen, worauf wir bei
späterer Gelegenheit zurückzukommen haben, einige Irrthümer mit
unterlaufen, die freilich selbst nicht eigentlich mathematische Fehl-
schlüsse sind.
Wichtiger ist uns der 7. Tractat von den Eeisen, de viagiis^).
Die sieben ersten Aufgaben dieser Gattung, bei welcher es sich
immer darum handelt, dass Jemand mehrere Reisen macht, mit dem
mitgenommenen Gelde bald Gewinn, bald Verluste erzielt, die dem
Kapitale proportional sind, während dieses durch die Ergebnisse der
früheren Reisen sich fortwährend ändert, führen zu quadratischen
Gleichungen. Die achte Aufgabe dagegen führt zu einer Exponen-
tialgleichung. Es hat einer so viele Reisen gemacht, als er am
Anfange Ducaten hatte* bei jeder Reise verdoppelte er sein Geld
und hatte schliesslich 30 Ducaten; wie viele Reisen waren es? Hatte
er X Ducaten, so wurden sie durch fortwährende Verdoppelung nach
1 , 2j ■ ' • X Reisen zu x • 2, x • 2^, • • ■ x ■ 2"", also soll sein x ■ 2"" = 30,
eine Gleichungsform, welche, wie wir kaum zu sagen brauchen, Pa-
ciuolo in Zeichen zu kleiden nicht verstand. Sein Verfahren ist
folgendes. Er versucht aus der Bedingung der Aufgabe Folgerungen
zu ziehen, indem er bestimmte Annahmen macht. Wären es zwei
Reisen gewesen, in welchen 2 Ducaten sich zwei mal verdoppelt
hätten, so hätte der Reisende zuletzt 8 Ducaten, mithin zu wenig.
Wären es vier Reisen gewesen, in welchen 4 Ducaten sich vier mal
hätten verdoppeln müssen, so wären schon am Schlüsse der dritten
Reise 32 Ducaten erzielt gewesen, mithin zu viel. Da 2 eine zu
kleine, 4 eine zu grosse Annahme ist, so wird 3 versucht. Dessen
dreimalige Verdoppelung giebt 24, wieder zu wenig, also liegt die
gesuchte Zahl zwischen 3 und 4, und es war überhaupt keine ganze
Anzahl von Reisen, sondern 3 und dann noch eine Bruchreise, welche
gemacht wurden. Sei in unseren heutigen Zeichen x jener Bruch,
das Anfangscapital folglich 3 + rc. Nach drei Reisen wurde es zu
24 -f- Sx. So weit ist Alles in Ordnung. Nun schliesst aber Paciuolo,
man sieht nicht warum, der Gewinn der noch zu machenden x Reisen
müsse
^) Summa fol. 186 recto bis 188 recto. Die wichtigsten Aufgaben sind
auch abgedruckt bei Libri III, 286—294.
326 57. Kapitel.
x(24: -\-Sx)
sein, und so erhält er
24 + 8.r + x(24 + 8a;) = 30, x*^ + 4,r = -J- , .r = ]/4^ — 2
und 3 -f- a; oder die Zahl der Reisen, beziehungsweise der DucateD,
welche zuerst mitgenommen wurden, 1 -|- 1/ 4-- = 3,17944947.
Wollte man die Annäherung prüfen, bis zu welcher diese Auflösung
reicht, so bekäme man:
3,17944947 • 23.i'9*«*^ = 28,80458.
Paciuolo ist, was wir wiederum kaum zu sagen brauchen, zu einer
derartigen Prüfung nicht im Stande, aber für ihn bedarf es keiner
Prüfung. Er ist von der Richtigkeit seines Verfahrens so fest über-
zeugt, dass er es in wiederholten Beispielen an immer krauser aus-
sehenden Zahlan übt, bis er gar in der elften Aufgabe^) zu einer
. „.. ^24733 , -1 /r, 1643489177 , ,,
Auflosung 3-3-+ |/ ^,007002864 ^^^^''S^'-
Die Uebergänge der einzelnen Tractate der letzteren Distinction
in einander scheint beim Drucke etwas in Verwirrung gerathen zu
sein. Muthmasslich soll die Aufgabe, welche als 14. im 7. Tractate
bezeichnet ist, schon die erste des 8. Tractates sein. Sie lautet etwa
folgendermassen^): Das Quadrat einer Zahl ist dem Producte zweier
anderen gleich. Wird die erste auf Kosten der zweiten um den so-
vielten Theil derselben vermehrt, als 3 ein Theil der ersten ist, so
wird die gewonnene Summe das fünffache des Restes. Wird die erste
auf Kosten der dritten um ihren sovielten Theil vermehrt, als 5 ein
Theil der ersten ist, so wird die jetzt hervorgebrachte Summe das
siebenfache des neuen Restes. Cosa und quanü nennt dabei Paciuolo
die erste und zweite Zahl. Nennen wir sie a; und y, so verhält sich
X :?> ^ y : — , und die erste Veränderung der Zahlen bedingt
^ + '^l~='^{y — ^'P\ d.h. y
X y X I ^ hx — 18
' hz
Ist z die dritte Zahl , so verhält sich x \b = z \ — , die zweite Ver-
. ^
änderung der Zahlen bedingt also
, bZ r- I ä2\ 1 1 X'^
xA = Hä d.h. z = - T^:-
'x V X J 7x— 40
Da aber von vorn herein x- = yz bekannt war, so muss
., x' X-
^ "^ bx— 18 ' Ix— 40
/
') Summa fol. 187 verso. -) Ebenda fol. 188 recto.
Luca Paciuolo. 327
sein und daraus folgt alsdaun
.= + 21-^ = 9-., - = 4S + lAM-
Trotzdem drei Unbekannte (unsere x, y, z) in der Aufgabe vor-
kommen, kann man sie im Grunde doch nur als quadratische Glei-
chung mit zwei Unbekannten bezeichnen, indem bei der Besprechung
der Beziehungen zwischen x und y kein z vorkam und ebenso kein
//, wo die Beziehungen zwischen x und z in Rede kamen. Den
gleichen Charakter tragen sämmtliche Aufgaben des Tractates bis zu
derjenigen, welche die Nummer 22 führt. Immer sind zwei Unbe-
kannte aus Gleichungen bald des ersten, bald des zweiten Grades zu
ermitteln. Die 23. Aufgabe dürfte die 1. des 9. Tractates darstellen.
Mit ihr beginnt eine neue Gruppe von Aufgaben, in deren jeder drei
Unbekannte vorkommen.
Der 10, Tractat^) ist wieder mit bestimmtem Namen abgesondert.
Er heisst: Von den aussergewöhnlichen Aufgaben, de straoräinariis.
Auch hier sind es meistens Textgleichungen ersten und zweiten
Grades, welche gelöst werden sollen; mitunter bedarf es dazu keiner
Algebra, sondern nur der Rechnung mit Proportionen. Ganz über-
raschend erscheint dazwischen folgende Aufgabe -) : Ein Spiel, welches
auf 6 gewonnene Punkte gespielt wird, muss in einem Augenblicke
unterbrochen werden, in welchem der eine Spieler auf 5, der andere
auf 2 steht; wie ist der Einsatz zwischen ihnen zu theilen? Paciuolo
meint, die Theilung habe im Verhältnisse der schon gewonnenen
Punkte, also im Verhältnisse von 5 zu 2 zu erfolgen. Aehnlicher-
weise will er den Einsatz zwischen 3 Schützen, die auf 6 Treffer
gewettet haben, aber zu schiessen aufhören, nachdem der erste
4 mal, der zweite 3 mal, der dritte 2 mal getroffen hat, im Ver-
hältnisse von 4:3:2 getheilt wissen. Beide Aufgaben sind unrichtig
gelöst, verdienen aber darum nicht weniger Beachtung, da sie das erste
bekannte Vorkommen yon Wahrscheinlichkeitsaufgaben in einem
Lehrbuche der Rechenkunst darstellen.
Der Begriff der Wahrscheinlichkeit im mathematischen Sinne ist,
wie hier einschaltend bemerkt werden soll, allerdings älter. Ein im
Jahre 1477 in Venedig gedruckter Commentar zu Dante's Divina
Commedia spricht sich über die Häufigkeit gewisser Würfe aus^j,
welche mit drei Würfeln geworfen werden können. Der niederste
Wurf sei 3 und könne nur auf eine Weise entstehen, nämlich durch
1 auf jedem Würfel. Auch 4 könne nur auf eine Weise entstehen.
^) Summa fol. 194 recto, bis 197 verso. ^) Ebenda fol. 197 recto. ') Libri
11, 188 Note.
328 57. Kapitel.
durch 1 auf zwei Würfeln und 2 auf dem dritten. Aehnlich verhalte
es sich mit den beiden höchsten Würfen 18 und 17, für die es
gleicherweise nur je eine Möglichkeit gebe. Alle anderen Würfe
seien in mehrfacher Weise zu bilden, z. B. 5 = 1 + 1-|"3
= 1 -\- 2 -\- 2 u. s, w. Die nur in einer Art möglichen Würfe heissen
azari. Der Ursprung dieses Wortes ist das arabische asar, schwierig,
und von ihm ist das spätere liasard abgeleitet. Man sieht, dass auch
hier die Gleichstellung des Wurfes 3 mit dem 3 mal wahrschein-
licheren Wurfe 4 mangelhaft war, und mangelhaft blieb die Behand-
lung von Fragen der Wahrscheinlichkeitsrechnung noch geraume Zeit,
auch nachdem die Mathematiker begonnen hatten, sich mit ihnen
zu beschäftigen.
Wir kehren zur Berichterstattung über die Summa zurück und
zwar zum 11. Tractate der 9. Distinction, de scripturis'^). In ihm ist
eine gedrängte, aber scharf und klar gefasste Anweisung zur
doppelten Buchhaltung gegeben, die erste derartige Lehre in
einem Werke über Rechenkunst. Ei-finder der doppelten Buchhaltung
war Paciuolo wohl gewiss nicht. Es dürfte fraglich sein, ob diese
Art die Geschäftsbücher einzurichten und zu führen überhaupt abend-
ländischen Ursprunges war, oder ob sie sei es von Arabern, sei es
von Juden herrührt. Es ist auch keineswegs unmöglich, dass in
Venedig, wo die doppelte Buchhaltung jedenfalls ihre zweite, wenn
nicht ihre erste Heimath hatte, schon vor der Summa Lehrgänge
dieser Kunst vorhanden waren; aber jedenfalls besitzen wir sie nicht
gedruckt und haben sie gewiss nicht entfernt so viel zur Verall-
gemeinerung der doppelten Buchführung beigetragen als die Summa,
welche durch die Vollständigkeit, in welcher sie erschien, ihren Ein-
fluss ungemein hob.
Dieser beabsichtigten Vollständigkeit sollte zuversichtlich auch
der 12. und letzte Tractat, der sogenannte Tarif^), la tariffa de
tutti costumi, dienen. Unter Tarif ist genau dasselbe verstanden, was
man heute Münz-, Maass- und Gewichtsvergleichungstafeln nennt,
damals nur um so umfangreicher und nothwendiger, als jedes der
kleinen und kleinsten Staatswesen Italiens eifersüchtig an seinen
Sondergewohnheiten festhielt, die von denen der Xachbarn abwichen,
mochte man auch im engsten Handelsverkehr mit ihnen stehen. Von
dem Tarife wissen wir, was wir von der Anweisung zur doppel-
ten Buchhaltung nur für nicht ausgeschlossen halten: es gab einen
*) Summa fol. 197 verso bis fol. 211 recto. Eine deutsche Uebersetzung
mit zahlreichen Anmerkungen bei E L. Jäger, Luca PaccioU und Simon Stevin
nebst einigen jüngeren Schriftstellern über Buchhaltung (Stuttgart 1876.
*) Ebenda fol. 211 verso bis 224 verso.
Luca Paciuolo. 329
solchen^) vor Erscheinen der Summa. Er ist 1481 in Florenz ge-
drnckt und führt den Namen Lihro dl mercatantie et Usance dei Paesi.
Ein gewisser Chiarini soll ihn verfasst haben, wenn eine solche Zu-
sammenstellung überhaupt einem Verfasser zugeschrieben werden kann.
Sie pflegt allmälig zusammengetragen, allmälig vervollständigt zu
werden und gelangt zum Drucke, wenn sie unentbehrlich wird. Wir
stimmen daher durchaus der Ansicht bei, Paciuolo habe sich durch
die Aufnahme von Chiarini's Tafeln, auch wenn sie, wie der Fall zu
sein scheint, ganz unverändert erfolgte, keines Eingriffes in fremdes
geistiges Eigenthum schuldig gemacht, ganz abgesehen davon, dass
das Zeitalter des kaum ein halbes Jahrhundert alten Buchdruckes
geneigt war, geistiges Eigenthumsrecht, auch wo es unzweifelhaft
vorhanden war, wenig zu achten. Man druckte ein Buch in einer
Stadt, man sicherte sich in dieser Stadt durch ein Privilegium für
eine gewisse Zeit gegen Nachdruck, aber den Drucker einer anderen
Stadt unter anderem Landesherrn hinderte dieses nicht im gering-
sten, seine Presse in Bewegung zu setzen, wie er es für gut, d. h.
für nutzbringend fand.
Wir haben (S. 309) gesagt, die Summa bestehe aus zwei Haupt-
theilen, einem arithmetischen und einem geometrischen, deren Blätter
im Drucke je einer besonderen Zählung unterworfen sind. Ueber
die 224 Blätter des I. Theiles haben wir berichtet, wir kommen zu
den 76 Blättern des II. Theiles^). Er zerfällt in acht Unterabthei-
lungen, weil es acht Glückseligkeiten giebt^), und der wesentliche
Inhalt wird angekündigt als 1. Viereckige und dreieckige Figuren
zu messen. 2. Von Linien, welche von einem Punkte innerhalb oder
ausserhalb eines Dreiecks ausgehend dasselbe schneiden. 3. Fläche
der Figuren von vier und mehr Seiten. 4. Kreismessung und von den
Oberflächen von Bergen. 5. Theilung von Oberflächen. 6. Körperliche
Inhaltsbestimmungen. 7. Messen durch blosses Anschauen. 8. Schöne
und artige Aufgaben der Geometrie. Die Aehnlichkeit mit dem geo-
metrischen Werke Leonardo's von Pisa liegt für jeden Kenner dieses
letzteren schon aus der mageren Ankündigung zu Tage. Paciuolo
sucht sie so wenig zu verbergen, dass er geradezu sagt*), er folge
meistentheils dem Leonardo und erkläi-e zum voraus ihn für den
Urheber jedes Satzes, der keinem Andern zugewiesen sei. Was Pa-
^) Libri III, 143 Note 2. ') Um Verwechslungen zu vermeiden,
citiren -wir diesen IL Theil, der durchweg geometrisch ist, als Summa (Geom.).
*) Summa (Geom.) fol. 1 recto: Divideremola in 8 altri parti pa/rtiali a reverentia
delle 8 beatitudine. ^) Ebenda fol. 1 recto : E perche noi seguüiamo per la
magiore parte Leonardo Pisano, lo intendo dechiarire, che quando si porra alcuna
proposta senga autore quella fia di detto.
330 57. Kapitel.
ciuolo so bestimmt ausspricht bedarf keiner besonderen Bestätigung,
sonst könnten wir sie aus den meisten Dingen entnehmen, von
welchen die Rede war, als die Practica Geometriae des Pisaners
(S. 35 — 40) behandelt wurde.
Wir erwähnen als einziges Beispiel aus der 1. Distinction den
Beweis der heronischen Dreiecksformel ^), sei es auch nur, um daran
anknüpfend zu bemerken, dass Paciuolo, wenn als Abschreiber, doch
als denkenden Abschreiber sich erwies; er hat einen kurzen, apa-
gogischen Zwischenbeweis eingeschaltet"), der bei Leonardo fehlt.
In der 2. Distinction handelt es sich, was in der vorausgeschickten
Inhaltsanzeige nicht klar ausgedrückt ist, um die Länge von Linien,
welche irgend zwei gegebene Punkte, die zu einem gegebenen Drei-
ecke in Beziehung stehen, verbinden. Die letzte Aufgabe dieser
Distinction ist z. B. folgende^) (Fig. 66). Die Seite
ac eines gegebenen bei & rechtwinkligen Dreiecks
ahc wird bis d um ein gegebenes Stück cd ver-
längert, man sucht lid. Sei ac = b, ah ^ 4,1)0 = ^,
ad = 20. Man fällt die de senkrecht zu ah, so
ist de ^= — = — ;— = 12. Aehnlich findet sich
ac 5
fle=16, &e=ae — «6 = 16 — 4 = 12, hd = y2SS.
Aus der 3. Distinction erwähnen wir beispielsweise
einige Aufgaben. Wie gross ist die Seite des Qua-
drates, dessen Fläche nebst der Seitensumme 140
beträgt?^) oc^ -\- Ax ^ 140 und a: = 10. Von einem Rechtecke ist
die kleinere Seite 6 und das Produkt 80 der grösseren Seite in die
Diagonale gegeben, wie gross sind die beiden letzteren Strecken?^)
■|/80M-(^y + ^ = 100 ist das Quadrat der Diagonale 10. Wie
Paciuolo zu dieser Auflösung gelangte, ist leicht zu erkennen. Heisst
die Diagonale x, so ist — die grössere Seite und
^^ = ^ + 6^ ^''=80^-f6V, ,r^ = |+]/80^-f (ly.
Eine Ungleichung ist in folgendem Satze ^) ausgesprochen: In jeder
gleichseitigen und gleichwinkligen Figur ist das Product des halben
Durchmessers des Innenkreises in mehr als den halben Umfang der
Figur grösser als der Inhalt des genannten Kreises. In der 4. Distinction
^) Summa (Geom.) fol. 11 recto. ^) Darauf hat Hult seh aufmerksam ge-
macht Zeitschr. Math. Phys. IX,- 214 Note 49. ^) Summa {Geom.) fol. 14
verso. *) Ebenda fol. 16 recto. '•') Ebenda fol. 19 recto. ^) Ebenda
fol. 25 verso.
Luca Paciuolo.
331
ist unter Anderem die archimedische Verhältnisszahl 3~ ähnlich wie
bei Archimed selbst mit Hilfe des regelmässigen 96-Ecks abgeleitet^).
Ueberdies ist eine SehnentafeP) vorhanden, bei welcher ebenso wie
bei der Begründung ihrer Herstellung wir Leonardo wiedererkennen,
der selbst aus dem Almagest schöpfte, und nicht weniger werden wir
an Leonardo erinnert, wo es sich um Messungen am Abhänge eines
Berges handelt^) und dabei das Arcliipendidum (S. 38) benutzt ist.
Ebenso ist die 5. Distinction von den Theilungen'*), die 6. von den
Körperausmessungen ^), die 7. vom praktischen Feldmessen ^) unter
Anwendung eines Gnomons, eines Spiegels u. s. w. in steter Anlehnung
an Leonardo bearbeitet.
Eine gewisse Selbständigkeit Paciuolo's giebt sich ausser in
kleinen Abänderungen, von denen wir eine erwähnt haben, nur in der
8. Distinction''), de diversis casibiis idilissimis indifferenter positis, zu
erkennen, wenigstens in den 100 vermischten Aufgaben derselben, an
welche sich zum Schlüsse noch eine Abhandlung über die gewöhn-
lichen Körper, Farticidaris tractatus circa corpora re(jidaria et ordinaria
anschliesst^). Die 21. Aufgabe verlangt in ein
Quadrat die zwei grössten Kreise einzuzeichnen,
die darin nebeneinander Raum finden. Jeder
der beiden Kreise wird der sein, der dem gleich-
schenklig rechtwinkligen Dreiecke einbeschrieben
ist, welches selbst in zweifachem Vorhandensein
durch Ziehung einer Diagonale des Quadrates
entsteht. Man ist also darauf hingewiesen, zu-
nächst die Aufgabe zu lösen, den Innenkreis
irgend eines gleichschenkligen Dreiecks zu finden,
und diese Aufgabe tritt als die 22. auf. Zieht man
(Figur 67) vom Kreismittelpunkte aus Verbin-
dungslinien nach den Endpunkten des Dreiecks, so zerfällt dasselbe in
drei Dreiecke, deren gemeinsame Höhe der Halbmesser des gesuchten
Kreises ist, während die Seiten des Dreiecks die Grundlinien darstellen.
Die Gesammtfläche ist also das Product des Halbmessers in den
halben Dreiecksumfang, und kennt man dieselbe Fläche nach der
heronischen Formel aus den drei Seiten des Dreiecks, so berechnet sich
leicht der Kreishalbmesser. Die 42. und die 77. Aufgabe sind über-
einstimmend, und zwar ist die -Uebereinstimmung nicht etwa einer
Fig. G7.
0 Summa (Geom.) fol. 31. «) Ebenda fol. 33. ») Ebenda fol. 35 recto.
*) Ebenda fol. 35 verso bis 43 verso. ^) Ebenda fol. 43 verso bis 49 verso.
®) Ebenda fol. 50 recto bis 52 recto. '') Ebenda fol. 52 verso bis 68 verso.
®) Ebenda fol. 68 verso.
332 57. Kapitel.
Vergesslichkeit des Verfassers zuzuschreiben, sondern beim ersten
Vorkommen verweist er im voraus auf die 77. Aufgabe. Beidemal
werden drei concentrische Kreise von der Eigenschaft gesucht, dass die
Flächen der beiden äusseren Kreisringe der des inneren Kreises gleich
seien. Bei der 42. Aufgabe ist 6 als Durchmesser des grössten Kreises
gesetzt. Seine Fläche ist daher der Zahl (-] = 9 proportional, und
dei-en Drittel, beziehungsweise zwei Drittel sind proportional den
Zahlen 3 und 6. Demgemäss sind 2 ")/3 = yi2 und 2 ]/6 = ]/24 die
Durchmesser des inneren und des mittleren Kreises. Bei der 77. Auf-
gabe ist 7 als Durchmesser des grössten Kreises gesetzt und zunächst
22 /7\2 1
dessen Fläche " • ( — I = 38— berechnet. Auf jeden der drei gleichen
5 . . 2
Flächentheile fallen somit 12—, auf zwei Theile 25^. Der innere
Durchmesser ist folsrlich
V
12^
r, aui
zwei Theile 2b ~
'14
11 '
<-
-v^.
'14
11 '
25| =
-]/.2l
id der mittlere
Die 44. Aufgabe lässt aus zwei Säcken von gleicher Höhe, in welche
man 6 beziehungsweise 24 Maass Frucht einfüllen kann, durch Zu-
sammennähen der Tücher einen einzigen Sack bilden und fragt, wie-
viel er enthalten werde. Gerechnet wird folgendermassen:
YG -{-Y24: =V{y6 +y24)' = ye -f 24 + 2yT44 =y54 ,
also sei der Inhalt 54 Maass. Die Meinung ist offenbar die, dass bei
h als Höhe und t\ beziehungsweise r, als Halbmesser des ersten und
zweiten gefüllten Sackes, deren Rauminhalt :t)\^h = v^ und :trjh = v^
sein müsse, folglich >"i = 1/— V, ^*2 ^ [/ ; ' -^^^ Breite dfer beiden
Sacktücher ist 27t)\, ^Ttr.-,, zusammen 2:i{i\-\- r^) und der neue Sack
hat also zum Rauminhalte
^3 = 7c(i\ + r^yh = fi -f ^2 + SVt'iVg •
Irrig ist au der Rechnung nur das, dass die Böden der Säcke sowie
der oben beim Zubinden nothwendige Theil derselben ausser Acht
gelassen sind. Die Aufgabe 51 verlangt in das Dreieck von den
Seiten 13, 14, 15 zwei gleiche Kreise einzuzeichnen, die einander und
je zwei Dreiecksseiten berühren. Mit allgemeinen Buchstaben ge-
rechnet seien (Figur 68) a, h, c die Seiten, h die daraus ableitbare
Höhe des Dreiecks ABC, x der gesuchte Kreishalbmesser. Das ganze
Dreieck ABC hat den Inhalt -r-- Es zerfällt aber in die Stücke
Luca Paciuolo.
333
ÄOP = x(h — x), äOB =
APC
BOT -{-C PN
bx
2x
0PNT = 2x'',
Folglich ist
ah
'¥
und
= hx — x^ -\- ~ X -\-
ah
X + 2x^ -]- ~ X — x^
2Ä + a4-fe + c
In dem vorliegenden Falle ist
a =
und
15, ö=13,
14, h = 11
168 14
eil" ^
Aelinliclie Aufgaben, welche wir aber
nur nennen, ohne über die Auflösungen
zu berichten, folgen: 52. In ein gleich-
schenkliges Dreieck drei gleiche ein-
ander gegenseitig und je zwei Seiten be-
rührende Kreise einzuzeichnen. 53. 54.
55. In einen Kreis 3, 4, 5 gleiche
Kreise einzuzeichnen, von denen jeder
zwei benachbarte und den gemeinschaft-
lichen Umkreis berühren soll. 56. In
einen Kreis 7 gleiche Kreise einzu-
zeichnen, von denen einer dem Umkreis
concentrisch ist, während die 6 anderen
je 2 benachbarte, ausserdem den Um-
kreis und den inneren Kreis berühren.
Die Aufgabe 61 verlangt aus dem ge-
gebenen Inhalte eines Dreiecks die Seiten
zu finden unter der weiteren Voraussetzung, dass die Grundlinie um
1 grösser als die eine, um 1 kleiner als die andere Nachbarseite sein
soll. Die Höhe trifft die Grundlinie x so, dass der Abschnitt an der
kleineren Seite
der an der grösseren Seite -^ + 2 ist.
Höhe selbst ist also T/t ^^ — 3 und die Fläche -^ 1/— x^ — '^
dem vorgelegten Beispiele soll dieselbe 84 sein. Hier ist also
Die
In
^' = ^0^+1
056,
4x^ + 37636, x' = )/37636 -f 2 = 196,
c = yi9Ö = 14
334
)7. Kapitel.
und die beiden anderen Seiten x — 1 = 13, a: -j- 1 = 15. Die Auf-
gabe 76 verlangt, in das Dreieck mit den Seiten 13, 14, 15 solle
ein Halbkreis beschrieben werden, der die Seiten 13, 15 berühre,
während der Mittelpunkt auf der Seite 14
liege (Figur 69). Ist e der Mittelpunkt des
gesuchten Halbkreises vom Halbmesser r,
ad die Höhe h des Dreiecks ahc, so ist
ah
Aahe =
rig. 69.
Aabc
r, Aace
h, also r
2
bc
ab -\- ac
■h
14
^h
Ov-
Die 80. Auf-
und in den gegebenen Zahlen r i -^ i i ,-
gäbe lässt zwei concentrische Kreise je von einer Persönlichkeit nach
derselben Richtung durchlaufen, und die 81. Aufgabe weicht nur
darin von der 80. ab, dass sie die Umlauf bewegungen in einander
entgegengesetztem Sinne vollziehen lässt. Wenn nun die Geschwindig-
keiten beider Personen gegeben sind, und sie am Anfange der Be-
wegung auf dem gleichen Halbmesser sich befanden, so fragt es sich,
wann ein solches Zusammentreffen beider wieder stattfinden werde?
Diese Aufgabe hat sammt den Zahlen, welche Paciuolo angiebt, sich
auf den heutigen Tag fortgeerbt, nur dass man statt von zwei Per-
sonen^ von den beiden Zeigern einer Uhr zu reden pflegt, von welchen
der Minutenzeiger 12 mal den Umkreis der Uhr durchläuft, während
der Stundenzeiger es einmal thut, und das sind eben die für die
beiden Personen angegebenen Geschwindigkeiten. Die Zeichnung zur
Aufgabe zeigt überdies die beiden Personen so gerichtet, dass ihre
Bewegung im Sinne des Zeigers einer Uhr verläuft. Die Versuchung
liegt sehr nahe, anzunehmen, Paciuolo oder wer ihm nun die Aufgabe
gestellt haben mochte, habe wirklich an eine Uhr dabei gedacht, und
doch würde man, glauben wir, im Irrthum befangen sein, gäbe man
dieser Versuchung nach. Die Erfindung der Taschenuhren fäUt zwar
etwa in die Zeit des Druckes der Summa, während grosse Räderuhren
schon seit dem XIII. Jahrhunderte in
Italien in Gebrauch waren, aber gerade
letztere waren zu 24 Stunden von 1 bis
24 eingetheilt, und bei ihnen musste also
der Minutenzeiger nicht 12, sondern 24
Umläufe vollenden, während der Stunden-
zeiger einmal umlief. In der 96. Aufgabe
(Fig. 70) ist ein Dreieck ahc durch seine drei Seiten gegeben;
ferner ist die Entfernung eines Punktes d im Innern des Dreiecks
Luca Paciuolo. 335
von den Eckpunkten h und c gegeben; man sucht die Entfernung
da von dem dritten Eckpunkte. Rechnung allein, heisst es, sei hier
sehr beschwerlich, bequemer sei folgendes Verfahren. Die Dreiecke
ahc und dhc sind beide ihren sämmtlichen Seiten nach gegeben. In
ihnen kann man also die Hohen ag, df finden, sammt den Punkten
g, f der Grundlinie, in welche diese Höhen eintreffen. Fällt g mit
/■ zusammen, so ist einfach ag — df = ad. Fallen die Punkte g,
/"aber nicht zusammen, so ist ag — df=ae, hf — hg = de, und
ad ist die Hypotenuse des rechtwinkligen Dreiecks mit den Katheten
ae, de. Die 100. und letzte Aufgabe verlangt in eine Halbkugel den
grössten Würfel zu setzen. Er ist, sagt Paciuolo, die Hälfte eines
parallelopipedischen Körpers von den Dimensionen 2 zu 1, der der
ganzen Kugel einbeschrieben wird, und dessen Diagonale der Kugel-
durchmesser sein muss u. s. w. Die Auffindung der Diagonale eines
Parallelopipedons ist nämlich schon früher^) nach dem bei Leonardo
von Pisa vorkommenden Satze (S. 39) gelehrt, und es ist daher als
bekannt angenommen, dass hier die Diagonale .r-]/6 sein muss, wenn
X die Würfelseite bedeutet. Ist d der Kugeldurchmesser und zugleich
jene Diagonale, so findet sich x == --=_ • Die wiederholt genannte
Diagonale heisst bei Paciuolo abwechselnd axis und diamefro.
Wir sagten (S. 331), an die 100 vermischten Aufgaben, von denen
wir eine ganz beträchtliche Anzahl als Probe der fast fortwährend
algebraischen Behandlung vorgeführt haben, schliesse sich noch
eine Abhandlung über die gewöhnlichen Körper. Sie füllt etwa
13 Druckseiten und enthält wesentlich Rechnungsaufgaben, deren Art
gleich aus der ersten ersichtlich ist, in welcher es darum sich handelt^),
den Körperinhalt des Tetraeders zu berechnen, dessen Kanten alle die
Länge ]/24 haben. Die Höhe der Grundfläche, diametro d'una de le
hase, ist ^/(v^)' — {^^Y = ]/l8 , deren Flächeninhalt
|/24-]/l8=]/IÖ8,
die Höhe des Körpers^), l'axis, ist 4, also der Körperinhalt
~ • 4 • y 1Ö8 = 1/192 .
Auch die Division durch 3 ist an dieser Stelle als bekannt betrachtet,
da in einem früheren Abschnitte gelehrt wurde*), wenn man den
Rauminhalt einer Pyramide zu messen beabsichtige, müsse ftian die
^) Summa (Geom.) fol. 44 recto. ') Ebenda fol. 68 verso. ^) Ebenda
fol. 46 verso über die Körperhöhe des Tetraeders. *) Ebenda fol. 43 verso.
336 57. Kapitel.
Grundfläclie, welche Gestalt sie immer besitze, cli che forma sia, mit
dem dritten Tkeil der Höhe vervielfachen.
Wir unterlassen es, andere von diesen Aufgaben zu nennen und
erwähnen nur noch einen Gegenstand, der in den kurzen der ge-
nannten Schlussabhandlung vorhergehenden Einleitungsworten vor-
kommt. Paciuolo spricht nämlich hier von den Modellen der regel-
mässigen Körper, le forme materiali, welche er angefertigt habe^).
Er will im April 1489 im Palaste des Cardinais Giuliano della Ro-
vere Monsignore de San Pietro in vinculo (später Papst Julius II)
eine Sammlung derselben dem Herzoge Guidobaldo von Urbino über-
reicht haben. Auch in einem anderen Werke, von dem wir noch zu
reden haben, in der Divina Proportione, erzählt Paciuolo von drei
solchen Sammlungen von je 60 Modellen, welche in Florenz, in Mai-
land und in Venedig sich befänden. Es waren nach dieser grossen
Anzahl zu urtheilen durchaus nicht nur die fünf regelmässigen Körper,
sondern auch abgeleitete Formen. Lionardo da Vinci hat sie für die
Divina Proportione seines Freundes (S. 307) auf 59 Tafeln in vor-
züglichen perspektivischen Abbildungen gezeichnet. Der Stoff, aus
welchem die Modelle hergestellt waren, war vermuthlich nicht Pappe
oder Holz, man hat vielmehr Grund, an aneinandergefügte Glas-
täfelchen zu denken. Wir haben (S. 306) von einem Bildnisse des
Paciuolo gesprochen, welches Piero della Francesca malte. Paciuolo
ist mit seiner Summa vor sich dargestellt, wonach wir das Bild als
nach 1494 entstanden bezeichnen dürfen. Aber noch eine andere
Einzelheit von jenem Gemälde wird uns berichtet: von oben hingen
einige aus Kry stall gebildete regelmässige Körper herab ^), und diese
Stelle kann man kaum anders deuten, als wir es thaten. Auf die
Körper selbst kommen wir mit einigen Worten bei der Divina Pro-
portione zurück.
Jetzt erübrigt uns nach dem weitläufigen Berichte, den wir über
die Summa erstattet haben, ein verbindendes Endurtheil zu fassen.
Wir fürchten nicht, den Widerspruch unserer Leser wachzurufen,
wenn wir die Summa als das Werk bezeichnen, welches das Bedürfniss
der Zeit forderte, zugleich als das Werk, welches dieses Bedürfniss
durchaus befriedigte. Es war reichhaltig wie kein anderes von den
im Drucke erschienenen, ja wie kein anderes zeitgenössisches Werk,
das uns handschriftlich erhalten ist. Es begann bei den ersten An-
fangsgründen der Rechenkunst und endete mit Anwendung der Al-
») Staigmüller in der Zeitschr. Math. Phys. XXXIY, Hist.-liter. Abthl.
S. 89, 97, 127. -) col suo libro avanti de la Somma Aritmetica et alcuni corpi
regolari finti di cristdllo appesi in alto. Bald. Boncompagni im Bullet. Bon-
compagni XII, 364.
Luca Paciuolo. 337
gebra auf geometrische Fragen, welche von dem heutigen Leser nicht
ohne Nachdenken gelöst werden können. Es enthielt Vorschriften,
die man nicht eigentlich zur Rechenkunst zählen konnte, die aber
dem Kaufmann und Allen, welche zu Kaufleuten in Beziehung standen,
unentbehrlich waren. Es stammte aus der Feder eines Mannes, der
selbst früher in kaufmännischen Kreisen lebend diesen Kreisen dadurch
bestens empfohlen war, zugleich eines Mannes, der innerhalb eines
geachteten Ordens eine nicht unbedeutende Rolle spielte, der an
Hochschulen als Lehrer thätig war, und der darum von Geistlichen
und Gelehrten, mochten sie noch so eifersüchtig ihrer Standesehre
sich bewusst sein, als ebenbürtig angesehen werden musste. Und
diesen äusseren Empfehlungen entsprach die Form. Um ein schönes
Italienisch zu lernen wird man freilich eben so wenig, als um sich
in einem Latein zu üben, welches Cicero Ehre machen würde, die
Summa zur Hand nehmen! Die Sprache ist vielmehr ein geradezu
barbarisches Gemenge von schlechtem Latein mit schlechtem Italienisch
und konnte in Folge dessen ein humanistisch gebildetes Ohr oder
Auge nur verletzen, aber war man über diese erste Empfindung
hinaus, so musste die anspruchslose Naivität des Verfassers, seine red-
liche Anerkennung fremden Verdienstes, die Klarheit seiner Aus-
einandersetzung der verschiedenen Verfahren, die einleuchtende Art
seiner Beweisführung, wo eine solche vorhanden ist, gewinnen. Pa-
ciuolo war ja kein grosser Mathematiker, das darf man ruhig zugeben.
Er selbst wiU nie für einen solchen gelten. Aber so unbedeutend,
für wie manche Schriftsteller unseres Jahrhunderts ihn verrufen haben,
war er denn doch nicht. Wir möchten ihn in dieser und in mancher
anderen Beziehung den Kästner seiner Zeit nennen, überschätzt
während seiner persönlichen Wirksamkeit, später unterschätzt, sei es
von Solchen, die nicht merken lassen wollten, wie viel sie ihm ver-
dankten, sei es von Solchen, die durch die Langathmigkeit seiner
Schriften sich niemals hindurchgelesen haben, sei es endlich von
Solchen, welche ihrer Zeit weit voraneilend dem Vorgänger nicht ver-
zeihen konnten, dass sie nichts bei ihm zu Jemen fanden. Worin
aber die persönlichen Verdienste Paciuolo's liegen, ist leicht aus-
zusprechen. Es ist erstens immer ein Verdienst, das wissenschaft-
liche Bedürfniss einer Zeit zu erkennen und ihm Genüge zu thun.
Es muss aber Paciuolo als besonders verdienstlich nachgerühmt werden,
dass er, die beiden Schulen der praktischen Rechenkunst, von welchen
schon so häufig die Rede war, gleich genau kennend, für die des
Leonardo, gegen die des Jordanus sich entschied. Man sollte nicht
als ein Geringes verachten, dass er es war, der die Halbierung und
A'erdoppelung verdammte und verbannte, dass er dem Dividieren unter-
Cantoe, Geschiclite der Mathem. II. 2. Aufl. 22
338 57. Kapitel.
wärts Bahn brach. Man sollte noch weniger gering achten, dass er
auch die zahlentheoretischen Lehren des grossen Pisaners den Mathe-
matikern Europas im Drucke bekannt gab, und dass er so zu neuen
Untersuchungen Anlass gab, die praktisch kaum irgend einen Werth
hatten, aber die den mathematischen Scharfsinn übten und ihm zeigten,
dass es ausserhalb des täglichen Geschäftsgebrauches Wissenswerthes
und der Forschung Bedürftiges gebe. Die gleiche Bedeutung hat für
die Förderung geometrischen Denkens gehabt, was Paciuolo aus
Leonardo's Practica Geometriae veröffentlichte. Den Zusammenhang
aber von Algebra und Geometrie hat er nun gar in seinen 100 Auf-
gaben zum allgemeinsten Bewusstsein gebracht. Nennen wir endlich
die Lehre von den Gleichungen selbst, deren Regeln in Verse ge-
bracht, dem Gedächtnisse leicht eingeprägt werden konnten, deren
noch nicht gelösten Fälle dem Leser besonders hervorgehoben wurden,
deren Giltigkeitsbereich aber durch die sogenannten proportionalen
Fälle eine weite Grenzhinausschiebung erfuhr, so werden hierin Ver-
dienste genug genannt sein, um unser erstes Urtheil über den, der
sie sich erwarb, zu rechtfertigen.
Wir sagten (S. 308), Paciuolo habe 1509 in Venedig eine Aus-
gabe des Euklid veranstaltet. Sie fällt dieser Jahreszahl nach eigent-
lich in einen späteren Abschnitt unserer Darstellung. Alle Ueber-
sichtlichkeit müsste jedoch verloren gehen, wenn wir in peinlichem
Festklammern an den zufälligen Wechsel des Jahrhunderts die
Leistungen eines Mannes regelmässig auseinanderreissen wollten.
Andererseits ist Paciuolo's Euklidausgabe nicht zu beurtheilen, ohne
vorher eine andere zu nennen, welche 1505 in Venedig im Drucke
erschienen war, und welche wir also gleichfalls hier vorweg nehmen
müssen. Wir haben uns (S. 291) mit der Ratdolt'schen Euklid-
ausgabe von 1482 beschäftigt, welche den dem Arabischen ent-
stammenden Text und die Anmerkungen des Campanus enthielt. Diese
Ausgabe war wenig mehr als 10 Jahre alt, da gelangte eine griechische
Handschrift der euklidischen Elemente mit Einschluss der sogenannten
euklidischen letzten stereometrischen Bücher, aber auch der Phäno-
mena und der verschiedenen optischen Schriften Euklid's, sowie der
Daten in den Besitz eines Venetianers, Bartholomaeus Zam-
bertus, italienisch Zamberti genannt^). Er übersetzte alle diese
Schriften in's Lateinische und that dasselbe für den Commentar
des Proklos zu den euklidischen Elementen. Letztere Uebersetzung
ist handschriftlich noch vorhanden"). Sie trägt die Bemerkung, sie
*) Weissenborn, Die Uebersetzungen des Euklid durch Campano und
Zamberti S. 12—28. -) Cod. lat.G der Münchener Bibliothek. Vergl. Fried-
Luca Paciuolo. 339
sei 1539 entstanden, als der Uebersetzer sein 66. Lebensjahr vollendet
hatte. Darnach wäre Zamberti 1473 geboren und hätte die Euklid-
übersetzung in der Mitte seiner zwanziger Jahre veranstaltet. Das
ist Alles, was wir von seiner Persönlichkeit wissen. Wann er nämlich
die Euklidübersetzung anfertigte, wissen wir aus der Druckausgabe,
welche am Ende die Jahreszahl 1505 trägt, während die Elemente
schon im Jahre 1500 gedruckt waren, so dass der ganze Druck
fünf Jahre in Anspruch nahm, vielleicht in Folge kriegerischer Ereig-
nisse, die damals das venetianische Staatswesen beunruhigten, vielleicht
weil es so lange währte, bis der Druck mit einem Privilegium ver-
sehen war. Ne quis presens opus Venetiis cudat aut alibi impressum
vendere audeat: midcta adiiinda lä in Privi • pressius legitur^) heisst
die Formel, welche wir hier beispielsweise einmal mittheilen. Das
Privilegium war auf 10 Jahre ertheilt^). lieber diese Zamberti'sche
Euklidausgabe von 1505 ist Folgendes zu bemerken. Zamberti
hält, gleich allen seinen Zeitgenossen, den Mathematiker Euklid und
Euklid von Megara für dieselbe Persönlichkeit. Er sieht in ihm auch
nur den Urheber der Sätze, während Theon als der Erfinder der Be-
weise gilt. Das Auffinden des griechischen Textes hat also in zwei
wichtigen Irrthümern eine Richtigstellung hervorzubringen nicht ver-
mocht; der eine Irrthum blieb, der andere veränderte sich dahin,
dass ein fälschlich angenommener Urheber der Beweise, Campanus,
durch einen anderen, Theon, ersetzt wurde, dem sie ebensowenig an-
gehörten. Verbessert sind dagegen manche Uebersetzungssünden, zu
wekhen der Durchgang durch das Arabische früher Veranlassung ge-
geben hatte, und da jede solche Verbesserung unter herbem Tadel
gegen Campanus vorgenommen wird, da die von diesem gebrauchten
Namen helmuain und helmuariphe als barbarische, unlateinische, un-
verständliche Zusätze getadelt werden^), so kann an der Wahrheit
des Satzes, so auffallend es klingt, Zweifel nicht entstehen: Zamberti
wusste nicht mehr, was nur 23 Jahre früher Gemeingut der wissen-
schaftlich Gebildeten gewesen war (S. 292), dass die Ausgabe des
Campanus auf einer Uebersetzuug aus dem Arabischen beruhte^). Er
glaubte, dieser sein Vorgänger habe, ebenso wie er selbst, griechische
Handschriften benutzt, und diese Meinung wurde von den meisten
Zeitgenossen Zamberti's getheilt. Eine der Stellen, welche Zamberti
zu ganz besonders eifrigem Zorn aufregte, war das unglückliche Miss-
verständniss im V. Buche der Elemente^), von welchem wir wieder-
lein's Ausgabe des Commentars des Proklos (Leipzig 1873) in der Notarum
explicatio unter Z.
1) Weissenborn 1. c. S. 17 und 24. ^) Ebenda S. 14. ^) Ebenda S. 22.
*) Ebenda S. 27. ^) Ebenda S. 23.
22*
340 i>7. Kapitel.
holt zu sprechen hatten. Die Bewegung, welche, wie man annehmen
darf, das Erscheinen des Zamberti 'sehen Euklid verursachte, bewog
Paciuolo seinerseits auch eine Euklidausgabe zu veran-
stalten •'^). Es war eine Ehrenrettung des Campanus gegen Zamberti,
welche er beabsichtigt haben muss, und die er auf Kosten Ratdolt's
vollzog. Die Werke des Euklid von Megara, des scharfsinnigen Philo-
sophen, des unbestrittenen Fürsten unter den Mathematikern, erzählt
uns der weitschiehtige Titel -), seien von Campanus, der zuverlässigsten
Mittelperson, übersetzt worden; die Schuld der Abschreiber und Buch-
händler^) habe die Uebersetzung so verunstaltet, dass man sie kaum
als den Euklid anzuerkennen vermöge. Jetzt habe Lucas paciolus die
Fehler verbessert, 129 falsch gezeichnete Figuren berichtigt und vieles
Nothwendige, auch kleine Erläuterungen zu schwierigen Stelleu, bei-
gefügt. Der Name Zamberti's kommt im ganzen Buche nicht ein
einziges Mal vor*). Er wird einfach todtgeschwiegen, und nur ge-
wisse kleine Gegensätze verrathen dem kundigen Leser, gegen wen
manche verborgene Bosheit gemünzt ist. Zamberti nannte sich, wo
er eigene Bemerkungen machte, Interpres-^ Paciuolo bedient sich dafür
des Ausdruckes Castigafor. Zamberti wusste gegen Campanus ein
Füllhorn von Schmähworten auszuschütten, Pa.ciuolo nennt ihn den
zuverlässigsten, besten, vortrefflichsten Uebersetzer und rühmt seine
Ausgabe als die vollkommenste. Zamberti sagt, seine Ausgabe be-
ruhe auf einem griechischen Texte, Paciuolo rühmt dankbar die Hilfs-
leistungen, welche er von Scipio Yagius, einem Manne von Er-
leuchtung in beiden Sprachen, womit natürlich die griechische Aind
lateinische Sprache gemeint sind, erfahren habe; da muss wohl der
Wunsch Paciuolo's auf Zamberti gedeutet werden, es möchten doch
auch Andere suchen, sich Wissen anzueignen und nicht bloss zu
prahlen und mit dem, was sie nicht wissen. Wind zu machen^),
lieber die Anmerkungen Paciuolo's wissen wir durch einen Gelehrten,
der diese seltenste aller Euklidausgaben selbst gesehen hat, und der
nichts weniger als zu den Bewunderern Paciuolo's gehört^), dass sie
neben manchen Trivialitäten auch praktische und nützliche Winke
und Erklärungen einzelner Worte enthalten, dass sie neue Beweise
bringen, die aufzufinden freilich nicht schwer sei, wenn man sich,
wie Paciuolo häufig genug thue, gestatte, vom Gedankengange seines
^) Weisseuborn 1. c. S. 28 — 56. — Staigmüller 1. c. S. 94 — 95.
*) Weiss enborn 1. c. S. 30. ^) Das Wort lihrariorum ist gebraucht, welches
die beiden Bedeutungen haben kann und vermuthlich hier haben sollte.
*) Weissenborn I. c. S. 50. ^) Ätque utinam et alii cognoscere vellent non
ostentare aut ea quae nesciunt veluti fumum venditare non conarentur. ") Weissen-
born 1. c. S. 52.
Luca Paciuolo. 341
Schriftstellers abzuweichen und als bekannt anzunehmen, was erst
später folge, dass in ihnen endlich auch Verschiedenes stecke, was
ein für die damalige Zeit bedeutendes Wissen erkennen lasse. Wir
finden in diesem Urtheile, insbesondere unter Berücksichtigung der
Meinung, welche derjenige, der es aussprach, sich über Paciuolo ge-
bildet hatte, lediglich eine Bestätigung unserer eigenen Ansicht von
der wissenschaftlichen Stellung Paciuolo's innerhalb seiner Zeit. Von
Einzelheiten, welche uns berichtet werden, heben wir hervor, dass
zwei Figuren die nicht unzutreflFenden Namen des Gänsefusses,
jyes anseris, und des Pfauenschwanzes, cauda pavonis, beigelegt
sind^). Es sind das die Figuren zum 7. und 8. Satze des III. Buches,
welche die Länge der Strecken betreffen, die von einem ausserhalb
des Mittelpunktes liegenden Punkte innerhalb des Kreises und von
einem Punkte ausserhalb des Kreises nach einem Punkte der Kreis-
linie selbst gezogen werden. Wir heben ferner hervor, dass Paciuolo
am 11. August 1508, mithin etwa ein Jahr vor dem vom Juni 1509
datirten Erscheinen seiner Euklidausgabe, in der Bartholomäuskirche
in Venedig vor einem Kreise von über 500 feingebildeten Zuhörern,
deren einige genannt sind, eine Rede oder sollen wir sagen eine
Predigt hielt-), welche die Einleitung zu einer Vorlesung über das
V. Buch der euklidischen Elemente bildete.
Wir kommen zu dem dritten Werke Paciuolo's, zu seiner Divina
Proportione^) von 1509, Vom Juni 1509 ist nämlich die Druck-
vollendung auch dieses Bandes bestätigt, während die Fertigstellung
derjenigen Abtheilung, welche eigentlich als Divina Proportione im
engeren Sinne zu bezeichnen ist, bis auf den 14. December 1497
zurückgeht, als Paciuolo noch in Mailand sich befand. Diese eigent-
liche Divina Proportione von 23 Blättern setzt im Drucke die Blatt-
zählung bis zum 33. Blatte fort. Die Fortsetzung besteht in einer
wesentlich dem Vitruvius entnommenen Abhandlung über Baukunst,
welche aber auch andere für die bildende Kunst bemerkenswerthe
Dinge enthält. Daran schliesst sich wieder auf 27 besonders mit
Blattzahlen versehenen Blättern ein Buch von den fünf regelmässigen
Körpern und solchen Körpern, welche von diesen sich ableiten. Unter
der Divina Proportione, dem göttlichen Verhältnisse, versteht Paciuolo
den goldenen Schnitt. Er bespricht das Vorkommen desselben
insbesondere bei regelmässigen Körpern, wie es in dem von Hypsikles
herrührenden sogenannten XIV. Buche des Euklid und anderwärts
') Weissenborn 1. c. S. 42. ^) Ebenda S. 44. ^) Kästner I, 417—
449. — Libri III, 143—144. — Pfeifer, Der goldene Schnitt und dessen Er-
scheinungsformen in Mathematik, Natur und Kunst (Augsburg 1885), S. 43 flgg. —
Staigmüller 1. c. S. 95—97.
342
57. Kapitel.
gelehrt ist. Von den regelmässigen Körpern leitet aber Paciuolo auch
andere ab, indem er zwei ihm eigenthümliche stereometrische Ver-
fahren in Anwendung bringt, das Abschneiden, abscindere, und Auf-
setzen, elevare'^). Es sind ähnliche Veränderungen gemeint, wie sie
die Natur an Steinformen hervorbringt, und welche von einer ein-
fachen Grundgestalt aus verstanden werden können, wenn man theils
Abspaltungen, theils Verwachsungen mannigfacher Art als Ursache
annimmt. Das Tetraeder z. B. wird abgeschnitten^), indem
an den vier Ecken des Körpers ein dem Ganzen ähnliches Stück,
dessen einzelne Kanten ein Drittel der ursprünglichen betragen, ent-
fernt wird. Der neue Körper ist von 8 Ebenen begrenzt, von welchen
4 Sechsecke und 4 gleichseitige Dreiecke sind. Das aufgesetzte
Tetraeder entsteht, indem auf jeder Körperfläche ein dem ursprüng-
lichen Körper gleicher Aufsatz angebracht wird. Es besteht demnach
aus einem inneren und 4 äusseren Tetraedern, welche jenes ein-
schliessen und verbergen. Der neue Körper hat 12 gleichseitige
Dreiecke als Grenzflächen. Dem abgeschnittenen Tetraeder neuerdings
Körperstücke aufzusetzen erklärt Paciuolo wegen der sechseckigen
Flächen für unmöglich, weil diese keine körperlichen Winkel zu bilden
gestatten. Das ist so zu verstehen: Paciuolo will den jedesmaligen
Körperaufsatz aus lauter gleichseitigen Dreiecken als Grenzflächen ge-
bildet wissen. Eine Pyramide über einem gleichseitigen Sechsecke
aber kann nur gleichschenklige Dreiecksflächen besitzen. Wollte man
sie gleichseitig wählen, so
würden sie nicht zur Pyramide
sich zusammensetzen, sondern
nur eine ebene Deckung des
schon vorhandenen Sechsecks
liefern, welches also keine kör-
perlichen Winkel zu bilden
gestattet (Figur 71). In dem
gleichen Sinne kann Abschnei-
den und Aufsetzen bei allen
regelmässigen Köi'pern vorge-
nommen werden, Aufsetzen auf einem vorher abgeschnittenen Körper
aber beim Oktaeder und beim Ikosaeder ebensowenig wie beim Tetra-
eder, wohl aber beim Hexaeder und Dodekaeder. Es ist für Paciuolo
kennzeichnend, dass er, wo er vom Hexaeder zu reden anfängt, hin-
zufügt, dieser Körper sei an Gestalt dem teuflischen Werkzeuge ähn-
•) Kästner, De corporibus regulär ibus abscissis et elevatis in den Commen-
tationes Societat. Beg. Scient. Gottingensis XII, 61 — 98 (1796). *) Kästner
I, 428—429.
Fig. 71.
Luca Paciuolo. 343
lieh^ welches man Spielwürfel, dado oder taxillo, nenne. Ausser den
regelmässigen Körpern werden auch halbregelmässige geschildert, und
auch an ihnen wird das Abschneiden und Aufsetzen gelehrt. Es ist
darauf aufmerksam gemacht worden \), dass Paciuolo in der Divina
Proportione Buchstaben als Stellvertreter allgemeiner Zahlen anwende.
Er sage z. B., wenn drei Grössen gleicher Art gegeben seien — denn
sonst finden Verhältnisse zwischen ihnen nicht statt — und die erste
sei a oder 9, die zweite h oder 6, die dritte c oder 4, dann stehen
sie in dem Verhältnisse von a zu h u. s. w.
Unter mathematischen Wörtern, welche Paciuolo erklärt, er-
scheint auch corausto^). Wir wissen (Bd. I, S. 516 und 813), dass
dieser Ausdruck der Sprache der römischen Feldmessung angehört,
und sehen also durch ihn den Beweis erbracht, dass Agrimensoren
jetzt auch in Italien wieder gelesen wurden, wie der gleiche
Beweis für Deutschland an Johann Widmann (S. 235 — 236) geführt
werden konnte.
Wir erwähnten aber, mit der eigentlichen Divina Proportione sei
eine die Baukunst und die bildenden Künste überhaupt betreffende
Abhandlung vereinigt. In letzterer Beziehung sind vornehmlich die
Untersuchungen über die Maasse und Verhältnisse des menschlichen
Körpers zu nennen, denen vermuthlich ähnlich, über welche wir
(S. 294) als von anderen Italienern herrührend berichtet haben. Ein
auf dem Rücken liegender Mensch solle Arme und Füsse so weit als
möglich auseinanderspreizen. Die Endpunkte der Mittelfinger, der
grossen Zehen und das Oberste des Kopfes liegen alsdann auf einer
Kreislinie, deren Mittelpunkt der Nabel ist^). Die Verhältnisszahlen
des menschlichen Körpers werden in ganzen Zahlen ausgesprochen,
deren keine grösser als 10 ist. Nach diesen Verhältnisszahlen ist aber
der Riese wie der Zwerg gebaut.
Wir sprachen oben auch schon von der letzten Abtheilung des
Bandes, von dem Büchlein von den regelmässigen Körpern. Man
solle sie mit den umschriebenen Kugeln zusammen betrachten, dann
könne man ihre Abmessungen, ihre Flächen, das Verhältniss eines
Körpers zu einem anderen berechnen. Den Schluss endlich machen
Zeichnungen, welche auf den gesammten Inhalt des Bandes sich be-
ziehen. Sie sind von vollendeter Ausführung, was nicht Wunder
nehmen kann, denn kein geringerer Meister als Lionardo da Vinci
(S. 336) hat sie entworfen. Paciuolo setzt seine Leser selbst in
Kenntniss von dieser Hilfsleistunsr seines berühmten Freundes, der
1) Libri III, 144, Note 2. *) Kästner I, 434, Z. 2 v. u. ^) Ebenda
I, 437.
344 ö8. Kapitel.
auch nicht ohne Einfluss auf die Abfassung des Werkes gewesen sei.
Unter den Figuren bemerken wir die Herstellung von Buch-
staben mittels Zirkel und Lineal, eine Aufgabe, von der wir
bisher nur als von einer solchen reden konnten, mit welchen Araber
sich beschäftigt haben (S. 294).
Dieses ist also das dritte und letzte Werk Paciuolo's, von welchem
zu reden war. Die ihm angehörende Bildung neuer Körper durch
Abschneiden und Aufsetzen stellt wenigstens seiner stereometrischen
Phantasie ein nicht übles Zeugniss aus, wenn auch nicht mehr als
das, da die mathematisch bedeutsamen Fragen, zu welchen jene neuen
Körper anregen konnten, unerörtert bleiben. Jedenfalls aber hat die
Divina Proportione mit dazu geholfen, den Namen des Verfassers in
weitere und weitere Kreise zu tragen, und auch dieser Umstand mag
fördernd für die wachsende Einwirkung seines Hauptwerkes, der Summa,
gewesen sein.
68. Kapitel.
Andere Italiener. Die Franzosen Cluiquet und Lefevre.
Paciuolo war, wie die Schilderung seines Lebenslaufes uns ge-
zeigt hat, an verschiedenen Universitäten Italiens als Lehrer thätig,
bald da bald dort seinen wechselnden Wohnsitz aufschlagend. Ein
rascher Tausch innerhalb der Universitäten Italiens gehörte geradezu
zu den Eigenthümlichkeiten dieser Hochschulen, unterstützt durch die
Sitte, dass die Professuren fast überall nur auf wenige Jahre ver-
liehen zu werden pflegten, dann erneuert oder nicht erneuert wurden,
je nachdem die Thätigkeit des Lehrers eine erspriessliche gewesen
war oder nicht, je nachdem die Anerbietungen, die man ihm machte,
verlockender als das von anderwärts Gebotene schienen oder nicht.
Die kleinstaatliche Nebenbuhlerschaft der italienischen Hochschulen
kann nur von Solchen verstanden, aber auch gewürdigt werden,
welche ähnliche Verhältnisse der Wettbewerbung zwischen oft nur
wenige Wegstunden von einander entfernten, aber anderen Landes-
hoheiten untergeordneten Bildungsanstalten selbst kennen gelernt
haben. Ein rasches Leben strömt durch solche Schulen. Sie können
und dürfen nicht verknöchern. Sie müssen, wenn sie es auch bei der
Ungleichheit der zur Verfügung stehenden Geldmittel nicht in Allem
einander gleich thun können, versuchen, in irgend einem Fache mit
Glück den Wettkampf aufzunehmen, und eine derartige Anstrengung
aller Kräfte trägt immer einen sicheren Lohn: das Gedeihen der
Andere Italiener. Die Franzosen Chuquet und Lefevre. 345
Wissenschaft in der allen Anstalten gemeinsamen grösseren Heimath,
mag sie immerhin ein einheitliches Staatswesen nicht genannt werden
können. So kam in Italien in der zweiten Hälfte des XV. Jahr-
hunderts die Mathematik an den Universitäten mehr und mehr in
Aufschwung, mehr und mehr in die Hände von eigentlichen Fach-
männern, ein Uebergang, der allerdings schon 50 Jahre früher (S. 204)
begonnen hatte.
In Piacenza^) war schon um das Jahr 1400 eine Professur der
Astrologie vorhanden, und dort ist auch die Geburtsstätte jenes
Georg Valla^) gewesen, der humanistische Studien im Dienste der
Mathematik trieb. Unter Giovanni Morliani von Mailand machte
es sich mit dieser letzteren Wissenschaft bekannt. Sein Hauptwerk
ist eine Art von Encyklopädie, welche 1501 nach des Verfassers Tode
durch Aldus im Drucke herausgegeben wurde. Sie führte den Titel
De expeiendis et fugiendis rebus und ist wesentlich auf griechische und
römische Ueberlieferung gegründet, während arabisch-mittelalterliche
Wissenschaft bei Seite geschoben war. Die Geometrie scheint in
dieser Encyklopädie ganz besonders bedacht gewesen zu sein. Im
3. Kapitel des IV. Buches derselben sei eine Abhandlung von den
Kegelschnitten enthalten, die erste der Zeitfolge nach, in welcher
ein abendländischer Schriftsteller mit diesen Curven sich beschäftigt
hat. Im 37. Kapitel des XL. Buches ist auf die Stelle des Quintilian
(Bd. I, S. 510 — 512) aufmerksam gemacht, in welcher von falschen
Flächenschätzungen aus dem Umfange die Rede ist^). Eine Aufgabe,
welche Georg Valla sei es aus dem Liber Geoponicus des Heron von
Alexandrien, sei es aus dem Rechenbuche des Maximus Planudes ge-
schöpft hat, mag er mit einer dieser Quellen unmittelbar oder mittel-
bar bekannt geworden sein, hat sich bei einem Schriftsteller des
XVI. Jahrhunderts erhalten^). Es handelt sich um die Auffindung
zweier Zahlenpaare von gleicher Summe aber derart ungleichem Pro-
ducte, dass das Product der beiden ersten Zahlen zu dem der beiden
anderen sich wie 1 : 4 verhält.
Die vorzugsweise mathematische Universität Italiens war Bologna.
Sie besass zwei Lehrstühle, den einen für Astrologie, den anderen für
Arithmetik und Geometrie. Jeder derselben war aber mehrfach be-
setzt, d. h. es waren, was in der Wirkung auf die Pflege der Wissen-
schaft ziemlich auf das Gleiche hinausläuft, neben dem Inhaber der
Professur noch zwei, drei, vier andere Gelehrte vorhanden, deren Namen
') Denifle, Die Universitäten des Mittelalters bis 1400, Bd. I, S. 571.
*) Libri 11, 272. Note 1. ^) So berichtet Daniel Schmenter, Deliciae mathe-
maticae pag. 125. •*) Cardanus, Opera IV, 179 (Lyon 1663). Vergl. auch
Cantor, Agrimensoren S. 62.
346 58. Kapitel.
wir aus den Vorlesungsverzeichnissen kennen^), und welche zum Unter-
richte sich erboten. Man darf daran wohl die Vermuthung knüpfen,
es habe sich nicht stets um den gleichen Lehrstoff gehandelt, und
wenn Vorschriften aus dem Jahre 1404 eine Regelung des astrologischen
Unterrichts und eine Vertheilung desselben in vier Jahresaufgaben
beabsichtigen^), wenn wir von eigentlicher Mathematik in diesem Lehr-
plane nur dem Rechnen mit ganzen und gebrochenen Zahlen und den
drei ersten Büchern Euklids (je eines in jedem der drei ersten Jahre)
begegnen, während die längste Zeit durch Astronomie und Astrologie
im heutigen Sinne dieser Ausdrücke in Anspruch genommen war, so
dürfen wir vertrauen, dass auch anderes im Flusse Befindliches, z. B.
die nirgends ausdrücklich genannte Lehre von den Gleichungen, den
Studierenden nicht vorenthalten blieb, wenn sie nach ihr fragten.
Gerade Paciuolo's Lehrthätigkeit bestärkt uns in dieser Meinung.
Niemand zweifelt daran, dass seine Summa aus Vorlesungsheften all-
mälig herausgewachsen sei; ihrem Inhalte entsprechende Vorlesungen
muss er folglich gehalten haben, mögen sie auch in dem Bologneser
Verzeichnisse für 1501 in die unscheinbaren Worte sich verhüllen
leggeva Matematica, er las über Mathematik^). Am Schlüsse des
XV. und am Anfange des XVI. Jahrhunderts waren in Bologna gleich-
zeitig vier Männer vorhanden, deren Nebeneinanderleben nicht gedacht
Werden kann, ohne die edelsten Früchte für die mathematischen Wissen-
schaften zur Reife zu bringen.
Paciuolo haben wir soeben genannt. Als Astronom lehrte
gleichzeitig Domenico Maria von Novara, als Mathematiker
Scipione del Ferro, als Studierender weilte dort seit October 1496
Nicolaus Kopperlingk aus Thorn^), wenn wir die Schreibweise
des Kassenbuches der Bologneser Rechtsstudierenden deutscher Nation
uns aneignen, womit sie den Begründer der heutigen Sternkunde be-
zeichnet. Den novareser Astronomen haben wir nicht anders als im
Vorübergehen zu nennen. Kaum viel ausführlicher werden wir im
folgenden Zeitabschnitte mit seinem deutschen Schüler uns beschäftigen
dürfen, ohne eines Einbruches in das uns verschlossene Gebiet der
Astronomie und ihrer Geschichte uns schuldig zu machen. Gleich-
falls für das XVI. Jahrhundert sparen wir endlich um des Zusammen-
hanges mit anderen Männern und ihren Leistungen willen Scipione
del Ferro, den Erfinder der Auflösung der kubischen Gleichungen.
^) Malagola, Bella vita e delle opere di Antonio Urceo detto Codro (Bo-
logna 1878) pag. 567—571 und 574. *) Ebenda pag. 572—573. ^) Ghe-
rardi, Einige Materialien zur Geschichte der mathematischen Facultät der
alten Universität Bologna (deutsch von Max. Curtze), Berlin 1871, S. 44, An-
merkung 1. ^) Malagola 1. c. pag. 562.
Andere Italiener. Die Franzosen Chuquet und Lefevre. 347
Wir verlassen Italien und begeben uns nach Frankreich ^ wo in-
zwischen ein Schriftsteller aufgetreten war, den wir ohne italienische
Beeinflussung nicht verstehen noch würdigen können. Nicolas Chu-
quet aus Paris ^) hatte Medicin studiert und in dieser Wissenschaft
des Baccalaureat erworben. Vielleicht fand diese Erwerbung in Lyon
statt, wo eine berühmte Aerzteschule blühte. Jedenfalls begann und
vollendete Chuquet in Lyon im Jahre 1484 ein Werk, welches er
Le Triparty en la sciencc des nonibres benannte. Es ist zwar ausser
in unserem Jahrhunderte (1880) niemals gedruckt worden, fand aber
jedenfalls handschriftliche Verbreitung und wurde im XVI. Jahr-
hunderte von einem im 59. Kapitel zu behandelnden Schriftsteller
so umfassend benutzt, dass das Wort „abschreiben" nicht selten besser
zutrifft als sogar „ausschreiben". Lyon war so recht der Platz, an
welchem die Entstehung eines umfassenden Rechenwerkes von der
Art dessen, mit welchem wir es zu thun haben, geplant und vor-
bereitet werden konnte. Ein grossartiger Handel befand sich dort
in wesentlich italienischen Händen^). Eine medicinische Schule sowie
angesehene Buchdruckereien zeugen von wissenschaftlichem Leben.
Das waren ähnliche Einflüsse, wie diejenigen, welche anf Paciuolo
wirkten, und mit annähernd gleichem Erfolge. Wir behalten es uns
vor, am Schlüsse unserer Auseinandersetzungen einen Vergleich zwischen
beiden Schriftstellern, dem italienischen Mönche und dem französischen
Arzneigehilfen zu ziehen; hier bemerken wir nur, dass die Summa
zehn Jahre später gedruckt worden ist als der Triparty entstand, dass
somit eine Beeinflussung des letzteren Werkes durch das erstere an
dem Widerspruch der Zeitfolge scheitert, wie wir das Gleiche auch
für die weiter oben (S. 243 — 248) besprochene Dresdner Algebra mit
gleicher Bestimmtheit behaupten dürfen. Die umgekehrte Beeinflussung
Paciuolo's durch die Dresdner Algebra, durch den Triparty kann eben-
sowenig vermuthet werden, ist auch niemals vermuthet worden, da
damals ein italienischer Kaufmann es einfach für lächerlich gehalten
hätte, von einem Deutschen, einem Franzosen Gegenstände der Rechen-
kunst oder der Lehre von den Gleichungen erlernen zu sollen. Wo
also Uebereinstimmungen sich finden, werden wir an gemeinsame An-
lehnung an Vorgänger aus italienischen Handelskreisen zu denken
haben. Wo Uebereinstimmung zwischen Chuquet und Paciuolo fehlt,
werden wir, der Neigung des letztgenannten jede mögliche Vollstän-
digkeit anzustreben uns erinnernd, an Eigenthümlichkeiten Chuquet's
^) Ar ist. Marre, Notice sur Nicolas Chuquet et son Triparty. Bulletino
Boncampagni XIII, 585 — 592. An die Abhandlung schliesst sich dann der Ab-
druck des Triparty selbst an. ^) Marre I. c. pag. 571, Note 1.
348 58. Kapitel.
denken müssen, insbesondere bei denjenigen Stellen, auf welche er
ein Erfinderrecht geradezu beansprucht.
Triparty en la science des nombres nennt Chuquet das in
drei Theile zerfallende Werk. Der 1. Theil handelt von dem Rechnen
mit rationalen, der 2. von dem mit irrationalen Zahlen, der 3. von
der Lehre von den Gleichungen. Die Sprache ist eine dem heutigen
Französischen schon ziemlich nahestehende. Eine Accentbezeichnung
kommt indessen noch nirgend vor.
Beim Zahlenschreiben führt die Xull den Xamen cMjfre oder
nuJle. für sich hat sie nichts zu bedeuten, de soy ne vaiät ou signifie
rien, aber indem sie eine Stelle einnimmt, giebt sie denen, die vor
ihr sind, einen Werth. Mais eile occupant mig ordre fait vcdoir Celles
qui sont apres elle^). Zur bequemeren Aussprache werden die Zahlen
von rechts anfangend in je sechsstellige Gruppen abgetheilt, wobei man
die Anfangsstelle jeder auf die erste folgenden Gruppe durch ein
Pünktchen bemerklich macht. Das Wort Million, Million von
Millionen u. s. w. bietet Mittel zur Benennung so grosser Zahlen.
Man kann aber auch nächst den Millionen die Byllionen, Tryl-
liouen, Quadrillionen, Quyllionen, Sixlionen, Septyllionen,
Octyllionen, Nonyllionen et ainsi des aidfres se plus oidtre on
voulait proceder unterscheiden-). Bei den einzelnen Rechnungsarten
sind überall unbewiesene Regeln ausgesprochen. Gewisse Kunstaus-
drückc treten dabei auf, welche sich in Frankreich unverändert fort-
erhalten haben, so das garder, im Sinne behalten, bei der Addition,
das emp-imter, borgen, bei der Subtraction. Die geborgten 10 werden,
wie bei den Italienern, durch Erhöhung der nächsten Subtrahenden-
ziffer um eine Einheit ersetzt^). Beim Multipliciren"*), wo es sich
um den nomhre multipliant und den nonihre a midtiplier handelt, ist
in Dreieck.sgestalt das kleine Einmaleins abgebildet, laquelle chose est
appelle le petit liiiret de aJgorisme. Die sich selbst leicht erläuternde
Figur, welche aber in überflüssiger Breite erklärt wird, sieht so aus
(s. S. 349).
Die Multiplication wird mit imter einander mit Einrücken an-
geschriebenen Theilproducten, aber auch schachbrettartig gelehrt. Bei
dem letzteren Verfahren ist nur von kleinen Viereckchen, quadranglcs
die Rede, ein Wort wie ecldquicr kommt nicht vor, wiewohl es in
Frankreich in verschiedenen Bedeutungen sehr wohl bekannt war^).
Beim Dividiren wird der diviseur oder partiteur von dem nomhre a
^) Triparty im Bullet. Boncampagni XTTT, 593. ^) Ebenda pag. 594. *) Ebenda
pag. 595. *) Ebenda 596 — 599. ^) Cantor, Mathematische Beiträge zum
Kulturleben der Völker S. 133 — 135 über eine schachbrettartige Buchung in
Frankreich und England.
Andere Italiener. Die Franzosen Chuquet und Lefevre.
349
partir unterschieden. Das Verfahren selbst erfolgt, wie nicht anders
zu erwarten, überwärts. Das dabei übliche allmälige Verschieben des
Divisors nach rechts heist anteriorer. Unmittelbar an die Division
schliessen sich die Proben, preimes, und zwar die durch 9, deren
Irrthumsquellen im Fehlen von Neunern oder von Nullen oder im
1
1
2
3
4
5
6
7
8
9 0
1
2
3
4
5
6
7
8
9
0
2
2
3
4
5
6
7
8
9
0 [ /
*
6
8
10
12
14
16
18
0 \ .'■
3
3
4
5
6
7
8
9
0
9
12
15
18
21
24
27
0
4
4
5
6
7
8
9
0
/
16
20
24
28
32
36
0
/
5
5
6
7
8
9
0
/
25
30
35
40
45
0
/
6
6
7
8
9
0
/
36
42
48
54
0
/
7
7
8
9
0
49
56
63
0
s
8
9
0
/
64
72
0
/
/
9
9
0
/
81
0
/
0
0
/
0
/
falschen Anordnen an sich richtiger Ziflfern bestehen können^), die
durch 7, welche seltener täuscht, weil die 7 den angeschriebenen
Ziffern weniger verwandt ist^), i^our cause que 7 a moins de famüia-
rite avec les nomhres que 9, endlich die durch entgegengesetzte Rech-
nungsverfahren. Nun folgen nomhres Routz, die Brüche. Numerateur
und Denominateur sind die Namen für Zähler und Nenner; reduire
heisst mehrere Brüche auf gemeinsamen Nenner bringen; ahreuier
heisst einen Bruch kürzen. Das Kürzen tritt namentlich dann ein,
wenn als gemeinsamer Nenner mehrerer zu addirenden Brüche über-
flüssigerweise das Product aller Nenner gewählt wurde. Es kann
allmälig erfolgen, aber auch auf einen Schlag, indem der grösste Ge-
meintheiler von Zähler und Nenner nach euklidischer Weise, deren
Erfinder freilich nicht genannt ist, gesucht wird. Beim Multipliciren
von Brüchen ist als ein Sonderfall die Vervielfachung mit — , ~. .
ö 2 ' 3 ' 4 '
') Triparty 1. c. pag. G02. ^) Ebenda pag. 604.
350 58. Kapitel.
— hervorgehoben-, diese erzeuge das, was man mecUer, tiercoyer, qiiar-
toyer, quintoyer nenne ^). Davon, dass ein Theil dieses Sonderfalles
einmal als besondere Rechnungsart galt, ist ebensowenig hier die
Rede als etwas später, wo im Anschlüsse an die Divison von Brüchen
des Verdoppeins, Verdreifachens, Vervierfachens Erwähnung geschieht^).
(Commeyit on peidt doubler tripler et quadrupler tous nomhres.) Nach
mehrfachen Uebungsbeispielen für alle Rechnungsarten gelangt Chuquet
zu den progressions^), d. h. zu arithmetischen Progressionen, welche
durch Vervielfachung der Summe des ersten und letzten Gliedes mit
der halben Gliedei'zahl summiert werden. Der Art nach und un-
beschadet der einzigen Summationsregel giebt es vielerlei Progressionen,
ununterbrochene deren Differenz 1 ist, progression naturelle ou continue,
und unterbrochene mit von 1 verschiedener Differenz, progression mter-
cise ou discontinue, wobei das Anfangsglied in beiden Fällen entweder
die Einheit oder eine andere Zahl sein kann. Es folgen zahlen-
theoretische Untersuchungen nach Art deren, welche Boethius, der
auch als Vorbild genannt ist, in seiner Arithmetik vereinigt hatte^j.
(^Et tout ce dit hoete en son arismetique.) Wir nennen gerade und un-
gerade Zahlen, vollkommene Zahlen, welche abwechselnd 6 und 8 als
Randziffer haben, die befreundeten Zahlen 220 und 284 (von welchen
allerdings bei Boethius nichts steht), die Verhältnisse in ihrer über-
grossen Mannigfaltigkeit. Die geometrische Progression^) heisst die
der nomhres constitucz par ordonnance continue en toutes proporcions
multiplex, und der Quotient je zweier aufeinanderfolgender Glieder
heisst der denominateur des Verhältnisses jeuer Zahlen. Die Summe
wird gefunden durch Division mit der um die Einheit verringerten
Benennung in das um das erste Glied verringerte Product des letzten
Gliedes in eben jene Benennung.
Mit den Worten De la midtiplicacion et propriete des nomhres
proportionalz eröffnet sich^) eine hochwichtige gemeinsame Be-
trachtung einer arithmetischen und einer geometrischen
Reihe. Die arithmetische Reihe ist die mit 1 beginnende Reihe der
natürlichen Zahlen, die geometrische Reihe beginnt mit irgend einer
Zahl, besitzt aber eine dem Anfangsgliede gleiche Benennung, in
Zeichen geschrieben: es handelt sich um die Reihen
1 2 3 ••• n
Chuquet hebt hervor, dass das Product von irgend zwei Zahlen der
^) Triparty 1. c. pag. Gll— 612. -) Ebqnda pag. 612—613. ^) Ebenda
pag. 617. *) Ebenda pag. 619—628. ^) Ebenda pag. 628. ") Ebenda pag. 629.
Andere Italiener. Die Franzosen Chuquet und Lefevre. 351
unteren Reihe wieder ein Glied derselben Reihe gebe, und dass dessen
in der oberen Reihe zu suchende Ordnungszahl die Summe der Ord-
nungszahlen der beiden Factoren sei. Dem Gedanken nach war da-
durch auf ein logarithmisches Rechnen hingewiesen, wenn es
auch noch mehr als ein Jahrhundert dauern sollte, bis aus dem zu-
nächst unfruchtbaren Gedanken ein wirkliches Rechnen wurde.
Die Regeldetri, rigle de troys, wird gelehrt^) und auf die ver-
schiedensten Aufgaben angewandt, auch auf solche, die mittels ein-
fachen und doppelten falschen Ansatzes, rigle de ime posicion und
rigle de deiix posicions, gelehrt werden-), die selbst eine Regeldetri
voraussetzen. Bei solchen Aufgaben ist von negativen Zahlen unter
dem Namen ung moins vielfach die Rede, und die Regeln, welche
beim Rechnen mit denselben obwalten, werden genau auseinander-
gesetzt^). Moins 4 avec 10 l'addicion monte 6 et qui de 10 soustrait
moins 4 il reste 14, also — 4 und 10 steigt auf 6 und — 4 von 10
bleibt 14 heisst es einmal, und an späterer Stelle im IL Theile des
Werkes qui multiplie plus par plus et moins par moins II en vieut
plus. Et qui multiplie plus par moins vel a contra il en vient tou-
siours moins, oder plus mal plus und minus mal minus geben plus,
plus mal minus oder umgekehrt geben immer minus. Die Zeichen*)
der beiden Zahlenarten sind p' und m.
Den Abschluss des I. Theiles bildet die von Chuquet als sein
Eigenthum in Anspruch genommene Regel der mittleren Zahlen,
la rigle des nomhres moyens^). Sie besteht in der Behauptung, der
Zahlenwerth j—rrf ^^^g^ immer zwischen -^ und -^ • Die Richtig-
keit der Behauptung zu beweisen fällt allerdings dem Erfinder nicht
ein. Sie ergiebt sich am einfachsten durch Bildung der beiden
Ol + «2 ^ «1 h — Oj h A «1^ «2 _ ^2 ^ Ol b^ — a^ bi
K b, -f b, b,{b, + b,) ""^ b, + b, b, b,{b, + b,) '
welche unter der einzigen Voraussetzung, dass h^^ und ft^ das gleiche
Vorzeichen besitzen, selbst gleichen Vorzeichens sein müssen. Die
Anwendung dieses Mittelwerthsatzes wird so gemacht, dass man zur
Lösung einer Aufgabe versuchsweise zwei Werthe der unbekannten
Grösse ansetzt, deren eine zu viel, die andere zu wenig hervorbringt,
und dass man dann fortwährend neue Versuchswerthe aus den mitt-
leren Zahlen sich bildet. Ganzzahlige Versuchswerthe werden der
Regel untergeordnet, indem man sie als Brüche mit dem Nenner 1
1) Triparty pag. 631. *) Ebenda pag. 638 bezw. pag. 650. ^) Ebenda
pag. 641 vom Addiren und Subtrahiren, pag. 722 vom Multipliciren positiver und
negativer Zahlen. ") Ebenda pag. 655. ^) Ebenda pag. 643—654. Schon
pag. 632 kündigt Chuquet sie mit den Worten an.- Je y ay adiouste la rigle
des iwmbres moyetis.
352 58. Kapitel.
13
betrachtet. Es soll z. B. die Gleichung x^ -j- ^' = ^^sT gelöst wer-
den, und mau findet a; = — zu klein, rr = — - zu gross. Der erste
Mittelwerth heisst v-^r--, = v ^^^ zeigt sich beim Versuche zu klein.
Der zweite Mittelwerth ist -s^ri ^^ T ' ^^ erweist sich zu klein.
Der dritte Mittelwerth !, T^ "= X besitzt die gleiche Eigenschaft.
23-1-6 29
Der vierte Mittelwerth , , , == — giebt erst ein zu Grosses , und
4 -[- 1 o ° '
2.3 29 . ■ 23-1-29 52 -
somit ist ietzt zwischen ~ und V der Mittelwerth -, — ,—^ = ^ dem
•^ 4 5 4 -}- 5 9
Versuche zu unterwerfen. Er erweist sich als richtig, und die Auf-
gabe ist gelöst. Man erkennt sofort, dass nach dieser Methode jede
Gleichung näherungsweise aufgelöst werden kann, wenn man die
Mühe der jedesmal neu anzustellenden Versuchsrechnung nicht scheut.
Man erkennt ebenso, dass die Wahl irgend einer anderen Versuchs-
grösse z. B. des arithmetischen Mittels zwischen einem zu Grossen
und einem zu Kleinen genau die gleiche Berechtigung hätte. Aber
man kann nicht leugnen, dass für den Chuquet'schen Mittelwerth als
Vorzug sein verhältnissmässig langsam anwachsender Nenner geltend
gemacht werden kann.
Der 2. Theil des Triparty behandelt, wie wir es angekündigt
haben, Irrationalzahlen. Genauer gesprochen werden Wurzelgrössen,
seien sie rational oder irrational, für sich und in Verbindung mit
anderen, also ebenfalls rationalen oder irrationalen Zahlen, der Unter-
suchung unterworfen^). Wurzeln, sagt der Verfasser zur Einleitung
in dieses Buch, giebt es vielerlei, zweite, dritte, vierte, fünfte Wurzeln
und so endlos fort. Erste Wurzeln giebt es nicht, racines premieres
ne se trouvent pas. Wollte man pour cause de continuacion de ordre,
um die Ordnungszahlen fortzusetzen, von solchen reden, so müsste
man sagen, erste Wurzel sei jede einfache Zahl. Als Zeichen der
Wurzel dient ein ß mit rechts erhöht angebrachter Ordnungszahl.
Es ist also
^112 = 12, rM6 = 4, r364_4^ ^^6 = 2, ^5243 = 3.
Die zweiten und dritten Wurzeln seien von den Alten Quadrat- und
Kubikwurzeln genannt worden, für vierte Wurzel sagen Manche
Quadratwurzel der Quadratwurzel. Soll eine Wurzel aus einer aus
zwei Theilen, deren einer selbst eine Wurzel ist, bestehenden zusam-
mengesetzten Zahl gezogen werden, so unterstreicht man die zusam-
^) Triparty pag. 654.
Andere Italiener. Die Franzosen Chuquet und Lefevre. 353
mengesetzte Zahl und nennt das Verlangte eine verbundene Wurzel,
racine lyee. Beispielsweise ist
R^UlTRnSO so viel wie ?>^^^b,
R^7p'B.^40 ist R22p'R25
Sind die unter dem Wurzelzeichen zusammengesetzten Grössen durch
iT verbunden, so ist es gleichgültig, welche Grösse rechts und welche
links von dem fT geschrieben wird, ganz anders wenn m das ver-
bindende Zeichen ist. Wurzelgi'össen können auf gleiche Wurzel-
benennung gebracht werden ^), z. B. R^ und R.^ beide auf R^. So ist
K-5p'R2 3 in Rg 17017 R'^ 7500 p' R^2352 zu verwandeln und
R^4p'R-6 in R^ 22 p'R^ 384. Die erste der beiden hier angegebenen
Verwandlungen ist nicht ohne Wichtigkeit. Es lässt sich ihr ent-
nehmen, dass die Erhebung von 5 p'R-3 zur dritten Potenz so er-
folgte, das erst die zweite Potenz 28p'R-300 gebildet und diese
dann wiederholt mit 5p'R^3 vervielfacht wurde. Wäre die Binominal-
formel für die Erhebung zur dritten Potenz benutzt worden, welche
man, wie aus der Ausziehung der Kubikwurzeln hervorgeht, doch
kannte, so hätte die umgewandelte Form R« 170 p'Rn6875 p" R^27
lieissen müssen. Die Ausziehung der Quadratwurzel wird in muster-
haft klarer Weise gelehrt^). Keine Quadratzahl besitzt 2, 3, 7, 8 als
Randziffer, das Vorkommen einer solchen beweist also, dass man es
mit einer unvollkommenen Wurzel, racine Imparfaide, zu thun habe,
bei deren Aufsuchung die Benutzung der Mittelwerthregel empfohlen
wird. Zweite Wui'zeln aus Brüchen zu ziehen muss man die Wurzel
des Zählers und die des Nenners für sich suchen. Geht dieses nicht,
so hat man den betreffenden Bruch durch Erweiterung in eine solche
Form zu bringen, dass entweder der Zähler oder der Nenner ein
genaues Quadrat werde; welches von beiden erreicht wird, darauf ist
keinerlei Gewicht gelegt. So verwandelt Chuquet die R^ — ebenso-
.25 35
wohl in R^ — als in R^ • Später dagegen ^), wo das Rechnen mit
zusammengesetzten Irrationalitäten gelehrt wird, ist das Rational-
machen des Nenners eines Bruches durch Erweiterung mittels einer
von ihm nur im Vorzeichen abweichenden Zahl ausdrücklich vor-
geschrieben: II fault multiplier le partiteur par ung nombre qui soyt
a lay egal en nombre et dissemblant en plus ou en moins. So wird
- — Q-^uirj — mit 6 m R- 7 erweitert und giebt — — oder
^) Triparttj pag. 658— G59. ^) Ebenda pag. 69.8—699. ■■) Ebenda pag. 7.S1.
Cantok, Geschichte der Mathem. n. 2. Aufl. 23
354 58. Kapitel.
R" %IT ^ ^^ 841 ^^^^ ^^ ^' ^^^ letztgenannte Ergebniss zu finden,
musste freilich vorher die Addition und Subtraction von Wurzel-
grössen durchgenommen werden, wozu Rechnungsverfahren führen,
welche auf der Grundlage der Formel (]/a -j-yhy = a ~\- h ^ Y^ab ,
also auch ]/a ih V^ = ^^ + ^ ih V^aö beruhen, und welche vor-
aussetzen, dass ah ein vollständiges Quadrat sei^). An die Aus-
ziehung der zweiten Wurzeln aus Brüchen reihen sich Wurzelaus-
ziehungen höherer Ordnung an. Kubikzahlen können jede Ziffer als
Randziffer besitzen, es giebt mithin kein äusseres Zeichen, dem man
die Irrationalität einer dritten Wurzel sofort entnehmen könnte. Die
Ausziehung der dritten Wurzel aus vollkommenen Kubikzahlen wird
erörtert. Die Anweisung dazu ist auch ganz richtig, aber sehr gut
weiss Chuquet offenbar mit der Ausführung nicht umzugehen. Was
nun gar irrationale dritte Wurzeln betrifft, so könne mau ähnlich
verfahren wie bei den zweiten Wurzeln, d. h. Mittelwerth versuche
anstellen, aber ce n'est qua temps perdu et labeur sans vtilite ne
aulcune necessite, es ist nur verlorene Zeit und Mühe ohne Nutzen
und Nothwendigkeit -). Bei den vierten Wurzeln kann die Bemerkung
von Nutzen sein, dass die Randziffer 0, 1, 5, 6 sein müsse. Bei-
spielsweise sei R* 30 4980 0625 zu suchen^). Wie bei der zweiten
und dritten Wurzel zwei- und dreiziffrige Gruppen gebildet werden,
so hat man bei der vierten Wurzel deren von je vier Ziffern abzu-
trennen. Die äusserste dritte Grappe links heisst 30 und zeigt, dass
die höchste Ziffer der Wurzel nur 2 sein kann. Die Randziffer 5
lässt auf die gleiche Randziffer der Wurzel schliessen. Wenn also
eine genaue vierte Wurzel vorhanden ist, so muss sie zweihundert-
fünf und irgend ein Zehner heissen. Man dividiert nun in 30 4980 0625
mit 225, 245, 235. Letztere Division geht auf und giebt den Quo-
tienten 12977875. Den theilt man wieder durch 235 und findet den
Quotienten 55225, der sich endlich als 235 mal 235 erweise. So solle
man es auch bei anderen Zahlen machen, wenn man es nicht vorziehe
1^2 30 4980 0625 = 55225 und R^ 55225 = 235
zu rechnen. Dass Chuquet wirklich an die Ausführbarkeit solcher
Rechnungsverfahren dachte, zeigt sein linket des racines^), d. h. eine
Tabelle der zehn ersten Potenzen der Zahlen 1 bis 10, zeigt ferner
eine Zerlegung höherer Wurzelausziehungen in niedrigere^). ^^ sagt
Chuquet ist 1\^^^-, R»^ ist R'^R-; R^- ist R^R^ aber auch R^R^ oder
R^R^R^ u. s. w.
^) Tnparty pag. 712 flgg. ^) Ebenda pag. 703. ^) Ebenda pag. 704.
") Ebenda pag. 705. '") Ebenda pag. 707—708.
Andere Italiener. Die Franzosen Chuquet und Lefevre. 355
Wenn wir als Inhalt des dritten Theils die Lehre von den Glei-
chungen angekündigt haben, so scheint dieses mit der Ueberschrift ^)
La tierce et derreniere partie de ce liure qui trade de Ja rigle des
Premiers nur schlecht in Einklang zu bringen. Wie passt rigle des
Premiers zu Gleichungen? Es beruht dieses auf einer Ausdrucks-
weise, deren Erfindung Chuquet sich wenigstens mittelbar durch die
Worte zuschreibt^), die Alten hätten Sache, cJiose, genannt, was er
Erstzahl, premier nenne. Das wäre also ein neuer Name für die un-
bekannte Grösse, welche als Länge aufgefasst auch Linear zahl
nomhre linear heissen kann. Aber mit diesem einen neuen Namen
gehen andere, geht zugleich eine ganze Bezeichnung Hand in Hand,
welche von höchster Wichtigkeit ist. Chuquet sagt nämlich von ein-
fachen Zahlen, sie hätten gar keinen Namen, beziehungsweise den
Namen Null, sans aulcune denominaeion ou dont sa denominacion
est 0. Er geht dann in der Benennung aufwärts. Zweitzahlen,
nomhres seconds, sind ihm die, welche früher cliamps genannt wurden.
Drittzahlen nomhres tiers, Viertzahlen nomhres quarfz sind die früher
ad)ics und champs de champs genannten. Damit hört Chuquet's Ver-
gleichung der alten und der neuen Benennungen auf, aber nicht die
neuen Benennungen selbst, die unzählbar sind, veu quelles sont Innu-
merables. Auch vier alte Bezeichnungen führt Chuquet an
ß tf D +tf
für die vier ersten Potenzen der Unbekannten. Er ersetzt sie,
und nicht sie allein, durch kleine rechts erhöht ange-
schriebene Zahlen. Ihm ist also 12" die Zahl 12, während 12^,
12^, 12^' nach heutiger Bezeichnung 12a;, 12a;^, 12x^ bedeuten. Er
bleibt sogar dabei nicht stehen und scheut sich nicht 8^ multiplie
par 7^"" monte 56- zu schreiben^), um ^x^ ■ 1 x~'^ = 66x^ damit aus-
zudrücken. Es ist ein ungeheurer Fortschritt, dem wir gegenüber-
stehen, und wir wissen kaum, ob wir mehr die Kühnheit zu bewun-
dern haben, welche negative Exponenten einzuführen wagte, oder
die Folgerichtigkeit, welche einen Exponenten 0 schuf. Die Dresdner
Handschrift hatte ja (S. 244) etwas dem Exponenten 0 wenigstens
AehnHches, und dadurch steigt unsere Bewunderung der hei Chuquet
allein sich zeigenden negativen Exponenten.
Der Vergleich, welchen wir zwischen dem Triparty und der
Dresdner Algebra leise angedeutet haben, ruft eine andere Frage mit
Nothwendigkeit hervor: wie verhält sich Chuquet zu Oresme?
^) Triparty pag. 736. *) Ebenda pag. 737. =*) Ebenda pag. 740. Eine
vollständige Reehnungsanweisung für ähnliche auch additiv oder subtractiv mit
einander verbundene Potenzen pag. 740 — 746.
23*
356 58. Kapitel.
Letzterer hat reiehlicli 100 Jahre vor Chuquet gelebt. Er hat eine
Potenzreehnung mit gebrochenen Exponenten erfunden, welche aller-
dings nur in einer Handschrift sich erhalten hat, während ein anderes
Werk des berühmten Verfassers 1482 und abermals 1486 gedruckt
worden ist, also gerade zur Zeit, als Chuquet 1484 den Triparty ver-
fasste, hochgeschätzt worden sein muss, um so rasch einen neuen
Abdruck zu verstatten. Sollte damals Chuquet aus einer anderen
Handschrift des Oresme'schen Proportionenwerkes (noch heute sind
deren wenigstens fünfzig vorhanden) jene ältere Erfindung kennen
gelernt und ausgebeutet haben?
Wir glauben dieser Frage ein ganz bestimmtes Nein entgegen-
setzen zu dürfen. Erstens war Oresme's Bezeichnung doch die einer
ganz anderen Sache. Oresme rechnete mit Potenzen bestimmter
Zahlengrössen, welche dann freilich bald ganzzahlige, bald gebrochene
Exponenten besassen, aber nicht mit Potenzen der Unbekannten, die
Chuquet wenigstens bei seiner symbolische.^ Bezeichnung durch rechts
erhöhte Exponenten allein im Auge hat, wenn auch seine Verglei-
chung arithmetischer und geometrischer Progressionen, auf welche er
im dritten Theile neuerdings zu reden kommt ^), genügend zeigt, dass
der Begriff der Potenzen gegebener Zahlen ihm nicht minder klar
war. Zweitens aber können wir gerade die gebrochenen Exponenten
zum Beweise nehmen, dass Chuquet von Oresme's Vorgängerschaft
nichts wusste. Es ist geradezu undenkbar, dass Chuquet durch eine
von ihm in Erfahrung gebrachte Anwendung gebrochener Exponenten
auf seine ausgiebige Benutzung der Potenzbezeichnung geführt wor-
den sein sollte, und die gebrochenen Exponenten selbst, so noth-
wendig zum Ausbau seines Systems sie waren, beseitigt hätte. Zu
dieser Annahme wären wir aber gezwungen; denn Wurzelexponenten,
d. h. solche, die rechts erhöht neben R stehen, kommen im dritten
Theile des Triparty wie in den vorhergehenden massenhaft vor,
nirgend aber gebrochene Exponenten.
Ein Beispiel mit Wurzelgrössen ist folgendes. Aus
V
lä-' = 12
19
wird geschlossen 1—- a;^ ^ 144, x^=\2b, x = ö. Bei Chuquet^)
sieht das Beispiel so aus: R^ ^^ w^ ^^^ egale a 12. Or multiplie chas-
cune partie en soy si auras I^ts^ dune part et 144 de laultre. Partir
maintenant le nombre par le tiers et trouveras R^ 125 qui est 5.
^) Triparty pag. 740 — 741. *) Ebenda pag. 765.
Andere Italiener. Die Franzosen Chuquet und Lefevre. 357
Wir unterlassen nicht auf die Schreibweise 1^ — — aufmerksam zu
125
machen, bei welcher der gemischtzahlige Zahlencoefficient die unbe-
kannte Hauptgrösse zwischen sich nimmt. Sie erinnert etwas an die
Stellung des Proportionalitätsbuchstaben p in (S. 133) Oresme's
aber wir sind überzeugt, dass diese kleine Aehnlichkeit den erwähnten
Verschiedenheiten gegenüber nicht als für eine Anlehnung ausschlag-
gebend betrachtet werden wird.
Nein, italienische Muster waren es, wie wir wiederholen dürfen,
denen der Verfasser der Dresdner Algebra, denen Chuquet, denen
Paciuolo folgte, und wenn bei Paciuolo und Chuquet die Wurzel-
bezeichnungen so genau zusammentreffen, dass ein gemeinsamer Ur-
sprung dieser Zeichen nicht Von "der Hand zu weisen ist, so dürfen
wir in den rechts erhöht oder nicht erhöht dem R beigegebenen
Wurzelexponenten den Keim zu erkennen haben, aus welchem Chu-
quet's positive und negative Exponenten entstanden sind.
Das eben zum Abdrucke gebrachte Beispiel einer Chuquet'schen
Gleichungsauflösung liess schon eine merkwürdige Aehnlichkeit mit
dem heutigen Verfahren hervortreten. Ein anderes Beispiel mag den
Eindruck noch vertiefen. Es handelt sich bei diesem Beispiele^) um
das Rationalmachen einer Gleichung. Chuquet behandelt hier die
Gleichung, equipolence des nonibres, wie folgt, indem wir nur wenige
Zwischenworte weglassen:
^2 42^41 p 21p- 1 egaulx a 100
R^42'p4^ dune part et 99 m 2^ daultre
42 p'41 egaulx a 9801 5i396^p^42
400^ dune part et 9801 daultre.
Weiter ist die Ausrechnung nicht geführt, und auch heute würde
man sich leicht damit zufrieden geben, am Schlüsse die einer Auf-
lösung nahezu gleichkommende Gleichung 400.r = 9801 auftreten
zu sehen, wenn ]/4a;- -{- 4x -\- 2x -{- 1 =^ 100 den Ausgang.spunkt
bildete.
Andere Gleichungen werden auf andere Schlussgestalten zurück-
geführt, deren es im ganzen vier giebt, die sogenannten canons , ein
Wort, bei welchem man sofort der Canonen im Bamberger Rechen-
buche, der als Canones betitelten metrischen Gleichungsauflösungen
^) Trrparty pag. 746.
358 58. Kapitel.
bei Paciuolo sich erinnern wird. Die vier Formen Chuc[uet's sind^)
nach heutiger Schreibart:
1. ax"" = hx"+^ 2. ax" + hx''+^ = cx"'+^^
3. ax" = hx"+^ + cx"+^'^ 4. ax" + cx"+^^ =hx^+^.
Das sind vier von den sieben Algorismen der Dresdner Algebra
(S. 245); aber welcher Fortschritt der Klarheit von dort zu Chuquet,
welcher Fortschritt auch gegenüber den proportionalen Gleichungen
Paciuolo's, welche dieser (S. 322) erst am Ende deiner Lehre von
den Gleichungen zur Sprache brachte, während ' Chuquet von dem
allgemeinen Falle ausgeht , ihn allein behandelt , d = 1 nur als
nebensächlichen Sonderfall betrachtet, der besondere Beachtung nicht
bedarf.
Zahlreiche Beispiele dienen freilich mit Recht auch bei Chuquet
zur Einübung sämmtlicher vier Fälle, und sie werden uns zu einigen
Bemerkungen Anlass geben. Gleich beim ersten Canon meint Chu-
quet^'), die Denominationen der beiden Glieder müssten verschieden
sein, denn Ax^ =^ Ax^ (4^ egal 4^) gestatte gar keine Folgerung
(ceste raison ne conclut riens) und 9x^=^dx'^ (9^ egal 5-) sei un-
möglich (la raison est impossible). Für Chuquet wie für Paciuolo
(S. 322) gab es also keine Auflösung x = 0, und ebensowenig wird
dieses bei ihren Vorgängern, wie sie geheissen haben mögen, der
Fall gewesen sein.
Dass beim vierten Canon zwei Wurzelwerthe erscheinen, je nach-
dem die vorkommende Quadratwurzel addirt oder subtrahirt wird,
sagt der Verfasser gleich bei der ersten Schilderung der vier Cano-
nen^). Er kommt bei Gelegenheit einzelner Beispiele darauf zurück,
und hier weist er darauf hin, dass bald zwei Auflösungen, bald gar
keine möglich sei. Letzteres wenn, nachdem die ganze Gleichung
durch den Coefficienten des höchsten Gliedes getheilt wurde, das
Quadrat des halben Coefficienten des mittelhohen Gliedes kleiner sei
als der Coefficient des niedersten Gliedes. Aus 12 -|- 3:r^ = 9 a; folge
-|±14^,
/ 3 \ 2
woraus die Unmöglichkeit sich zeige, weil (^j < 4: H sensuit que
ceste raison est impossible.
*) Triparty pag. 748 — 749. Die gleich weit von einander abstehenden
Potenzen besitzen differances de nombre egalement distans lune de laultre. Ist
der Abstand 1, so hat man denominacions prochaines, ist er grösser, so sind
letztere non prochaines. *) Ebenda pag. 750. ') Ebenda pag. 749 und dann
später pag. 805.
Andere Italiener. Die Franzosen Chuquet und Lefevre. 359
Die vier Canonen erschöpfen, wie Chuquet sich deutlich bewusst
ist, keineswegs alle erdenkbaren Fälle. Er schliesst darum sein Werk
mit folgender Aeusserung ^) : „Zur Vollendung und Erfüllung dieses
Buches bedarf es noch der Auffindung allgemeiner Regeln und Ca-
nonen für drei Glieder von ungleicher gegenseitiger Entfernung,
auch für vier oder mehr Glieder, mögen sie gleicher oder ungleicher
gegenseitiger Entfernung sein. Diese Fälle lassen wir für Solche,
welche tiefer eindringen wollen." Klarer konnte die Aufgabe der
Zukunft gewiss nicht ausgesprochen werden!
Die Handschrift, aus welcher der Triparty herausgegeben ist,
lässt demselben eine sehr grosse Anzahl der verschiedenartigsten
Aufgaben nachfolgen, welche auf Rechenkunst, auf Algebra, auf Geo-
metrie, auf Handelsgeschäfte aller Art sich beziehen. Leider ist
dieser Anhang nicht vollständig veröffentlicht, sondern nebst kurzer
Einleitung nur der Wortlaut von 166 Aufgaben sammt ihren Auf-
lösungen-), aber ohne die Auflösungswege, welche nur im Allgemeinen
als algebraische bezeichnet werden. Eine dieser Aufgaben, und zwar
eine, welche in der Handschrift ziemlich weit hinten steht, ist eine
chronologische und bietet den Vortheil, welchen solcherlei Aufgaben
nicht selten zeigen, auf die Zeit der Niederschrift sich zu beziehen.
Sie sagt^): maintenant que Ion compte 1484 et le 2^ Jour de mmj,
ist also in der gleichen Zeit entstanden, in welcher der Triparty ge-
schrieben ist, und dieser Umstand verbunden mit dem anderen, dass
die Aufgaben einen Anhang zum Triparty bilden, haben Veranlassung
gegeben, die ganze Sammlung Chuquet zuzuschreiben. Manche Auf-
gaben der Sammlung hat man auch in einer anderen etwa gleich-
altrigen wiedererkannt. Diese letztere*), niedergeschrieben im XV. Jahr-
hunderte in Pamiers (Departement de l'Arriege) in dem romanischen
Dialecte der Landschaft Foix, zu welcher jene Stadt gehört, bedient
sich aber bei ihren Auflösungen nicht der Gleichungen. Chuquet,
wenn er wirklich der Urheber der 166 gedruckten Aufgaben, oder
mindestens ihrer algebraischen Auflösungen war, ist mit rein nega-
tiven Auflösungen wohl vertraut. Die Aufgabe XIV führt zu
der Gleichung
(| + | + 20-^)(l-l-l) = 10,
*) Triparty pag. 814: Reste encore pour la perfection et accomplissement de
ce Hure trouver rigles et canons generaulx pour iroys differanccs de nombre inega-
lement distans. Et encore pour quatre ou plusieurs diff'erances soient egalement
ou inegalement distans lune de laultre. Lesquelles sont delaissees pour ceulx qui
plus auant vouldront profunder. ^ Bulletino Boncompagni XIV, pag. 413 — 460
^) Ebenda pag. 415. *) Ebenda pag. 416.
360 58. Kapitel.
3 3 . .
woraus x = — 7— , 20 — a: = ^'^Tf ^^^ ^^^ beiden Theile gefunden
werden, in welche die Zahl 20 zerlegt werden soll, und welche ge-
wissen in jener Gleichung sich kundgebenden Bedingungen genügen
sollen. Der Verfasser fügt der Auflösung die Worte bei: Ainsi ce
calciile est vray qiie aiäcims ticnnent Impossihle^), somit ist die Rech-
nung richtig, welche Manche für unmöglich halten. Auch über den
Sinn rein negativer Auflösungen spricht er bei Aufgabe XLIII sich
aus-). Diese fragt nach dem Einkaufspreise und der Anzahl von
Aepfeln eines Wiederverkäufers unter folgenden Bedingungen. Ver-
kauft er 3 um ein Geldstück, so gewinnt er 15 solcher Geldstücke,
und verkauft er 4 um ein Geldstück, so gewinnt er davon 14. Es
waren 12 Aepfel und deren Einkaufspreis war — 11, welches Oiiill
geschrieben ist. Das wird nun folgendermassen erläutert: Der erste
Besitzer gab die Aepfel dem Wiederverkäufer und erliess ihm über-
dies eine Schuld von 11 Geldstücken, damit dieser ihm die Aepfel
nur abnehme. Weniger glücklich ist die Erläuterung der Aufgabe
XXXV, welche gleichfalls zu einer negativen Auflösung führt ^).
Die Aufgabe CXIV führt zu einer imaginären Auflösung.
Sie verlangt "^j zwei Zahlen zu finden, deren Summe y 72 und deren
Product ]/6Ö sei und findet dieselben als Summe, beziehungsweise
DifiFerenz von R^9 und I^^ 81 in R- 60; dann rechnet der Verfasser
zur Probe die Multiplication der beiden Zahlen aus, und bei dieser
Rechnung zeigt sich, dass er als zweiten Theil der Auflösung eigent-
lich R-R^Sl iS R-60 verstanden hatte und die zwei aufeinander
folgenden Wurzelzeichen '^'^^ irriger Weise zu ß:^ vereinigte. Die
ganze Aufgabe scheint ihm darnach nicht vollständig klar gewesen
zu sein, und wenn wir sagten, eine imaginäre Auflösung erscheine,
so ist dieses vielleicht dahin einzuschränken, dass der Verfasser selbst
sich dessen bei seiner Rechnung nicht bewusst war, dass |/ ]/81 — ]/60
die Quadrat wurzelau sziehung aus einer negativen Zahl verlangte.
Dieses Bewusstsein spricht sich dagegen mit voller Klarheit in einer
Randnote von anderer Handschrift aus, und wenn wir auch über
ihre Entstehungszeit durchaus im Dunkel sind, glauben wir doch den
Inhalt mittheilen zu sollen. Das Product zweier Theile von ge-
gebener Summe, sagt der Schreiber der Randnote, sei am grössten,
wenn die Theile einander gleich gewählt werden. Hier sei dieses
grösste Product (— )/72j = y 81. Nun werde aber das noch grössere
yöÖ als Product verlangt, und das sei unmöglich.
^) Bulletino Boncompagni XIV, pag. 419. *) Ebenda pag. 427. ^) Ebenda
pag. 424. '') Ebenda pag. 444 — 445.
Andere Italiener. Die Franzosen Chuquet und Lefövre. 361.
Neben den bestimmten Aufgaben kommen auch unbestimmte
vor, z. B. die Aufgabe LXXVIII, zu welcher der Verfasser eine Zu-
satzbemerkung gemacht hat, welche die gegenseitige Abhängigkeit
der Wurzeln solcher Gleichungen deutlich ausspricht^): Et par ainsi
appert que telles raisons ont response necessaire de deux en deiix mais
de img a iing Uz ont teile response que Ion veidt, d. h. einzeln ge-
nommen erhalten die Unbekannten behebige Werthe, paarweise auf
einander bezogen sind sie dagegen bestimmt. Es handelt sich um
das Gleichungssystem:
x^-\-x.,-\- 100 = 3(.^3 + cc^ — 100)
^2 + •'*^3 + 106 = 4.{x^ -{-X, — 106)
x.^ -f x^ -f 145 = 5(,ri 4- X, — 145)
x^ + Xi -f 170 = {^{x.^ + X., — 170)
dessen allgemeine Auflösung
Xc, = 215 — x^, x. = \h-\- x^, x^ = 190 — x^
zwar nicht angegeben ist, wohl aber die besonderen Werthe 100,
115, 115, 90 und 80, 135, 95, 110, welche bei x, = \00 und .r^ = 80
entstehen.
Die Aufgaben CXLIX bis CLII sind unbestimmt vom zweiten
und dritten Grade ^). Eine Quadratzahl zu finden, welche um 7 ver-
mehrt wieder eine Quadratzahl gebe. Ein Quadrat zu finden, welches
um 4 vermehrt wieder eine Quadratzahl gebe. Drei Quadratzahlen
mit der Summe 13 zu finden. Drei Kubikzahlen mit der Summe 20
zu finden. Die entsprechenden Auflösungen sind:
(ir+(|)' + (!)' = 20.
An zwei Stellen 3), Aufgabe LXIX und CV, ist von einem Buche
eines Mönches Barthelemy de Rommans vom Predigerorden die
Rede, welches im Uebrigen nicht bekannt ist, die Vergessenheit aber,
in welche es gerieth, verdient zu haben scheint. Geschichtlich be-
merkenswei-th sind endlich einige Textaufgaben, welche theils schon
früher bei diesem oder jenem Schriftsteller bekannt geworden sind,
theils mindestens von nun an in zahllosen Wiederholungen wieder-
kehren. Wir nennen Aufgabe XXIII von den nach dem Tode des
Vaters geborenen Zwillingen, welche römisch ist (Bd. I, S. 523),
CLXIII und CLXIV von dem Wolfe, der Ziege und dem Kohlkopfe,
1) Bulletino Boncompagni XIV, 434. *) Ebenda pag. 455. ^) Ebenda
pag. 432 und 442.
362 58. Kapitel.
welclie über einen Fluss zu setzen sind, und von den ebenso Vorsicht
in der Auswahl der allein Bleibenden beansiiruchenden drei Ehe-
paaren, die beide möglicherweise auf Alcuin zurückgehen^), CLX von
dem Ringe an einem gewissen Gelenke eines gewissen Fingers einer
gewissen Person, welche Leonardo von Pisa errathen lehrte (S. 8).
Wir nennen Aufgabe CLVII, welche die Grundlage eines heute noch
üblichen, artigen Kunststückes ist, endlich CXLVI von den in einen
Kreis zu ordnenden 15 Christen und 15 Juden, von welchen immer
der 9. Mann ertränkt werden soll, bis nur 15 übrig bleiben, und
wobei die Anordnung so zu treffen ist, dass nur Juden, diese aber
alle, dem Tode verfallen. Auch diese Aufgabe hat im Laufe der
Zeiten nur geringe Aenderungen erfahren, wesentlich darin bestehend,
dass es bald Juden, bald Türken weren, die man in's Wasser werfen
Hess. Von ihrer Geschichte wird im 75. Kapitel die Rede sein.
Wir haben (S. 347) eine Vergleichung zwischen Paciuolo und
Chuquet zum Schlüsse unseres Berichtes über den Triparty des Letz-
teren in Aussicht gestellt. Zu wessen Gunsten sie ausfallen muss
ist nicht zweifelhaft. In Paciuolo haben wir einen fleissigen, tüch-
tigen, theoretisch wie praktisch gebildeten Schriftsteller kennen ge-
lernt, nicht jeder Bedeutung ledig, aber immerhin nicht als grosser
Mathematiker zu bezeichnen (S. 337). Seine Eigenthümlichkeiten
hatten wir vorzugsweise auf geometrischem Gebiete zu suchen, wo er
die Lehren der Algebra vortrefflich anzuwenden wusste. Ob auch
Chuquet und wie weit er in der Geometrie Bescheid wusste, ist uns
unbekannt. In seinem Triparty findet sich nichts aus diesem Gebiete,
und die geometrisch-algebraischen Aufgaben der Sammlung, welche
dem Triparty als Anhang dient, und von welcher wir annahmen, sie
könne vielleicht durch Chuquet zusammengestellt worden sein, sind
nicht veröffentlicht. Aber in Arithmetik und Algebra war Chuquet
ein ideenreicher Kopf. Er begnügte sich keineswegs damit, das von
Anderen Gewonnene zu beherrschen, er ging weit über diese Vor-
gänger hinaus. Wir haben in unserem Berichte eine ganze Reihe
von Gedanken besonders hervorgehoben, die mit grösserer oder ge-
ringerer Wahrscheinlichkeit Chuquet angehören; die Mittelwerth-
methode, die gleichzeitige Betrachtung einer arithmetischen und einer
geometrischen Reihe, die Andiespitzestellung ganz allgemeiner Formen
in der Lehre von den Gleichungen, die Anwendung ganzzahlig posi-
tiver und negativer Exponenten und des Exponenten Null, ferner im
Anhange, w^nn dieser wirklich von Chuquet herrührt, die klare Ein-
sicht in das Wesen einer unbestimmten Gleichung, die Rechnung
') Cantor, Die römischen Agrimensoren S. 149.
Andere Italienei-. Die Franzosen Chuquet und Lefevrc. 363
mit einem imaginären Ausdrucke, das sind doch Dinge, die ilirem
Urheber einen Platz unter den Männern von wahrhafter Erfindungs-
gabe anweisen. Wir sind weit entfernt davon, hier bestreiten zu
wollen, was wir selbst früher behaupteten, dass Chuquet Vorgänger,
italienische Vorgänger besessen haben muss, an die er vielfach sich
anlehiite. Aber besass Paciuolo diese Vorgänger weniger? Und wenn
Chuquet entlehnte, woran Paciuolo trotz umfassenden Wissens nicht-
achtend vorüberging, giebt das Chuquet nicht erst recht das Zeugniss,
dass er zu würdigen verstand, was Paciuolo nebensächlich erschien?
Gewiss, wir dürfen, wir müssen Chuquet als Mathematiker um eine
beträchtliche Stufe höher als Paciuolo stellen.
Das ist nun wiederum nicht so gemeint, als bedauerten wir hier
die Lobsprüche, welche wir früher auf Paciuolo's Summa häuften, als
suchten wir sie zurückzunehmen. Keineswegs. Paciuolo und Chuquet,
beide Männer, wie das beiden gespendete Lob bestehen geschichtlich
gleichberechtigt nebeneinander. Man darf nicht vergessen, was die
Berühmtheit der Summa hervorbrachte, was sie möglich machte. Sie
war, wie wir mit den schon einmal ausgesprochenen Worten wieder-
holen, das Werk, welches das Bedürfniss der Zeit forderte, zugleich
das Werk, welches dieses Bedürfniss durchaus befriedigte, und sie
erschien im Drucke! Der Triparty blieb Handschrift, und er wäre,
dürfen wir behaupten, auch als gedrucktes Buch nicht zu der so-
fortigen Verbreitung und zu dem Einflüsse gelangt, deren die Summa
sich erfreute. Der Eine kaufte und las die Summa als Lehrbuch der
Rechenkunst und der Algebra, der Zweite wegen der Darstellung der
Buchhaltung, der Dritte wegen der Belehrung über Wechsel, welche
er aus ihr schöpfen durfte, der Vierte wegen der als Tariifa bezeich-
neten Tabellen, der Fünfte wegen der hundert Aufgaben am Schlüsse
des Werkes-, aber den Triparty hätte nur jener Erste etwa sich an-
geeignet, hätte ihn gelesen, vielleicht verstanden, vielleicht aber auch
nicht verstanden. So vollendet klar Chuquet's Darstellungsweise uns
heute vorkommt, den Zeitgenossen wären grade die Dinge, um derent-
willen wir ihn am höchsten stellen, so überraschend neu gewesen
dass die sachliche Schwierigkeit von der sprachlichen Durchsichtig-
keit keinen weiteren Nutzen gezogen hätte, als dass man statt am
Ausdrucke vielmehr am Inhalte verständnisslos vorbeigegangen wäre.
Wir dürfen diese Behauptung aufstellen, denn wir sind in der Lage
sie zu beweisen. Ein Schriftsteller aus der ersten Hälfte des XVL Jahr-
hunderts, mit dem wir es im nächsten Kapitel zu thun haben werden,
hat ganze Seiten aus dem Triparty einfach abgeschrieben. Was uns
von hoher Bedeutung schien, das hat er vernachlässigt. Der Schrift-
steller, wer er auch sei, und wann auch seine Lebenszeit falle, schreibt
364 58. Kapitel.
zunächst in der -wissenschaftliclien Sprache seines Landes und für
das Verständniss seiner Heimathsgenossen. Fehlt ihm dieses, so wird
er schwerlich baldige Anerkennung finden. Das Frankreich Chuquet's
war für ihn nicht reif; ein Ausspruch Lefevre's kann und mag als
Beleg dienen.
Jacques Lefevre^) gehörte zu den berühmtesten Franzosen
der zweiten Hälfte des XV. und des ersten Drittels des XVI. Jahr-
hunderts. Geboren in Etaples um 1455 führte er von dieser seiner
Vaterstadt den latinisirten Namen Faber Stapulensis. Seine Stu-
dien machte er in Paris und erwarb sich dort die Würde eines
Magisters der freien Künste. Als solcher ging er vor 1486 zu mehr-
jährigem Aufenthalte, jedenfalls bis 1492, nach Italien und wandte
sich dort den mathematischen Wissenschaften zu. Nach Frankreich
zurückgekehrt setzte er in der Heimath ein ziemlich unstetiges Reise-
leben fort. Theologische Streitigkeiten, ein Wahrzeichen der Zeit,
in welcher Lefevre lebte, entfesselten den Zorn der Kirchenbehörde
gegen ihn, ohne der Gunst des Hofes Eintrag zu thun. Lefevre war
sogar unter Franz I. eine Zeit lang Prinzenerzieher. Er starb 1537
in einem Alter von mehr als 80 Jahren in Nerac. Lefevre erzählt
nun-), ein Grieche, mit welchem er über die pariser Universität ge-
sprochen, habe diese sehr gelobt; nur Eines fehle ihr: Mathematik.
Wenn eine Stütze jener Anstalt, wie Lefevre es damals war, ein
solches Urtheil — von unserem Standpunkte aus dürfen wir es eine
Verurtheilung nennen — ohne Widerrede veröffentlicht, wenn er
vielmehr noch bestätigend hinzusetzt, dadurch sei er erst veranlasst
worden, den mathematischen Wissenschaften den ihnen gebührenden
Fleiss zuzuwenden, dann muss es doch um die pariser Mathematik
schlecht bestellt gewesen sein, und Paris war Frankreich.
Was that nun Lefevre, um dem von ihm erkannten Uebelstande
nach Ki-äften abzuhelfen? Er veranstaltete Druckausgaben von vier
Werken verstorbener Mathematiker. Drei dieser Drucke gehören dem
XVI. Jahrhunderte an, sollen aber des Zusammenhanges wegen hier
vorweggenommen werden. Zuerst gab er 1496 die Arithmetik des
Jordanus Nemorarius, welche 1514 wiederholt gedruckt wurde.
Das war entschieden ein glücklicher Griff, aber bezeichnend bleibt
es immerhin, dass grade die Arithmetik des Jordanus gewählt wurde,
dasjenige Werk, in welchem er am wenigsten selbständig auftrat,
und welches dementsprechend weitaus nicht die Wirkung übte, welche
von einem Abdrucke der Bücher De numeris datis etwa erzielt werden
^) Nouvelle Biograjjhie universelle XXX, 333 — 339, Artikel von Ernest
Gregoire. *) Kästner I, 283.
Andere Italiener. Die Franzosen Chuquet und Lefevre. 365
konnte. Dann kam zweitens 1507 die Sphaera des Johannes von
Sacrobosco. Neue Auflagen von 1511, von 1526, von 1531 be-
zeugen, wie vielfachen Wünschen damit entsprochen war. War die
Sphaera doch immer noch das vorzugsweise benutzte Lehrbuch der
Astronomen, und gerade in Paris bildete es noch unverändert den
Inhalt von Universitätsvorlesungen, schliesslich auch kein glänzendes
Zeugniss für die Lehrer, für welche ein Peurbach nicht gelebt zu
haben scheint. Dann kam 1514 ein Abdruck der Werke des Ni-
colaus von Cusa, aber wir fürchten kaum Widerspruch gegen
unsere Ansicht, es seien die politisch -religiösen Streitschriften des
Cardinais gewesen, welche dem Herausgeber am wichtigsten waren,
und die mathematischen Schriften seien nur so nebenbei mit zum
Drucke gelangt. Das vierte Druckwerk endlich ist eine Euklid-
ausgabe ^) von 1516. Wir erinnern uns (S. 339), dass Zamberti
1505 ein zehnjähriges Privilegium für seinen aus dem Griechischen
übersetzten Text erworben hatte. Diese Frist war eben abgelaufen,
als Lefevre einen neuen Abdruck in der berümten Druckerei des
Stephanus in Paris unternahm. Er hatte in Michael Pontanus
einen engbefreundeten Mitarbeiter, der im weiteren Verlaufe des
Druckes, als Lefevre nach Narbonne sich begab, die ganze Leitung
allein übernahm, so dass es scheinen möchte, als sei Lefevre nicht
anders an der Ausgabe betheiligt gewesen, als durch die ihm gewor-
dene Aufforderung eine solche zu veranstalten, durch die Unterhand-
lung mit dem Drucker und durch ein dem Werke vorgesetztes Wid-
mungsschreiben aus seiner Feder. Aber gleichviel, wer der eigent-
liche Herausgeber war, eine neue Euklidausgabe konnte für die
Hebung des mathematischen Interesses in Frankreich Erspriessliches
leisten, konnte überhaupt, wenn sie, was nicht sehr schwer zu errei-
chen war, über die schon vorhandenen Druckausgaben sich erhob,
von nicht unbedeutendem Nutzen sein. Sehen wir uns darum die
pariser Ausgabe von 1516 etwas näher an.
Der Abdruck enthält nicht sämmtliche Euklidische Werke, son-
dern nur die sogenannten 15 Bücher der Elemente, und diese in den
beiden vorhandenen Uebersetzungen, in der des Campanus und der
des Zamberti. Euklid selbst heisst auf dem Titelblatte nach wie vor
Megarensis. Campanus wird ebenda als Gallus transalpinus bezeichnet,
d. h. als Italiener, da der Ausdruck in Paris gebraucht wurde; in
Italien würde dieselbe Benennung einem Franzosen gegolten haben,
ähnlich wie der fast gleichbedeutende Ausdruck Ultramontanus nörd-
lich der Alpen von einem Italiener, südlich derselben von einem
') Weissenboru, Die Uebersetzungen des Euklid S. üG — 63.
366 58. Kapitel.
Nichtitaliener gebraucht wurde. Zamberti heisst Venetianer, und
Theon ist als Alexandriner genannt. Eine Erwähnung des arabischen
Vermittelungstextes, dessen Campanus sieh bediente, fehlt durchaus,
man scheint daher von diesem so wesentlichen Umstände noch immer
keine Kenntniss besessen zu haben. Die Druckfolge ist die, dass
zuerst immer die Lehrsätze in der Lesart des Campanus stehen, über-
schrieben Eudides ex Campano. Dann kommen dessen Beweise mit
der wechselnden Ueberschrift Campanus oder Campani additio oder
Cmnpani amiotatio. Unmittelbar darauf folgt Eudides ex Zamberto
d. h. die Lehrsätze in der Lesart Zamberti's, und dessen Beweise
unter dem Namen Theon ex Zamberto erscheinen bei jedem einzelnen
Satze an vierter Stelle. Die Zusätze des Campanus, soweit sie auf-
genommen sind — die Dreitheilung des Winkels fehlt — sind unter den
schon erwähnten Ueberschriften Campani additio oder annotatio mit-
enthalten. Zamberti's feindselige Aeusserungen gegen Campanus sind
durchweg entfernt. Man sollte sagen, der Leser müsse gewünscht
haben, über das Verhältniss, in welchem die vier Persönlichkeiten
Euklid, Campanus, Theon, Zamberti zu einander standen, etwas zu
erfahren, der Herausgeber müsse diesen Wunsch vorahnend zu be-
friedigen gesucht haben, aber das ist nicht der Fall. Weder auf
dem weitschweifigen Titelblatte noch in dem Lefevre'schen Widmungs-
briefe ist Aufschluss gegeben. Die Druckfolge allein konnte allen-
falls zu Muthmassungen führen, welche kaum anders ausfallen konn-
ten, als dass der Transalpine Campanus und der Alexandriner Theon
jeder für sich Beweise zu den euklidischen Sätzen erfunden haben.
Waren beide Schriftsteller gleichzeitig, war der zuerst genannte Cam-
panus der ältere? Darüber schweigen die Herausgeber, und gleiches
Schweigen ist die Antwort auf die nicht minder sich aufdrängende
Frage, wieso Campanus und Theon zu im wesentlichen übereinstim-
menden Beweisen gelangt waren. Wenn aber der Leser in diesen
wichtigen Punkten auch nicht die Andeutung einer Auskunft erhielt,
so wird man in der pariser Euklidausgabe von 1516 einen Fortschritt
nicht zu erkennen vermögen.
Wir sind wieder an dem Schlüsse eines Abschnittes, eines Jahr-
hunderts angelangt. Die Ausdehnung unserer Darstellung hat wesent-
lich zugenommen, und eine weitere Zunahme wird in den folgenden
Abschnitten bemerklich werden. Liegt das daran, dass mit der Er-
findung der Buchdruckerkunst mehr Schriften Verbreitung fanden,
über welche dann auch leichter zu berichten ist? Zum Theil verhält
es sich so, aber das ist doch nicht Alles. Die Mathematik beginnt
in der That einen ' neuen Aufschwung zu nehmen. Es sind nicht
mehr ganz vereinzelte Geister, welche mathematische Gredanken neuer
Andere Italiener. Die Franzosen Ohuquet und Lefevre. 367
Art liegen und äussern; in Italien vorzugsweise, daneben in Deutsch-
land, beginnt die Mathematik Volkseigenthum zu werden, und je
breiter die Grundlage, um so höher kann von ihr aus das Gebäude
errichtet werden. Wir haben in diesem Abschnitte Persönlichkeiten
auftreten sehen, deren Leistungen wir zum Theil in ausführlicheren
Uebersichten zusammengefasst haben. Wir brauchen hier nur die
Namen Widmann und Regiomontanus, Lionardo da Vinci und Pa-
ciuolo, endlich den des alleinstehenden Chuquet zu Aviederholen, um
die Baumeister vereinigt zu haben, welche in der zweiten Hälfte des
XV. Jahrhunderts den mathematischen Bau am meisten förderten.
Rechenkunst, Algebra, Anwendung der Algebra auf Geometrie und
damit einigermassen verwandt auch Trigonometrie waren die haupt-
sächlichen Gebiete ihrer Thätigkeit, während eine reingeometrische
Untersuchungsweise etwas in den Hintergrund zurückgedrängt erscheint.
XIII. Die Zeit von 1500—1550.
Caktok, Geschiclite uer Mathem. II. 2. Aufl. 24
59. Kapitel.
Französische, spaiiisclie niid portugiesisclie Matlieinatiker.
Als wir im vorigen Kapitel mit Chuquet uns beschäftigten, be-
riefen wir uns für die Behauptung, sein Triparty sei ein für die da-
maligen Franzosen zu gedankenreiches Werk gewesen, auf einen
Schriftsteller dieses Landes, der nur kurze Zeit später lebend der
Handschrift des Triparty sich bediente. Wir meinten Estienne de
la Roche genannt Vi lief ran che aus Lyon. Von seinem Leben
ist ausser dem Geburtsorte, den wir dem Titelblatte seines Buches
Larismethique nouellement composee par maistre Estienne de la röche
dict Vülefranche natif de Lyon sus le Bosne entnehmen, nicht das
Geringste bekannt. Diese Arithmetik ist 1520 zuerst, dann 1538 in
einem zweiten Abdrucke erschienen. Nimmt man an, der Verfasser
habe das Buch mit 40 Jahren veröfifentlicht, so gelangt man zu einem
Geburtsjahre um 1480, welches angegeben worden ist^), aber jene An-
nahme selbst schwebt durchaus in der Luft und kann sich ganz ge-
wiss nicht auf eine in dem Buche zu erkennende besondere geistige
Reife des Verfassers stützen. De la Roche gesteht von vornherein
zu, dass er nur die Blüthen mehrerer geübten Meister vereinigt und
aufgehäuft habe, wozu er irgend kleine Zuthaten beifügte, welche er
als Praktiker ersonnen habe'). Als die von ihm vorzugsweise be-
nutzten Meister nennt er Nicolas Chuquet von Paris und Bruder
Lucas von Burgo Sancti Sepulcri, d. h. also Paciuolo. Zwischen beiden
uns wohlbekannten Namen erscheint auch als dritte Quelle ein Phi-
lipp Friscobaldi von Florenz. Vielleicht gelingt es italienischen
Fachgenossen über diese Persönlichkeit und über ihre Leistungen
^) Marie, Histoire des sciences mathematiques et physiques II, 228. *) Aut
playsir et louange de dieu le createur et de la tres glorieuse vierge marie sa
tressaeree mere et de mon seigneur saint estienne mon tresreverend patron et de
toute la court celestielle de paradis ay collige et amasse la fleur de plusieurs
maistres expertz en cest art: comme de maistre nicolas chuquet parisien, de philippe
friscobaldi florentiis: et de frere luques de burgo sancti sepulcri de lordre des
freres mineurs avecques quelque petite addicion de ce que iay peu invente et ex-
perimente en mon iemps en la pratique.
■ 24*
372 59. Kapitel.
Klarheit zu schaffen. Da, wie wir wiederholt hervorgehoben haben,
wichtige italienische Quellenschriften uns noch fehlen, so ist jede
Sjiur zu verfolgen, welche möglicherweise dahin führen könnte, den
Algebraiker zu erkennen, welchen Chuquet, welchen der Verfasser der
Dresdner Algebra benutzte.
De la Roche's Arithmetik besteht aus drei Abtheilungen. Die
erste von 140 Druckseiten ist vielfach wörtlich dem Triparty ent-
nommen und stellt für sich ein Lehrbuch der Rechenkunst und der
Algebra vor. Die zweite Abtheilung von 298 Druckseiten beschäftigt
sich mit dem kaufmännischen Rechnen, wie es bei Paciuolo in aller
Ausführlichkeit gelehrt ist. Die letzten 20 Druckseiten können, wie-
wohl nicht äusserlich von der zweiten Abtheilung getrennt, als dritte
Abtheilung betrachtet werden; sie wenden die Rechenkunst auf Geo-
metrie an. Wir haben den Triparty als wesentliche Quelle der ersten
Abtheilung genannt. Wir würden ein ganz verkehrtes Bild derselben
erwecken, wenn wir nicht auf die Lücken hinwiesen, die eine ge-
nauere Vergleichung bemerken lässt. De la Roche hat aus dem Triparty
nicht übernommen die den Begriff des logarithmischen Rechnens ent-
haltende Vergleichung einer arithmetischen und einer geometrischen
Reihe, nicht den Exponenten Null, nicht die negativen Exponenten,
nicht den Ausblick auf Gleichungen mit mehr als drei Gliedern oder
mit ungleich von einander entfernten Gliedern als Aufgabe der Zu-
kunft. Das sind aber gerade die bahnbrechenden Gedanken Chuquet's,
welche weggelassen sind, offenbar nur aus dem Grunde, welchen wir
oben andeuteten, weil eben De la Roche sie in ihrer Bedeutung zu
würdigen nicht fähig, wenigstens nicht reif war. Am deutlichsten
zeigt sich diese ünreifheit bei dem Exponenten Null. Wenn Chuquet
gesagt hat, man könne (S. 355) einfache Zahlen als solche betrachten,
die gar keinen Namen, beziehungsweise den Namen Null führen, so
schrieb De la Roche, als er an die betreffende Stelle kam, nicht etwa
einfach ab, sondern er liess die bessere Hälfte des Satzes weg und
sprach nur von Zahlen, welche keinen Namen führen^). Er hat eben
nicht verstanden, dass das unscheinbare Zeichen 0 rechts erhöht ge-
schrieben eine Erfindung darstellte, die erst nach weiteren 100 Jahren
zur Geltung kommen sollte. Mit aller Breite verweilt De la Roche
dagegen bei den kaufmännischen Rechnungsaufgaben, die ihm des
reichlich doppelten Raumes würdig erscheinen, den er der ersten Ab-
theilung widmete. Hier sind auch jene Regeln mitgetheilt, welche
insbesondere bei Vervielfachungen benannter Zahlen in Anwendung
^) De la Roche, Larismetliiqiie etc. fol. 42 recto letzte Zeile: hs nombres
qui nont nulle denomination sont occupatis le premieur Heu en lordre des differences.
Französische, spanische und portugiesische Mathematiker. 373
traten, und welche auf der Auffassung des Multiplicators als einer
Summe beruhen, deren einzelne Summanden die Vielfachen leicht finden
lassen. Tollet rechnung war der Name, unter welchem wir (S. 224
— 225) Aehnliches in Deutschland kennen gelernt haben. Jetzt heisst das
Verfahren^) Regeln der Praktik, und diesem Namen wie der Sache
selbst werden wir künftig in allen Ländern begegnen. Ein Beispiel
möge den Sinn unserer Worte erläutern^). Man will in Livres aus-
gedrückt das 960fache von 6 Sous 9 Deniers wissen, während 1 Livre
= 20 Sous, 1 Sou = 12 Deniers ist. Man zerfällt G Sous 9 Deniers
in 5 Sous, 1 Sou 3 Deniers, 6 Deniers oder in — Livre + — Livre
' ' 4 ' Ifa
+ — Livre und rechnet:
i von 960 ist 240,
4 von 960 ist 60,
16 '
^ von 960 ist 24,
40 '
zusammen 324 Livres.
Auch einiges Geometrische, sagten wir, sei in De la Roche's Buch
vorhanden^ ^ Gross ist das Wissen nicht, von welchem hier An-
wendung gemacht ist, aber es sind wenigstens richtige Formeln, nach
denen gerechnet ist, wie wir im Gegensatze zu einem vielgebrauchten
encyklopädischen Werke, von welchem wir auf deutschem Boden zu
reden haben werden, anerkennen dürfen. Es handelt sich um Kreis-
22
ausmessungen mittels des archimedischen Werthes n ^ -^r , um mehr-
fache Benutzung des pythagoräischen Lehrsatzes, um die Ausrechnung
der Dreiecksfläche nach der heronischen Formel, um Zerlegung von
Vielecken in Dreiecke. Ein Kreisabschnitt wird zum Kreisausschnitt
ergänzt, der alsdann der sovielte Theil der ganzen Kreisfläche ist,
als sein Bogen Theil der Kreislinie*): Z. B. sei 6 die Länge des
Bogens und 3— der Halbdiameter. Die Kreislinie hat demnach die
1 22 . 22 1 1 .
Länge 2 • 3— • — = 22 und die Kreisfläche ist y • 3— = 38— • Die
Regeldetri 22 : 38^- = 6 : lOy liefert mit lOy die Fläche des Kreis-
ausschnittes. Von ihr ist alsdann wieder das ergänzende Dreieck ab-
^) De la Roche fol. 77 verso:< Des regles iriefves aultrement dictes regles
de pratique. *) Ebenda fol. 79 recto. ^) Ebenda fol. 220 recto: Comment
la seience des nombres se peult applicquer aux mesures de geometrie. *) Ebenda
fol. 223 recto.
374 59. Kapitel.
zuziehen, vou dessen Ausreclinung jedoch nichts gesagt ist. Endlich
kommen noch einige Körperausrechniingen vor.
So das Buch des Estienne de la Roche. Das Urtheil über das-
selbe hat sich im Verlaufe von etwa zehn Jahren sehr zu seinen Un-
gunsten verschoben. Auf uns, welche wir die bessere Vorlage kennen,
macht es den Eindruck eines recht untergeordneten Werkes; auf eine
Zeit, welcher der Triparty noch nicht zugänglich war, durfte und
musste es befriedigender wirken. Sah man doch nur die von Chuquet
entlehnten Dinge, ohne zu wissen, wie genau sie entlehnt waren, und
vor allen Dingen ohne zu wissen, was dem Abschreiber in der Feder
stecken geblieben war.
Wir heben diesen Gegensatz in der Würdigung eines und des-
selben Schriftstellers durch gleich gewissenhafte Forscher, möglicher-
weise durch den gleichen Forscher innerhalb kurzer Zwischenzeit
nicht ohne Absicht hervor. Uns däucht, es falle dadurch ein bedeut-
sames Licht auf den Werth mancher Urtheile in der Geschichte der
Wissenschaften. Sehen wir doch hier das deutlichste Beispiel davon,
dass der glänzendste Ruhmestitel eines Gelehrten unter Umständen
darin bestehen kann, dass man seine Vorgänger nicht kennt, dass
das Dunkel, welches den Einen Unverdientermassen umhüllt hat, den
Hintergrund bildet, von welchem das nur massig helle Bild des Anderen
sich abhebt. Müssen wir bei solchen Erwägungen nicht misstrauisch
werden namentlich gegen die Urtheile über solche Männer, deren
Thätigkeit viele Jahrhunderte hinter dem Zeitalter der häufigen und
erleichterten Vervielfältigung von schriftstellerischen Leistungen zurück-
liegend ein zufälliges Verlorengegangensein dieser oder jener Quellen-
schrift um so eher möglich erscheinen lässt? Nur ein Beweismittel
erscheint uns nahezu untrüglich. Wir meinen nicht etwa die ein-
stimmige Anerkennung der Zeitgenossenschaft. Wie sehr diese trügen
kann, beweist jedes Jakrhundert an Beispielen, die aufzufinden nicht
schwierig sind. Aber wir meinen das Vorhandensein verschiedener,
von einem Verfasser herrührender Werke, welche alle den Stempel
höherer Begabung tragen. Der Fall ist kaum denkbar, dass es einem
Menschen gelänge, wiederholt in die Fusstapfen früher Lebender so
einzutreten, dass jede Spur des Vorgängers verwischt würde. Darum
dürfen wir getrost den Ruhm eines Euklid, eines Archimed, eines
Apollonius als einen durch keine Neuentdeckung zu gefährdenden
erachten, dürfen wir mit gleicher Zuversicht Männer wie Leonardo
von Pisa, wie Regiomontanus ihnen zur Seite stellen. Von ihnen
allen trifft das Merkmal zu, dass ihr Ruf, als bahnbrechende Geister
in der Mathematik gewirkt zu haben, auf mekr als nur eine von ihnen
verfasste Schrift sich gründet.
Französische, spanische und portugiesische Mathematiker. 375
Einstimmige Anerkenmmg der Zeitgenossenschaft , sagten wir,
kann trügen. Ein Beispiel bietet uns gleich der nächste Schrift-
steller, von "welchem wir zu reden haben. Am Ende des XV. Jahr-
hunderts lebte in Brian9on, einer Bergveste unweit der französisch-
italienischen Grenze, ein Arzt Fran9ois Fine, nicht Fine, wie man
aus der latinisirten Form Finaeus zu schliessen geneigt ist, welcher
auch mit Astronomie sich schriftstellerisch beschäftigte. Ihm wurde
1494 ein Sohn Oronce, latinisirt Orontius Finaeus^), geboren
der am 8. October 1555 in Paris starb, unbemittelt aber weit und
breit berühmt, der Neubegründer mathematischer Studien in Frank-
reich, wie er in einem an König Franz I. gerichteten Einleitungs-
schreiben seiner Ti'otomathesis sich selbst nennt, worin aber auch die
ganze Mitwelt einstimmte. Was nur von geistiger Bedeutung in
Paris lebte, Männer der Wissenschaft und der schönen Künste, Beamte
und Höflinge, Gesandte, Prinzen, der König selbst vereinigten sich
in den Vorlesungsräumen des College royal, wo Finaeus seit 1532
eine für ihn errichtete Lehrstelle inne hatte und als Professor mit
beispiellosem Zulaufe wirkte. Sehen wir zu, welche schriftstellerische
Leistungen der Hochbewunderte hinterliess. Auf die grosse Anzahl
derselben braucht man von vornherein kein sonderliches Gewicht zu
legen. Er vervielfältigte dieselben in jeder Weise: durch Uebersetzung
in andere Sprachen, durch Veränderung der Ueberschrift oder auch
bloss des Formats, durch Herausgabe bald im Einzelnen, bald als
Sammlung, nur um diese Druckwerke immer anderen hochgestellten
Persönlichkeiten widmen zu können, von denen er vergeblich Be-
freiung aus drückenden Geldverhältnissen erflehte. Die Geschichte
der Mathematik hat es nur mit zwei Werken des Orontius Finaeus
zu thun. Die Protomathesis ^) von 1532 handelt in vier Büchern
von der Arithmetik, in zwei Büchern von der Geometrie, in fünf
Büchern von der Kosmographie, in vier Büchern von der Gnomonik.
Die drei ersten arithmetischen Bücher sind dem gemeinen Rechnen
gewidmet und unterscheiden sich, wie es nach den Auszügen, auf
welche unser Bericht sich stützt, den Anschein hat, nur dadurch von
anderen gleichzeitigen Lehrbüchern, dass dem Sexagesimalsystem ein
grösserer Spielraum gegeben ist. Die Quadratwurzelausziehung z. B.
lehrte er so^), dass dem Radikanden 2n Nullen rechts angefügt und
dann ganzzahlig die Wurzel gesucht werden soll, welche solcher Weise
^) Nouvelle Biographie universelle XVII, 706 — 712. — L. Am. Sedillot,
Les professeurs de mathematiques et de physique generale au College de France
im Bulletino Boncompagni Band 11 und HI. Ueber Orontius Finaeus II, .363 — 364.
-; Kästner I, 449 — 453. ^) Tartaglia, General Trattato de' numeri et
misure. Parte 11 fol. 22 (Venetia 1556).
376 59. Kapitel.
lim 71 Stellen zu lang ist. Diese n reclits überschiessenden Stellen
soll man dann mit 60 vervielfachen und abermals n Stellen rechts
abschneiden, mit denen man wiederholt in gleicher Art zu verfahren
habe, um Sexagesimalbrüche zu erhalten. Die Kubikwurzelausziehung
schloss sich an und wurde wohl nach ähnlichen Vorschriften gelehrt.
Auch ein Canon Sexagenarum war beigefügt, offenbar eine Art von
Einmaleinstafel im Sexagesimalsystem mit Stellungswerth der durch
Kommata getrennten Zahlen, die jeder nach links vorrückenden
Zahl den ßOfachen Werth als der gleichen rechts stehenden verleiht,
z. B. 64 = 1 • 60 + 4 • 1 = 1, 4; 169 = 2 • 60 + 49 • 1 = 2, 49 u. s. w.
Das vierte arithmetische Buch geht zu den Proportionen über und
gipfelt in der regula sex proportionalium quantitatum, also in den
zusammengesetzten Proportionen, die bei 6 darin vorkommenden
Grössen 18 Versetzungen unterworfen werden können, wie sowohl
Leonardo von Pisa (S. 16) als Jordanus Nemorarius (S. 67) gelehrt
haben, deren Ersterer Achmed den Sohn Joseph's als Quelle angab.
Bei den zwei geometrischen Büchern wird insbesondere die vorzüg-
liche Ausführung der Figuren gelobt, ein Zeugniss für die Geschick-
lichkeit des Verfassers im Zeichnen, auf die er sich somit nicht um-
sonst etwas zugute that. So soll der Abdruck eines Maassstabes von
6 Pariser Zoll bei einer durch Kästner^) angestellten Vergleichung
mit einem sehr genauen Messingstabe haarscharfe Uebereinstimmung
gezeigt haben, so soll auch die Perspective der Raumfiguren besonders
gut gelungen sein. Im Uebrigen wird als Inhalt des ersten geometri-
schen Buches augegeben : Erklärungen , Vorbereitung den Euklid
leichter zu verstehen, von Kreisen auf der Kugel, Maasse, eine Sinus-
tafel durch alle Minuten in Sechzigsteln des Halbmessers ausgedrückt.
Aus dem zweiten geometrischen Buche nennt unsere Vorlage Feld-
messerwerkzeuge, Ausrechnung ebener Figuren, Archimed's Kreisrech-
nung, Ausrechnung der Körper. Unter der Bezeichnung Kreisrechnung
22
dürfte die Benutzung der Verhältnisszahl % ^^ ~ zu verstehen sein.
Finaeus wusste, dass dieser Werth nicht anders als angenähert richtig
ist. Unbegreiflich erscheint daher, dass er von dieser Kenntniss aus
den Rückschritt vollzog, eine zeichnende Umwandlung des Kreises in
ein Quadrat, welche gleichfalls in diesem zweiten geometrischen Buche
22
gelehrt ist, und welche, wenn auch nicht von % = V ausgehend, doch
auf eben diesen Werth führt, für genau zu halten, ein Rückschritt,
an welchem nicht zu zweifeln ist, da Finaeus anderwärts sich aus-
drücklich gerühmt hat^), er habe zur grossen Wuth seiner Gegner
*) Kästner I, 451. *) NoiiveUe Biographie universelle XVII, 708, Note 1.
Französische, spanische und portugiesische Mathematiker. 377
die Quadratur des Kreises, von welcher Aristoteles an verschiedenen
Stellen sage, sie sei nicht unauffindbar, aber noch nicht aufgefunden,
wirklich entdeckt und bewiesen. lieber die kosmographische und die
gnomonische Abtheilung gehen wir, als dem Inhalte unserer Dar-
stellungen fern gelegen, hinweg. Ebenso begnügen wir uns mit dem
Hinweise auf eine von Finaeus vorgeschlagene Methode zur Längen-
bestimmung ^). Mit Finaeus war ein Pariser Arzt und Astronom
Antoine Mizauld^) (1520—1578) befreundet. Diesem hatte Finaeus
den Auftrag hinterlassen, nach seinem Tode ein zweites mathematisches
Werk dem Drucke zu übergeben, und es erschien schon 1556 unter
dem prunkhaften Titel der vier Bücher von den bisher ersehnten
mathematischen Dingen, De rebus mathematicis hactenus desi-
deratis^). Diese ersehnten Dinge sind der Reihenfolge nach 1. Auf-
findung zweier mittleren Proportionalen zwischen gegebenen Strecken,
2. Rectification des Kreises, 3. Theilung der Kreislinie in 3, 5, 7, 11,
13 gleiche Längen, beziehungsweise Einbeschreibung von regelmässigen
Vielecken von der entsprechenden Seitenzahl, 4. Zerschneidung der
Kugel in zwei Abschnitte, deren Rauminhalt im gegebenen Verhält-
nisse stehen soll. Alle diese Aufgaben glaubte Finaeus unter allei-
niger Anwendung von Zirkel und Lineal gelöst zu haben, woraus die
Unrichtigkeit seiner Lösungen hinlänglich hervorgeht. Ihnen allen
liegt übrigens ein einziger Gedanke zu Grunde, die Benutzung der
göttlichen Proportion, worunter Finaeus den goldenen Schnitt ver-
steht. Er feierte ihn auch in einem an die Spitze gestellten Distichon ^) :
Änthoris distichon de divina proportione.
Si quid divinum condebat pulchra mathesis
Quod Geometra cölat; haec tibi sola dabit.
Was von göttlichem Inhalt Verehrungswerthes Mathesis
Dem Geometer verbarg, giebt Dir die Eine allein.
Unter den Versen befindet sich die Zeichnung einer nach äusserem
und mittlerem Verhältnisse getheilten Strecke. Der Ausdruck Bivina
proporüo der Ueberschrift lässt vemiuthen, dass Finaeus mit der Divina
Proportione des Paciuolo bekannt war und zu den dort gerühmten
Vorzügen des goldenen Schnittes noch andere, bewundernswerthere
hinzuzufügen dachte. Jene Keuntniss konnte Finaeus in der That
besitzen. Der buchhändlerische Verkehr begann bereits ein lebhafterer
zu werden, und wir dürfen auch wohl noch auf den besonderen Um-
stand hinweisen, dass Liouardo da Vinci, der Zeichner der Figuren-
1) R. Wolf, Geschichte der Astronomie S. 379 (München 1877). *) Pog-
gendorff II, 16.3. ^) Kästner I, 454—457. *) Ebenda S. 455.
378 59. Kapitel.
tafeln zur Divina Projjortione, die letzten Jahre seines Lebens bis
1519 am Hofe desselben Königs Franz I. zugebracht hatte, in welchem
Finaeus einen wenn auch nicht sehr freigebigen Gönner verehrte.
Finaeus sagt in seinem nachgelassenen Werke, die Verhältnisszahl 7t
liege zwischen -^r und —, und diese Grenzen sind ja auch richtig.
Dann aber legt er seinen Zeichnungen den zweiten kleineren Werth
zu Grunde und preist ihn an, er führe zur genauen Rectification.
Nicht als ob die Zeichnungen selbst mit diesem Werthe in völliger
Uebereinstimmung sich befänden; es bleibt ein Fehler, welchen Finaeus
auf eines Theiles, deren 60 auf einen Kreishalbmesser gehen,
berechnet, wenn die Länge der dem Kreisquadranten gleichen Strecke
in Frage steht, aber dieser so kleine und unvermeidliche Fehler dürfe
vernachlässigt werden. Gewiss ist auch letztere Behauptung berechtigt
und die ganze Zeichnung eine praktisch vollauf genügende, wenn
nur der theoretische Fehler nicht begangen wäre, dass bald^<:7r,
245
bald genau "-:.- = % gesetzt würde. Noch weniger gereehfertigt sind
die Constructionen, deren Finaeus bei den anderen oben erwähnten
Aufgaben als längst ersehnter Erfindungen sich rühmt, und man darf
mit einigem Bedauern feststellen, dass das nachgelassene Werk des
wahrscheinlich mit Recht wegen seiner ausgezeichneten Lehrgabe
bewunderten Mannes seiner erworben geglaubten Unsterblichkeit ein
schnelles Ende bereitete. Wenn die Nachwelt, unbeirrt durch an-
fänglichen Ruhm, durch späteren Misserfolg Finaeus fortwährend eines
Lobes für würdig hält, so ist es eines solchen, welches in Finaeus dem
Menschen und nicht dem Mathematiker gilt. Finaeus war es sicher-
lich in erster Linie um die Wissenschaft zu thun. Er war keine
jener eifersüchtigen Naturen, die es nicht ertragen können, dass
einem Anderen als ihnen selbst ein Verdienst zugebilligt werde. Das
hat er durch die Herausgabe fremder Werke bewiesen, denen er
dadurch selbst den Stempel seiner Achtung aufdrückte. Die Arith-
metik des Silicius hat er 1519, die Margaritha Philosophica 1523
neu herausgegeben, zwei Werke, von denen die theils chronologische,
theils geographische Gliederung, welcher wir folgen, uns verbietet,
jetzt schon mehr als nur die Namen zu nennen. Es folgte 1525 eine
Ausgabe von Peurbach's astronomischem Hauptwerke, der Theorica
nova Planetarum, und Anderes mehr, was unserem Gegenstande noch
ferner liegt.
Fast genau derselben Zeit wie Finaeus gehörte Jean FerneP)
(1497 — 1558) an. Zuerst zweifelhaft, ob er der Kanzel oder dem
') Montucla I, 576. — Nouvelle BiograjjJne universelle XVII, 477—483.
Französische, spanische und portugiesische Mathematiker. 379
Vertlieidigerstande sich widmen solle, wurde er nur deshalb Arzt,
weil er fühlte, dass seine Stimme für die Anforderungen der beiden
anderen Berufe zu schwach war. Er hat eine glückliche Wahl ge-
troffen, lu der Geschichte der Medicin führt er den Beinamen des
modernen Galenus, ein hinlänglicher Beweis dafür, dass der Schwer-
punkt seines wissenschaftlichen Lebens in seiner ärztlichen Thätig-
keit zu suchen ist. Seine medicini sehen Leistungen beginnen in-
dessen erst 1534, und vorher waren es astronomisch -mathematische
Arbeiten, die ihn beschäftigten. Dem Jahre 1528 gehört eine Schrift
De j)roiiorüonihus an. Seine Cosmotheoria aus dem gleichen Jahre
schildert eine unweit Paris durch Fernel ausgeführte Gradmessung,
welche nicht durch die Yorzüglichkeit der Methode, wohl aber durch
die zufällig erreichte Genauigkeit bekannt geblieben ist. Die Ge-
schichte der reinen Mathematik zeichnet Ferners Namen als den eines
Mannes auf, dessen auf anderem Gebiete erworbene Berühmtheit seiner
Beschäftigung mit unserer Wissenschaft Interesse verleiht.
Jodocus Clichtovaeus^), in Flandern geboren und 1543 in
Chartres gestorben, wo er Canonicus war, hat über die geheimniss-
vollen Eigenschaften der Zahlen geschrieben, ausserdem ein Rechen-
buch, hat aber überdies möglicherweise ein viel älteres Rechenbuch
(vielleicht das des Sacrobosco?) zum Drucke befördert (S. 88).
Den bis hierher in diesem Kapitel genannten mathematischen
Schriftstellern lassen wir Charles de Bouvelles^), lateinisch Bo-
villus folgen. Der Mann kommt auch in den Formen Bouelles
und Bouilles vor. Er ist 1470 in Saucourt in der Picardie geboren
und war Professor der Theologie und Canonicus in Noyon, wo er
1553 starb. Sein Hauptwerk erschien 1503 in lateinischer Sprache:
Geometriae introductionis libri sex, breviusculis annotationibus ex-
planata, quibus annectuntur libelli de circuli quadratura et de cubi-
catione sphaerae et introductio in perspectivam Caroli Bovilli. Der
Titel einer französischen Ausgabe von 1542 lautet: Livre singulier et
utile, touchant l'art et pratique de Geometrie, compose nouvellement
en fran^ois par maitre Charles de Bouvelles, chanoine de Noyon.
Andere Ausgaben des wiederholt aufgelegten Werkes sind von 1547,
1551, 1557, 1608. In der französischen Ausgabe^) spricht Bouvelles
— Wolf, Geschichte der Astronomie, S. 168 — 169. — Les historiettes de Talle-
mant des Reaux IV, 169 Note 1 (geschrieben 1657 — 1659, gedruckt Paris 1862).
1) Kästner I, 222—226. — Chasles, AperQU hist. 47.3 (deutsch 540).
*) Poggendorff I, 253. — Fontes, Caroli Bovilli liber de numeris perfectis in
den Memoires de VAcademie des Sciences, Inscriptions et Beiles Lettres de Tou-
louse 1894. ^) Chasles, AjierQU hist. 481 (deutsch 551). — S. Günther,
Vermischte Untersuchungen zur Geschichte der mathematischen Wissenschaften
(Leipzig 1876), S. 5—10.
380
59. Kapitel.
von den regelmässigen Vielecken und anderen, welche sich
daraus ableiten. Er beginnt (Figur 72) mit dem Fünfeck ABCDE
und leitet durch Ziehung aller Diagonalen ein ähnliches inneres aber
mit der Spitze nach unten gekehrtes Fünfeck ab, welches selbst wieder
durch Verlängerung sämmtlicher Seiten zum Sternfünfecke wird.
Diese beiden Entstehungsweisen vereint betrachtet lassen aber die
AVinkelsumme des Sternfünfecks erkennen. Alle Fünfeckswinkel zu-
sammen betragen 6 Rechte, der einzelne 108°. Die gezogenen Dia-
gonalen zerfallen jeden Winkel wieder in 3 gleiche Winkel von je
36°. Das Sternfünfeck hat somit 5 Winkel von je 36° mit der Ge-
sammtsumme von 2 Rechten. Ob die Einschränkung auf regel-
mässige Vielecke, welche Bouvelles sich auferlegt, neu ist, dürfte frag-
lich sein. Bradwardinus und die Anderen, welche Sternvielecken ihre
Aufmerksamkeit zuwandten, sagen zwar nirgend etwas von dieser Ein-
schränkung, und deshalb haben wir geglaubt, in unseren Berichten
gleichfalls schweigen, in unseren Figuren uns nicht an die Regel-
mässigkeit binden zu dürfen, aber die Figuren jener älteren Schrift-
steller sind thatsächlich alle regelmässig gezeichnet. Neu ist nur bei
Bouvelles, dass er der Regelmässigkeit als Beweismittel sich bedient
und sie desshalb betont. In der lateinischen Ausgabe von 1557 er-
scheint zwar einmal ein unregelmässiges Sternachteck ^), so erzeugt,
dass (Figur 73) die 4 Eckpunkte eines Quadra-
tes je mit den Mittelpunkten der Gegenseiten
verbunden werden-, aber ob Bouvelles dieses
Achteck ÄEDHCGBF als Stern vieleck an-
erkannt hätte, geht aus dem Texte in keiner
Weise hervor. Die französische Ausgabe geht
weiter zum Sechsecke, dessen angles egreilicnts
(Winkel des Sternsechsecks) 4 Rechte betragen.
Jede solche Figur bestehe (Figur 74) aus zwei
*) Günther 1. c. S. 8, Figur 6 mit Berufung auf Blatt 33 der lateinischen
Ausgabe.
Französische, spanische nud portugiesische Mathematiker.
581
Fig. 74.
sich durchsetzenden gleichseitigen Dreiecken und habe die doppelte
Fläche ihres regelmässigen Sechsecks, das heisst desjenigen Sechsecks,
durch dessen Seitenverlängerung sie hervorgebracht ist.
Beim Siebeneck giebt es ein herausgehendes und ein
noch mehr herausgehendes Siebeneck^). Bei dem letz-
teren, also bei dem Sternsiebeneck zweiter Art, sei die
Winkelsumme 2 Rechte, vrie sie bei dem Sternfünfeck
war. Das eine Mal sei eben eine Theilung durch 7
vorzunehmen, wo das andere Mal nur eine solche durch
5 erforderlich sei. Bouvelles will damit wohl sagen,
die Winkelsumme des Siebenecks (w-ecks) oder 10(2« — 4) Rechte,
sei durch 7 (j/) zu theilen, um den Winkel des regelmässigen Sieben-
ecks (n - ecks) in der Grösse — ( ) Rechten zu finderK Dann
theilt sich jeder Winkel durch 5 (ii — 2) Diagonalen in ebenso viele
2 / 2 \
kleinere Winkel von der Grösse -^ (— ) Rechte, und 7 (n) solcher
Winkel betragen 2 Rechte. Der ganze letzte, eigentlich wesentlichste
Theil des Beweises ist schweigend vorausgesetzt. Die obengenannte
lateinische Ausgabe von 1557 geht in mancher Beziehung über den
französischen Text von 1542 hinaus. Gleich beim Fünfeck ist die
Figur und deren Beschreibung vollständiger als je zuvor (Figur 75).
Die beiden früheren Veränderungen des convexen Fünfecks ABGBE
durch Diagonalenziehuug und
Seitenverlängerung sind hier ver-
einigt. Es ist bemerkt, dass im
Dreieck ACE und den gleich-
artig gebildeten jeder der beiden
Winkel bei A und E doppelt
so gross sei als der Winkel
bei C. Die Axe CF des her-
ausgehenden Fünfecks heisst es,
sei zweimal so lang als die des
einförmigen, uniformis , ein gar
nicht übler Kunstausdruck für
die nach allen Seiten convexe
Figur, der Bouvelles wohl eigen-
thümlich ist. Das Sechseck und Siebeneck scheint zu weiteren Be-
merkungen keinen Anlass geboten zu haben. Dagegen ist in der
lateinischen Ausgabe auch das Achteck noch hinzugekommen und
^) 8i on prolonge les costez de Iheptagone saiUant ou ü surviendra ung
aiiltre heptagone moidt plus egredient que le x>remier.
382
59. Kapitel.
zwar sowohl das aus zwei sich durchsetzenden Quadraten gebildete
erste Sternachteck, wenn man dieses gleichwie das aus zwei Drei-
ecken gebildete Sechseck wirklich ein Sternvieleck nennen darf, als
auch das zweite eigentliche Sternachteck. Dass das letztere die
Winkelsumme von 2 Rechten besitze, scheint Bouvelles nicht gesagt
zu haben. Es bleibe dahingestellt, ob er es als selbstverständlich
verschwieg, weil, wie wir oben zeigten; seine Andeutungen beim Sieben-
eck einem allgemein geführten Beweise ähneln oder ob jene unsere
Auffassung Bouvelles zu viel zutraute und schon beim Achtecke eine
Lücke seines Wissens wie seines Könnens sich bemerklich macht.
Bouvelles wird gemeiniglich als derjenige Gelehrte genannt, welcher
nächst dem Cardinal von Cusa (S. 202) zuerst das Rollen eines Rades
auf einer geradlinigen Basis beobachtete und somit in der Geschichte
der Cykloide Erwähnung verdiene^). Richtig daran ist, dass Bou-
velles ausdrücklich erzählt, er habe einmal auf einer Brücke in Paris
auf das Rad eines über das ebene Pflaster rollenden Wagens geachtet.
Da sei ihm klar geworden, dass, wenn ein Rad einen ganzen Um-
lauf vollendet habe, der zurückgelegte Weg dem Kreisumfange gleich
sein müsse, und dass man, wenn die Punkte der Basis, auf welche
einzelne Punkte des Rades auftreffen, gefunden werden, damit zugleich
Strecken erhalte, welche Theilen des Kreisumfanges gleich seien. Die
Curve dagegen, welche etwa ein Nagel des Rades in der Luft be-
schreibt, während jene Umdrehung sich
vollzieht, also die eigentliche Cykloide, hat
Bouvelles keineswegs erkannt. Er hält viel-
mehr (Figur 76) die bei einer halben Um-
drehung erzeugte Curve ohne weiteres für
einen Kreisbogen, dessen Mittelpunkt um
den vierten Theil des Halbmessers des rol-
lenden Kreises tiefer liegt als der Punkt,
in welchem jener Kreis die Basis trifft, und
dessen Halbmesser gefunden wird, indem man den so bestimmten
Mittelpunkt mit dem Endpunkte des der Basis parallelen Durch-
messers des rollenden Kreises verbindet. Eine Erörterung dieser
Zeichnung hat zu folgendem Ergebnisse geführt. Vermöge EH = -j- *'
■-1/4I
und
ED = r ist HB = rj/p + {^'
Ferner
^) Wallis in den Fhilosophical Transadions Vol. XIX (für die Jahre 1G95,
1696, 1697) pag. 561—566.— S. Günther, War die Zykloide bereits im XVI. Jahr-
hunderte bekannt? in Eneström's BihUoth. mathem. 1887, S. 8—14. Auf S. 8
der Abdruck der wesentlichen Stelle aus der französischen Ausgabe von Bouvelles
und daran anknüpfend die Discussion der Cohstruction.
Französische, spaniscbe imd portugiesische Mathematiker.
383
AH=^, HCr = HD = ~y41
also
Aber AG = arc. AD stellt ein Viertel der Kreisperipherie, d. h. -^
dar, mithin ist Bouvelles' Zeichnung gleichbedeutend mit der Annahme
7C= ]/lO . Ob ihm dieser indische Werth (Bd. I, S. 606) von aussen
zugetragen worden, ob er von selbst auf ihn verfiel, dürfte mit Ge-
vrissheit sich nicht entscheiden
lassen. Auffallend ist das Zu- ^ -^ ^
sammentreffen unter allen Um-
ständen.
Einen zweiten missglückten
Versuch auf dem Gebiete der
Kreismessung machte Bouvelles
in Gestalt einer Arcufication ^).
Man theile (Figur 77) eine
Strecke AB in drei gleiche
Theile und trage auf den
Schenkeln eines rechten Win-
kels BCE vom Scheitel C aus je ein Drittel CF
Nachdem FG gezogen, wird zu dieser Geraden parallel innerhalb des
rechten Winkels JK gesucht, so dass JK= CF+ CG + FG. Als-
dann soll der um C als Mittelpunkt mit CK als Halbmesser beschrie-
bene Kreis die vierfache Länge von AB besitzen. Sei AB = a,
CG == — ■ Weil CGH ein rechtwinklig gleichs'chenkliges Dreieck
Fig. 77.
CG = ^AB ab.
ist, ersriebt sich HG
3|/'2
Dari
folcrt
FG = 2HG= ^ |/2
JK^^i2-\- ]/2) und ^JK = 3IK = MC = ". (2 + ]/2) ,
CK= 3IKY2 = -J(l + 1/2),
Die gezeichnete Kreisperipherie mit CK als Halbmesser ist folglich
271 ■ - (l 4- 1/2) und wird für 4 a gehalten. Das bedeutet 71 = —=
^ _ ° l/'^ + i
= 6 (1/2 — 1) = yi2 — 6 = 2,4852814 • • -, mithin ein viel zu kleiner
Werth.
Ein dritter Versuch Lst der einer Circulatur. Halbmesser des
1) Bute 0, De quadratura circuli (Lyon 1559) pag. 155—158 berichtet darüber.
384 59. Kapitel.
dem Quadrate (Figur 78) flächengleichen Kreises ist die Verbindungs-
linie des Mittelpunktes des Quadrates mit dem einen Eckpunkte zu-
nächst gelegenen Yiertheiluugspunkte der Quadrat-
seite. Ist a die Quadratseite, so ist jener Halb-
messer offenbar -rVö und die Kreisfläche -^a^n.
4 ' Ib
Sie soll dem Quadrate a^ gleich, also :x = 3,2 sein.
Genau die gleiche Construction^) lehrte Joachim
Fortius Riugelberg in seinem Chaos mathema-
ticum , welches in einer Gesammtausgabe seiner
Werke 1531 in Lyon gedruckt wurde. Ringelberg-) ist in Antwerpen
geboren, am Hofe Maximilian I. erzogen. Nachdem er erst mit
17 Jahren Latein gelernt hatte, stiidirte er in Löwen, Paris, Orleans,
Bourges und starb etwa 1536.
Endlich yiertens entnahm Bouvelles noch eine Circulatur, wie
uns berichtet wird^j, einem in Volkssprache geschriebenen, von einem
Bauer verfassten Büchelchen. Der einem Quadrate flächengleiche Kreis
c
hat nämlich nach dieser Vorschrift — der Diagonale als Durchmesser.
Sei a die Seite des Quadrates, a' die Kreisfläche. Die Diagonale ist
aY2, der KJreisdurchmesser
2r = —ay'I , a = — - , «- = 3—- r^ = %r- und -t = 3 - •
10 ' ' 2 1/2 o 0
Werth und Construction sind uns wieder von früher her bekannt.
Der Werth % = 3— ist uns in diesem Bande bei Paciuolo (S. 317)
als untere Grenze jener Verhältnisszahl schon vorgekommen, die Con-
struction ähnelt einer indischen (Bd. I, S. 601 — 602) und fällt ganz
mit ihr zusammen, wenn wir die damalige versuchsweise aufgestellte
Vermuthung von dem Näherungswerthe ]/2 00 -^^ aus welcher folgte,
dass der Kreisdurcbmesser dort -- der Diagonale war, jetzt rückwärts
auf die ausdrücklich ausgesprochene Vorschrift stützen dürfen. Immer
auffallender wird dabei das ganz unvermuthete und uns kaum erklär-
liche Zusammentreffen mit Indischem, von welchem die zuerst an-
geführte Rectification schon ein Beispiel gab.
BouveUes bat zwischen der lateinischen Ausgabe seiner Geometrie
von 1503 und deren französischen Uebersetzung von 1542 (S. 379)
auch noch ein von derselben verschiedenes französisches Buch: Gco-
^) So berichtet ■vriedex- Buteo 1. c. pag. 151. -) Jöcher, Allgemeines
Gelehrten-Lexikon IE, 2102—2103. ^) Tartaglia, Gemral Trattato de' numeri
et misure. Parte IV fol. 22 (Venetia 1560).
Französische, spanische und portugiesische Mathematiker. 385
metrie en fran(;oys verfasst, welches 1511 und wiederholt 1514 in
Paris erschien. Noch ein Jahr früher gab der gleiche Pariser Drucker
Opuscula de Charles de Bouvelles (1510) heraus, einen Sammelband,
in welchem auch eine theologisch -philosophisch -arithmetische Ab-
handlung Opus de XII mimeris eine Stelle gefunden hat. In ihr
ist Einiges über vollkommene Zahlen enthalten, z. B. der Satz, dass
ausser der 6 jede andere vollkommene Zahl nach Abzug von 1
durch 9 theilbar werde, umgekehrt lasse sich aber der Satz nicht
behaupten ^).
Wir haben hier noch eines Guillaume Postel") (1510 — 1581)
zu erwähnen, welcher 1540 anonym ein Compendiun) de Mathemuticis
disciplinis ex Cassiodoro herausgegeben zu haben scheint. Aus diesem
Buche wird die wichtige Stelle berichtet^): Hitius disciplinae tota vis
in exempdis , additionibus et detractionihus partium, est sita: quam
partem qui volet plenissime pernosse, L. Appulejum, legat; qui primus
Latinis haec argumenta demonstravit , aus welcher ähnlich wie aus
dem Algorithmus linealis (S. 222) der Schluss gezogen worden ist
(Bd. I, S. 524), ein Rechenbuch des Appuleius müsse sich bis zum
Anfange des XVI. Jahrhunderts erhalten haben.
Wir wenden uns von Frankreich nach Südwesten zur pyrenäischen
Halbinsel. Mag es doch unseren Lesern wunderlich genug erscheinen,
dass von diesem Theile Europas in diesem Bande noch gar nicht die
Rede war. Spanien war unter arabischer Herrschaft, wie wir im
I. Bande gesehen haben, der Sitz einer hoch entwickelten wissen-
schaftlichen Bildung. Mathematische Studien blühten dort. In der
Mitte des XIII. Jahrhunderts, als die Araber nach Granada zurück-
gedrängt wurden, herrschte Alfons X el Sabio (der Weise) über
die Sieger, der Astronom auf dem Königsthrone, welcher, wie wir
mehrfach anzuführen in der Lage waren, in den Alfonsinischeu
Tafeln eine Tabellensammlung berechnen liess, deren die Astronomen
von ganz Europa sich Jahrhunderte lang bedienten. Als endlich mit
der Einnahme von Granada am 2. Januar 1492 auch das letzte Boll-
werk des Islam gefallen war, da verliess nur sieben Monate später
Christoforo Colombo auf spanischem Schiffe Europa, um die erste
seiner vier im Dienste des gleichen Landes gemachten Entdeckungs-
reisen anzutreten. Das benachbarte Portugal war nicht minder an
den grossen Entdeckungen betheiligt, welche die Kenntniss der Erd-
oberfläche erweiterten. In der ersten Hälfte des XV. Jahrhunderts
^) Fontes 1. c. Der Satz selbst ist richtig und wurde zuerst von Wantzel
in den NouveUes annales de mathematiques Hl, 337 bewiesen. -) Poggen-
dorff II, 508—509. ^) Vossius pag. 40.
Cantor, Geschichte der IMathem. II. 2. Aufl. 25
386 59. Kapitel.
lebte der Infant Don Henri que der Seefahrer, in der zweiten
Hälfte des gleichen Jahrhunderts trat Martin Behaim, der Schüler
von Regiomontanus (S. 289) in portugiesische Dienste, am Ende des
Jahrhunderts umschiffte Vasco de Gama die Südspitze Afrikas.
Solche kühne Seereisen sind undenkbar, wenn die Führer nicht der
praktischen Sternkunde in hohem Grade mächtig sind. Sternkunde
andererseits setzt immer und überall eine ihr gleichlaufende Ent-
wickelung der Schwesterwissenschaft der Mathematik voraus. Wer
waren die Träger dieser Entwickelung in Spanien und Portugal? Wir
haben die Frage aufgeworfen und dadurch ihre Berechtigung an-
erkannt. Wir müssen aber als Antwort die auffallende Erscheinung
ins Licht treten lassen, dass von jener Entwickelung der Mathematik
auf spanischem und ebenso auf portugiesischem Boden nur sehr
dürftige Spuren nachweisbar sind, so dürftige, dass man sich ge-
zwungen sieht, anzunehmen, das kaum Glaubliche sei wirklich Wahr-
heit: die Schifffahrtskunde habe, wie kaum je zuvor, Fortschritte
gezeigt, die Mathematik sei daneben so gut wie unbeachtet geblieben.
Die wenigen Namen, welche wir zu nennen haben, bestätigen lediglich
diesen Ausspruch.
Um die Wende des Jahrhunderts haben wir Petro Sanchez
Ciruelo^) zu erwähnen. Er studirte in Salamanca, zog dann in
jungen Jahren nach Paris, wo er während zehn Jahren Mathematik und
Philosophie lehrte. 1510 wurde er Professor der Theologie und Philo-
sophie an der Universität zu Alcala, später Canonicus an der Kathe-
drale von Salamanca. Er war einer der drei Lehrer und zwar der
höehstgestellte des nachmaligen Königs Philipp H. Seine Arithmetik
Arithmeüce pratice seu Algorismi Tractatus ist 1505 in Paris gedruckt,
ebenda schon früher 1502 (nach Anderen 1495?) die von Ciruelo
herausgegebene Arithmetica speculativa des Bradwardinus, ebenda
1508 eine Ausgabe der Sphaera des Sacrobosco mit reichhaltigen
Erläuterungen, so dass man fast verpflichtet wäre, den Spanier als
0 Poggendorff I, 446. Wie dieser sonst so sorgfältige Schriftsteller dazu
kam, als Geburtsjahr 1500 etwa anzugeben, während er 1496 als Dinickjahr der
Arithmetik angiebt, ist unerfindlich. — Treutlein, Das Rechnen im XVI. Jahr-
hundert S. 42 (Supplementheft zu Zeitschr. Math. Phys. XXTI) hält Sanchez für
den Familiennamen. — NouveUe Biographie universelle X, 620 — 621. — G. Vi-
euna, Siir quelques ecrits mathe'matiques publies en Espagne aiix XVI et XVII
Siecles in Eneström's Bibliotheca mathematica 1890, 33— 36. — A. F. Valiin,
Cultura scientifica de Espana en el siglo XVI. Discursos Jetdos ante la real
academia de sciencias, Madrid 1893, ist uns nur durch einen Bericht von
G. Eneström {Bibliotheca mathem. 1894, pag. 33—36) bekannt, scheint aber
wesentlich bibliographische Notizen ohne Inhaltsangabe der betreffenden Werke
zu enthalten.
Französische, spanische und portugiesische Mathematiker. 387
Franzosen zu behandeln, wenn nicht 1516 und wiederholt 1518 in
Alcala ein Cursus quatuor maihematicarum artiiim liberalium erschienen
wäre. Bemerkenswerth ist aus seiner Arithmetik, dass er Namen für
10*^ und 10^^ kennt, welche von den bei Chuquet vorkommenden
abweichen; 10^ heisst ihm cuento und 10^- erst heisst millon. Die geo-
metrische Abtheilung des Cursus soll sich hauptsächlich an Campanus
und Bradwardinus anschliessen, in der Angabe zweier Kreisquadraturen
folge er Bouvelles. Die Darstellung der Perspective sei reich an ge-
schichtlichen Bemerkungen.
Wir schalten hier den Namen eines Ungarn Magister Geor-
gius de Hungaria ein, der, wie die von ihm benutzten Zahlwörter
cuento und millon beweisen, als Schüler Ciruelo's betrachtet werden
muss. Diese Abhängigkeit weist ihm hier seinen Platz an, während
das Erscheinungsjahr 1499 seiner in Holland gedruckten Arithmetik^)
ihn schon im 55. Kapitel zur Erwähnung hätte bringen sollen.
Etwa in gleiche Linie mit Ciruelo ist Juan Martine z Guijeno^)
zu stellen. Das Wort Guijeno bedeutet Kieselstein und wurde als
Silicius latinisirt, unter welchem Namen der hier gemeinte Schrift-
steller verhältnissmässig am bekanntesten ist. Er war Professor der
Philosophie an der Universität Salamanca, später Erzbischof von Toledo
und Cardinal. Auch er war einer der Lehrer Philipp IL, wozu er
als Nachfolger des Ciruelo ernannt wurde, nachdem dieser, wie man
erzählt, durch seinen kleinen Wuchs sich als nicht recht tauglich er-
wiesen hatte. Silicius Hess 1514 in Paris eine praktische Arithmetik
drucken, welche, wie wir schon wissen (S, 219) das Linienrechnen
lehrte, und welche (S. 378) Finaeus wenige Jahre später wiederholt
zum Drucke beförderte, und gab Schriften des Suisset heraus.
Gasper Lax^) war, obwohl Spanier von Geburt, Lehrer an der
Universität Paris und gab dort Schriften über Arithmetik und über
Proportionenlehre heraus. Später kehrte er nach seiner Heimath zurück
und lehrte in Saragossa, wo er 1560 starb.
Juan de Ortega*) gehörte dem Orden der Prädicatoren an.
Er Hess 1512 in Barcelona eine Cominisicion de la arte de la aris-
metica y Juntamente de geometria erscheinen, welche dann wiederholt
und in verschiedenen Sprachen gedruckt worden ist. Wir sind durch
^) Die Arithmetik des Magisters Georgius de Hungaria aus dem Jahre 1499
von Coloman von Szily und August Heller. Math, und natm-w. Berichte
aus Ungarn. Bd. XII. Budapest 1894. Die Arithmetik selbst ist gleichfalls 1894
in Budapest in Neudruck erschienen. *) Poggendorff, II, 930— 931. 3) gi^enda
I, 1395. *) Kästner, I, 96—99. — Jos. Perott, Siir une arithmetique
efS2)agnole du seizieme fiiecle im Btdletino Boncompagni XV, 163 — ^169.
25*
388 59. Kapitel.
Auszüge damit bekannt, dass auch bei Ortega das Wort cnento mit
der Bedeutung einer Million vorkommt, ferner dass
■)/557Ö2 = 236j^ und >^l8889 = 20^
gerechnet ist. Man erkennt in diesen Werthen die beiden Formeln
-,/—r , A — a* 3,— A — a^
yA CO a-\- ~ — -— , VA oo a + -—. — j— - •
' ' 2a -{- l ' ' 3a{a + 1)
Die erste derselben ist, wie wir uns erinnern wollen, arabischen Ge-
brauchs gewesen, die zweite weicht um ein Geringes von der Formel
Leonardo's von Pisa (S. 32)
yA r\j a -{-
3o(a -f 1) -I- 1
ab. Die Quadratwurzel ist aber auch nicht regelmässig nach der
gegebenen Formel gebildet. Es kommen Angaben vor wie
1/128=11^, 1/80 = 8j^, y75=8^u.s.w.,
welche hergestellt werden konnten, indem man sich eines neuerdings
seit 1894 wieder bekannt gewordenen Verfahrens des Heron von
Alexandria bediente, von welchem überhaupt zahlreiche Spuren ver-
muthet werden.
Das ist die ganze Ausbeute, welche Spanien bis zur Mitte des
XYI. Jahrhunderts uns bietet. Portugal bietet für den gleich be-
messenen Zeitraum weniger und zugleich mehr: einen einzigen Namen,
aber als Träger desselben einen Mann, der die Wissenschaft um
mehrere fruchtbare Gedanken bereichert hat, Pedro Nuüez, lateinisch
Nonius^). Er ist 1492 zu Alcazar de Sol geboren, studirte in
Lissabon, dann in Salamanca. Im Jahre 1519 kam er in die ver-
antwortungsreiche Stellung eines Oberaufsehers der Zölle nach Goa
in Indien, von wo er 1529 als königlicher Kosmograph zurückkehrte.
1544 bis 1562 war er Inhaber eines für ihn gegründeten Lehrstuhls
der höheren Mathematik an der Universität Coimbra. Er unter-
richtete den Prinzen Heinrich von Portugal, welcher später den
Königsthron dieses Landes bestieg. Nonius starb zu Coimbi-a 1577.
Seine Schriften hat er theils in lateinischer, theils in portugiesischer
Sprache verfasst. Eine der letzteren hat er nachträglich selbst ins
Spanische übersetzt, und in dieser Gestalt ist sie 1567 in Antwerpen
als Livro de Algebra em Arithmetica e Geometria gedruckt worden.
^) Kästner 11, 337 und 587 — 590. — D'ArauJo d'Azevedo in von Zach's
Monatlicher Correspondenz für Beförderung der Erd- und Himmelskunde III,
203—206. — Nouvelh Biographie universelle XXXVIII, 361—363. — R. Wolf,
Geschichte der Astronomie S. 327, 365, 367. — S. Günther, Studien zur Ge-
schichte der mathematischen und i^hysikalischen Geograi^hie S. 341—344.
Französische, spanische und portugiesische Mathematiker. 389
In dieser Algebra scheint der Versuch enthalten zu sein^), den
grössten gemeinschaftlichen Theiler zweier algebraischen
Ausdrücke zu ermitteln. Wir haben noch drei andere Schriften
zu erwähnen. Sein De crepiiscnlis Über unus, gedruckt 1542 in Lissabon
(Olysipone) enthält die Auflösung der in der Geschichte der Astronomie
wohlbekannten Aufgabe der kürzesten Dämmerung, ist für uns aber
durch den Vorschlag, wie man bei Winkelmessungen verfahren
solle, der nebenbei gemacht ist, merkwürdig. Nonius will eine aus
46 concewtrischen Kreisquadranten bestehende Vorrichtung angefertigt
wissen. Der äusserste und grösste Kreisbogen soll in 90 Theile,
mithin in ganze Grade eingetheilt sein, der nächstfolgende in 89 Theile,
deren jeder also 1— Grad oder P 40,"4494 . . . beträgt. Jeder fol-
gende Quadrant soll wieder in gleiche Theile eingetheilt sein, deren
Anzahl um je eine Einheit abnimmt. Der innerste Quadrant hat
mithin nur 45 Theile von je 2". Wird nun der eine Schenkel eines
spitzen Winkels mit dem einen die Vorrichtung begrenzenden Halb-
messer, der Scheitel des Winkels mit dem gemeinschaftlichen Mittel-
punkte aller Quadranten zur Deckung gebracht, so hatte man nur zu-
zusehen, bei welchem von den Quadranten der andere Schenkel mit
einem Theilstriche zusammenfiel und der wievielte Theilstrich es war,
um den Winkel mit grosser Genauigkeit gemessen zu haben. Dass
die sehr sinnreiche Vorrichtung wenigstens für Winkelmessung sich
nicht einzubürgern vermochte, beruht wohl wesentlich auf der tech-
nischen Schwierigkeit, jene 46 unter sich verschiedenen Bogen-
theilungen mit gleicher Zuverlässigkeit auszuführen, eine Schwierig-
keit, welche erst zu einer Zeit vollkommen besiegt wurde, als andere
vollkommnere Einrichtungen die des Nonius überholt und verdrängt
hatten. Gleichwohl hat die Nachwelt den Namen des Nonius mit
den genauen Winkelmessungen verknüpft, welche nicht nach seinem
Gedanken zur Ausführung kamen.
Die zweite von uns zu nennende Schrift De erratis Orontii Finei
ist 1546 in Coimbra (Conimbricae) gedruckt. Sie macht gegen den
damals auf der Höhe seines Ruhmes stehenden pariser Lehrer Front.
Die dritte Schrift gleichen Druckjahres und gleichen Druckortes
wie die eben angegebene heisst De arte atque ratione navigandi. Von
einem Punkte der Meeresoberfläche zum anderen führen zahllose
Wege. Einer derselben ist der kürzeste und würde, wäre die Meeres-
oberfläche eben, eine gerade Linie sein. Das war auch die ursprüng-
liche Meinung der Seefahrer, welche in gerader Linie zu segeln ver-
^) Les Oeuvres mathe'matiques de Simon Stevin de Bruges (Leiden 1634) pag. 56,
Probleme LEI.
390 60. Kapitel.
meinten, wenn sie die Richtung zum Bestimmungsorte unverändert
festhielten. Nonius war der erste, welcher es aussprach, dass die
Schiffsbahn, welche sämmtliche Meridiane der Erdoberfläche unter
gleichem spitzen Winkel schneidet, als auf einer Kugel verlaufend
keine gerade Linie, aber auch kein Grössterkreis der Erdkugel und
ebensowenig ein aus Stücken von Grösstenkreisen zusammengesetzter
Weg sein könne. Sie sei vielmehr durch das Zusammenwirken zweier,
unter Umständen mehrerer Kräfte zu Stande gekommen, gleich wie
die Spirale durch zwei vereinigte Bewegungen entsteht, und sei eine
eigenartige Linie, rimibus. Damit war die Entdeckung derjenigen Linie
doppelter Krümmung vollzogen, welche am Anfange des XVIL Jahr-
hunderts durch Willebrord Snellius den Namen Loxodrome
erhielt. Die deutschen Seeleute gaben ihr den der Nonius'schen Be-
zeichnung nachgebildeten Namen Rhumbs, weil die beiden sich
vereinigenden Bewegungen jeweils als die Seiten eines Rhombus er-
schienen. Nonius hat nicht nur das Vorhandensein dieser krummen
Linie entdeckt, er ist auch zur Kenntniss einer ihrer überraschendsten
Eigenschaften vorgedrungen, derjenigen nämlich, dass Loxodromen,
wenn wir uns erlauben schon jetzt des gebräuchlichsten Namens uns
zu bedienen, zwar in Windungen um den Erdpol herumgehen und
demselben ohne Aufhören näher kommen, aber den Pol selbst nicht
zu erreichen im Stande sind. Wäre solches der Fall, so müsste das
letzte Stückchen der Loxodrome mit irgend einem Meridian zusam-
menfallend diesen unter dem Winkel 0 treffen, d. h. dem Gesetze
widersprechen, dass die Loxodrome alle Meridiane, welchen sie be-
gegnet, unter gleichem Winkel schneide.
60. Kapitel.
Mathematiker an deutschen Universitäten.
Deutschland hat in dem Zeiträume des XIV. Abschnittes so viele
Persönlichkeiten hervorgebracht, welche genannt werden müssen, dass
nothwendigerweise eine gewisse Anordnung zu treffen ist, welche die
Uebersicht uns ermögliche. Demgemäss werden wir zuerst von der
Mathematik an den Universitäten handeln und dabei geographisch
von Osten nach Westen fortschreiten. Dann aber sprechen wir von
den viel zahlreicheren Mathematikern, welche nicht an einer Uni-
versität wirksam waren, und müssen bei ihnen als neuen Eintheilungs-
grund das engere mathematische Gebiet wählen, auf welchem sie ihr
Arbeitsfeld fanden. Wir geben den Rechenmeistern die erste Stelle,
Mathematiker an deutschen Universitäten. 391
knüpfen an sie die Cossisten an, dann die Geometer mit Einschluss
derjenigen, welche dem besonderen mehr rechnenden Kapitel der
Geometrie, welches den Namen der Trigonometrie führt, ihre Kräfte
widmeten.
Wir knüpfen unmittelbar an Früheres an, wenn wir Wien als
die Hochschule nennen, welche vorzugsweise die mathematischen
Wissenschaften pflegte. Maximilian L, über dessen Verdienste um
das deutsche Reich die Ansichten noch so weit auseinander gehen
können, ohne zu beeinträchtigen, was er für seine österreichischen
Erblande, was er insbesondere für seine Hauptstadt Wien war, wusste
in den letzten Jahren des XV. Jahrhunderts Männer an die dortige
Universität zu ziehen, welche ihr zu einer noch nicht erreichten Höhe
verhalfen ^). K o n r a d C e 1 1 i s , der berühmte Wanderprediger des
Humanismus, der von Ort zu Ort sein Wissen und seine Leiden-
schaften, seinen Trieb zu lehren und zu dichten, seine in jedem Sinne
rastlose Thätigkeit trug, kam 1497 nach Wien. Mit ihm kam sein
Freund Andreas Stöberl aus Oettingen im Ries, bekannter unter
der lateinischen Namensform als Stiborius^). Beide wurden her-
vorragende Mitglieder der von Ofen nach Wien verlegten Donau-
b rüder Schaft, eines gelehrten Kreises, welcher Geschichte, Mathe-
matik und Musik pflegte, und aus welchem eine eigentlich wissen-
schaftliche Vereinigung mit besonderen Satzungen und feierlicher
Eröfi*nung am 4. Februar 1502 herauswuchs, gewissermassen die erste
Akademie der Wissenschaften in Deutschland. Ihr Name war der
des Collegium podanun et matJiematicorum, und der Vorsitzende der
mathematisch - naturwissenschaftlichen Abtheilung war Johannes
S t a b i u s ^) (f 1522 ), der eben erst in Nürberg am Chor der St. Lo-
renzkirche eine berühmte Sonnenuhr angefertigt hatte, welche in
unserem Jahrhunderte unter fachkundiger Leitung wieder hergestellt
worden ist^), der andrerseits auch eine flächentreue Landkartenzeich-
nung erdachte, wahrscheinlich die älteste, welche grade diese Seite
der Aufgabe bildlicher Darstellung von Theilen der Erdoberfläche
bestimmt ins Auge fasste. Von Ergebnissen, welche aus der Grün-
dung des genannten Collegiums für unsere Wissenschaft hervor-
gegangen wären, lässt sich nichts berichten, es sei denn, dass wir
als solche die Errichtung von zwei mathematischen Lehr-
stühlen an der Wiener Universität gelten lassen, welche Maxi-
1) Gerhardt, Math. Deutschi. 8.36—41 und S. 51— 60. Günther, Unter-
richt Mittela. S. 249— 264. -) Aschbach, Geschichte der Universität Wien II,
374—376. 3) Ebenda S. 363— 373. ") Günther, Unterricht Mittela. S. 252
Note 1.
392 60- Kapitel.
milian vollzog, und wozu er die Anregung, wenn nicht von dem
Collegium als solchem, doch sicherlich von einflussreichen Mitgliedern
desselben erhalten hatte, die alle in einer oder der andern Weise an
der Universität lehrten, beziehungsweise vielleicht lehren wollten.
Celtis lehrte unter Anderem mathematische Geographie^) unter Zu-
grundelegung eines gereinigten Textes des Ptolemäus und unter Er-
läuterung des Vorgetragenen an einer künstlichen Erd- und Himmels-
kugel, Vorrichtungen, welche vermuthlich damals zuerst beim Unter-
richte benutzt wurden.
Von den beiden mathematischen Professuren erhielt Stiborius
die eine, zur anderen wurde 1503 Rosinus, das ist Stephan Rösel
aus Augsburg, ernannt, der 1501 von Krakau nach Wien übergesiedelt
war, und ebendort 1533 verstarb. Wie lange er dem ihm anver-
trauten Lehramte vorstand, ist nicht bekannt. Von seinen schrift-
stellerischen Leistungen erwähnen wir einer in deutscher Sprache
geschriebenen Praliil; ein Titel, der uns von De la Roche her (S. 373)
schon bekannt ist. Stiborius behielt seine Professur nur ganz kurze
Zeit. Bereits 1503 hatte sie einen neuen Inhaber Tannstetter.
Georg Tannstetter-) war etwa 1480 in Rhein am Lech ge-
boren und hatte sich, da Rain in seiner Heimath so viel wie Grenz-
pfad bedeutete, den lateinischen Namen Collimitius beigelegt. Zum
Magister wurde er in Ingolstadt ernannt, und von dort kam er nach
Wien. Neben einer fruchtbaren Thätigkeit als Schriftsteller und
Lehrer, von der gleich noch die Rede sein muss, widmete er sich
auch der Heilkunde und zwar mit solchem Erfolge, dass Maximilian
ihn als Leibarzt an seine Person fesselte, ihm bei dieser Gelegenheit
den Adelstitel Tannstetter von Thamnau verleihend. Er war
auch 1519 um den Kaiser bei dessen Tode im Schlosse zu Wels.
Er selbst starb 1530. Als Schriftsteller bemühte sich Tannstetter
namentlich um die Drucklegung damals schon klassischer Werke,
ein wahres Verdienst in einer Zeit, in der es immer noch galt, Gutes
durch Vervielfältigung zum Allgemeingute zu machen, und wenn die
Nachwelt in der Verleihung des Beiwortes gut auch nicht immer der
damaligen Gegenwart beipflichtete, so hat sie unter allen Umständen
dankbar anzuerkennen, dass ein Lefevre d'Etaples, ein Orontius Finaeus,
ein Tannstetter vielleicht durch jene Drucklegungen Schriften vor
dem Untergange bewahrt haben, die auch so noch zu den grössten
buchhändlerischen Seltenheiten geworden sind, und ohne deren Kennt-
niss wir über gar Vieles noch mehr im Unklaren wären, als wir es
') Aschbach 1. c. ü, 62. — Günther 1. c. S. 250 Note 2. ') Poggen-
dorff II, 1067. — Aschbach 1. c. II, 271—277.
Mathematiker an deutschen Universitäten. 393
sind. Das erste durch Tannstetters Vermittekmg gedruckte Werk
erschien 1514 in Wien bei den Brüdern Leonhard und Lucas Alantsee,
welche von 1498 bis 1522 aus ihrer Druckerwerkstätte im Ganzen
109 Werke hervorgehen liessen, eine für die damalige Zeit bedeutende
ZahP). Der Band von 1514 ist eine Vereinigung^) der Tabulae eclyp-
sium von Peurbach und der Tabula primi mobilis von Regiomontan.
An der Spitze steht als Einleitung^) Viri maihematici, quos inclytum
Vienuae gymnasium ordine celebres lidbuit, mithin eine Art von Ge-
schichte der Wiener Mathematiker, welche die Hauptquelle
dessen geworden ist, was man von der dortigen mathematischen
Schule weiss. Bei Nennung des Stiborius, als dessen Schüler Tann-
stetter sich bezeichnet, giebt er ein Verzeichniss von dessen reich-
haltiger Büchersammlung. Ausserdem geht den Peurbach'schen Tafeln
noch eine Vorrede des Stiborius voraus'^), welche weitere Namen
deutscher Mathematiker aufbewahrt hat. Ein zweiter gedruckter Band
von 1515 ist eine Vereinigung der fünf wichtigsten Schriften der
mittelalterlichen Mathematik''), Schriften, welche unsere Leser insge-
sammt kennen: die Arithmetik von De Muris, die Proportionenlehre
von Bradwardinus, die Latitudines von Oresme in der durch Blasius
von Parma erläuterten Ausgabe, das Rechnen mit ganzen Zahlen von
Peurbach, das Bruchrechnen von Johann von Gmunden bilden den
Band, welchen Tannstetter einem Schüler, Bunderl, zu lieb zum
Drucke befördert hat. Dessen Inhalt bildete sonach offenbar einen
wesentlichen Theil des Stoffes , welchen der Schüler sich anzueignen
angewiesen war. Unter den eigenen Schriften Tannstetter's erwähnen
wir noch eine mit Stiborius gemeinsam verfasste. Papst Leo X. hatte
die Frage der Kalenderverbesserung sich angelegen sein lassen und
von Kaiser Maximilian die Unterstützung der Wiener Mathematiker
erbeten^). Die Universität um Rath gefragt ernannte Stiborius und
Tannstetter zur Anfertigung eines Gutachtens, welches handschriftlich
sich erhalten hat. Das Zusammenwirken mit einem gelehrten Freunde
entsprach vollständig den Neigungen Tannstetter's, der auch freilich
ohne nennen swerthe Erfolge versuchte, in der CoUimitiana genannten
Gesellschaft einen Ersatz für das nach dem Tode des Celtis ein-
gegangene poetisch-mathematische Collegium zu schaffen^). Unter
Tannstetter's Verdiensten stand ohne Zweifel seine Lehrthätigkeit
obenan. Rühmen ihn doch die Schüler, so oft sie schriftstellerisch
zu Aeusserungen Gelegenheit fanden, um die Wette.
*) Allgem. deutsche Biographie I, 170. *) Kästner II, .526 flgg. ^) Ebenda
S. 529—532. *) Ebenda S. 532 Nr. 8. ^) Denis, Wiens Buchdruckerei-
geschicht bis MDLX (Wien 1782) S. 134 flgg. ^) Aschbach 1. c. II, 376.
'') Ebenda S. 273.
394 60. Kapitel.
Einer dieser Schüler war der steiermärker Astronom und Arzt
Andreas Perlache r^), und dessen Schüler wieder war Johann
Vögelin^) aus Heilbronn. Letzterer begann seine eigene Lehrthätig-
keit an der Domschule zu Augsburg. In Wien nahm ihn sodann
Tannstetter als Gehülfen, um seine Vorlesungen ersatzweise zu halten,
wenn er selbst ärztlich in Anspruch genommen dieselben aussetzen
musste. Im Jahre 1528 wurde Vögelin mit der damals erledigten
mathematischen Professur bedacht und hatte namentlich den Lehr-
auftrag für die Sphaerik des Theodosius, die er 1529 im Drucke her-
ausgab^). Vögelin ist aber wesentlich durch eine andere schriftstel-
lerische Leistung bekannt, durch sein Elementale geometricum ex
Euclidis geometria von 1528. Euklid's Elemente bildeten, wie wir
uns erinnern (S. 251 — 254), einen Lehrgegenstand der Universitäten,
aber doch nur in sehr beschränkter Weise. Die vier ersten Bücher
der Elemente oder, wenn man von der Proportionenlehre in einem
Athem mitreden will, allenfalls die fünf ersten Bücher waren der
Meistbetrag dessen, was den Studirenden geboten wurde. Sollte um
dieses Stoffes willen der Schüler genöthigt werden, eine der im Preise
kostbaren umfangreichen Euklidausgaben anzuschaffen, oder sollte er
ohne gedrucktes Hilfsmittel den Vorlesungen folgen müssen? Das
Erstere schien vielleicht unerreichbar, jedenfalls unzweckmässig, das
Zweite widersprach allen Gewohnheiten der Zeit. Desshalb Hess ein
gewisser Lacher*) aus Mersburg am Bodensee 1506 in Frankfurt an
der Oder einen besonderen Abdruck der vier ersten Bücher nach der
Ausgabe des Campanus bewerkstelligen. Etwas selbständiger ging
Vögelin vor, der es sich angelegen sein liess, das Nothdürftigste aus
der euklidischen Geometrie der Ebene zu wenigen Druckbogen zu-
sammenzustellen, wofür er freilich einer anderen Ausdrucksweise sich
bedient, wenn er in der Widmung an . Tannstetter sagt^), er habe
zum Vortheile aller Studirenden diejenigen Sätze aus der Geometrie
Euklid's ausgezogen, welche häufiger bei Beweisen vorkommen, und
welche ziemlich nahe daran sind, zum Gipfelpunkte der Wissenschaften
hinzuführen. Armseliger Gipfelpunkt, aber noch armseligere Genüg-
samkeit der Zeit, welche Vögelin's kleinen Auszug in wiederholten
Nachdrucken zu Tasre förderte und an den verschiedensten Anstalten
^) Aschbach, 1. c. II, 339—343. ^) Ebenda S. 340 und S. 342. —
Günther, Unterricht Mittela. S. 58 und S. 256. ^) lieber diese Ausgabe
vergl. Nizze's deutsche Ausgabe des Theodosius (Stralsund 1826), Vorrede
pag. VI. ■*) Kästner I, 302 — 305. *) Propter omnium studiosorum commoda
ex Euclidis Geometria eas dumtaxat excerpi Propositiones , quae in demonstra-
tionibus linearibus crebrius observantur, quaeque satis prope sunt ad discipUnarum
culmen perducere
Mathematiker an deutschen Universitäten. 395
mit Vorliebe benutzen Hess! Geometrie, das sehen wir auch aus
dieser Thatsache wieder, war nicht die starke Seite der deutschen
Mathematiker im Allgemeinen, und um so höher werden wir die-
jenigen zu stellen haben, welche grade auf diesem Gebiete sich aus-
zeichneten.
Ausser Vögelin war ein zweiter Schriftsteller Schüler Tann-
stetter's und, wenn auch ohne Inhaber einer der beiden Professuren
zu sein, Lehrer an der wiener Universität, Heinrich Schreiber
aus Erfurt, genannt Grammateus^). Er hat 1507 bis 1512 in Wien^)
studirt, wo Stiborius und Tannstetter seine Lehrer waren, dann in
Krakau und hat dort schon 1514 einen Algorismus ^roportionum ver-
fasst. Nach Wien übergesiedelt, wo er 1518 Procurator der sächsischen
Nation war, ein Ausdruck, welcher auf die damals übliche Einreihung
der Studenten in Nationen mit erwählten Führern sich bezieht, war
er gleichzeitig Lehrer, wie aus der Einleitung zu seinem gleich zu
erwähnenden Rechenbuche hervorgeht. Im Jahre 1521 wurden die
Hörsäle der Wiener Universität wegen einer Seuche geschlossen,
Grammateus begab sich damals über Nürnberg nach Erfurt zurück.
Später war er wieder in Wien und starb daselbst 1525, als er eben
neuerdings zum Procurator gewählt war^). In Nürnberg'^) erschien
1521 sein seit 1518 vollendetes Rechenbuch in deutscher Sprache.
Der Titel, welcher eine vollständige Inhaltsangabe in sich schliesst
und dadurch allein schon bemerkenswerth ist, lautet wie folgt: „Ayn
new künstlich Buech welches gar gewiss und behend lernet nach der
gemainen regel Detre, welschen practic, regeln falsi und etlichen regeln
Gösse mancherley schöne und zuwissen notürfttig rechnung auf kauff-
mannschafft. Auch nach den proportion der kunst des gesangs jm
diatonischen geschlecht ausz zutaylen monochordum, orgelpfeyffen
und andere jnstrument ausz der erfindung Pythagore. Weytter ist
hierjnnen begriffen buechalten durch das zornal, Kaps und schuld-
buch. Visier zu machen durch den Quadrat und triangel mit vil
andern lustigen stücken der Geometrey. Gemacht auf der löblichen
hoen schul zu Wienn in Osterreich durch Henricum Grammateum,
oder schreyber von Erffurdt der sieben freyen künste Maister." Als
Einleitung dient eine Widmung an Johannes Tschertte mit der
Ort- und Zeitangabe Wien 1518. Tschertte, sonst auch Schertte und
Tzerte genannt, war bürgerlicher Rathsherr in Wien, der Mathematik
') Denis, Wiens Buchdruckereigeschicht bis MDLX, S.lSlflg. — Gerhardt,
Math. Deutschi. S. 36—38 und S. 51—54. — Günther, Unterricht Mittela. S. 258
und häufiger. — Unger S. 47 und häufiger. — Christ. Friedr. Müller, Hen-
ricus Grammateus und sein Algorismus de integris. Zwickau 1896. *) Müller
1. c. S. 8 Note 34 und S. 10-11. =*) Ebenda S. 16. ^ Ebenda S. 18.
396 60. Kapitel.
aber so kundig, dass Tanustetter ihm in seinem Mathematikerverzeich-
nisse einen Platz eingeräumt hat^). Andere Beziehungen Tschertte's
zu Mathematikern werden im. 63. Kapitel Erwähnung finden. Ihm
also widmete Grammateus sein Buch, als demjenigen, der ihn ermun-
tert habe, ein solches „den unwissenden und sondern liebhabern der
kunst an den tag zu bringen" nachdem er ihm vorher Einsicht
davon gegeben. Titel und Beschreibung des in mehrfachen Auflagen
gedruckten Buches lassen erkennen, dass es mit Zahlenrechnen und
Algebra, mit Buchführung und Geometrie zu thun hat, dass es also
eine gewisse Vollständigkeit anstrebte, wie Paciuolo sie in seiner
Summa erreicht hat. Dass italienische Druckschriften und unter
ihnen die Summa damals in Wien zu Händen sein konnten, ist
keinem Zweifel unterworfen, und dass die aus Humanisten zusammen-
gesetzte wiener Schule mit Vorliebe bei italienischen Schriftstellern
sich Rath suchte, kann ebenfalls nur als selbstverständlich erscheinen.
In der That erinnert auch Grammateus sehr an das Vorbild Paciuolo's,
ohne desshalb eine vollständige Wiederholung desselben zu sein. So
lässt Grammateus erstmalig unter deutschen Schriftstellern die Ver-
doppelung und Halbirung weg, weil sie im Begriffe des Multiplici-
rens und Dividirens mit enthalten seien, wie wir (S. 310) bei Pa-
ciuolo es fanden, während er in dem 1514 in Krakau gedruckten
Algorithmus proportionum die Duplatio und Mediatio noch besonders
betrachtete. Eine Verdoppelung und Halbirung eines Verhältnisses
war Erhebung zum Quadrate und Quadratwurzelausziehung, und deren
Einzelbetrachtung hat niemals aufgehört zweckmässig zu sein-). In
dem deutschen Rechenbuche weicht dann Grammateus darin von Pa-
ciuolo ab, dass er an die Addition nicht die Subtraction, sondern die
Multiplication anschliesst, weil „in dieser Operation werden funden
alle aigenschafft der addition". Beim Addiren soll man „hab fleiss
dass die figuren gleich stehen über einander"^) u. s. w. Bei der
Bruchlehre ^) wird die Addition, Subtraction und Division durch Zu-
rückführen der beiden mit einander in Verbindung tretenden Brüche
auf gemeinsamen Nenner vollzogen. Näherungsweise Quadrat- und
Kubikwurzeln zu ziehen, werden die Zahlen nach rechts hin durch
Nullen verlängert, deren Anzahl ein Vielfaches von 2, beziehungsweise
von 3 ist, wie wir solches wiederholt gelehrt fanden. Bei der Regel-
detri werden Buchstaben angewandt'^). „Wie sich hadt a zum h also
hat sich c zum f/." Neben dem Zahlenrechnen ist fortwährend auch
das Rechnen auf den Linien gelehrt. In dem algebraischen Abschnitte^)
1) Kästner 11, 532. -) Müller 1. c. S. 18. ^') Unger S. 73. ") Ebenda
S. 48. «) Gerhardt, Math. Deutschi. S. 38 Note 1. ") Ebenda S. 51—54. —
Treutleioi, Die deutsche Coss. Zeitschr. Math. Phjs. XXIV, Supplement S. 35.
Mathematiker an deutschen Universitäten. 397
beginnt nach Grammateus „ain newe und besunder art der rechuung
gezogen auss den regeln Gosse gleicformig in der Übung allain das
die namen der quantitet sein verändert". Er fängt seine Betrachtung
damit an, dass er die Reihe der von 1 an sich fortwährend ver-
doppelnden Zahlen hinschreibt
1 . 2 . 4 . 8 . 16 . 32 . etc.
Von diesen heisst 1 der numerus, dann 2 die erste Quantität prima,
4 die andere Quantität secunda, 8 die dritte Quantität tertia u. s. w.
Diese Reihe und neben ihr die Reihen, welche aus den Potenzen von
3, 4 u. s. w. entstehen, bilden ihm die Grundlage der Gleichungs-
lehre, denn in den 7 überhaupt in Erörterung gezogenen Gleichungs-
formen (als deren Musterbeispiele 2x = 4, 3x"- = 27, 2:^^^=128,
2x^ -f rr = 55, 2a;- + 18 = 15a:, 12x -f 24 = 2^x--, bx"^ = 20480
angegeben sind) seien zuerst zwei auf einander zunächst folgende
Glieder einer Reihe betrachtet, dann zwei Glieder, zwischen welchen
eines fehle, zwei Glieder, zwischen denen zwei fehlen u. s. w. Die
Progression, aus welcher hier die Gleichung abgeleitet wird, haben
wir (S. 244) in der Dresdner Algebra angetroffen; die Namen pritna,
secunda, . . . mahnen auf's deutlichste an Chuquet's Erstzahlen, Zweit-
zahlen, ... (S. 355). Müssen wir neuerdings auf die Aufgabe hin-
weisen, diese Aehnlichkeiten zu erklären? Genügt es nicht daran zu
erinnern, dass Italien uns als dasjenige Land erschien, von wo die
Allen gemeinsame Quelle stammen muss? Die Algebra des Gram-
mateus wendet fortwährend die Zeichen -|- und — an. Das Buch-
halten ist, soweit bekannt, durch Grammateus zuerst in deutscher
Sprache gelehrt worden^). Die im Titel enthaltenen Namen Zornal
und Ka2)S bedeuten Journal und Kapsel, also das Tagebuch und das
Cassabuch als Aufzeichnung des in einer Kapsel verwahrten haaren
Geldes. In Erfurt hat Grammateus im Jahre 1523 einen lateinischen
Algorismus de integris herausgegeben. Die vier einfachen Rechnungs-
verfahren nebst der Regeldetri sind darin in ganzen Zahlen mit
mustergiltiger Klarheit gelehrt"). Auf der letzten Seite des Algoris-
mus integris findet sich als Regida generalis pro solutione quorundam
exeniploruui die indische Umkehrungsrechnuug, welche Leonardo von
Pisa (S. 22) als Regula versa gelehrt hat.
Schüler des Grammateus war ein Mann, welcher, wie es scheint,
den grössten Theil seines Lebens in Wien zubrachte, welcher aber
der wiener Universität als Lehrer nie angehört hat. Es ist eine be-
^) Ungar S. 47—48. ^j Müller 1. c. S. 21— 33 giebt einen Abdruck der
sehr seltenen Schrift.
398 60. Kapitel.
wusste Folgewidrigkeit, welche wir uns zu Schulden kommen lassen,
wenn wir an dieser Stelle anfangen von ihm zu reden, und dennoch
thun wir es, um ihn nicht loszureissen von dem Boden, auf welchem
er erwachsen ist, und dessen Spuren überall in ihm sich nachweisen
lassen. Christoph Rudolff^) ist in Jauer geboren. Sein Geburts-
jahr ist ebensowenig bekannt wie sein Todesjahr. Die von ihm ver-
öffentlichten Schriften sind eine Coss von 1525, eine Beispielsamm-
lung von 1530 „seynen schillern zu souderer Übung auch allen hand-
thierungen personen zu nutz und gutem verfertigt", ein Rechenbuch
von 1532 (die Vorrede ist allerdings schon von 1526), welches 1540
zum wiederholten Abdrucke kam. Die Druckorte wechseln. In Strass-
burg, in Nürnberg, in Augsburg verliessen die Bücher die Presse, die
insgesammt in Wien geschrieben sind. Wir dürfen vielleicht aus
diesen Beziehungen Rudolff's zu Druckern an weit entlegenen Wohn-
sitzen einen Schluss auf die weitreichende Bekanntschaft seines Namens
ziehen. Zum gleichen Schlüsse führt der Umstand, dass 1552 kein
Exemplar der Coss mehr aufzutreiben war, wenn man auch den drei-
und vierfachen Preis dafür zu zahlen sich erbot-), und dass darum
eine neue Ausgabe durch Michael Stifel zum Drucke besorgt
wurde. Rudolff selbst war demnach 1552 jedenfalls nicht mehr unter
den Lebenden^). Wir haben den Namen Rudolff geschrieben, wie
er fast überall in den Drucken sich findet, auch in der zweiten
Ausgabe der Coss, während auf deren Titelblatte imd in einigen
Ueberschriften Ludolff steht, ein vereinzeltes Vorkommen, welchem
grosses Gewicht unmöglich beigelegt werden kann. Die Coss ist dem
Fürstbischof Sebastian von Brixen zugeeignet, und in dem Widmungs-
schreiben bezeichnet sich Rudolff als „liephaber der freien künsten".
Berücksichtigt man, dass dieser Zusatz in keiner der späteren Schriften
vorkommt*), und dass, wie oben bemerkt, die Beispielsammlung von
1530 den Schülern zur Uebung angefertigt wurde, so wird daraus zu
entnehmen sein, dass Rudolff' doch allmälig vom freien Gelehrten-
thum zum Lehrer übergegangen ist, wenn auch ausser Beziehung zur
wiener Universität. Die Coss zerfällt in zwei Theile'^j, deren erster
^) Allgemeine deutsche Biographie XXIX, 571 — 572. ^) Vorrede zur
zweiten Ausgabe. ^) R. Wolf, Geschichte der Astronomie S. 340 giebt das
Geburtsjahr 1499, das Todesjahr „etwa 1545". Wir wissen nicht, worauf die
erstere Zahl sich gründet. Die zweite wird als zwischen 1540 und 1552 gelegen,
also zwischen einem Jahre, in welchem Rudolff noch lebte, und einem zweiten,
in welchem er verstorben war, annähernde Richtigkeit besitzen. *) Gerhardt,
Math. Deutschi. S. 38 Note 2. ^) Drechsler, Schollen zu Christoph Rudolph's
Coss (Programmabhandlung des Vitzthum'scheu Geschlechtsgymnasiums in Dresden
zu Ostern 1851).
Mathematiker an deutschen Universitäten. 399
der Rechenkunst gewidmet ist, wilhrend der zweite mit Gleichungen
sich beschäftigt. Der erste Theil entspricht also inhaltlich dem
Rechen buche von 1532, ohne mit demselben sich vollständig zu
decken. Im Rechenbuche ist z. B. das Wort Million benutzt, aber
allerdings nur ein einziges MaP). Im Rechenbuche findet sich ferner
die Regel, die Division durch 10, 100, 1000 u. s. w. lasse sich so
ausführen, dass man so viele Ziffern, als der Divisor Nullen besitze,
„mit einer virgel" abschneide^), mit anderen Worten: Rudolff" ist
ähnlich wie vor ihm Piero Borgi (S. 305) der Erfindung der Decimal-
brüche recht nahe gewesen, aber dass es eine Erfindung war, er-
kannte die Zeit noch nicht. Das Rechenbuch lehrt nach dem Ziffern-
rechnen das auf den Linien ^), welches bei einfachen Aufgaben am
bequemsten sei, während es „zu subtilen Rechnungen zum dickermal*)
seumlich" sich erweise. Aus der Coss erwähnen wir nur die im
7. Kapitel des I. Theils vorhandenen Wurzelzeichen //, ^K/^, yy für
Quadrat-, Kubik- und Biquadratwurzel. Offenbar haben die Pünkt-
chen, von denen (S. 243) die Rede war, sich zu Strichen verlängert,
welche alsdann durch feinere Züge mit einander in Verbindung traten;
die Ursprungsfrage ist damit nicht im Geringsten geklärt. Rudolff'
kannte auch den Kettensatz^) und gab, wenn auch ohne eigentliche
Herleitung, die Entstehung desselben aus der Regeldetri an. Viel-
leicht ist bei Rudolff erstmalig hervorgehoben, dass beim Kettensatze
mit Vortheil eine Kürzung der einzelnen Zahlen auftreten könne. So
weit, was wir an dieser Stelle von Rudolff zu sagen beabsichtigten.
Wir kehren zu ihm zurück, wenn wir von den ausserhalb der Uni-
versitäten stehenden Cossisten reden.
Wir gehen zur Universität Leipzig über. Am Anfange des
Jahrhunderts lehrte dort Udalrich Kalb als Professor der Mathe-
matik, und sein Schüler, der Baccalaureus Balthasar Licht^), wid-
mete ihm dankbar seinen Algorithmus linealis genau nach der Art,
wie in den nürnberger Reehenschulen das Verfahren gelehrt wurde.
Der Druck erfolgte 1500 bei Lotter in Leipzig^). Seit 1513 er-
schien in Krakau und zwar in etwa 15 Auflagen ein Algorithmus
linealis von Johannes de Landshut ^). Wieder etwas später 1520
erschien in Wien ein anderer Algorithmus linealis von einem leipziger
^) Das Wort Million kommt schon in der Ausgabe von 1532 vor und zwar
Blatt 21 III recto, und nicht, wie meistens behauptet wird, erst in der Ausgabe
von 1540. Wertheim brieflich. «) Gerhardt, Math. Deutschi. S. 39.
3) Ebenda S. 40. *) zum dickermal = zum Oefteren (holländisch dikwijls).
5) Ungar S. 92. '') Kästner I, 84— 88. ') Treutlein, Das Rechnen im
XVI. Jahrhundert. Zeitschr. Math. Phys. XXII, Supplement S. 24. Die von
Kästner beschriebene Ausgabe ist aus dem Jahre 1513. *) Curtze brieflich.
400 60. Kapitel.
Professor, nämlich von Heinrich Stromer^). Dieser geistreiche Ge-
lehrte aus Auerbach in der bayrischen Oberpfalz gebürtig und
häufig mit dem Namen seines Geburtsorts bezeichnet, wie er auch
diesen Namen auf einen von ihm in Leipzig erbauten Hof und Keller
übertrug, war seines eigentlichen Faches Mediciner und beispielsweise
1523 Decan der medicinischen Facultät in Leipzig. Jedenfalls lehrte
er auch Arithmetik, denn in der an Andreas Humelhaym (einem Ver-
wandten seiner Frau Anna Humelhaym) gerichteten Widmung spricht
Stromer von seinen Schülern, für welche er schreibe, damit ihnen die
Rudimente nicht verborgen blieben, ne te ceterosque meos discipulos
rudimenta eins xyrorsus laterent. Ob dabei an Universitätsvorlesuugen
zu denken ist, erscheint einigermassen fraglich. Wir neigen eher der
anderen Meinung zu, es habe sich ausserhalb des Universitätsrahmens
um die Unterweisung eines Stromer näher stehenden Kreises gehan-
delt. Stromers Algorithmus linealis dürfte vermöge des in unserer
Zeit erfolgten Wiederabdrucks leichter als andere ähnliche Schriften
zur Hand sein; überdies ist das Latein desselben unvergleichlich viel
besser als das vieler dem Anfange des XVL Jahrhunderts angehören-
den Bücher, ein Zeichen für die höhere allgemeine Bildung des Ver-
fassers. Diese beiden Umstände vereint veranlassen uns grade an ihn
einige Bemerkungen über das Linienrechnen anzuknüpfen und da-
durch zu ergänzen, was wir (S. 216) nur in aller Kürze erörtert
haben. Beim Numeriren wird der Grundgedanke des Linienrechnens
hervorgehoben, dass nämlich ein Rechenpfennig auf einer Linie eine
Einheit um so höherer Ordnung bedeute, je weiter die Linie nach
oben rücke, dass ein Rechenpfennig zwischen zwei Linien den halben
Werth nur besitze als wenn er auf der oberen, den fünffachen als
wenn er auf der unteren sich befände. Dem Numeriren ist das Ele-
viren und Resolviren angeschlossen. Ersteres bedeutet die Dar-
stellung einer Zahl durch die wenigsten Rechenpfennige, indem man,
wo immer eine Vereinigung und Zusammenfassung an höherer Stelle
möglich ist, solches ausführt. Letzteres löst umgekehrt eine Einheit
höheren Ranges in niedrigere auf, indem unter Benutzung einer
grösseren Menge von Rechenpfennigen nach unten weiter gegangen
wird, um die Zahl dort anzulegen. Diese beiden Hilfsbegriffe kom-
men bei den zwei folgenden Operationen, der Addition und Subtrac-
tion, in Betracht, nur dass beidemal das gleiche Wort Reduciren
sowohl statt Eleviren als statt Resolviren gebraucht wird. Das Linien-
*) Allgemeine deutsche BiograijLie I, 638. Einen Abdruck des Algorithmus
linealis besorgte S. Günther in den Abhandlungen der königl. böhmischen Ge-
sellsch. der Wissenschaften VI. Folge, 10. Band (1880).
Mathematiker an cleutschen Universitäten. 401
rechnen Stromer's kennt noch die alten Rechnungsarten des Duplireus
und Halbirens, wie nicht anders zu erwarten steht, da des Gramma-
teus Rechenbuch noch nicht erschienen war, welches, wie wir wissen,
für Deutschland den Abbruch mit dem alterthümlichen Gebrauche
bezeichnet. Beim Dupliren werden die auf Linien stehenden Rechen-
pfennige verdoppelt, die in einem Zwischenräume befindlichen nach
oben verschoben. Das Halbiren verfolgt den gleichen Grundgedanken
in entgegengesetzter Weise. Beim Multipliciren beginnt man an der
untersten Stelle und vervielfacht zeilenweise bei gleichzeitisfem Ele-
viren. Das Dividiren theilt von oben nach unten unter gleichzeitigem
Resolviren, und dabei wird das Rechnen mit Brüchen leise angedeutet.
Gelangt man nämlich beim Theilen und Resolviren zu der untersten
Linie, so ist ein Weiterrücken in verwandelter Form nicht mehr thun-
lich. Was alsdann bei der Theilung übrig ist heisst der Rest, und
er als Zähler stellt mit dem Divisor als Nenner einen Bruchtheil
eines Ganzen dar^). Dagegen hat der andere von uns erwähnte Schrift-
steller über das Linienrechnen, Balthasar Licht, sich ausführlicher
mit Brüchen beschäftigt, insbesondere mit ihrem Vorkommen in ein-
zelnen Gliedern einer Regeldetri ^). Stromer giebt nach dem Divi-
diren die Regel zur Summirung einer arithmetischen Progression,
während er als Beispiel zur Anwendung der Regel nur die mit 1 begin-
nende Reihe der natürlichen Zahlen bis zu einer graden oder uncrraden
Endzahl benutzt. Dann kommt zum Schlüsse die Regeldetri oder
goldene Regel oder KaufmannsregeP). Man hat bei ihr folgende drei
Bedingungen zu beachten: L Die Fragezahl soll immer rechts
stehen. 2. Die erste und die dritte Zahl sollen sachlich und im
Namen übereinstimmen. 3. Die vierte aus der Regel hervorgehende
Zahl muss immer der zweiten entsprechen. Dann verfährt man nach
der Regel : Multiplicire die zweite Zahl mit der dritten, dividire das
Product durch die erste, und im Quotient kommt die vierte Frage-
zahl heraus.
Die Universität Ingolstadt dürfte nächst und mit Wien die-
jenige gewesen sein, an welcher die Leitung eine gewisse Vorliebe
für mathematische Studien bethätigte, und an welcher demzufolge
auch mathematisch veranlagte Persönlichkeiten gern verweilen mochten.
Stabius und Stiborius sind von Ingolstadt nach Wien gekommen,
und Peter Apianus*) hat Ingolstadts wegen Berufungen nach
^) relictum dicitur: quod simul tanquam numerator cum divisore fractionem
integri cotistituit. ^ Kästner I, 87. ^) Sequitur Begula que nunc de Tri:
nunc Äurea: nunc Mercatorum vocitatur. *) Allgemeine deutsche Biographie
I, 505 — 506 Artikel von Bruhns. — Treutlein, Das Rechnen im XVI. Jahr-
hundert. Zeitschr. Math. Phys. XXII, Supplement S. 15, 22, 56, 73 und Die deutsche
Cantor, Geschichte der Mathem. II. 2. Aufl. 26
402 60. Kapitel.
Leipzig, Tübingen, Wien und sogar über die devitschen Grenzen hin-
aus nach Padua und Ferrara ausgeschlagen. Dieser vielseitig gebildete
Gelehrte, der in der Geschichte der Astronomie, der Geographie', ja
sogar der Inschriftenkunde einen nicht minder ehrenvollen Platz als
in der der Mathematik einnimmt, lebte von 1495 bis 1552. Sein
deutscher Name Bennewitz oder Bienewitz wurde bald durch das
latinisirte Apianus vollständig verdrängt. Der Geburtsort war Leisnig
in Sachsen (etwa in der Mitte zwischen Dresden und Leipzig). An
der Leipziger Universität hat Apianus vermuthlich unter Professor
Kalb die mathematischen Studien begonnen. Unter seinen eigenen
Schülern war später kein Geringerer als Kaiser Karl V., so dass es
nicht Wunder nehmen kann, dass Apianus von engen Verhältnissen
ausgehend als wohlhabender, ja reichbegüterter Edelmann gestorben
ist, ein nicht von gar vielen Fachgenossen getheiltes Schicksal. Die
Adelserhebung fand 1541 als Folge der Herausgabe eines dem Kaiser
gewidmeten grossen astronomischen Werkes statt, welches überdies
dem Verfasser ein Geschenk von 3000 Goldgulden eintrug, abgesehen
davon, dass der Kaiser die Druckkosten deckte. Die erste' Schrift,
um deren willen wir es mit Apian zu thun haben, ist ein in deutscher
Sprache verfasstes Rechenbuch: Ein newe und wolgegründt underwei-
sung aller Kauffmanns Rechnung in dreien Büchern. Die Widmung
führt die Zeitangabe des 7. August 1527, der Druck scheint aber erst
1532 stattgefunden zu haben. Andere Auflagen sind von 1537 und
häufiger. Seit Grammateus war Apian wieder der erste Universitäts-
lehrer, der ein deutsches Rechenbuch verfasste, und der durch jenen
Vorgänger sich soweit beeinflussen Hess, dass er die dort überwun-
dene Verdoppelung und Halbirung nicht wieder in ihr missbräuch-
liches Gewohnheitsrecht einsetzte. Aber darum allein geben wir selbst-
verständlich Apianus keinen Platz in unserer Darstellung, und eben-
sowenig wegen der gleichmässigen Behandlung, die bei ihm Linien-
rechnen und Ziffemrechnen erfuhren, sondern wegen einiger anderen
verdienstlicheren Besonderheiten. Apianus lässt in seinem Rechenbuche
ausser der gewöhnlichen Neunerprobe auch die durch die Zahlen
6, 7, 8 oder durch irgend andere Zahlen zu und insbesondere die
Probe durch das entgegengesetzte Rechnungsverfahren. Im ersten
Buche ist von den geometrischen Progressionen die Rede, welche
ähnlich wie es (S. 397) bei Grammateus hervorgehoben wurde, mit
einer arithmetischen Reihe in Verbindung gebracht sind. Apian's Dar-
Coss, Zeitschr. Math. Phys. XXIV. Supplement S. 17. — Günther, Peter und
Philip Apian in den Abhandlungen der königl. böhmischen Gesellsch. der Wissen-
schaften VI. Folge, 11. Band. — Unger, S. 51, 80, 83, 101.
Mathematiker an deutsclien Universitäten. 403
Stellung ähnelt nocli melir der von Chuquet, insofern als die arith-
metische Reihe mit 0 beginnt. Apianus hebt auch die Brauchbarkeit
jener Reihen beim Multipliciren hervor, indem man die entsprechen-
den Glieder der arithmetischen Reihe addire und nennt diese letzteren
die Signaturen. Das ist aber ein besonderer Kunstausdruck, und
Schaffung einer neuen Benennung durch Kunstausdrücke beweist
immer, dass wer sie schuf der Bedeutung des Gegenstandes sich be-
wusst war. Im zweiten Buche ist die Kubikwurzelausziehung
^^14886936 = 246
deutlicher dargestellt, als es wohl irgend früher geschah^). Apianus
giebt den nach einander gefundenen Ziffern 2, 4, 6 die Stellenzeiger
a, h, c und lässt die Nebenrechnungen zur Auffindung von 3a^, 3a,
später von 3(a -f- &)"; 3(a -f- &) am Rande ausführen, wo sie sehr
übersichtlich hervortreten. Im dritten Buche ist das Dividiren unter-
wärts gelehrt"), welches zwar als Divisio danda in Italien schon
mindestens ein halbes Jahrhundert bekannt war, aber in Deutscliland
jetzt erstmalig auftrat, freilich ohne rasch allgemeinen Eingang zu
finden. Auch hier sind Buchstaben als Stellenzeiger der allmälig
herunterzuziehenden Ziffern des Dividenden vorhanden. Heutiger Sprech-
und Schreibweise gegenüber ist zu bemerken, dass Apianus eine Zahl
nicht durch, sondern in eine andere getheilt sein lässt, und dass die
Theildividenden, wie sie nach einander in Betracht kommen, unter
einander gestellt werden, ohne ihrer Rangordnung , im Dividenden
entsprechend nach rechts fortzurücken. Ein Beispiel des Apianus
sieht darnach so aus:
Dividirt 378784 in 224
Steht also.
ahc quotient
378784 1691
224
1547 a
1344
2038 &
2016
224 c
000
Endlich ist im dritten Buche die ToUetrechnung (S. 224 — 225) ge-
lehrt. Ein anderes Werk des Apianus sollte mit der Algebra sich be-
schäftigen. Das schon erwähnte Widmungsschreiben zum Rechenbuche
verspricht ausdrücklich: „die Regulam Cosse mit sampt dem Centi-
^) Treutlein, Rechnen im XVI. Jahi-hundert. Zeitschr. Math. Phys. XXII.
Supplement S. 72—73. -) Unger, S. 54 und 80.
26*
404 GO. Kapitel.
loquio, darinne der kern ligt, wird ich in kürtzer Zeit (wil Got) auch
in Druck geben", aber das Versprochene ist nicht erschienen, und
was das Wort Centiloquium bedeuten sollte (etwa eine Beispielsamm-
lung- von 100 Textgleichungen?) ist durchaus fraglich. Ob Apianus
auch der Geometrie seine Thätigkeit zugewandt hat, ist zweifelhaft.
Ein lAher de mensuratione vasonim cum artificiaU partis vacuae in-
ventione wird zwar genannt^), allein diese entweder überhaupt nie
gedruckte oder gänzlich verschollene Schrift dürfte nur einem be-
stimmten handwerksmässigen Bedürfnisse gedient haben, dessen wir
früher (S. 237) Erwähnung gethan haben. Dem Titel nach kann es
kaum etwas anderes als ein Visirbüchlein gewesen sein. Um so
sicherer gestellt ist Apian's Beschäftigung mit dem Grenzgebiete geo-
metrischer und astronomischer Forschung, mit der Trigonometrie.
Können wir ihm doch schon als Verdienst anrechnen, dass er 1534
die seiner Zeit durch Gerhard von Cremona ins Lateinische über-
setzte Astronomie des Dschäbir ihn Aflali (Bd. I, S. 749) in Nürn-
berg zum Drucke beförderte, aber dieser Uebersetzung schickte Apia-
nus als Einleitung eine eigene Abhandlung voraus: Instrum entum,^
primi möbilis, deren Bedeutung gewürdigt werden muss^), und ein
Jahr früher bereits war er in seiner Introdudio geographica in doc-
tissimas Verneri annoMiones auf ganz ähnliche Dinge ^) eingegangen
und hatte dort auf neun Seiten eine Sinustabelle zum Drucke gegeben,
welche innerhalb des ersten Quadranten die Sinusse aller Winkel in
Zwischenräumen von je einer Minute finden liess. Das Instrumentum
primi mobilis ist eine Vorrichtung zur Auf-
findung des Sinus und des Sinus versus (oder
1 minus dem Cosinus) eines Winkels im ersten
Quadranten mit der bei Ablesungen überhaupt
erzielbaren Genauigkeit (Fig. 79). Ein rechter
Winkel BAC ist durch den Kreisquadranten
BC abgeschlossen^). Die Halbmesser BA und
S AC sind, die erstere Strecke von B nach A,
die letztere von A nach G in eine gleiche Anzahl
von n (bei Apian vorschlagsweise 100000) Theile getheilt, an denen
Zahlen angebracht sind, welche die Bestimmung haben, das Ablesen
zu erleichtern. Ueber AB sowie über AC als Durchmesser sind von
den Mittelpunkten D und E aus die Halbkreise AHB und AKC be-
^) Günther, Peter und Philip Aijianus S. 27. *) Kästner I, 578—581.
Weit eingehender Günther 1. c. S. 31—34. ^) Günther 1. c. S. 28—31.
■*) Wir haben die Druckschrift Apian's nicht zu Händen , glauben aber der Be-
schreibung Günther's 1. c. S. 32 unter Annahme zweier Druckfehler, wo A und
B vertauscht sind, unsere Figur und Erklärung entnehmen zu dürfen.
Mathematiker an deutschen Universitäten. 405
schrieben. Ersterer heisst semicirciäus versus, letzterer semicirculus
redus. Auf der Halbirenden des Winkels BAC mit der Entfernung
AD
— = von A wird ein neuer Mittelpunkt 0 bestimmt, von welchem
2)/2
aus drei concentrische Kreisbögen beschrieben werden, deren äusserster
durch B und C geht, während die beiden inneren in kleiner Entfer-
nung von jenem und von einander auf AB und AC aufstehen. Diese
Kreisbögen begrenzen ein Stück Kreisring, auf welchem die Ein-
theilung von 0 bis 90° unter Angabe auch von Bruchtheilen von
Graden in der Richtung von A nach C abgelesen werden kann. End-
lich ist in A ein in beliebiger Richtung AG spannbarer Faden vor-
handen. Nun sei -^GAB^a und AG schneide in dieser Lage
den semicirculus versus in H, den semicirculus reetus in K. Denkt
man die Halbmesser jener Halbkreise BH, EK gezogeu, so ist
38« und BA — AH = BA sin vers. a. Ferner
AD AB
Y^^ AK
— j^T- = -^yr ^ cos(90° — o;)=sin«. Trägt man somit durch einen
in A eingesetzten Zirkel AI ^=^ AH auf AB und AL = AK auf
AC auf, was in unserer Figur unterblieb, um sie nicht weiter
mit Buchstaben zu beschweren, so kann man in / die Strecke
BI = sin vers. «, in L diejenige AL = sin a ablesen. Dass Apianus
ein nicht minder feiner Höfling als Mathematiker war, bewies er
dadurch, dass er in den drei sich durchsetzenden Kreisbögen AHB,
AKC , BGC die Gestalt eines Fuchseisens erkannte, des Wappens
der Freihern von Stadion, und dass er daraus Gelegenheit nahm,
seine Schrift dem diesem Geschlechte entstammenden Bischöfe Christoph
von Augsburg, der sich ihm stets als Gönner erwiesen hatte, zuzu-
eignen. Bemerkenswerth erscheint, dass Apianus nur vom Sinus,
Sinus versus und Sinus Complementi (unserem Cosinus) Gebrauch
machte. Die Tangenten finden sich nirgend bei ihm vor, so sehr
Regiomontan's Tabula foecunda geeignet war, sie dem Astronomen
zur Anwendung zu empfehlen.
Während der Zeit, von welcher hier die Rede ist, vollzog sich
eine wissenschaftliche That an der Universität Basel. Dort starb
1541, dort lehrte zuletzt Simon Grynaeus der ältere^), der in
Wien und Ofen, in Heidelberg und Tübingen vorher seine humanistische
1) Rud. Wolf, Biographien zur Kulturgeschichte der Schweiz 11, 10, Note 10
und 12. — Poggendorff I, 967. — Weissenborn, Die Uebersetzungen des
Euklid durch Campanus und Zamberti S. 64.
406 60. Kapitel.
Tüchtigkeit bewiesen hatte. In Basel gehörte seine Lehrthätigkeit
vorzugsweise der Theologie an, selbstverständlich im Sinne der kirch-
lichen Reformbestrebungen, denen er sich vollständig angeschlossen
hatte. Zugleich aber stellte er seine Kenntniss des Griechischen in
den Dienst der Mathematik und gab 1533 in Basel die erste Aus-
gabe des Urtextes der euklidischen Elemente sowie der Er-
läuterungen des Proklos zu denselben in Druck. Wenige
Jahre später, 1538, Hess er erstmalig einen griechischen Almagest
erscheinen. Unter dem Ausdrucke einer wissenschaftlichen That, dessen
wir uns bedienten, verstanden wir in erster Linie die griechische
Euklidausgabe. Sie war es wirklich durch die nunmehr einem Jeden
gebotene Möglichkeit, sich von der Richtigkeit oder Unrichtigkeit der
Uebersetzungen desjenigen Werkes zu überzeugen, ohne welches, wie
wir wiedei-holt sahen, ein mathematisches Wissen nicht gedacht wer-
den konnte. Sie war es auch durch die als thatsächliche Folgerung
sich ergebende Herausgabe der anderen grossen Geometer des grie-
chischen Alterthums. Wieder in Basel erschien schon 1544 eine
griechische Archimedausgabe unter der Leitung von Thomas
Venatorius^), dessen deutscher Name Gechauff war.
Drei deutsche Universitäten Heidelberg, Tübingen, Witten-
berg sind eng verknüpft durch ihre Beziehungen zu einem Manne,
der, ohne Hervorragendes als Mathematiker geleistet zu haben, dennoch
in einer Geschichte der Mathematik so wenig fehlen darf als in der
Geschichte irgend einer Wissenschaft, aus der ein allgemeiner Unter-
richtszweig geworden ist. Wir meinen natürlich Philipp Melanch-
thon-), der als Sohn des kurpfälzischen Waffenschmieds Georg
Schwartzerd 1497 in Bretten geboren wurde und 1560 in Witten-
berg starb. Von October 1509 bis Sommer 1512 war er an der Uni-
versität Heidelberg immatriculirt und erwarb sich dort im Juni 1511
das Baccalaureat. Bei seiner Bewerbung um die Magisterwürde wurde
er wegen zu grosser Jugend zurückgewiesen. Darauf siedelte er im
September 1512 nach Tübingen über und erlangte hier, aber auch
nicht vor Januar 1514, den Grad eines Magisters der freien Künste.
In Tübingen begannen Melauchthon's theologische Studien. Im Sommer
1518 folgte er einem Rufe nach Wittenberg, welcher Universität er
fortan bis zu seinem Lebensende angehörte. Zuerst war er in Witten-
berg als Professor der griechischen Sprache und Literatur angestellt.
Im Jahre 1526 übernahm er dazu eine zweite theologische Professur,
^) Vossius pag. 56. — Doppelmayr S. 41, Xote nn und S. 51—52.
*) Hartfelder, Phihpp Melanchthon als Praeceptor Germaniae (VII. Band der
Monunienta Germaniae paedagogica), Berlin 1889.
Mathematiker an deutschen Universitäten. 407
und von seinem thatkräftigen Eingreifen in die grosse kirchliche Be-
wegung der Zeit weiss die politische und Kirchengeschichte zu er-
zählen. Wissenschaftlich beschränkte seine Einwirkung sich gleich-
falls keineswegs auf die beiden Fächer, mit welchen sein Beruf ihn
verband. Die Bildung des Volkes, so weit die Ausdehnung des Wortes
Bildung gefasst werden mochte, war das hohe Ziel, auf welches seine
edlen Bestrebungen sich richteten. Darum gab die Mitwelt schon
ihm den Namen Praeceptor Germaniae, darum bestätigt die Nachwelt
dankbar das schon alte Wort und nennt ihn den ersten Lehrer
Deutschlands. Allerdings haben wir dabei eine nicht unbedeutende
Einschränkung vorzunehmen. Die Schule, deren Verbesserung und
Verallgemeinerung Melanchthon und gleich ihm seinem Freunde
Martin Luther am Herzen lag, war keineswegs die deutsche Volks-
schule. Wohl entstand diese am Anfange des XVL Jahrhunderts aus
den Katechisationen, welche mit der Jugend vorzunehmen die kur-
sächsische Schulordnung von 1528 den Pfarrern vorschrieb, und zu
deren Vorbereitung ein Unterricht nothwendig war, den der Pfarrer
allmälig auf die Schultern des Küsters lud, der von diesem in der
Woche abgehalten wurde und nach und nach vom Unterrichte in den
Evangelien auf das Lesen, Psalmensingen, zuletzt auf das Schreiben
sich ausdehnte. Wohl gab es daneben deutsche Schulen, Rechen-
schulen, Schreibschulen, durch ihre besonderen Namen deutlich zu
erkennen gebend, was in jeder einzelnen gelehrt wurde, wobei wir den
Umfang des Gelehrten nicht enge genug uns denken können. Aber
für alle diese Schulen hat Melanchthon niemals Vorschriften gegeben.
Er erachtete sie dessen sicherlich nicht werth. Erst die niedere Latein-
schule, in drei Haufen (wir sagen dafür heute Classen) zerfallend und
darum Trivialschule genannt, erfreute sich des Wohlwollens des für
die Schule begeisterten Humanisten, der so sehr Humanist war, dass
er einen Unterricht nicht würdigte, welcher nicht in lateinischer
Sprache ertheilt wurde, also den Unterricht in der Lehrsprache als
Vorschule zur Voraussetzung hatte. Die Schulmeister, sagte Melanch-
thon, sollen selbst so weit möglich nichts denn lateinisch mit den
Knaben reden. Gelehrt wurde aber in allen drei Classen wieder kaum
etwas anderes als Latein. Die Grammatik dieser Sprache zu be-
herrschen, einen reichen Wortschatz sich anzueignen, zahlreiche Schrift-
steller zu lesen, selbst fiiessend lateinisch sprechen zu können, darin
gipfelte der Plan der Trivialschule. Die Erwerbung von Kenntnissen
in Geschichte, in Geographie, im Rechnen wurde nicht einmal an-
gestrebt, geschweige denn erreicht. Das Rechnen, wir haben es schon
gesagt, veranlasste die Gründung besonderer Rechenschulen, deren
Lehrer sich etwas Höheres zu sein dünkten als der Schreiblehrer
408 60. Kapitel.
oder der Lehrer im Deutscheu. Sie waren wesentlich Bildungsstätten
für den Kaufmannsstand. Wer aber ausserhalb der Reehenschule
Kenntnisse im Hantieren mit Zahlen sich verschaffen wollte, der
musste, wenn ihm das Selbststudium zahlreich vorhandener Rechen-
bücher nicht genügte, zur Universität gehen. Hier begegnen wir
wieder dem Einflüsse Melanchthon's, welcher dringend verlangte und
durchzusetzen wusste, dass die Wiener Einrichtung von zwei be-
sonderen mathematischen Professuren unter den zehn Pro-
fessuren der philosophischen Facultät, wie man jetzt statt
des früheren Namens der Artisten zu sagen anfing, in Wittenberg
und wo man sonst auf Melanchthon's Wort hörte, Nachahmung fand.
„Die Anfangsgründe der Arithmetik, das Addiren und Subtrahiren
sind unbedingt zum täglichen Gebrauche nothwendig und so leicht,
dass Knaben sie erlernen können; die Regeln der Multiplication und
Division erfordern allerdings ein wenig mehr Aufmerksamkeit, aber
bei einiger Anstrengung werden sie doch bald begriffen." So lautet
Melanchthon's Programm für den arithmetischen Inhalt von Univer-
sitätsvorlesungen. Es ist freilich geeignet, ein halb spöttisches, halb
mitleidiges Lächeln hervorzurufen, aber vergessen wir doch Eines
nicht: dass bei Neuschaffungen es meistens schwieriger ist, für den
Inhalt die richtige Form, als für die Form den richtigen Inhalt zu
finden. Waren erst die Lehrstühle vorhanden, so konnten allmälig
deren Inhaber den Unterrichtsstoff den Zeitbedürfnissen nach um-
modeln, und das ist geschehen. Dai'in besteht die ganze weitere in
Deutschland und anderwärts allerdings zuerst unsäglich langsam fort-
schreitende Entwickelung des mathematischen Universitätsunterrichtes
von drei Jahrhunderten. Melanchthon, der in Tübingen den Unter-
richt Stoff 1er 's genossen hatte, eines Astronomen, welcher von der
Zeitkraukheit der Sterndeutung mit genügender Stärke ergriffen war,
um sie auf seine Schüler zu übertragen, nicht aber zugleich das Heil-
mittel streng geometrischer Prüfung ihnen vererbte, sah nun einmal
nicht weiter, als wir es mit seinen Worten angegeben haben, und
konnte über den eigenen Horizont hinaus auch Anderen nicht als
Wegweiser dienen.
Innerhalb des Gesichtskreises, welchen er beherrschte, lag da-
gegen die Herausgabe classischer Werke, in erster Linie solcher von
griechischen und arabischen Schriftstellern, in zweiter aber auch
solcher, welche, neueren Ursprungs, vermöge der anerkannten Be-
rühmtheit ihrer Verfasser als classisch gelten durften^). Aratus, Pto-
^) Vergl. das chronologisch geordnete Verzeichniss der Arbeiten Melanch-
thon's bei Hartfelder 1. c. S. 579 — 620 mit 700 Xummern, wovon folgende
hierher gehören: 44, 187, 228, 257, 502, 528.
Mathematiker an deutschen Universitäten. 409
lemäus, Proklus, Alfragan gehören zur ersten, Sacrobosco und Peur-
bach zur zweiten Gruppe, an deren Drucklegung Melanchthon mehr
oder weniger thätig war. Selbst gleichzeitigen Schriftstellern you
mathematischer Bedeutung erwies er sich gern nützlich. Wir werden
auf Michael Stifel, zu dessen ÄritJimetica integra er eine Vorrede^)
verfasste, noch zu reden kommen, eine andere Vorrede verfasste er
zuYoegeliirs Elemenfale geometriciun (S. 394), welche alsdann unter
Veränderung weniger Schlussworte einer 1546 bei Hervagius gedruck-
ten lateinischen Euklidausgabe neuerdings beigegeben wurde ^), wir
meinen aber vorzugsweise' Melanchthon's Declamatiopen. Decla-
mationen nannte man lateinische Reden, welche bei festlichen Gelegen-
heiten gehalten wurden, und deren Uebung Melanchthon in Witten-
berg einbürgerte. Elegante Sprache war dem Humanistenkreise, der
die Professuren an den deutschen Hochschulen für sich und seine
Freunde in Erbpacht genommen hatte, die Hauptsache, und da diese
Hauptsache wiederum nicht Jedermanns Sache war, so wurde es Uebung,
dass mancher Redner die ihm aufgetragene Declamation von einem
Anderen schreiben liess, ja es wird erzählt^), dass Melanchthon die
meisten öffentlichen Reden verfasste, welche in Wittenberg gehalten
wurden, und dass es vorgekommen sei, dass der Festredner schon be-
gonnen hatte, während Melanchthon an seinem Schreibtische noch
beschäftigt war, das Ende der Rede niederzuschreiben. Eine Declamation
über Regiomoutanus schrieb und hielt Melanchthon selbst. Eine
weitere über den Nutzen der Arithmetik war die Antrittsrede
für den 1536 als Professor der Mathematik nach Wittenberg berufe-
nen Rhäticus, und ihr sind die Worte entnommen, welche wir vor-
her als Melanchthon's Programm für den arithmetischen Universitäts-
unterricht anführten. In Melanchthon's Werken ist noch eine dritte
scheinbar hierher gehörige Declamation abgedruckt, aber mit Unrecht'^).
Es ist die Rede, welche einst Regiomoutanus in Padua als Einleitung
zu seinen Vorlesungen über Alfraganus hielt (S. 260), die sich hier
eingeschlichen hat. Wir sagten, Melanchthon habe sich um den Druck
der Werke des Alfraganus bemüht. Der 1537 erschienene Band ist
eröffnet durch ein Widmungsschreiben Melanchthon's an die städtische
Obrigkeit von Nürnberg, dem Druckorte. Darauf folgt die Rede des
Regiomoutanus, und dann die Werke Alfragan's. Offenbar hat später
die räumliche Zusammengehörigkeit des Briefes and der Rede, ver-
^) Hartfelder, I.e. S. 599, Nr. 346 des Verzeichnisses. ') Mittheilung von
H. Max Simon. ^) Hartfelder 1. c. S. 101 mit Berufung auf Camerarius,
De Philippi MelancMlionis ortu, totius vitae curricido et morte pag. 63 (Leipzig
1566). ^) Corpus Beformatomm ed. C. G. Brets chneider XI, 531—543.
410 60. Kapitel.
bunden mit der schönen Form dieser letzteren den Irrtlium veranlasst,
für beide einen Verfasser zu vermuthen.
In Rostock, später in Köln lehrte Jan Bronkhorst (1494 —
1570) aus Ximwegen, der nach seiner Vaterstadt den Beinamen No-
viomagus führte. Im Jahre 1539 gab er in Köln eine Schrift JDe
numeris heraus, in welcher (Buch I, Kapitel 15) eine geschichtlich
merkwürdige Stelle sich findet, die Schilderung gewisser aus graden
Strichen zusammengesetzter Zahlzeichen, deren CJialdaei et Astrologi
sich bedient hätten. Beispielsweise bedeuten V, ~\, L, J der Reihe
nach 1, 10, 100, 1000; K, N, K, /l der Reihe nach 4, 40, 400,
4000 u. s. w. Wer die von Bronkhorst gemeinten Chaldaeer waren,
ist durchaus ungewiss. Möglicherweise ist an spätrömische oder gar
an mittelalterliche Sterndeuter zu denken^).
Auf unserer Rundschau in deutschen Universitäten gelangen Avir
nunmehr nach einer schon geraume Zeit nicht mehr zu Deutschland
gehörenden Hochschule, welche aber damals als eine deutsche zu be-
zeichnen ist, jedenfalls nicht leicht unter ein anderes Reichsgebiet
gebracht werden kann. Löwen. Dort finden wir Rainer Gemma-
Frisius"), ursprünglich van den Steen, geboren 1508 zu Dockum
in Friesland, woher ihm der Beiname Frisius stammt, Arzt und Mathe-
matiker, seit den vierziger Jahren auf Empfehlung seines muthmass-
lichen Lehrers Peter Apianus Professor der Mathematik in Löwen,
eine Stellung, welche er vor 1553 mit der eines Professors der Medicin
vertauschte. Als solcher starb Gemma-Frisius 1555. Seine Erfindung
eines sogenannten astronomischen Ringes, einer Methode zur Bestim-
mung der geographischen Länge mittels einer genau gehenden kleinen
Uhr, welche dem Grundgedanken nach sich bis auf den heutigen Tag
erhalten hat, ist hier nicht weitläufiger zu schildern. Sein libellus
de locorum describendorum ratione (Antwerpen 1533) war von
grundlegender Bedeutung. Hier finden sich die ersten Vorschriften
zu einer wahren Triangulation veröffentlicht. Zwei Orte von be-
kannter gegenseitiger Entfernung — Gemma wählte zu diesem Zwecke
Kirehthürme in Brüssel und Antwerpen — werden als Grundpunkte
aufgezeichnet. Von jedem derselben werden andere neue Punkte ein-
visirt und die Sehlinien gezeichnet. Die Durchschnittspunkte solcher
^) Cantor, Mathem. Beitr. z. Kulturleben der Völker S. 167, Anmerkung
337, Figur 37. — Friedlein, Die Zahlzeichen und das elementare Rechnen der
Griechen und Römer (Erlangen 1869), S. 12. ^ Kästner I, 129 und II, 334,
573, 579. — Quetelet pag. 78. — Max. Curtze in Grunert's Archiv für Ma-
thematik und Physik LVI, 313. — Allgemeine deutsche Biographie VIII, 555. —
"Wauwermans, Essai de Vhistoire de cartographie anversoise au seizieme siede
im Bulletin de la societe royale de geographie d'Anvers. 1893 — 1894.
Mathematiker an deutschen Universitäten. 411
Sehlinien legen sodann neue Punkte auf der Karte fest und gestatten,
von ihnen aus wieder weitere Punkte einzuschneiden und dadurch die
Karte zu vervollständigen. Mit diesen praktisch so wichtigen Lehren
trat Gemma an die Spitze einer niederländischen geographi-
schen Schule, von welcher im XIV. Abschnitte die Rede sein
wird, und deren bedeutendster Vertreter, Mercator, unmittelbar
Gemma's Unterricht genoss. Als arithmetischer Schriftsteller trat
Gemma 1540 mit einem lateinisch verfassten Lehrbuche auf, welches
zahlreiche Abdrücke erlebte. Einige Dinge aus diesem Lehrbuche
sind erwähnenswerth. Gemma spricht über Verdoppelung und Hal-
birung; Manche bezeichneten diese als von Multiplication und Division
verschieden; was aber diesen Dummköpfen als Beweggrund diene,
wisse er nicht ^). Gerade so gut müsse man Verdreifachung, Vervier-
fachung u. s. w. als besondere Rechnungsarten aufführen. Bei der
Ausführung der Quadratwurzelausziehung werden die vei'doppelten
Wurzelziffern, soweit sie bereits gefunden sind, unter die gerade in
Behandlung stehende Abtheilung des Radicanden mit Einrückung um
eine Stelle nach links geschrieben, und in die rechts noch frei ge-
bliebene Stelle tritt alsdann die durch Division neu ermittelte Wurzel-
stelle, so dass mit ihr alsdann die ganze dastehende Zahl behufs wei-
terer Theilsubtraction vom Radicanden vervielfacht werden kann. Z. B.:
yil90 25 = 345
290
256
3425
685
3425
wobei wir nur darin von Gemma abweichen, dass wir die Theilreste
abwärts zum Abdrucke brachten, während bei Gemma dieselben noch
immer nach aliem Brauche über dem Radicanden unter Durchstrei-
chung der vernichteten Radicandenziffern erscheinen. Endlich findet
sich bei Gemma die Anwendung der Regel des doppelten
falschen Ansatzes auf quadratische, des einfachen auch auf
kubische Aufgaben, worauf er sich nicht wenig zu gute thut, da
ein gewisssr Christoph Rudolff von Jauer, CJiristopJiorum quendam
Hiidolplmni Jannerum (sie), die Möglichkeit davon in Abrede gestellt
habe. Aus 5832 Steinwürfeln soll eine Mauer errichtet werden, deren
') Quid vero moverit stupidos illos neseio.
412 60. Kapitel.
Länge um die Hälfte grösser sein soll als die Dicke, und die Höhe
um die Hälfte grösser als die Länge. Nimmt man die Abmessung
von 2 Steinen als Dicke an, so ist 3 die Länge, 4— die Höhe und
es werden 27 Steine verbraucht. 5832 durch 27 dividirt giebt 216
als Quotient, und weil.y216 = 6, sind die einzelnen Abmessungen
zu versechsfachen, also 12 auf 18 auf 27 Steine zu nehmen. Zu-
sammengesetzter ist die Anwendung des doppelten falschen Ansatzes
auf quadratische Aufgaben, wiewohl von Gemma an einer früheren
Stelle seines Buches gelehrt. Ein rechteckiges Feld von 200 Quadrat-
ellen besitzt eine Länge, welche um die Hälfte grösser ist als die
Breite; beide Abmessungen werden gesucht. Eine Breite von 4 Ellen
bei einer Länge von 6 Ellen giebt 24 Quadratellen, also 176 zu wenig.
Eine Breite von 20 Ellen bei einer Länge von 30 Ellen giebt
600 Quadratellen, also 400 zu viel. Nun bildet man 4^ = 16 und
202 _ 400^ go^ig 42 . 400 _f_ 20^ •. 176 = 76800 nebst 400 + 176 = 576.
Der Quotient .^ == 133^ giebt durch Quadratwurzelausziehung die
Breite mit Hr^- Die Länge ist folglich 17t^- Die beiden Zahlen
mit einander vervielfacht geben nahezu 200, während die wahre Breite
und Länge niemals in Zahlen ausgedrückt werden kann ^). Wie
Gemma zu dem Näherungswerthe
V
1 v?
gelangte, ist leicht zu vermutheu. Er wird wohl
10000 • 133y = 1333333
gesetzt haben; als Quadratwurzel fand er dann 1154 und nach Division
durch 100 jene im Texte genannte Zahl. Für die Länge giebt Gemma
3
durch einen offenbaren Druckfehler 17^^- Das ganze Verfahren
woUen wir einmal an Buchstaben prüfen. Sei y = ax, p^^ xy =^ ax^
die in Gleichungsform geschriebene Aufgabe. Nun liefern x -= x^
und y = y^ = aXi das Product Pi<p, sowie x = x.2 und y = ?/2 = ö^2
das Product 2h > P7 ^^^ zwar sei p — p^^ = cl^ , p.^ — p = ch . Gemma
rechnet "|/^i__J_x3_^ = x und das ist auch richtig. Man hat
x'i^^o "f" ^2^ dl = x-^-p.2 — x^'p -\- x^p ■ — x^^py
= x^ ■ ax^ — x^ • ax^ + x^ ■ ax^ — x^^ax{' = ax^ix.^ — x^).
') m duo nunieri in invicem ducti, 300 fere constituunt, neque iinqiiam vera
longitudo aut latitudo numeris exprimi potest.
Mathematiker an deutschen Universitäten. 413
Ferner
d^ + d, =I>—Pi-\- Ih —P = P-2 —Pi = «^2' — «^1' = «(^2' — ^i'j-
Der gebildete Quotient beider Zahlen ist folglich x^ mit der Quadrat-
wurzel X. Wenn aber doch bei der einen Aufgab.e die Kubikwurzel-
ausziehung, bei der anderen die Quadratwurzelausziehung nicht ver-
mieden werden konnte, warum der Umweg durch den falschen An-
satz, welcher nur noch mehr Rechnung nöthig machte? Wir finden
als Antwort auf diese Frage zwei Beweggründe, welche bei Gemma
wirksam gewesen sein werden. Erstens wollte er die Coss nicht
lehren, welche gleichwohl als bekannt vorausgesetzt zu werden scheint,
da ihr Name wiederholt im Texte auftritt, und zweitens versprach
er sich offenbar aus der Anwendung des doppelten falschen Ansatzes
in einem Falle, wo dieselbe als theoretisch unmöglich bezeichnet
worden war, hohen wissenschaftlichen Ruhm, der ihm auch in der
That nicht vorenthalten blieb. Hat man doch mit seinem Namen
Gemma alle die Wortspiele durchgeführt, zu welchen er Anlass gab,
ja sogar ihn als Edelgestein verdeutscht, während die Sitte der
Zeit sonst nur zur Umwandlung deutscher Namen in fremdländische
führte.
Erasmus Oswald Schreckenfuchs ^) (1511 — 1579) lehrte in
Tübingen Hebräisch, später in Basel neben Sebastian Münster^)
(1489 — 1552), dem Hebraisten und Kosmographen, und von Basel
aus auch in Freiburg Mathematik. Schreckenfuchs kam in Besitz
eines 1534 in Constantinopel gedruckten Exemplars des Sefer-Ha-
mispar von Elias Misrachi (S. 229) und gab 154G gemeinschaftlich
mit Münster einen Auszug aus diesem Werke in hebräischer Sprache
mit lateinischer Uebersetzung heraus. Elias Misrachi selbst (etwa
1455 — 1526) war jüdischer Oberrabbiner in Constantinopel und nahm
als solcher eine sehr hervoiTagende und einflussreiche Stellung ein.
Sein „Buch der Zahlen" ist wesentlich nach griechischen und ara-
bischen Mustern gearbeitet, enthält aber auch noch manches Eigene,
wie Misrachi selbst betont hat. Dazu gehört weniger ein in Dreiecks-
gestalt angeordnetes Einmaleins, für welches wir (S. 229) einen jüdi-
schen Vorgänger denken müssen, als die Entwickelung der Summenfor-
meln für 1-f 2-^ \-n, für r^-{-2'--] \-n' und für l^-\-2^-\ [-n\
Misrachi schliesst so -^ = -^ , -^— = -^ , . = ^ , also
Z ti O ^ 4: Z
1 1 -f 2 -j- ■ ■ • -f- « n 1 1 1 o I I n(n 4- 1)
auch — ^ '-—- — ' — = -- und 1 4- 2 -^ • ■ • -\- n = — ^— -^ — ~ -
^) AUgemeiue Deutsche Biographie XXXII, 467 — 468. Artikel von S. Gün-
ther. -) Ebenda XXIII, 30 — 33. Artikel von Ludwig Geiger.
Ferner - = 1, -^ = 1+-, ^J-^;^_- =. 1 + 2 • --
414 60. Kapitel.
T^ 1« . 1- + 2= -, , 2
Ferner - = 1, ^-^ = 1 + -
also auch -^ ^Z... Z .. = ^ + C^^ " 1) " T = ^^ ^"^^
12 _|_ 2^ + . . . +
Endlich sagt er:
1-+ 2 + . . . + n — ^ -r V- V 3
1)(2^
2 • 3
1' + 2-
12 _|_ 2:; -^ ^ ,^2 _ ^(»+1)(2^^+1)
13 _|_ 23 ^ 13 _
1 + 2 ~T~^'
18^2^ + 33 13 + 2
1" i- -^"^ o
1+2+3 1+2 '
13 + 23-^ + w^ 13 + 2^-1 [- in — Vf _
1 + 2 + . . . + « T+ 2 + . . . + (« -17 — **
13 + 23 + . . . + w3
und durch Addition sämmtlicher Gleichungen 1191 1
= 1 + 2-] f-^i, also auch l^-\-2^-\ ^ n^ = il-\-2-^ ■■■ -\-n)\
Allerdings bedient sich Misrachi bei diesen Schlüssen nur der In-
duction, aber deren Statthaftigkeit hat nachträglich bewiesen werden
können ^).
Wir haben dem 59. Kapitel ein Schlusswort gar nicht beigefügt.
Was hätten wir auch über die herzlich unbedeutenden Leistungen
sagen sollen, die wir mit einziger Ausnahme der Schriften des Xonius
und höchstens noch des Charles de Bouvelles nur um der Pflicht der
Vollständigkeit nach Kräften zu genügen überhaupt erwähnen mussten?
Und Nonius wiederum trat aus dem Rahmen des Kapitels so weit
hervor, dass man ein falsches Bild bekäme, wenn man ihn, nachdem
er im Einzelnen Gegenstand unseres Berichtes war, noch einmal zu-
sammenfassend als Vertreter einer Mathematik auf der Pyrenäenhalb-
insel schildern wollte. Gleichmässiger ist und gestattet eher eine Zu-
sammenfassung, was wir im 60. Kapitel erörtert haben. Die Leistungen
der Männer, welche an den deutschen Universitäten Wien, Leipzig,
Ingolstadt, Basel, Tüiüngen, Heidelberg, Wittenberg, Löwen die
Stellung eines Professors einnahmen, kommen darauf hinaus, dass das
Rechnen sich entwickelte, dass die veraltete Verdoppelung und Hal-
birung mit immer bewusster werdender Verachtung entfernt wurden,
dass das Dividiren unterwärts auftauchte, dass ein Rechnen mit Deci-
malbrüchen sich anbahnte, dass die sogenannte wälsche Praktik All-
gemeingut zu werden begann. Algebraische Aufgaben konnten durch
die Coss beantwortet werden, neben welcher (oder sollen wir sagen
vor welcher VJ auch die Regeln des einfachen wie des doppelten falschen
^) Die Arithmetik des Elia Misrachi von G. Wertheim (Braunschweig
1896), S 20—23.
Deutsche Rechenmeister und Cossisten ausserhalb der Universitäten. 415
Ansatzes geübt wurden. Geometrie war noch immer ein ziemlich
vernachlässigter Zweig der Wissenschaft, an welchem eigene neue
Triebe sich nicht zeigten. Trigonometrisches haben wir nur bei
Apianus und bei Gemma zu erwähnen gehabt, allerdings in einer
Weise , die beiden Männern alle Ekre machte.
61. Kapitel.
Deutsche Rechenmeister und Cossisten ausserhalb der
Universitäten.
Wir reden nunmehr von solchen Verfassern von Rechenbüchern,
welche nicht an Universitäten thätig waren. Dass derartige Schriften
in einer Anzahl vorhanden waren, welche fast eher die Anwendung
des Wortes Unzahl gestattet, haben wir berührt (S. 408). Eines dieser
Werke, welches einen encyklopädischen Inhalt besitzend, ein Spiegel-
bild jeglicher Schriften für wissenschaftlichen Selbstunterricht am Be-
ginne des XVL Jahrhunderts in Deutschland darbietet, ist die Mar-
garitha philosophica des Karthäuserpriors Gregor Reisch^).
Der Verfasser ist in Balingen in Württemberg geboren. Er studirte
seit 1487 in Freiburg und erwarb dort die akademischen Grade eines
Baccalaureus und eines Magisters. Dann trat er dem Karthäuser-
orden bei, in welchem er zu hohem Ansehen gelangte. Als Prior des
Freiburger Karthäuserklosters starb er 1523. Die Margaritha philo-
sophica ist zuerst 1503 gedruckt"), weitere Ausgaben folgten, wovon
die meisten in Strassburg die Presse verliessen. Eine Ausgabe wurde
1523 durch Orontius Finaeus (S. 378) in Paris veranstaltet. In Ge-
stalt eines Zwiegespräches zwischen Lehrer und Schüler sind die sieben
freien Künste in ebensovielen Büchern der Reihe nach in lateinischer
Sprache behandelt. Meistens stellt der Schüler die Frage, welche der
Lehrer ihm beantwortet, doch kommt auch das Gegentheil vor, dass
der Schüler fragen des Lehrers zu beantworten hat. Vor den meisten
Büchern befindet sich eine symbolische Abbildung des zur Behand-
lung gelangenden Gegenstandes, und insbesondere das Bild, welches
die Rechenkunst eröffnet, ist als bemerkenswerth wiederholt geschildert
worden. Die Rechenkunst als Frau dargestellt, Typus arithmeticae,
nimmt die Mitte des Bildes ein und streckt mit jeder Hand ein ge-
^) Allgemeine deutsche Biographie XXVIII, 117, Ai'tikel von Prantl. —
Hartfelder in der Zeitschrift für Geschichte des Oberrheins Nr. 5, V. 2, S. 170
bis 200. *) Die Unrichtigkeit der Behauptung, es gäbe auch schon eine Aus-
gabe von 1496, hat Hartfelder 1. c. dargethan.
416 61. Kapitel.
öffnetes Bucli aus. Ihr Kleid trägt vorn als VerzieruDg die beiden
naeli abwärts gebenden Progressionen
1
3 2
9 4
•27 8
deren gleiche Anfangszahl 1 nur einmal vorkommt, wie unsere über-
dies in der Form der Zahlzeichen nicht getreue Abbildung es erkennen
lässt. Links von der Arithmetik sitzt Pytagoras , wie die Ueber-
schrift ihn nennt, der auf einem Rechentische die Zahlen 1241 und
82 mit Rechenpfennigen angelegt hat, ausserdem noch einen Haufen
Rechenpfennige daneben liegen hat, welchem seine rechte Hand sich
nähert. Zur Rechten der Arithmetik sitzt an einem Tische JBoeüus,
gleichwie sein Gegen über durch eine Ueberschrift gekennzeichnet,
gleich ihm in der Tracht eines wohlhabenden Bürgers des XVI. Jahr-
hunderts. Boethius rechnet mit Ziffern, doch ist den vor ihm befind-
lichen theilweise durchstrichenen Zahlzeichen ein richtiger Sinn nicht
abzugewinnen. Man darf getrost diese Abbildung als das Interessanteste
an dem ganzen der Arithmetik gewidmeten Buche bezeichnen. Der
ihr folgende Text bietet Zahlentheoretisches nach Boethius, die Ein-
theilung der Zahlen in Finger- und Gelenkzahlen, die sieben Rech-
nungsarten: Kumeration, Addition, Subtraction, Multiplication, Division,
Wurzelausziehung und Progression mit ganzen Zahlen , gemeinen
Brüchen und Sexagesimalbrücheu, das Linienrechnen und die Regel-
detri, ohne dass irgendwo eine Besonderheit hervorträte, welche unsere
Aufmerksamkeit zu fesseln verdiente. Weit mehr ist solches in dem
geometrischen Buche des Werkes der Fall, welches selbst wieder in
speculative und praktische Geometrie eingetheilt ist. Das Titelbild
des ersten Tractates stellt Frau Geometrie dar. Ihre rechte Hand hält
einen Zirkel, mit welchem sie Längen an einem Fasse abnehmen zu
wollen scheint, auf welchem ein eingetheilter Maassstab liegt, ein
Hinweis also auf die Visierkunst. Die linke Hand hält einen als
Wiukelinstrument zu benutzenden Quadranten. Die speculative Geo-
metrie selbst ist ein unendlich dürftiger Auszug aus Euklid, der Haupt-
sache nach blosse Erklärungen, daneben einige wenige Sätze, un-
bewiesen aber richtig, das ziemlich getreue Ebenbild des ersten Buches
der Geometrie des Boethius, nur in noch abgemagei-terer Gestalt. Den
zuverlässigsten Beweis der Benutzung einer unmittelbar oder mittelbar
römischen Vorlage liefert das Vorkommen des Wortes corausms^)
^) Discipultis: Basis quid esi,? Magister: Est linea figurae planae quae tota
jacet in fundamento sive piano. Linea vero huic aeqtialiter superposita dicitur
corauscus.
Deutsclie Reclienmeister und Cossisteu ausserhalb der Universitäten. 417
für Sclieitellinie. Eine eigenthümliche Abbildung versinulicht die drei
räumlichen Abmessungen an einem unbekleideten von drei Spiessen
durchbohrten Menschen durch Beisetzung der Wörter oben und unten
(Länge), rechts und links (Breite), vorn und hinten (Tiefe) an die
Spiesse selbst. Nun folgt der zweite der praktischen Geometrie vor-
behaltene Tractat. An eine kurze Maasstabelle schliesst sich die
Beschreibung eines Winkelinstrumentes nach Art des Astrolabiums
und die Vorschrift, wie man es zu Höhenmessungen zu benutzen
habe, nämlich um ähnliche Dreiecke herzustellen, auf deren Berech-
nung Alles hinauslaufe. Als zweites wichtiges Messwerkzeug wird
der Jacobsstab genannt und geschildert. Nun kommt die eigentliche
rechnende Geometrie, beginnend mit Kreismessungen unter Anwen
düng von jt = 3 y • Bei der Flächenmessung geradliniger Figuren
ist die Abhängigkeit von Schriften römischer Agrimensoren noch viel
deutlicher wahrnehmbar, als an den vorher erwähnten Merkmalen.
Der Durchmesser des Innenkreises eines rechtwinkligen Dreiecks wird
gefunden als Rest der um die Hypotenuse verminderten Summe der
beiden Katheten; die Höhe eines mittels seiner drei Seiten gegebenen
Dreiecks wird unter Beiziehung des pythagoräischen Lehrsatzes be-
rechnet, und auch der Abschnitt auf der Grundlinie, beziehungsweise
die Ueberragung, welche bei spitz- und stumpfwinkligen Dreiecken
durch Ziehen der Höhe entsteht, ist nach richtigen, den Feldmessern
bekannten Formeln erhalten; ganzzahlige rechtwinklige Dreiecke wer-
den gebildet; endlich gelten die Formeln der Vieleckszahlen , vom
Dreieck und Fünfeck beginnend bis zum Zehneck einschliesslich als
Flächenmaasse jener regelmässigen Figuren. Das sind untrügliche
Kennzeichen, an welchen sich bestätigt, was (S. 234) mit Bezug auf
Widmann von uns behauptet werden durfte: dass nämlich um 1500
die römische Feldmesskunst in Deutschland aus langem Winterschlafe
zu allerdings nicht nachhaltigem Leben erwachte.
Schon vor dem Sammelwerke des Gregorius Reisch, welchem wir
nur als Sammelwerke, aus welchem einige wenige Bücher unser Inter-
esse in Anspruch nahmen, den Vorrang liessen, wurde 1501 eine
Schrift gedruckt: das Enchiridion von Huswirt^). Der Verfasser
heisst zu Ende des Büchleins Johannes Husivirt Sanensis. Vielleicht
weist dieser Ortsname nach Sayn im Westerwalde, wo einst eine
Prämonstratenserabtei stand. Jedenfalls stimmen die in den Auf-
^) Anleitung zum Rechnen aus dem Anfange des XVI. Jahrhunderts von Hus-
wirt, neu herausgegeben mit historischer Einleitung und Commentar von Prof.
Dr. Wildermuth. Programm des königl. Gymnasiums in Tübingen zum Schlüsse
des Schuljahres 1864—1865.
Cantor , Geschichte der Mathem. U. 2. Aufl. 27
418 61. Kapitel.
gaben des Enchiridion genannten Münzsorten mit denjenigen überein,
deren man in der Rbeingegend sich bediente. Die Sprache ist die
lateinische. Da Huswirt^) früher schrieb als Grammateus, darf man
sich nicht wundern, bei ihm noch dem Verdoppeln und Halbiren als
besonderen Rechnungsarten zu begegnen. Die Reihenfolge, in welcher
diese Rechnungsarten erscheinen, ist aber einigermassen auffallend.
Wo zuerst das Rechnen mit der Feder gelehrt wird, folgen sich Ad-
dition, Subtraction, Multiplication, Verdoppelung, Division, Halbi-
rung^). Wo alsdann das Linienrechnen an die Reihe kommt, ist
Verdoppelung und Halbirung zwischen Subtraction und Multiplication
eingeschoben^), und ebenso, wo wieder etwas später das Rechnen mit
Brüchen gelehrt wird*). Bemerkenswerth erscheint auch das Vor-
kommen des Wortes cifra in doppelter Bedeutung^) als Null und als
Ziffer. Die Ausführung der einzelnen Rechnungsarten mit der Er-
gänzung einer beim Subtrahiren geborgten Zehn durch Erhöhung
der nächsten Subtrahendenstelle um die Einheit, mit der überall be-
nutzten Neunerprobe, mit dem Dividiren überwärts bietet nicht viel
was nicht aus anderen Schriften uns mehrfach schon bekannt wäre.
Allenfalls könnte auf die Regel zur Summirung arithmetischer Pro-
gressionen hingewiesen werden, welche in Verse gebracht ist^):
Si primus numerus cum postremo faciat par,
Eius per medium loca singula multiplicabis,
Ast impar medium vult multiplicari locorum.
Die halbe gerade Summe des ersten und letzten Gliedes will sie mit
der Gliederzahl multij)licirt haben oder die ganze ungerade Summe
ebenderselben mit der halben Gliederzahl. Ferner dürfen wir auf
das Vorhandensein einer kleinen Tabelle'') der neun ersten Kubikzahlen
aufmerksam machen. Ein letzter Abschnitt^) enthält 28 „Regeln",
d. h. natürlich, wie schon bei Widmann und früheren Schriftstellern
seit Leonardo von Pisa, einzelne Musteraufgaben, welche nicht einmal
immer durch ihren Inhalt den Namen, welchen sie führen, rechtfer-
tigen, sondern mittels dieses Namens nur an eine mitunter recht alte
Vorgeschichte der Aufgabe erinnern. Die 6. Regel vom fliehenden
Hasen ^) z. B. erzählt uns kein Wort von einem durch einen Hund
*) Anleitung zum Rechnen aus dem Anfange des XVI. Jahrhunderts von Hus-
wirt, neu herausgegeben mit historischer Einleitung und Commentar von Prof.
Dr. Wildermuth. Programm d. königl. Gymnasiums in Tübingen zum Schlüsse
des Schuljahres 1864—1865, S.S. -) Ebenda S. 8—16. ^ Ebenda S. 22.
*) Ebenda S. 26. *) Ebenda S. 7: Decima vero theca, circulus, cifra sive
figura niliili appellatur und S. 23: Quoniam de integris tarn in cifris quam in
proiectiUbics, dei auxilio, dictum est. ^) Ebenda S. 17. '') Ebenda S. 20.
*) Ebenda S. 28—38. «) Ebenda S. 31.
Deutsche Rechenmeister und Cossisten ausserhalb der Universitäten. 419
verfolgten Hasen, sondern lässt einen von Köbi gegen Rom fliehenden
Mann durch einen Verfolger einholen, welcher Köln erst 5 Tage später
als der Erste verlässt.
Theoderich TzwiveP) hat 1507 ein Buch zum Drucke be-
fördert, dessen Titelblatt verspricht, einen Algorithmus zu lehren per
figuranim (tnore alemannornni) (Metionem. Sich selbst nennt der
Verfasser gleichfalls auf dem Titelblatte einen mgcniosus Pythagorista.
Diese Bezeichnung und jenes Versprechen sind, scheint es, das Be-
merkenswertheste an dem Buche. Was die alemannische Gewohnheit
der Auswischung der Zeichen war, sagt unsere Vorlage nicht. Wir
vermuthen, es sei das Ueberwärtsrechnen gemeint, welches fortwäh-
rendes Auslöschen noth wendig machte; aber warum alemannische Ge-
wohnheit? Höchst eigenthümlich ist Tzwivel's Stellung zur Verdoppe-
lung und Halbirung gewesen. Er hatte das Bewusstsein und sprach
es gradezu aus, dass beide Rechnungsverfahren vom Multipliciren
und Dividii-en nicht zu trennen seien. Er war also hierin ein deutscher
Vorgänger des Grammateus (S. 396). Gleichwohl hat Tzwivel beide
Sonderfälle in besonderen Abschnitten behandelt^).
Es ist kaum möglich, geschweige denn nothweudig, alle Rechen-
bücher in lateinischer und deutscher Sprache aufzuzählen, welche ihrer
Entstehungszeit gemäss hierher gehören. Wir begnügen uns mit der
Nennung einiger wenigen, welche durch irgend besondere Gründe der
Aufmerksamkeit empfohlen sind. Jacob Köbel^) von Heidelberg
(1470 — 1533) studirte in Krakau seit etwa 1490 und widmete sich
dort insbesondere den mathematischen Wissenschaften, nachdem er
zuvor an seiner heimathlichen Universität das Baccalaureat der Rechts-
wissenschaft schon erworben hatte. In Krakau war Köbel Studien-
genosse des Kopernikus. Nach Süddeutschland zurückgekehrt Hess
Köbel sich als Stadtschreiber in Oppenheim nieder und entwickelte
dort als Dichter eines gereimten Lehrgedichtes über das Verhalten
bei Tische, die „Tischzucht" genannt, als Zeichner und Holzschneider,
als Buchdrucker und Verleger, als Verfasser mathematischer Schriften
neben seinem amtlichen Berufe eine ungemeine Rührigkeit. Ein
Rechenbuch auf der Linien von 1514, ein solches mit der Feder von
1520, ein Visirbuch von 1515, sämmtlich wiederholt aufgelegt, eine
Vereinigung der drei Schriften, die dabei wesentlich vermehrt er-
schienen, von 1531, welche selbst wieder neue Auflagen erlebte, das
sind die Schriften Köbel's^), welche wir zu verzeichnen haben. Uns
^) Kästner I, 82 — 84.— Nagl, Ueber eine Algorismusschrift des XII. Jahr-
hunderts. Zeitschr. Math. Phys. XXXIV, Hist.-litter. Abthlg. S. 145. ^) Christ.
I'riedr. Müller, Henricus Grammateus S. 18 Note 95. ^ Allgemeine deutsche
Biographie XVI, 345—349, Artikel von Eisenhart. *) Unger S. 44—46.
27*
420 61. Kapitel.
lag dabei eine Auflage^) von 1543 vor, welche bei Christian Egenolff
in Frankfurt am Main gedruckt ist und den Titel führt: „Zwei rechen-
büchlin ujßf der Linien und Zipher mit eym angehencktem Visirbüch
so versteudtlich fürgeben das jedem hieraus on eifi lerer wol zu lernen.
Durch den Achtbarn und wol erfarnen H. Jacoben Köbel Statschreiber
zu Oppenherm." Die römischen Zahlzeichen sind mindestens am An-
fange vorwiegend im Gebrauche und werden als die gewenlich
teutsch Zal im Gegensatz zu der ziffern zale benannt^), eine
Benennung, auf welche wir bei dieser Gelegenheit zum ersten Male
aufmerksam machen, welche aber doch schon etwas älterer und häu-
figerer Uebung ist. Man hat sie in einem in Wittenberg 1525 ge-
druckten „Bökeschen vor de leyen und Kinder", sowie in einer Schrift
aus dem Jahre 1530 von Joanne m Kolross tüdtsch Leermeystern
zu Basel vorgefunden^). Köbel gehörte noch der alten Schule an,
welche das Verdoppeln und Halbiren besonders lehrte. Er bediente
sich des Linienrechnens auch bei der Quadrat wurzelausziehung*), wo
]/4356 = 66 sehr ausführlich dargestellt ist. Verfasser anderer
Rechenbücher in deutscher Sprache sind Johann Böschenstein^)
mit Ausgaben von 1514, 1516, 1518, welchen den Beweis der grossen
Verbreitung dieser Schrift liefern, und Georg Reichelstain^) 1532.
Letzterer ist einer der Ersten in Deutschland, welcher Arithmetik und
Dichtkunst zu vereinigen bestrebt war, und seine Subtractionsregel
So du magst von der obern nit
Ein Ziffer subtrahirn mit sitt,
Von zehen sollt sie ziehen ab,
Der nechst under addir eins knab
ist vielfach als Muster solcher Darstellungsweise angeführt.
Weitaus am bekanntesten unter den deutschen Rechenmeistern
ist Adam Riese''). Sein Name hat sich sprichwörtlich auch bei
Persönlichkeiten, denen Riese selbst eine fast mythische Figur ge-
worden ist, in der Redensart „nach Adam Riese" erhalten, welche
von jedem sehr einfachen Rechenergebnisse gebraucht zu werden
pflegt. Auch die kleine Geschichte ist aufbewahrt^), wie Riese einen
^) Das Werk besteht aus 144 Blättern, die acht ersten Blätter sind ohne
Numerirung, dann beginnt eine solche sofort mit der Zahl 9 und geht blatt-
weise durch den ganzen Band. -) Köbel fol. 9 verso. ^) Unger S. 9 — 13.
') Köbel fol. 49— 50. ") Treutlein, Das Rechnen im XVI. Jahrhundert,
Zeitschr. Math. Phys. XXH, Supplementheft S. 13. — Unger S. 46. «) Treutlein
1. c. S. 37, 45. — Unger S. 56. ^) Unger S. 48 — 53 giebt die genaueste und
ausführlichste Auskunft über Riese's Schriften, theilweise nach Beriet, Ueber
Adam Riese 1855 und Beriet, Die Coss von Adam Riese 1860, aber mit zahl-
reichen Ergänzungen. ®) Kästner I, 111.
Deutsche Mathematiker und Cossisten ausserhalb der Universitäten. 421
Feldmesser demüthigte, der, um sich als Meister des Zirkels zu er-
kennen zu geben, einen silbernen Zirkel auf dem Hute trug, und doch
nicht wusste, dass es genügt, einen Halbkreis über einen Durchmesser
zu zeichnen, um in kürzester Zeit beliebig viele rechte Winkel in
diesem Halbkreise zu erhalten. Adam Riese, auch Ries, Rys, Ryse
geschrieben, ist 1492 zu Staffelstein bei Lichtenfels in Franken ge-
boren. Er war 1522 Rechenmeister in Erfurt, 1525 Rechenmeister
in Annaberg. Ebenda trat er 1528 in öffentliche Dienste bei der
Buchführung der Bergwerke. Sein Todesjahr ist 1559. Vier ver-
schiedene Bücher von ihm sind, jedes in wiederholten Auflagen, im
Drucke erschienen. Das erste ist eine Rechnung auf der Linie von
1518, das zweite ein Rechenbuch auf Linie und Feder von 1522 zur
Zeit als Riese noch Rechenmeister in Erfurt war. Das dritte und
häufigste Buch führt den Titel „Rechnung nach der Lenge auff den
Linichen und Feder. Darzu forteil und behendigkeit durch die Pro-
portiones Pi-actica genannt mit grüntlichem Unterricht des visirens.
Durch Adam Riesen im 1550 Jar." Ihm ist das Bildniss Riese's mit
der Umschrift „Anno 1550 Adam Ries seines Alters im LVHI" bei-
gegeben, woraus das Geburtsjahr des Verfassers hat erschlossen wer-
den können. Man hat in diesen drei Werken den Fortschritt zu
erkennen, welchen Riese als Lehrer machte, und welchen er auf seine
Schüler fortpflanzte. Zu einem klaren Unterrichte im volksthüm-
lichen, aber auch nur einfachsten Volksbedürfnissen genügenden
Linienrechnen gesellt sich ein Rechnen mit Ziffern, zu beiden als-
dann ein Anwenden aller der „forteil und behendigkeit", deren die
Zeit fähig war, ohne dass die beiden ersten Theile dadurch verkürzt
würden. Man darf nicht vergessen, dass die Lehre vom Unterrichten
als solche damals erst im Entstehen war, dass Männer wie unser
früher genannter Melanchthon, wie Johannes Sturm ^), der
Schulvorstand in Strassburg, erst an ihrer Begründung arbeiteten,
um Riese^'s Stellung innerhalb seiner Zeit zu würdigen. Was seine
Bücher, insbesondere das vollständigste dritte Rechenbuch auf der
Lenge lehrten, erhob sich in keiner Weise über das übliche Maass.
Es würde sehr schwer fallen, eigene Gedanken, und beträfen sie nur
geringe Rechenvortheile, bei Adam Riese nachzuweisen. Dagegen hat
er zu vereinigen und zweckdienlich zu ordnen gewusst, was vor-
handen war. Aus seiner Anordnung konnte der Rechenunterricht die
methodischen Vorschriften sich bilden , ' welche heute als selbstver-
ständlich gelten. Die Vorschrift des Aufsteigens vom concreten Denken
zum abstracten wird in jedem Rechenunterrichte heute beachtet; bei
') Hartfelder, Melanchthon S. 148—150.
422 61. Kapitel.
Riese ist das Rechnen mit Rechenpfennigen dem mit Ziffern voraus-
geschickt. Die zweite Grundregel ist die des Ueberganges vom Ein-
facheren zum Zusammengesetzteren, und auch diese war Riese's Rechen-
buch auf der Lenge zu entnehmen. Die Rechnungsarten sind dort
zuerst so breit und umständlich zur Ausführung gebracht, als es in
ihrer Natur liegt, dann erst wird mehr und mehr auf eine gewisse
Eleganz des Verfahrens Rücksicht genommen. Mit verschiedenen
Multiplications- und Divisiousarten, mit dem Kürzen bei Bruchrech-
nungen, mit der welschen Praktik als wesentlich leichterer Lösung
der Regeldetriaufgaben, mit falschem Ansätze, mit unbestimmten Auf-
gaben , mit Zauberquadraten wird der Schüler Riese's in umfassendster
Weise bekannt gemacht, aber erst nachdem er das gemeine Ziflfern-
rechnen überwunden hat. Endlich die dritte für das Rechnen fast
mehr als für irgend einen Lehrgegenstand erspriessliche Vorschrift
verlangt stete Uebung des einmal Erlernten. Auch Riese hat wohl
beherzigt, dass Uebung den Meister macht. Es ist immer der gleiche
Stoff, der in immer neuen Aufgaben, in immer neuer Form, so weit
als möglich in angenehmem Gewände, bis zu fünf- und sechsmal wieder-
holt erscheint. Ein gleichzeitiger Schriftsteller, der geistig unendlich
hoch über Riese stand, Michael Stifel, nannte dessen Aufgaben „hold-
selig" und entnahm sie ihm für sein eigenes Werk^). Andere folgten
diesem Beispiele ohne in gleicher Offenheit ihre Quelle zu nennen,
und so galt hinfort für einen Meister der Rechenkunst, wer Adam
Riese's Rechnung nach der Lenge vollständig durchgearbeitet hatte ^).
Ein viertes Buch gab Adam Riese 1533 zu Ehren des „Erbarn Weisen
Rath auff Sanct Annenbergs" heraus. Es war „ein gerechent Büch-
lein auff den Schäffel, Eimer und Pfundtgewicht", mithin eine Samm-
lung von 116 Tabellen, die zu Preisberechnungen dienen^). Hier
findet sich unter Anderem die berühmte Annaberger Brodord-
nung, welche das Gewicht angiebt, das ein Halbgroschenbrod, ein
Pfennigbrod und ein Semmelpaar haben müssen, während die Korn-
preise von 20 bis zu 84 Geldeinheiten steigen. Ausser den in Druck
gegebenen Schriften Riese's hat sich von ihm noch eine Coss*) hand-
schriftlich erhalten. Wir entnehmen ihr, dass mancherlei Anregung
von Aquinas Dacus, jenem früher (S. 238) erwähnten Mönche des
Predigerordens, ausging, welcher übrigens nach der Sitte der Zeit sein
1) Unger S. 51, Note 5. -) Doppelmayr, S. 169, Note oo. ^) Unger
S. 96. *) Beriet, Die Coss von Adam Riese (Annaberg 1860) enthält um-
fangreiche wortgetreue Auszüge. Vergl. ausserdem T reut lein, Die deutsche
Coss. Zeitschr. Math. Phys. XXIV, Supplement S. 12 und 14—15 und besonders
Wappler, Zur Geschichte der deutschen Algebra im XV. Jahrhunderte (Zwickau
1887).
Deutsche Rechenmeistei* und Cossisten ausserhalb der Universitäten. 423
Wissen zu Kauf trug und sich beispielsweise für die Mittlieilung einer
natürlich von ihrer Auflösung begleiteten Aufgabe von einem ge-
wissen Hans Conrad, der erst in Eisleben^ dann neben Adam Riese
in Annaberg lebte, einen Gulden geben Hess. Wir lernen einen
Hans Bernecker aus Leipzig kennen, der selbst Beispiele anfertigte.
Wir erfahren von einem Magister Andreas Alexander, welcher
ein ganzes Buch über die Coss geschrieben hat. Die wissenschaft-
liche Wirksamkeit aller dieser Persönlichkeiten mag vielleicht vor
1500 begonnen haben, reicht aber gewiss wenigstens theilweise bis
gegen Ostern 1524, als dem Zeitpunkte, in welchem Riese's Coss
vollendet worden ist. Es wird uns von ihm auch nicht vorenthalten,
woher er seine Beispiele nahm. Er nennt eine alte Handschrift seine
Quelle, und dieses heute noch in Dresden vorhandene Manuscript ist
dasjenige^), welches wir die Dresdner Algebra zu nennen uns an-
gewöhnt haben, und welches einst im Besitze von Johannes Widmann
war. Aufgaben des Jordanus, Aufgaben aus der lateinischen Algebra
von unbekanntem Verfasser, ebenso die Randaufgaben (S. 248) hat
Riese benutzt, und nicht minder sind seine theoretischen Auseinander-
setzungen den dortigen ähnlich. Ihm selbst, vielleicht beeinflusst
durch die deutsche Dresdner Algebra mit ihrem „Czebreyen", dürfte
möglicherweise das Missverständniss zuzuschreiben sein, welches auf
den „berumbsten In der Zall erfarnen Algebram den Arabischen
meister"-) Bezug nimmt und welches noch auffälliger wird, wenn es
an einer etwas späteren Stelle gar heisst ^) : „Volgenn hernach die
Acht equaciones Algebre, gezogenn auss seynem ersten Buch genant
gebra vnd almuchabola". Die angekündigten acht Equaciones
lauten in unserer gegenwärtigen Zeichensprache:
1. aic«+i = 6a;". 2. ax""-^^ = 'bx'' . 3. aa:"+3 = &ä;".
4. ax"+^-='bx'' 5. ax"+^-^bx''+^=cx'\ 6. «ic^+^-f-ca;" = &ä;"+^
7. ax'^+~ = 5ic"+^ -j- cx'^. 8. Irgend eine Gleichung zwischen
x", x''+'^, ä;"+-"'.
Von diesen acht allgemeinen Fällen, die allerdings meistens in der be-
sonderen n = 0 voraussetzenden Form auftreten, hat die Dresdner
lateinische Algebra (S. 245) die sieben ersten. Woher Riese die
achte entnahm, können wir nicht genauer nachweisen. Aus den acht
Equaciones werden dann weiter „24 Regeln" gebildet. Die deutsche
wie die lateinische Dresdner Algebra besitzen sie in von einander ab-
weichender Anordnung, und Riese hat wieder eine dritte Anordnung
') Wappler hat 1. c. diese Thatsache ausser Zweifel gestellt. ^) Beriet
1. c. S. 9. s) Ebenda S. 12.
424 61. Kapitel.
getroffen, ohne dass die Einzelfälle selbst eine Aendenmg erfahren
hätte. Riese's Reihenfolge ist diese:
1.
ax = h.
2.
ax'^ = h.
3.
ax'^ = hx.
4.
ax' -\-hx=^c.
5.
ax- + c = lix.
6.
ax- = hx -\- e.
7.
ax' = lx\
8.
ax' = hx.
9.
ax' == h.
10.
ax' -^Ix- = ex.
11.
ax' -\- ex = hx-.
12.
ax' =- hx- -\- ex
13.
ax^ = hx'.
14.
ax^ = bx^.
15.
ax^ = hx.
16.
ax"^ + hx' = cx\
17.
ax^ + ca;2 = hx'.
18.
ax^ = hx' -\- ex"-
19.
ax'- = Yhx .
20.
ax'= hY^K
21.
ax^ = h.
22.
aa^ -f hx^ = c.
23.
ax^ -{- e = hx"-.
24.
ax^ ::= hx^ -\- c.
War Riese's Coss zunächst noch nicht Allgemeingut, so war da-
gegen Rudolff's Coss, wie wir schon wissen, seit 1525 im Drucke
vorhanden und verhältnissmässig rasch vergriffen. Wir haben ver-
sprochenermassen jetzt auf sie zurückzukommen, zuvor aber auf eine
Vorlage, welche ihm gedient hat. Wir haben früher (S. 240) einer
Wiener Handschrift des XYI. Jahrhunderts gedacht, welche die Auf-
schrift Regulae Cosae vel Algebrae führt. Die Abhandlung ist
zuverlässig vor 1510 entstanden, denn ausser in der Wiener Hand-
schrift 5277 steht sie auch in einer Münchner Handschrift, welche
von einem Besitzer im Jahre 1510 um 13 Kreuzer käuflich erstan-
den wurde, wie es in einer auf ihr angebrachten Notiz heisst. Die
Regulae Cosae vel Algebrae^) bestehen aus 33 Blättern. Zunächst
sind Regeln der Addition, Subtraction, Multiplication für
mit Vorzeichen versehene Zahlen ausgesprochen, und ganz be-
sonders bemerkenswerth tritt der Umstand hervor, dass in den kurz-
gefassten Regeln nur jene Vorzeichen (notae) -\- und — ohne bei-
gefügte Zahlen erscheinen. So heisst es für die Addition:
Conditiones circa -\- vel — in additione. J^ pf _^ ^^"^ _^ addatur
non babendo respectu quis numerus sit superior. Si fuerit <(^ ■ T^
simpliciter subtrahatur brevior numerus a majori et residuo sua ascri-
batur nota.
Bezüglich der Subtraction sind die Regeln nicht minder kurz
und dennoch ausreichend klar, sobald man eingesehen hat, dass die
zuerst genannte Zahl immer als Minuendus, die zweite als Subtra-
hendus genannt ist.
') Gerhardt in den Monatsberichten der Berliner Akademie für 1870,
S. 143—147. — Curtze brieflich.
Deutsche Rechenmeister und Cossisten ausserhalb der Universitäten. 425
Conditiones circa -\- et — in subtractione. Si fuerit -|- et -|- vel
— et — , existente numero superiore majore, fiat subtractio et relicto sua
ascribatur nota. Quodsi inferior excesserit superiorem, fiat subtractio et
residuo apponatur nota aliena. Si fuerit \^ , T])> addatur absque ullo
respectu superioris et inferioris, quandum ad excessum, per dictum habe-
bit <+.
Von der Rechnimg mit Monomen wird sodann der Uebergang
zum Rechnen mit algebraischen Summen gemacht und jede einzehie
Regel an mehrfachen Beispielen geübt. Bruchrechnung und Regel-
detri schliessen sich an und an diese wieder die eigentliche Lehre
von den Gleichungen. Als Beispiele der acht Formen sind 3x = 6,
3a.- = 12, 2ic3 = 16, 4a;^ = 64, 3x'- -{- 4x = 20, 3x'- -{- 4. = 8x,
2^^^x'- = 2x-{-Ci, 2.^■2 -f- 12 = l^a;* behandelt, denen allen der
Wurzelwerth x ^= 2 gemeinschaftlich ist. Ausserdem folgen aber
noch zahlreiche Beispiele aller Formen , meistens in lateinischer, andere
aber auch in deutscher Sprache. Dann folgen noch Aufgaben von
einer neunten und zehnten Form x^ = hYx, x^^^h^x^. Endlich
auf dem vorletzten Blatte folgen unter der Ueberschrift Begule Cosse
24 Gleichungsformen, denen zu begegnen uns nicht mehr in Erstaunen
setzen kann.
Aus dieser Handschrift also schöpfte Christoph Rudolff, und
schon seine Zeitgenossen wussten es, wobei ihr Urtheil über seine
Handlungsweise weit auseinander ging. In der Vorrede zur zweiten
Auflage der Coss, welche (S. 398) Michael Stifel besorgte, sagt dieser:
„Was aber dieser Christoff Rudolff bey etzlichen für danck hab will
ich mich nicht jrren lassen. Ich höret auff ein zeit jm grewlich
vnd vnchristlich fluchen das er die Coss hatte geschrieben vnd das
beste (wie der flucher sagt) hatte verschwigen, nemlich die Demon-
strationes seyner Regeln. Vnd hatte seine Exempla (wie er saget)
auss der Librey zu Wien gestolen. Das sagt einer der sich treffent-
lich gelehrt wüst vnd das ansehen haben wolt, als were jhm sehr
ernst die künsten zu promoviren. Du lieber Gott was solt doch einer
sollichen leuthen rechts thun können? Ob denn gleich Christoff Ru-
dolff sein Exempla nicht alle selbs hatte gedichtet, sondern etzlich in
der Librey zu Wien abgeschriben, vnd vns die selbige durch den truck
mitgeteylet, wem hat er damit schaden gethan?" Mit dem Abschreiben
selbst hat es auch nur theilweise seine Richtigkeit. Rudolff band
sich keineswegs knechtisch an seine Vorlage. Er Hess aus ihr weg,
was ihm nicht passte, er fügte da und dort bei, was ihm beifügungs-
werth erschien, er übernahm einfach, was ihm gefiel. Zu letzteren
426 61. Kapitel.
Dingen gehören die kurzen Zeiclienregeln der Addition^), der Sub-
traction^J sowie der Multiplication^). Als Zusatz sind die (S. 399)
erwähnten Wurzelzeichen zu nennen. So heisst es*) „zu mercken
das radix quadrata in diesem Algorithmo von kurtz wegen vermerckt
wird mit sollichem Character ]/. Als ]/4 bedeutet radicem quadratam
auss 4. ist 2." Weggelassen sind die 24 Regeln^): „Lass dich nicht
jrren, das etliche bisher vnd noch von 24 Regeln der Coss gross
geschrei machen, denn angesehen yhre meynung vnd die Cautel (deren
sye sich zu völliger zal der 24 regeln auch behelffen) will ich auss
den 8 regeln nicht alleyn 24 sondern etlich vnd hundert machen.
Ist ein verdriesslicher vberfluss, von einer Kunst gross geschwetz
treyben, so mit einem wenigeren, nicht allein ordenlicher, sonder
auch verstentlicher vollkommenlicher alles mag daregeben werden."
Die Cautelen, gleichfalls bereits in der wiener Algebra ent-
halten, sind vier an der Zahl, mittels deren nach Rudolif's Ansicht
die Regeln fast beliebig vermehrt werden können. Sie lauten wie
folgt '^): Erstlich kann, wenn auf beiden Seiten der Gleichung wie
wir heute sagen würden, Grössen gleicher Benennung (Zahlen, Un-
bekannte in erster, zweiter n. s. w. Potenz) vorkommen, die kleinere
mit entgegengesetztem Zeichen hinübergeschaflFt und dort durch Sub-
traction mit der grösseren vereinigt werden. Zweitens kann eine
negativ auftretende Grösse als positiv hinübergeschafft werden. Diese
beiden Cautelen beruhen ersichtlich auf den Sätzen: Gleiches von
Gleichem giebt Gleiches, Gleiches zu Gleichem giebt Gleiches. Die
dritte Cautel schafft Wurzelzeichen durch Potenzirung, die vierte
Brüche durch Multiplication mit dem Nenner fort. Diese beiden be-
ruhen mithin auf den Sätzen: Gleiche Potenzen von Gleichem sind
gleich, Gleiches mit Gleichem vervielfacht giebt Gleiches.
Alles, was auf diese Cautelen noch folgt, sind Beispiele für die
sämmtlichen acht Regeln, welche keine anderen sind, als die im Wiener
Manuscripte zuerst behandelten Fälle, und am Schlüsse noch acht
Aufgaben, zu welchen jene Regeln nicht sofort ausreichen. Die
sechste, siebente und achte derselben sind kubische Gleichungen'^),
welche aufgelöst werden, nämlich a;^(10 — a;) = 63 mit ^ = 3, ferner
^-=^' = 605
mit :r = 11, endlich x^ = lO:^^ _^ 20.r + 48 mit x = 12. Aber wie
findet Rudolff diese Wurzel werthe ? Durch fein ausgeklügelte, in
1) Coss (Ausgabe von 1553) fol. 64 verso. ^) Ebenda fol. 66 recto. ^) Ebenda
fol. 69 recto. *) Ebenda fol. 86 recto. ^) Ebenda fol. 139 verso. «) Ebenda
fol. 148 verso bis 151 recto. ') Ebenda fol. 477 recto ügg.
Deutsche Rechenmeister und Cossisten ausserhalb der Universitäten. 427
jedem dieser Einzelfälle gerade zutreffende Knnststückcheu. Die letzte
Gleichung z. B. behandelt er folgendermassen. Zuerst addirt er 8
auf beiden Seiten, dann dividirt er durch x -\- 2, erhält also der
Reihe nach
^:3 I 8 = lO.r- + 20x + 56 und x' — 2x -\- 4 = 10a; + —^-^ ■
X -f- -
Aus dieser letzteren Gleichung bildet er zwei x^ — 2x = lO^r und
56 .
4 = — ,— - , welchen beiden x = 12 genücrt. Das ganz Zufällige dieser
Auflösung leuchtet ein. In der vorgelegten Gleichung stimmt die
Zerlegung, in anderen würde sie Widersprechendes zu Tage fördern.
Rudolff wusste, muss man sagen, von der Aufgabe der Zeit, die keine
andere war als die Auflösung kubischer Gleichungen. Er kannte die
Wurzeln einiger solcher Gleichungen, vielleicht weil er von dieser
Kenntniss aus die Gleichungen sich gebildet hatte, und tastete nach
allerlei Kunstgriffen, welche diese Wurzelwerthe ihn finden Hessen,
aber dass er auch nur auf dem Wege zu einem methodischen Auf-
lösungsverfahren gewesen sei, kann man nicht behaupten.
Trotz der freien Benutzung der Zeichen -|- und — kennt Rudolff
doch nur positive Zahlen, wenigstens nur positive Gleichungswurzeln
und berücksichtigt desshalb nur dann zwei Wurzeln einer quadratischen
Gleichung, wenn diese die Form ax^ -\- h = ex besitzt und überdies
c^ — 4rt& positiv ist. Ja auch diese Zwiespältigkeit, um Rudolff's
Ausdruck anzuwenden, bringt er erst nachträglich zur Rede.
Für die einzelnen Potenzen der Unbekannten werden Symbole
benutzt, wie sie ähnlich von verschiedenen deutschen Schriftstellern
her uns bekannt geworden sind^). Sie führen den Namen Charakter,
und sehen so aus
^, ^, h et, 53, ^, ict, S^, 353, cce.
Rudolff's Beispiele sind, wie schon bemerkt, vielfach aus der
Handschrift der Wiener Bibliothek entnommen, aber auch eine ge-
druckte Quelle hat er keineswegs zu benutzen verschmäht, wie die
oftmals bis in die Zahlen nachgewiesene Uebereinstimmung mit Jo-
hann Widmann ^) darthut, es sei denn, dass die Wiener Handschrift
auch jene Widmann'schen Aufgaben enthielte, worüber Untersuchungen
noch fehlen.
Auch Aufgaben mit mehreren Unbekannten hat Rudolff unter
dem Namen Begida quantitatis behandelt^), indem er die eine Unbe-
kannte durch das Zeichen Bf, die andere als Quantität durch q dar-
*) Coss (Ausgabe von 1553) fol. 141 recto. -) Treutlein, Die deutsche
Coss. Zeitschr. Math. Phys. XXIV, Supplement S. 121. ^) Coss fol. 307 ügg.
— Treutlein 1. c. S. 84—85.
428 61. Kapitel.
stellt, und unter diesen Aufgaben finden sich sowohl bestimmte als
unbestimmte. Bestimmt ist z. B. Rudolff's 191. Exemplum^). Beim
Pferdekauf um 34 Gulden bedarf von drei Gesellen A die Hälfte,
B ein Drittel, C ein Viertel des Geldes der beiden Anderen, um die
Bezahlung zu ermöglichen. Hat A die Summe df und B und C zu-
sammen q, so ist - — ^ = 34, q = 68 — 2Bf, der Gesammtbesitz
von A, B, C also 68 — Bf. Nun habe B allein die Summe q und
mithin A mit C zusammen 6S — 5f — q, dann ist
Besitzt endlich C die Summe q, also A mit B zusammen 6.'-^ — Bf — q.
. 68 — 2f — q g , 68 + 5f -r.. t, -^ ... i
so ist q ~\ = 34 , q = ' Die Besitzstande sind
demnach Bf, — ~ — , - "^— mit der Summe 68 — Sf , folglich
Bf = 10. Unbestimmt dagegen ist das 188. Exemplum^), wo es da-
rauf ankommt 3f + 14 so in zwei Theile q und Bf -\- 14 — q zu zer-
legen, dass der erste um 8 vom zweiten vermehrt, um 2 grösser als der
dreifache Rest des zweiten sei. D. h. q -f 8 — 2= 3(af + 14 — q — 8),
33f + 12 ^ der zweite Tbeil ist daher 5f -f 14 — ^^ + ^^
Sf + 44 .
= — Wie gross man nun Bf wählen soll, ist in der Aufgabe
durch keine weitere Bedingung vorgeschrieben, „so ists ein Zejehen,
das diss Exemplum vil Verantwortung leydet, Vnd nicht der artigen
Exempeln eins ist". Es bedarf kaum der Bemerkung, dass unsere
Darstellung nicht buchstäblich Rudolff entnommen ist, der insbeson-
dere von einem Gleichheitszeichen noch nichts weiss.
Die hier angeführte unbestimmte Aufgabe veranlasst uns, wieder-
holt auf Rudolff's Rechenbuch von 1532 (S. 398) zurückzugreifen, um
von der in dessen Anhange abgedruckten Schimpffrechnung, d. i,
Rechenscherzen zu reden ^). Unter diesen Aufgaben befindet sich
diejenige Methode, eine Zahl unterhalb 105 zu errathen, welche die
Chinesen Ta yen genannt haben, und welche durch nicht aufgeklärte
Uebertragung um 1200 Leonardo von Pisa (S. 26), um 1400 Byzan-
tinern bekannt gewesen zu sein scheint. Unter ihnen befindet sich
aber auch eine andere unbestimmte Aufgabe, von welcher wir eben
so gut bei Apianus und bei Adam Riese hätten reden können.
^) Coss fol. 309 verso bis 310 verso. ') Coss fol. 307 verso bis 308 recto.
3) Unger S. 53, 100, 106.
Deutsche Rechenmeister und Cossisten ausserhalb der Universitäten. 429
wenn die Druckwerke dieser Schriftsteller nicht später als Rudolff's
Rechenbuch veröffentlicht worden wären, so dass es richtiger erschien,
die Aufgabe bei dem zu besprechen, der sie zuerst im Drucke bekannt
machte. Wir meinen die Aufgabe von der gemeinsamen Zeche.
Eine gegebene Anzahl von Personen, Männer, Frauen und Jungfrauen,
haben zur Tilgung einer gemeinsamen Schuld nach Verhältnisszahlen
beizutragen, welche für jeden einzelnen Mann, jede einzelne Frau, jede
einzelne Jungfrau so gegeben sind, dass die Schuld genau getilgt
wird; man will wissen, wie viele Männer, wie viele Frauen, wie viele
Jungfrauen unter der Gesellschaft sich befanden^). Die Aufgabe geht
unter verschiedenen Namen, regida virginum, auch regula potatorum,
am häufigsten regula coeci durch zahlreiche Bücher bis tief in das
XVIII. Jahrhundert herab, wo Euler noch sich des letzteren Namens
als Ueberschrift des 2. Kapitels des 2. Abschnittes des IL Bandes
seiner Algebra bediente. Man hat den Namen mit dem blinden üm-
hertasten nach einer Auflösung in Verbindung gebracht. Weit an-
sprechender ist die Ableitung von Zeclie, aus welchem coeci ohne
grossen sprachlichen Zwang entstehen konnte.
In diesem 61. Kapitel haben wir hauptsächlich die aus der Zahl
der Rechenbücher entnehmbare Verbreiterung derjenigen Volksschich-
ten, welche rechnen zu können als wünschenswerth, wenn nicht als
nothwendig erkannten, bemerken können, und fast gleichen Schritt mit
dem Rechnen mit bestimmten Zahlen hielt die Coss. Die wenigsten
Schriftsteller unter denen, welche wir nannten, sind von hervorragen-
der Bedeutung gewesen, wenn auch keinem von ihnen eine gewisse
provinzielle Berühmtheit abging. Nur Christoff Rudolff und
Adam Riese haben über den engeren Oi-t ujid die engere Zeit ihres
Lebens hinaus eine Wirksamkeit sich bewahrt, entsprechend der Kunst
ihrer stylistischen Darstellung, entsprechend auch eigenen Gedanken,
die wir wenigstens nicht weiter aufwärts zu verfolgen im Stande
waren. Am Bedeutsamsten erscheint darunter Rudolff's Aufräumen
mit den 24 Regeln, dem Paradepferde seiner Vorgänger.
62. Kapitel.
Michael StifeL
Der Herausgeber der 2. Auflage von Rudolff's Coss war, wie
(S. 398) schon gesagt worden ist, Michael Stifel, eine nach den
^) Treutlein, Das Rechnen im XVI. Jahrhundert. Zeitschr. Math. Phys.
XXn, Supplementheft S. 90—92. — Unger S. 100—101.
430 62. Kapitel.
verscliiedensten Seiten hochmerkwürdige Persönlichkeit, welcher wir
ein besonderes Kapitel schuldig sind.
Michael Stifel^) ist 1486 oder 1487 in Esslingen geboren,
1507 in Jena gestorben. Er gehöiie schon frühe dem Aug-ustiner-
orden an, der mit Franziscanern und Dominicanern nicht ohne Glück
in der allgemeinen Werthschätzung wetteiferte, und der namentlich
in Deutschland zahlreiche Niederlassungen besass. Auch Luther
war bekanntlich Augustiner, und dessen umwälzende Gedanken fanden
im Esslinger Kloster Eingang und Anhänger, unter welchen Stifel
der eifrigste war. Die schroffe Vertretung dieser Meinungen zwang
ihn 1522 zur Flucht aus dem Kloster, und nun begann ein unstetes
Wanderleben als Geistlicher der neuen Richtung. Im Mansfeldischen,
in Oesterreich, in der Nähe von Wittenberg, in Preussen hat Stifel
als Geistlicher gewirkt. Während seines Aufenthaltes in und bei
Wittenberg wandte Stifel, der schon früher an mystischen Zahlen-
spielereien Vergnügen gefunden und ihretwegen arithmetische Kennt-
nisse, zum mindesten die der Dreieckszahlen, sich erworben hatte,
ein eifriges Studium auf die Rudolff'sche Coss. Er „fasset sie auf,
allein mit lesen leichtHch, ohn allen mündtlichen bericht", wie er
1553 in der Wortrechnung erzählt-), doch müssen wir annehmen,
dass er damals, wenn nicht früher, mit anderen mathematischen
Schriften, welche er in einem schon 1544 gedruckten Werke, der
Arithmetica integra, da und dort erwähnt, sich gründlich be-
kannt machte. Dort ist das Rechenbuch Adam Riese's angeführt ^j;
dort Schriften von Albrecht Dürer'*), dort die euklidischen Elemente
in der Bearbeitung durch Campanus''). Griechisch verstand Stifel
nicht und bediente sich dafür des Rathes von Männern wie Dio-
nysius Roner von Esslingen, Johann Heinrich Mayer von Bern,
Adolf von Glauburgk von Frankfurt^). Rudolff's Coss beschäftigte
ihn jedenfalls am längsten, volle 14 Jahre, und diente ihm als An-
knüpfungspunkt für eigene wissenschaftliche Untersuchungen, welche
nach und nach im Drucke erschienen.
Zuerst kam die schon genannte Arithmetica integra von 1544
heraus, dann die deutsche Arithmetica von 1545, endlich die durch
zahlreiche Zusätze und die gleichfalls schon genannte nachtragsweise
*) Strobel, Neue Beiträge zar Litteratur besonders des XVI. Jahrhunderts.
Ersten Bandes erstes Stück. Nürnberg und Altdorf 1790. — Kealencyclopädie
für protestantische Theologie und Kirche (IL Auflage) Bd. XTV, 702 — 706 (Leipzig
1884). — Allgemeine deutsche Biographie. -) Wortrechnung fol. B 1 recto.
^) Arithmetica integra fol. 226 verso. *) Ebenda fol. 211 recto. *) Ebenda
fol. 104 verso und häufiger. ^) Ebenda fol. 143 verso.
Michael Stifel. 431
gedruckte Wortrechnung vermehrte zweite Auflage der Rudolff'schen
Coss von 1553. Von diesen Schriften haben wir zu reden ^).
Die Arithmetica integra erschien bei dem damals berühm-
testen Buchdrucker Johannes Petreius in Nürnberg, mit welchem
Stifel, damals Pastor der kleinen Gemeinde Holzdorf bei Wittenberg,
durch Vermittelung des Wittenberger Professors Justus Jonas in
Verbindung getreten war"), während ein zweiter Professor der gleichen
Universität, der berühmte Melanchthon, eine Vorrede zu dem
Werke verfasste (S. 409), welche den hohen Werth der Arithmetik
in ein glänzendes Licht zu stellen bestimmt war. Den Namen Arith-
metica integra hatte Milichius voi'geschlagen ^) , welcher seit 1524
erst als Professor der Philosophie, in welcher Eigenschaft er auch die
ersten mathematischen Vorlesungen in Wittenberg hielt^), dann der
Medicin dieser Universität angehörte und dem engeren Freundeskreise
Stifel's beigezählt werden muss. Milichius war es auch, welcher Stifel
mit guten Gründen die Ueberzeugung beibrachte, das Wort Algebra
stamme von dem Astronomen Geber, dem Erfinder derselben -'j. In
das schon druckfertige Manuscript hat Stifel auf ausdrücklichen Wunsch
des Petreius noch die Regula falsi hineingearbeitet *") und mancherlei
Veränderungen anbringen müssen, welche den Druck noch weiter
herumzogen, während die Niederschrift schon vorher volle fünf Jahre
fertig dagelegen hatte"). Das Werk besteht aus drei Büchern, von
denen das 1. von den rationalen, das 2. von den irrationalen Zahlen,
das 3. von der Algebra handelt.
Am meisten Eigenthümlichkeiten zeigt das 1. Buch, auf welches
auch mit Recht meistens ziemlich ausschliesslich eingegangen wird,
wo es sich um die Würdigung Stifel's handelt. Aus diesem 1. Buche
sind es dann selbst wieder zwei Stellen, die besonders hervorgehoben
zu werden pflegen. Die erste Stelle, zu deren Ergänzung allerdings
Stellen des 3. Buches beigezogen werden müssen, handelt von dem
Nutzen, den es gewähre, immer einer arithmetischen Progression
eine geometrische entsprechen zu lassen^). Das ist' derselbe Gedanke,
1) Ueber Michael Stifel als Mathematiker vergl. Kästner I, 112—128 und
163 — 184. — Cantor, Petrus Ramus, Michael Stifel, Hieronymus Cardanus.
Zeitschr. Math. Phys. 11, 353—376. — Gerhardt, Math. Deutschi. S. 60—74.
— Treutlein, Deutsche Coss. Zeitschr. Math. Phys. XXIV, Supplementheft
S. 17 — 20 und häufiger. — Giesing, Michael Stifel's Arithmetica integra I. Theil
(Döbeln 1879). — Unger S. 58 und häufiger. ^) Arithmetica integra fol. 102
recto. ^) Ebenda fol. 93 recto. ') Poggendorff 11, 150. ^) Arithmetica
integra fol. 226 verso zu vergleichen mit 30 recto, 55 recto, 231 verso u. s. w.
^) Ebenda fol. 93 recto. ') Ebenda in dem angehängten Druckfehlerver-
zeichnisse. ^) Seqicitur utilis quaedam tractatio, itt progressioni Arithmeticae
432
62. Kapitel.
dem wir bei Nicolas Chuquet, dem wir bei deutschen Cossisten be-
gegnet sind, für welchen wir einen italienischen Ursprung vermuthet
haben. Also ein Erfinderrecht auf den Gedanken kann man für
Stifel unter keinen Umständen in Anspruch nehmen. Ist es aber der
alte Gedanke in seiner alten Form? Diese Frage dürfte zu verneinen
sein. Stifel sucht überall einen praktischen Gewinn aus dem Ge-
danken zu ziehen, wie er diesem Nutzen auch in der Ueberschrift
titilis tractatio genügende Bedeutung beilegte. Schon die Thatsache,
dass a, a -{- d, h, h -{- d (um allgemeine Symbole zu gebrauchen)
dem Gesetze (b -\- d ) = l -{- (a -\- d) — a gehorchen, lässt ihn fol-
gern^), dass man das 4. Glied einer Regeldetri finden werde, wenn
man das Product des 2. und 3. Gliedes durch das 1. dividire, wäh-
rend bei der sogenannten umgekehrten Regeldetri die Vorschrift nur
dahin zu ändern sei, dass man das Product des 1. und 2. Gliedes
durch das 3. dividire. An späterer Stelle ist die arithmetische wie
die geometrische Reihe als nach beiden Seiten fortsetzungsfähig ge-
kennzeichnet. Eine beispielsweise Versinnlichung hat folgende Gestalt:
— 3
-2
— 1
0
1
2
3
4
5
6
Vs %
%
1|2
4
8
16
32
64
und es sei möglich, sagt Stifel hier ausdrücklich-), an dieser Stelle
ein ganz neues Buch von den wunderbaren Eigenschaften der Zahlen
einzuschalten, eine Versuchung, welcher er jedoch sich entziehen und
mit geschlossenen Augen von dannen gehen müsse. So sehr hat
Stifel mit dem Instincte des Genies die Fruchtbarkeit des Begrifi'es
empfunden, welchen wir den des Logarithmirens nennen dürfen.
Noch ist es nicht Licht geworden, aber deutlicher treten doch die
Umrisse bei Stifel als bei Chuquet hervor, und mag Stifel der Ge-
danke von Anderen überkommen sein, mag er, wie es uns mit Rück-
sicht auf die von ihm studirten Werke wahrscheinlicher däucht, in
seinem Geiste neu entstanden sein, man sieht, dass die Erfindung der
Logarithmen nun nicht gar lange mehr auf sich warten lassen wird.
Ein Kunstausdruck tritt insbesondere hier bei Stifel auf, der später
in erweitertem Sinne allgemeines Bürgerrecht erwerben sollte. Die
Glieder der arithmetischen Reihe heissen Exponenten der zu-
gehörigen Glieder der geometrischen Reihe.
respondeat Geometrica iwogressio. Arithmetica integra fol. 35 recto zu vergleichen
mit fol. 235 verso und besonders 249 verso.
^) Arithmetica integra fol. 36 recto. -) Ebenda fol. 249 verso: Posset
fere hie novus Über integer scribi de mirabilibus numerormn, sed oportet iit me hie
subditcam, et clausis ocidis abeam.
Michael Stifel. 433
Wesentlich vollkommener sind die Anschauungen, welchen Stifel
an der zweiten stets hervorgehobenen Stelle Ausdruck verleiht^). Die
Zahlen, von denen er dort sagt, dass sie zu ihren besonderen Wurzel-
ausziehungen gehören, sind nichts anderes als die Binomialcoeffi-
cienten. Es erscheint uns als sehr müssige Spitzfindelei, zweifeln
zu wollen, ob Stifel wirklich das Bewusstsein gehabt habe, dass diese
Zahlen zur Ausrechnung von (a + &)" Dienste leisten, weil er nur
deren Anwendung auf die Ausziehung )?ter Wurzeln lehre. Gewiss ist
diese Behauptung unbestreitbar wahr, aber welcher deus ex machina
konnte Stifel mit den bei den Wurzelausziehungen unentbehrlichen
Biuomialcoefficienten bekannt gemacht haben, wenn er dieselben nicht
durch Potenzerhebungen sich bildete? Fragt man aber, warum Stifel
in den Namen, den er den Binomialcoefficienten beilegt, von der
Potenzerhebung schweigt, so liegt die Antwort darauf auf der Hand.
Dass etwa 12* == 20736, konnte nach der Formel
(10 + 2)* = 10* + 4 • 103 • 2 + 6 • 102 . 22 + 4 . 10 • 2=^ + 2*
ausgerechnet werden, aber bequemer war das Verfahren allmäliger
Multiplication, und so konnte eigentlich nicht behauptet werden, die
Zahlen 4, 6 seien der Potenzerhebung eigenthümlich. Umgekehrt
konnte }/20736 = 12 nur von jener Entwickelung aus ermittelt
werden, der Wurzelausziehung waren mithin die Zahlen 4, 6 wirklich
eigenthümlich. Stifel wusste, dass er hier eine Erfindung gemacht
habe, eine Erfindung, deren Bedeutung er zu betonen wusste. Die
Vorrede zum 2. Buche war es, in welcher er folgendermassen sich
aussprach 2). Er habe die Regeln der Wurzelausziehung erheblich
vermehrt, weit über das hinaus, was Apiauus vielleicht wusste, aber
jedenfalls nicht lehrte, denn dessen Vorschriften erstreckten sich nicht
weiter als darauf, wie mau bei der Ausziehung 5. und 7. Wurzeln
Gruppen von je 5 und 7 Ziffern zu bilden habe. „Ich werde, sagt
Stifel an der ersten Stelle, wo die Binomialcoefficienten auftreten^),
die Erfindung durch folgende Tabelle mittheilen, deren Fortsetzung
ins Unendliche jeder leicht einsieht, wenn er erst die Art sie her-
zustellen erkannt hat." Dann folgt die Tabelle bis zu den Binomial-
coefficienten der 17. Potenz. (Siehe S. 434.)
Das Gesetz, nach welchem die Zahlen gebildet sind, wird aus-
führlich erörtert. Wir können es mit Hilfe jetzt gebräuchlicher
Zeichen kurz dahin aussprechen, dass Stifel von dem Satze
(:)+c;>)-'"^'
r + h
^) Arithmetica integra fol. 44 verso: De inventione numerorum, qui pecti-
liariter pertinerent ad suas species extractionum. ^) Ebenda fol. 102 recto.
^) Ebenda fol. 44 verso.
Cantob, Geschichte der Mathem. 11. 2. Aufl. 28
434
62. Kapitel.
seinen Ausgangspunkt nahm. Beim Gebrauch zur Wurzelausziehung
ist jede Horizontalzeile zu vervollständigen, indem man ihre Zahlen
rückläufig, retrograde, wiederholt, mit Ausnahme der letztgeschriebeneu
Zahl, welche sich nicht wiederholt. Bei grader Anfangszahl giebt
das eine ungrade, bei ungrader eine grade Anzahl von Gliedern^).
1
10
10
15
20
21
35
35
28
56
70
36
84
126
126
45
120
210
252
55
165
330
462
462
66
220
495
792
924
78
286
715
1287
1716
1716
91
364
1001
2002
3003
3432
105
455
1365
3003
5005
6435
120
560
1820
4368
8008
11440
136
680
2380
6188
12376
19448
6435
12870
24310
Sind diese beiden Stellen des 1. Buches der Arithmetica integra,
und besonders die zweite, diejenigen, welche als die folgewichtigsten
sich erwiesen haben, so fehlt es keineswegs an anderen gleichfalls
recht bemerkenswerthen Dingen, auf deren einige noch aufmerksam
gemacht werden mag. Schon Leonardo von Pisa hat (S. 11)
Theilbarkeitsmerkmale für die Theilung durch 2, 3, 5, 9 aufgestellt.
In Deutschland hat vermuthlich Christoph Rudolff in seinem
Rechenbuche von 1526 die gleichen Regeln^) zuerst mitgetheilt. Stifel
ging darüber hinaus, indem er^) Theilbarkeitsregelu für jeden
der Theiler 1 bis 10 angab. Die Regel für 7 dürfte ihm an-
gehören. Sie ist richtig, wenn auch zu eng, Sie behauptet nur,
7 theile jede Zahl, welche die Summe von 3, 6, 9, 12 Gliedern einer
geometrischen Progression vom Gliederquotienten 2, 4 oder 16 sei.
— Bei Besprechung vollkommener Zahlen schreibt Stifel vor^),
man solle die geometrische Reihe
4 . 8
16 . 32
64 . 128
256 . 512
etc.
^) Arithmetica integra fol. 46 recto. *) ünger S. 84. ^) Arithmetica integra
fol. 8 verso. *) Ebenda fol. 10 verso.
Michael Stifel. 435
bilden und wie in dem Schema, welches wir ihm entnehmen, je zwei
Glieder derselben von 4 und 8 beginnend zu einer Gruppe vereinigen;
das Product der kleineren Zahl in die um 1 verringerte grössere
Zahl sei alsdann stets eine vollkommene Zahl. Wir heben diese
Behauptung hervor, weil sie einen Irrthum enthält. Euklid IX, 36
wusste ganz gut, dass diese Regel nur insofern Bestand hat, als jene
um 1 verringerte grössere Zahl eine Primzahl ist, und wenn Stifel
diese einschränkende Bedingung wegliess, so glaubte er offenbar
22«+i — 1 sei immer Primzahl, ein Irrthum, von welchem er sich
schon bei dem letzten Zahlenpaare seines Schemas hätte überzeugen
können, da 511 = 7-73 und demzufolge 256 • 511 = 130816 keine
vollkommene Zahl ist. Der Begriff der vollkommenen Zahl führt
dann -v^eiter dazu, die Theiler einer Zahl aufzusuchen und ihre An-
zahl zu ermitteln, was allerdings zunächst^) nur durch gewisse Ver-
suche in Erfahrung gebracht wird. An einer späteren Stelle^) ist
die Anzahl der Theiler eines Productes von n Primzahlen zu
l-\-2-\-2--\ 1-2"~^ angegeben, wobei zwar die 1, aber nicht die
Zahl selbst als Theiler mit eingerechnet ist. Das Interessante bei diesem
letzten Satze besteht nicht bloss darin, dass Stifel ihn überhaupt
kennt, sondern dass er ihn als Satz des Cardanus bezeichnet und
dadurch zeigt, dass er eine Schrift dieses letzteren italienischen Ma-
thematikei's bereits gesehen hatte, welche gleichzeitig mit der Arith-
metica integra bei Petreius im Drucke befindlich war. Diametral-
zahlen nennt Stifel ^) das Product zweier Zahlen, deren Quadrat-
summe ein rationales Quadrat ist. Anders ausgedrückt kann man
sagen, eine Stifel'sche Diametralzahl sei der doppelte Flächeninhalt
eines pythagoräischen Dreiecks, und da jedes Sehnendreieck, dessen
eine Seite Kreisdurchmesser ist, ein rechtwinkliges Dreieck sein muss,
so giebt es viele rechtwinklige Dreiecke zu derselben Hypotenuse
und mehr als eine Diametralzahl mit gleicher Quadratsumme ihrer
beiden Factoren. Es ist z. B. 65^ = 25^ -j- 60^ = 39^ + 52^, also
sind 25 • 60 = 1500 und 39 • 52 = 2028 Diametralzahlen von gleichem
Diameter*). Es bedarf wohl kaum der Erinnerung, dass Stifel's nu-
merus diametralis etwas ganz anderes ist, als der öidiistQog Theon's
von Smyrua (Bd. I, S. 407), der einen Näherungswerth der irratio-
nalen Diagonale eines Quadrates darstellt, während bei Stifel die
^) Ärithnietica integra fol. 11 verso bis 12 verso. ^) Ebenda fol. 101 recto.
^) Ebenda fol. 14 verso figg. *) Ebenda fol. 15 verso : Possibile autem est,
unam diametrum esse plurium diametralium numerorum diametrum , ut satis
ostenditur hac flgiira sequenti, worauf ein Kreis mit dem Durchmesser 65 und
den beiden Rechtecken folgt, deren Diagonale der Durchmesser ist, während die
Seiten 25 und 60, beziehungsweise 39 und 52 sind.
28*
436 62. Kapitel.
rationale Diagonale eines Reclitecks den Ausgangspunkt liefert. Um
so mehr ist zu vermuthen, dass Stifel aus sich selbst auf diese Unter-
suchung kam, die er so weit führt, dass er behauptet, ein Product
ab sei dann und nur dann Diametralzahl, wenn
a : & = {2n- + 2n) : (2n + 1)
oder
a
h = (4;?- + 8« + 3) : (4« + 4).
Natürlich sagt er solches nicht in den hier gebrauchten allgemeinen
Symbolen, sondern so, dass er die Yerhältnisszahlen in einer der
Formen 1—, 24-, 3— • • • oder 1—, 2—, 3— • • • sucht. In der
That ist
{2)1- + 2n)- + (2m + If = (2n- + 2» -f l)"^
und
(4;r -\-8n-\- 3j- + (4« + 4)-= (4w- + Sn + bf.
Wieder eine Stifel eigen thümliche Aufgabe ist die von der circu-
lären Bezifferung^), de numeratione circulari. Ihr Wesen besteht
darin, dass die An — 4 Randfelder eines aus n^ kleinen Quadraten
bestehenden grösseren Quadrates mit Ordnungsziifern versehen werden
sollen, indem man an irgend einem Randfelde beginnend nach Ab-
zahlung einer jeweils bestimmten Felderzahl in bestimmter Richtung
eine Ordnungsziffer einsetzt, bis sämmtliche Felder mit Ausnahme
dessen, bei welchem das Abzählen angefangen hat, beziffert sind;
man fragt, wie viele Felder jedesmal abzuzählen sind, damit die Auf-
gabe erfüllt werde, welche also eine Art von Schliessungsproblem
ist. Weiter bemühte sich Stifel") um die Herstellung von Zauber-
quadraten. Nachdem Inder, Chinesen, Araber und Byzantiner
(Bd. I, S. 594, 633, 697, 480) mit dieser Zahlenspielerei sich beschäf-
tigt hatten, fand sie im XV. Jahrhunderte, wie es scheint, Eingang
in Deutschland. Aus jener Zeit stammt ein Quadrat der ersten 25
Zahlen^). Albrecht Dürer benutzte im Jahre 1514 in seinem
„Melancholie" genannten Holzschnitte das Quadrat der ersten IG Zahlen
in der Form:
^) Arithmetica integm fol. 16 verso. Vergl. G i e s i n g 1. c. S. 45 — 50.
-) Ebenda fol. 24 verso bis 30 recto. Vergl. Günther, Vermischte Unter-
suchungen zur Geschichte der mathematischen Wissenschaften (Leipzig 1876),
Kap. IV Historische Studien über die magischen Quadrate (besonders S. 220 — 228)
und Giesing I.e. S. 56— 61, endlich Fontes, Sur Us carres ä horäure de Stifel
in den Veröffentlichungen der Association Fran9aise pour l'avancement des
sciences (Congres de Bordeaux 1895). ^) Curtze brieflich.
Michael Stifel.
437
1
14
15
4
12
'
6
9
8
11
10
5
13
2 ' 3 1 16
Agrippa von Nettesheim (1487 — 1535) hat alsdann in seinem
Werke JDe oceidta philosophia (1533) eine ganze Anzahl von Zauber-
quadraten sowohl mit grader als ungrader Seitenzahl beschrieben.
Jedem Planeten ist ein bestimmtes Zauberquadrat eigen und hat ent-
sprechende geheimnissYolle Eigenschaften. Der erste Mathematiker,
welcher in Deutschland mit Zauberquadraten sich beschäftigte, war
Adam Riese (S. 422). Er that dieses am Ausführlichsten in seiner
Rechnung nach der Lenge von 1550, welche mithin späteren Datums
als die Arithmetica integra ist^ womit unsere Bezeichnung Riese's als
erster deutscher Mathematiker, welcher die Frage in Angriff nahm,
hinfällig würde, aber Riese beruft sich in diesem späteren Werke
ausdrücklich auf das Rechenbuch von 1522, in welchem er gleichfalls
schon eine Vorschrift zur Bildung von Zauberquadraten gegeben habe.
Wir haben nichts weniger als die Absicht, auf den für die Gesammt-
entwickelung der Mathematik sehr nebensächlichen Gegenstand näher
einzugehen, aber bemerken müssen wir doch, dass Riese's Regel und
die nach ihr gebildeten Quadrate von denen Stifel's verschieden sind
und die Selbständigkeit beider Schriftsteller von einander verbürgen.
Damit ist auch für Riese eine gewisse zahlentheoretische Begabung
festgestellt, wenn auch nicht in dem hohen Grade wie für Stifel,
dessen dahin sich neigende Geistesrichtung durch alle Einzelheiten,
welche wir angaben, bezeugt wird. Wir können uns dafür auch auf
ein Kunststückchen Stifel's berufen^), welchem wir nirgend anderswo
begegnet zu sein uns erinnern können. Man lasse eine n- z. B-
zweiziffrige Zahl x denken, und merke sich eine Zahl a von der Be-
schaffenheit, dass a{a -{- 1) eine n -\- 1-ziffrige Zahl werde, z. B. a = 10,
a{a-\- 1) = 110. Dann lasse man sich die Reste r^, rg sagen, welche
die Divisionen — , — r^r übrig lassen. Bildet man alsdann für sich
a ' « -f- 1 "^
r^fa-f" 1) + ^\(f'^'^) = S, so ist nach Stifel's Behauptung x immer der
S
Rest, welcher bei der Division übrig bleibt. Die Richtigkeit
seiner Vorschrift ist unter Anwendung des Symbols E ( — ) zur Be-
^) AritJimetica integra fol. 38 verso.
438 62. Kapitel.
Zeichnung der grössten in ~ steckenden ganzen Zahl leicht zu er-
weisen. Offenbar lassen sich die Reste t\, r., als
r, = ^-a-E{^), ,, = . - (« + 1)-EC-+^)
schreiben j und alsdann folgt
S= (» + l)a:-a{a + 1)e[^) + a'x - aHa + r)B[--^^
= . + «.(«+ l)[.-£(i)-a£(-^^)]
und damit ist Stifel's Regel schon gerechtfertigt^), sofern der in
eckigen Klammern stehende Ausdruck nicht negativ ausfallen kann.
Das ist aber unmöglich, denn a(a -\- 1) > a; und S ist seiner Ent-
stehung nach positiv. Wäre also das ganzzahlige
^(f)
aE\
\,a -\- 1/
negativ, so würde es mit a(a -\- 1) vervielfacht absolut genommen
grösser als x sein, mithin ein negatives ;S^ hervorbringen. Ob freilich
Stifel bereits eine derartige Ueberlegung anstellte, dafür sind wir
ohne jeglichen Anhaltspunkt.
Das 2. Buch ist, wie wir schon ankündigten, den Irrationalen
gewidmet. Gleich zu Anfang steht der wichtige Satz: Impossible
est ut ex muUijüicatione fracfi in se fiat numerus integer"), aus der
Multiplication eines Bruches mit sich selbst könne niemals eine ganze
Zahl entstehen. Gehe nämlich schon der Nenner des Bruches nicht
in dessen Zähler auf, so könne noch weniger das Quadrat, der
Kubus u. s. w. des Nenners in dem Quadrate, dem Kubus u. s. w.
des Zählers aufgehen. Kein Irrationales könne demnach einem Ra-
tionalen gleich sein, wenn es auch zwischen zwei rationale Zahlen
falle. Euklid leugne deshalb die Zahleneigenschaft des Irrationalen
und handle in seinem ganzen X. Buche nur von irrationalen Strecken.
Stifel schliesst sich soweit an, dass sein ganzes zweites Buch der
Arithmetica integra als Erläuterung zu jenem schwierigen euklidischen
Buche aufgefasst werden kann. Eine Frage, mit welcher Stifel sich
sehr eingehend beschäftigt hat, ist die nach den Gründen der
*) Die gleichzeitig zu erfüllenden Congruenzen x ^^ r^ (mod a) und
X ^ »j (mod a + 1) erfordern x ^ {a -\- l)ri — ar^ (mod aia -f- 1)). Addirt
man, um das mögliche Auftreten einer negativen Zahl zu vermeiden, rechts
noch a(a -\- 1))\, so erscheint:
x^ {a -{- 1) j-j -f rt*r, (mod aia -}- 1)).
Aber solcher Schlüsse war Stifel ge-\v-iss nicht fähig. -) Arithmetica integra
fol. 103 verso.
Michael Stifel. 439
Verschiedenheit der Euklidübersetzung des Campanus von
derjenigen, welcher unmittelbar die Theon'sche Ausgabe
zu Grunde lag^). Es sei schon möglich, dass erstere mitunter die
richtigere Reihenfolge der Sätze darbiete als Theon, in dessen Hände
die euklidischen Elemente doch erst nach mehreren Jahrhunderten
gelangt seien, und euklidische Sätze seien doch kein Evangelium, ein
freieres Urtheil sei daher statthaft. Die Beweise vollends hielt Stifel
auf die Aussage seiner des Griechischen kundigen Freunde hin^) für
Theonisches Beiwerk.
Bei diesen im 2. Buche gegebenen Erläuterungen — oder sollen
wir sie eine algebraische Uebersetzung des geometrischen Textes
nennen? — sind verschiedene Zeichen in Anwendung. Vor allem
erscheinen hier die Zeichen -|- und — , dann aber auch Wurzel-
zeichen von verschiedenen Wurzelexponenten, sämmtlich durch y
dargestellt, welchem alsdann ein die Art der Wurzel näher bezeich-
nender Buchstabe folgt ^). Die Wurzeln von der zweiten bis zur
dreizehnten sehen demnach so aus:
Vh yce, yu, y^, yh^> VH, Vm, V^^^e, Vh^, yc§, Vu^t, Vd^-
Bezieht sich ein Wurzelzeichen auf additiv oder subtractiv vereinigte
Grössen, so hat es einen Punkt hinter sich z. B.
ys • VS 20 - 4 — |/f^8 =]/]/2Ö - 4 - >/8.
Beim Rechnen mit den Zeichen -\- und — wird die Regel auf-
gestellt^): Ä ponit M et S ponit S. Das ist eine von den Gedächt-
nisshilfen, an welchen die Zeit reich war, und von welchen zahlreiche
Beispiele anzuführen nicht schwer hielte. Der Sinn der Regel ist
der, dass bei der Addition ungleichbezeichneter Zahlen Major, die
grössere Zahl, den Ausschlag gebe, bei der Subtraction solcher Zahlen
dagegen immer das Vorzeichen des Superior, der oben stehenden
Zahl, zu nehmen sei.
Uebrigens giebt das 2. Buch auch Veranlassung zu Aeusserungen
Stifel's über geometrische Dinge. Er verweist für die Netze von
Vielflächnern auf Albrecht Dürer ^) und bringt in dem Druckfehler-
verzeichnisse am Ende des ganzen Bandes diese Netze selbst. Er ver-
weist ausserdem einmal^) auf -eine Geometrie, welche er selbst zu
schreiben beabsichtigte.' Von einer Ausführung dieser Absicht ist
nichts bekannt, wir haben indessen keinen Grund, das Unterbleiben
') Arithmetica integra fol. 158 verso. *) Ebenda fol. 143 verso. ^) Ebenda
fol. 109 recto und häufiger. *) Ebenda fol. 124 recto. ^) Ebenda fol. 211
recto. '') Ebenda fol. 226 recto: Sed de his Omnibus suo loco in Geometria
rnea dicam latius.
440
62. Kapitel.
besonders zu beklagen, wenn wir die einzige Stelle beachten, an
welcher Stifel als eigentlicher Geometer sich kundgiebt^). Zwischen
(Figur 80) AB und dem doppelt so grossen AC , welches zu AB
senkrecht gezeichnet ist, sollen zwei mittlere
Proportionalen eingeschaltet werden. Stifel
halbirt AC in D, AD in E, AE in F,
EF in I und beschreibt um / als Mittel-
punkt mit IG als Halbmesser den Halb-
kreis CLSK. Dann wird um 31, Halbi-
rungspunkt der BL, als Mittelpunkt mit
ML als Halbmesser der Halbkreis LGB
beschrieben und behauptet, es sei
AB:AK=AK:AL=AL:AG.
Der Irrthum besteht, wie leicht ersichtlich, darin, dass angenom-
men wird, der zweite Halbkreis gehe gleichfalls durch den Punkt K,
was nicht der Fall ist. Ist nämlich AB = a, AC == 2a, so ist
CI=^a
AK=^a, AL =]/2a ■ ~a = ciY
Schneidet nun der Halbkreis LGB die verlängerte CA in K', so ist
i , —
AK' ='\/ AB • AE= ay ~ und sollte K' mit K zusammenfallen,
so müsste -^ et = «1/4- sein oder — = )/2 . Nicht viel vertrauen-
erweckender ist ein Anhang zum zweiten Buche über die Quadratur
des Kreises^), in welchem der mathematische Kreis von dem physischen
unterschieden und diesem die Quadrirbarkeit zugeschrieben, jenem
aber desshalb abgesprochen wird, weil der Kreis ein Unendlichvieleck
sei, die unendliche Zahl aber nicht angegeben werden könne.
Im 3. Buche der Arithmetica integra ist die Algebra ent-
halten. Man habe Regeln in Fülle aufgestellt und ihnen lächerliche
Namen beigelegt^). Da gab es Begulae aequalitatis, separationis,
transversionis , commixtionis , positionis , legis, augmenti, decrementi,
pluris, residui, collectionis, man könne sie alle zusammen als Menschen-
quälerei, vexationes poptdi, bezeichnen. Statt dessen genüge die ein-
zige Regel des Algebras, welche so lautet '^) : „Ist eine unbekannte
Zahl zu finden, so setze man statt ihrer 1 Coss (wir schreiben dafür
1 5f), und ist alsdann eine Gleichung hergestellt, so bringe man sie
auf eine wo möglich einfachere Form. Dann theile man durch die
^) Arithmetica integra fol. 119 verso flgg. Vergl. Treutlein, Die deutsche
Coss. Zeitschr. Math. Phys. XXIV, Supplementheft S. 53. «) Ebenda fol. 224
recto bis 226 recto. ^) Ebenda fol. 227 recto. *) Ebenda fol. 227 verso.
Michael Stifel. 441
mit der höchsten cossischen Grösse verbundene Zahl das ihr Gleich-
gesetzte mit seiner Benennung. So erscheint immer die unbekannte
Zahl entweder als der Quotient oder als eine Wurzel desselben. Ist
aber eine Wurzel auszuziehen, so giebt das diejenige cossische Grösse,
von welcher der Divisor hergenommen wurde, durch ihr cossisches
Zeichen schon zu erkennen."
Wir werden uns später überzeugen, dass Stifel hier in einiger
Abhängigkeit von Cardanus sich befindet. Im Uebrigen muss an
das Zeichen Bf eine Bemerkung geknüpft werden. Dass es aller
Wahrscheinlichkeit nach als der Buchstabe r zu deuten ist, haben
wir gesagt, als es zum ersten Male vorkam, aber warum r? Die
nächstliegende Yermuthung, unterstützt durch die Worte 1 Coss {nos
autem ponimus 1 Sf), wird die sein an res als Uebersetzung von Coss,
cosa zu denken, dessen Anfangsbuchstabe gewählt wurde; aber nichts
wäre irriger. Viele Stellen, an welchen neben Bf das Wort radix
abgedruckt ist, beweisen dass jenes Zeichen so zu deuten ist, und
ganz unwiderlegbar ist in dieser Beziehung eine Stelle, wo es heisst
quaerenda erit 1 Bf de quotiente^), man suche die Wurzel des Quotien-
ten, wo also Bf überhaupt kein Symbol der Unbekannten, sondern
einfach eine Abkürzung für radix ist.
Die eine Regel, deren Wortlaut wir angegeben haben, ersetze,
sagt StifeP), die 8 Regeln, welche Rudolff, sowie die 24, welche
Andere aufzustellen für nöthig fanden, und sie ist unschuldig daran,
wenn man eine durch sie geforderte Operation nicht auszuführen im
Stande ist, wie z. B. wenn man aus x^ == bx^ -f- 192 nicht weiss
X = 8 abzuleiten. Zweite Wurzeln, radices secundae, werden weitere
in der Gleichung vorkommende Unbekannte genannt^). Als Zeichen
für sie sind neben Bf die Initialen Ä, B, C, D . . . in Gebrauch, aber
man soll sie nur dann anwenden, wenn es nicht möglich ist mit
einer Unbekannten auszukommen^). Die höheren Potenzen der zweiten
Wurzeln heissen J.5, Äcf, Ä^ u. s. w. Die so zu sagen regelrechte
Anordnung der aequatio reduda ist nach Stifel's allgemeiner Vor-
schrift die, bei welcher die höchste Potenz der Unbekannten mit
positivem i^ahlencoefficienten auf der einen, alles Uebrige auf der andern
Seite steht. Stifel benutzt aber auch jede andere Anordnung, ja in
einem Falle bringt er die Gleichung auf NulP),
116 + ]/5 41472 — 18 Sf — yj 648 5 aequantur 0,
^) Ärithmetiea integra fol. 2.33 verso. Man vergleiche ferner 235 verso, 267
verso u. s. w. «) Ebenda fol. 2.50 verso. ^) Ebenda fol. 251 verso. •*) Ebenda
fol. 252 verso: Persuade tibi peecatum esse, si per plura fluni qiiae possunt fieri
per pauciora. ^) Ebenda fol. 283 recto.
442 62. Kapitel.
wahrscheinlich das erste solche Vorkommen und damit ein allerdings
durchaus unbewusstes Muster für die Zukunft.
Wenn wir sagten, Stifel habe jede Anordnung der Gleichung
benutzt, so müssen wir nachträglich eine einzige Anordnung davon
ausnehmen. Es kommt nie vor, dass lauter Glieder mit positiven
Vorzeichen solchen mit ausschliesslich negativen Vorzeichen gleich
gesetzt werden, weil solche Gleichungen durch positive Wurzelwerthe
nicht erfüllt werden können, für Stifel aber nur positive Gleichungs-
wurzeln einen Sinn haben. Auch bei den quadratischen Gleichungen
hat in seiner Behandlung nur die Form ax^ = hx — c die beiden
Wurzeln ^ = -^ :jz^>~y^^ — 4ac, weil beide positiv werden; dass
4ac>&^ sein könnte, wird gar nicht in Betracht gezogen. Doch
bedurfte dieses kaum der Hervorhebung, denn diese Beschränkung
des Wurzelbegriffes ist allen deutschen Cossisten gemein, wenn wir
auch nicht für nothwendig hielten, bei jedem einzelnen Schriftsteller
besonders darauf hinzuweisen.
Was Stifel auszeichnet, oder womit er wenigstens aus dem Kreise
der deutschen Cossisten heraustrat, das ist die Erklärung der
negativen Zahl als kleiner als Null, welche mit ihm ihren Ein-
zug in die Mathematik hielt, um Jahrhunderte lang nicht mehr aus
ihr zu verschwinden. Finguntiir numeri minores niJiilo ut sunt 0 — 3,
0 — 8 etc. sagt Stifel schon in seinem 1. Buche ^), und im 3. Buche
häufen sich die Stellen^), wo die negativen oder mit Stifel zu reden
die absurden Zahlen für kleiner als Null erklärt werden. Da heisst
es: 0 i. e. nihil (quod mcdiat inter numeros veros et numcros ahsurdos).
Da wird darauf hingewiesen, dass bei absurden Zahlen Alles absurd
oder verkehrt, absurde sive inverse, geschehe; bei wirklichen Zahlen,
in veris numeris, bringe die Subtraction Verminderung hervor, bei
absurden dagegen Vermehrung. Ob bei dieser Auffassung an eine
Abhängigkeit von Paciuolo (S. 319) zu denken ist, scheint sehr
zweifelhaft.
Zum Schlüsse des 3. Buches ist eine ganze Anzahl von schwieri-
geren algebraischen Aufgaben des Cardanus behandelt. Bald sind
es solche, die auf Gleichungen 4. und 3. Grades führen, bald solche,
die nur 2. Grades sich dadurch auszeichnen, dass es auf geschickte
Wahl der Unbekannten ankommt. Die Gleichungen 4. Grades werden
so gelöst, dass beide Seiten der Gleichung zu vollständigen Quadraten
ergänzt werden, um dann durch beiderseitige Wurzelausziehung eine
nur noch quadratische Gleichung zu liefern. Bei den Gleichungen
^) Arithmetica integra fol. 48 recto. *) Ebenda fol. 248 verso bis 250 verso.
Michael Stifel. 443
3. Grades findet die Zurückführung auf einen niedrigeren Grad da-
durcli statt, dass wieder beiderseitige Ergänzungen vorgenommen
werden, welche diesmal keine Wurzelausziehung, aber die Division
durch einen beiden Seiten gemeinsamen Factor gestatten. Zurück-
führung von einem höheren auf einen niedrigeren Grad ist also der
Zweck, aber ein einheitliches Verfahren zur Erreichung des Zweckes
ist nicht vorhanden, sondern immer neue besondere KunstgrifiFe müssen
geübt werden.
Nur ein Jahr später als die Arithmetica integra erschien 1545
bei dem gleichen Drucker Johann Petreius in Nürnberg die „Deutsche
Arithmetica inhaltend die Haussrechnung, deutsche Coss,
Kirchrechnung". Das Titelblatt enthält noch eine Lobpreisung
des Inhaltes in folgender Fassung: „Mein lieber Leser, Nach dem die
Coss (welche ist ein Kuustrechnung der gantzen Arithmetick) bissher
den Deutschen mit vil frembden worden, vermangt und verblend,
schwer ist gewesen, So weit sie hie mit new erfundenen vortheil
vnnd Regeln, sehr leicht vnd kurtz herfur bracht vnd gelehrt vnd
mit guten Deutschen bekantlichen Worten vnd Exempeln erweyset.
Das ander so hierin gelert wird von der Haussrechnung vnd Kirch-
rechnung bringt seinen bericht genugsam mit sich. Alles durch Herr
Michael Stifel, auff eine besondere newe vnd leichte weis gestellet."
Ist schon diese Empfehlung des Buches und die deutsche Sprache, in
welcher es verfasst ist, dazu angethan, einen anderen Leserkreis als
denjenigen, für welchen Stifel seine Arithmetica integra geschrieben
hatte, vermuthen zu lassen, so wird die Vermuthung zur Gewissheit
durch den Ausspruch^) „sollichen geübten leuthen schreibe ich hie in
diesem büchlin gar nichts, wie ich mich des bedingt hab bey dem
anfang". Dem weniger wissenschaftlichen Zwecke entsprechend be-
schränkt sich Stifel wesentlich auf das Rechnen auf den Linien.
Dieses freilich lehrt er in seinem ganzen Umfange, und er zeigt eben
so gut, wie man das Halbiren mit Rechenpfennigen vollzieht^), als
deren Gebrauch zum Wurzelausziehen ^). Dass das Halbiren sich
noch erhielt, während das Verdoppeln abhanden gekommen ist, mag
dadurch entschuldigt sein, dass es in der That bei Anwendung von
Rechenpfennigen besonders leicht auszuüben war. Lagen Rechen-
pfennige in grader Anzahl auf einer Linie, so nahm man die Hälfte
derselben fort, ein überschiessender einzelner Rechenpfennig wurde
auf das darunter befindliche Spacium geschoben*). Die Wurzelaus-
ziehung auf den Linien hatte Köbel gelehrt (S. 420), aber Stifel
') Haussrechnung fol. 5 recto. *) Ebenda fol. 6 recto. Von dem halbiren
und vom greyffen der Linien. ^ Ebenda fol. 43 verso bis 48 verso. *) Ebenda
fol. 1 verso: Spacium ist ein feld zwischen zweien Linien.
444 62. Kapitel.
geht über ihn hinaus. Er zeigt nicht bloss an |/82573569 = 9087
die Quadratwurzelausziehimg, er lehrt auch die Kubikwurzelausziehung
i/644972544 = 864 mittels Rechenpfennigen und versteigt sich sogar
bis zu y614656 == 28. Letzteres Ergebniss wird allerdings in der
Gestalt y"|/6l4656 = VlSi = 28 durch doppelte Quadratwurzelaus-
ziehung gefunden, trotzdem an anderer Stelle der Haussrechnung ^)
die Binomialcoefficienten bis zur 16. Zeile, also nur um eine Zeile
gegen die Arithmetica integra verkürzt, abgedruckt sind. Man könne,
sagt er dabei, die Anwendung der Tabelle wie die Bildung ihrer
Zahlen aus einander leicht verstehen, „wer sich aber selbs nich kan
drauss verrichten, mag jm solliche zeygen lassen".
Die Wurzelzeichen sind von denen der Arithmetica integra ver-
schieden. Statt ys, yct, "j/fiff ist hier z/, 2,, |, angegeben^). Die
Zeichen der Addition und Subtraction sind geblieben. Für Multi-
plication und Division sind neue Zeichen hinzugekommen^): „wie
mau addiret durch das zeichen -f- also multipliciret ich durch das
zeichen 211 und dividiret durch das Zeichen V", wobei es auffallen
mag, dass diese letzten dem Wortlaute nach von Stifel selbst er-
fundenen Zeichen ausser hier, wo sie dem Leser vorgestellt werden,
in der ganzen Haussrechnung nicht ein einziges Mal vorkommen.
Ausser dem gemeinen Rechnen, welches „jederman seine Kinder,
wenigstens die Knaben, lernen lassen sollte"^), wird in einem zweiten
Theile auch die deutsche Coss gelehrt, worunter verstanden ist,
dass bei der Auseinandersetzung deutsche Ausdrücke und nicht Fremd
Wörter benutzt werden sollen, von welchen Rudolff's Coss. wimmle^).
So heisst z. B. die unbekannte Zahl nicht cosa, sondern Suui. und
beim Multipliciren wird diese Silbe nur mehrmals wiederholt, ähnlich
wie man es mit Zahlen mache, welche Nullen als Randziffern be-
sitzen^). Die Multiplication von 20000 mit 3000 giebt 2 mal 3 oder
6 mit 4 und 3 oder 7 Nullen; die Multiplication von 6 sum sum sum
mit 12 sum sum sum giebt 6 mal 12 oder 72 sum sum sum sum sum
sum. Sollen mehrere ungere ebnete d. h. unbekannte Zahlen unter-
schieden werden, so nenne man sie Sum A, Sum B u. s. w.''). Dann
wird auf derselben Blattseite fortfahrend die Regel der Coss gegeben,
welche natürlich dem Sinne nach mit jener übereinstimmt, die wir
der Arithmetica integra entnahmen. Die behandelten Aufgaben führen
bis zu gemischten quadratischen Gleichungen^).
Endlich schliesst sich an die deutsche Coss noch der dritte Theil
^) Haussrechnung fol. 71 verso. ') Ebenda fol. 61 verso. ^) Ebenda fol. 74
recto. \) Ebenda, Vorrede. - ®) Ebenda fol. 17 verso. ®) Ebenda fol. 20
verso. ') Ebenda fol. 22 recto. ®) Ebenda fol. 50 recto flgg.
Michael Stifel.
445
von der Kirchenrechnung^), „die man nennet Computum Eccle-
siasticum". Wir heben aus diesem dritten Theile nur einen deutschen
Cisojanus^) hervor, d. h. Reimverse, vrelche für jeden Monat aus
so vielen Silben bestehen, als der Monat Tage hat, und in welchen
die Hauptfeiertage genannt sind, so dass wieder ihre Anfangssilben
mit dem Datum der betreffenden Tage zusammenfallen. Für Juni,
oder mit dem von Stifel gebrauchten deutschen Namen für den
Brachmonat ist z. B. folgende Strophe vorhanden:
Alweg bald nach Pfingsten
Haben wir den tag am lingsten.
Veyt macht ein kurtzes Metrum
Wie Sant Johannes suche Petrum.
Von den 30 Silben dieser Strophe ist die 15. Veyt, die 24. Sant, die
29. Pet und damit soll gesagt sein Juni habe 30 Tage und am 15. Juni
sei Veit, am 24. Johanni, am 29. Peter und Paul. Ueberdies sollen
die beiden ersten Zeilen dem Gedächtnisse einprägen, dass Pfingsten
und auch der längste Tag in den Monat fallen.
Wir kommen zur dritten von uns zu besprechenden Veröffent-
lichung Stifel's, zu der Ausgabe der Rudolff'schen Coss von
1553. Wir haben erwähnt, dass zahlreiche Zusätze zu dem vorhan-
denen Texte von Stifel herrühren, und in diesen Zusätzen begegnen wir
Manchem wieder, was in der Arithmetica integra bemerkenswerth
erschien. Da finden wir die Theilbarkeitsregeln der Zahlen^), da die
Tafel der Binomialcoefficienten^), allerdings dahin abgeändert, dass
sie nur bis zur 7. Potenz reicht, dafür aber sämmtliche Coefficienten
enthält, ohne dass an den Benutzer die Anforderung gestellt würde,
das nur zur Hälfte Angegebene rückwärtsgehend zu ergänzen. Die
Tafel sieht nämlich hier so aus :
U-
2
1
1
1
ict.
3
3
lää-
4
6
4
iB-
5
10
10
5
1
Hct.
6
15
20
15
6
1
im
'
21
35
35
21
7
1
^) Haussrechnung fol. 75 recto flgg. *) Ebenda fol. 76 verso flgg. Ueber
den Cisojanus vergl. K. Pickel, I>as heilige Namenbuch (Strassburg 1878) S. 19.
3) Coss fol. 23 verso. *) Ebenda fol. 168 recto.
446 62. Kapitel.
und uuter der Tafel steht: „So weyt ist yetzt genug." In einem Zu-
sätze finden wir auch wieder die Eegel der Coss^), welche alle 24
alten Regeln in sich schliessen soll und unmittelbar an dieselbe an-
knüpfend „die vorige Regel mit wenigem Worten. Für das facit
deiner auffgab setz 1 Sf. Handle da mit nach der auifgab bis du
kommest auff ein equatz. Die selbige reducir so lang bis du sihest
das 1 Sf resoluirt ist." In den Zusätzen lehnt sich Stifel so weit an
die Rudolff'sche Bezeichnung der Wurzelgrössen (S. 399) an, dass er
bei der Quadratwurzel den kennzeichnenden Wurzelexponenten 3 weg-
lässt und damit ist dem Zeichen y" die Bedeutung als Quadrat-
wurzel errungen, welche es hinfort behielt.
Ein Zusatz^) lehrt die Kubikwurzelausziehung aus 45 -f-]/ 1682.
Man bilde 45^ — 1682 = 343; man nehme y 343= 7-, man suche die
Ergänzung von 7 zu einer Quadratzahl, etwa 2 weil 1 -\- 2 = 3^, und
sehe zu, ob der Radicaud 1682 durch sie getheilt einen quadratischen
Quotienten giebt; ist dieses, wie hier, der Fall, indem --^ = 29' ist,
so bleibe man bei der gewählten Ergänzung stehen und hat 3-|-l/2
als die gewünschte Kubikwurzel. Einen Beweis des Verfahrens giebt
Stifel nicht. Um dasselbe zu verstehen, setzen wir
ya-j-yb = a-\- Yß
und erheben auf die dritte Potenz. Gleichsetzung der beiderseitigen
rationalen und irrationalen Bestandtheile gieht
a = a''-\- 3a/3, b = /3(3a- + ßf = 9a^/3 + 6a' ß- -{- ß\
a- — & = «6 _ 3^4^ _|_ 3^2 ^2 _ ^3 _ (^^2 _ ^^3
a- — ß = ya^ — b
und das ist die in dem Beispiele enthaltene Zahl 7. Diese muss durch
die Zahl ß zum Quadrate «^ ergänzt werden, zugleich muss aber auch
— = (ßa^ -\- ßf ein Quadrat sein. Der einzige Maugel an Stifel's
Verfahren besteht also darin, dass er sich damit begnügt zu wissen,
^.— = 29^ sei Quadrat, ohne sich zu vergewissern , ob
29 = 3«^ _|_ ^ = 3 . 32 _j_ 2 ist.
Unter dem Titel Beschlussexempeln, und zwar als deren erstes
sind die befreundeten Zahlen 220 und 284 angegeben ^J, wenn auch
dieser Name fehlt.
Ein anderer unmittelbar vorhergehender Zusatz endlich"*) enthält
^) Coss fol. 147 verso. *) Ebenda ibl. 481 recto und verso. ^) Ebenda
fol. 486 verso. *) Ebenda fol. 483 verso bis 486 recto.
Michael Stifel. 447
die Regel des Scipioue Del Ferro zur Auf lösung kubischer Glei-
chungen und Beispiele dazu, welche Stifel aus den Schriften des Car-
danus kennen gelernt hatte. Wir müssen uns hier mit dieser dürf-
tigen Angabe begnügen, da wir die Regel selbst und die Geschichte
ihrer Erfindung und Veröffentlichung erst dann zu behandeln haben,
wenn wir mit den italienischen Mathematikern des XVI. Jahrhunderts
uns beschäftigen werden.
Als Anhang zu seiner Ausgabe der Rudolff'schen Coss hat Stifel
auch seine Wortrechnung abdrucken lassen. Sie setzt die Pagi-
nirung der Coss nicht einfach fort, sondern ist nur nach Buchstaben
bezeichnet. Die Sache verhält sich folgendermassen: Stifel war, als
er die Coss sammt der Wortrechnung dem Drucker in Königsberg
überlieferte, noch Geistlicher in Haberstrom bei Königsberg, hatte
aber die Aussicht oder wenigstens die Hoffnung, demnächst wieder
in die Nähe von Wittenberg zurückkehren zu können. Da bat er
denn, man möge die Wortrechnung zuerst in Angriff nehmen, so
lange er noch selbst den Druck überwachen könne, weil hierbei der
unbedeutendste Fehler von ungemeiner Tragweite sei, und diesen
Wunsch wird der Drucker wohl erfüllt haben. Die an sich gering-
fügige Thatsache ist geradezu kennzeichnend für Stifel und für die
Wichtigkeit, die er seiner Wortrechnung beilegte. Ebendasselbe lässt
sich aus der Ausführlichkeit erkennen, mit welcher er über die Ent-
stehung der Wortrechnung berichtet ^). Er war noch Augustiner-
mönch in Esslingen, aber innerlich dem Mönchsthum seit 1520 ent-
fremdet, als er die ersten Deutungsversuche an den geheimnissvollen
Zahlen der Apokalypse anstellte. Dass die Zahl 666 nur auf Leo X.,
der von 1513 bis 1521 den päpstlichen Thron innehatte, gehen könne,
war ihm klar, nur bildeten die in Leo DeCIMVs enthaltenen Zahlen-
buchstaben MDCLVI = 1656 eine Zahl, welche um 1000 zu gross,
um 10 zu klein war. Daran erkannte er die Nothwendigkeit, dem
Worte decimus noch das Zahlzeichen X folgen zu lassen, und las man
nun M nicht als 1000, sondern als Mysterium, so war die Sache im
Reinen. Der erste Erfolg spornte Stifel an. Weiteres zu suchen.
Als Hofprediger zu Mansfeld kam er auf den Gedanken, nicht bloss
einzelne Buchstaben einer Wortverbindung mit Zahlenbedeutung zu
versehen, sondern alle Buchstaben. Ganz neu war das nicht, denn
abgesehen von der jüdischen Gematria (Bd. I, S. 96) hatte auch
Rudolff seiner Coss eine Wortrechnung einverleibt-), der zufolge die
Buchstaben A bis Z der Reihe nach die natürlichen Zahlenwerthe 1
*) Die acht ersten Seiten der Wortrechnung (der ganze Buchstabe A) han-
deln davon. ^) Coss fol. 488.
448 62. Kapitel.
bis 24 erhalten sollten. Den Anfangsbuchstaben eines Geheimwortes
solle man durch Bf , die folgenden, je nachdem sie im Alphabete früher
oder später erscheinen, durch Bf verbunden mit angegebenen abzüg-
lichen oder hinzuzufügenden Zahlen darstellen, endlich solle man Bf
als Wurzel einer Gleichung benutzen, welche dem Kundigen den
Zahlen- beziehungsweise Buchstabenwerth von Bf und damit schliess-
lich das Geheimwort selbst enthüllen werde. Aber Stifel's Entdeckung
war anders geartet. Er gab den Buchstaben A, B, C bis Z den Werth
der auf einander folgenden Dreieckszahlen ^) 1, 3, G bis 27G und
suchte nun Wörter auf, deren Buchstabensumme die räthselhaften
Zahlen der Apokalypse und des Buches Daniel waren. Diese Rech-
nung zeigte er Luther, welcher aber meinte, es wäre nichts gewisses
daran, und so „Hess ichs gar fallen bis auff das Jahr 1532". Im ge-
nannten Jahre gab Stifel, ohne seinen Namen zu nennen, ein Büchelcheu
heraus, in welchem „die Zahlen Danielis misbrauchet" waren, so dass
„ungeschickt und ungereimt gerechnet ist", und der Weltuntergang
auf eine bestimmte Stunde eines bestimmten Tages vorhergesagt
wurde, aber nicht eintraf. Volle 14 Jakre unterbrach Stifel seine
W^ortrechnungen, bis er im Bade sitzend erkannte, dass die Buch-
staben des Satzes vae tibi Fapa vae tibi als Dreieckszahlen addirt die
Summe 1260 gaben, welche Zahl in der Apokalypse XI, 3 und XII, (3
vorkommt. Von da an war ihm kein Zweifel mehr möglich, und er
entdeckte nicht nur eine Wortverbindung, sondern ganze Blätter voll
von mehr oder weniger zusammenhängenden Sätzen, so dass jeder
Satz die gleiche Bachstabensumme bildet, welche jedesmal eine der
Zahlen ist, in welche die genannten Bücher der Heiligen Schrift die
tiefsten Geheimnisse versiegelt sein lassen wollen. Es kann natürlich
hier auf die immerhin grossen Scharfsinn beanspruchende Spielerei
nicht weiter eingegangen werden. Was wir darüber erzählt haben,
war fast schon zu viel, wenn es nicht aus mehreren Gründen noth-
wendig gewesen wäre. Erstens erfahren wir dadurch, dass, wie wir
bei den biographischen Angaben schon sagten, Stifel mindestens mit
den Dreieckszahlen schon bekannt war, bevor er die liudolfif'sche Coss
studirte. Zweitens bewährt sich in der Wortrechnung der gleiche
auf das innere Wesen der Zahl gerichtete Geist, von welchem wir
in der Arithmetica integra, als dem wissenschaftlichen Hauptwerke
Stifel's, anderweitige Spuren deutlich erkennen durften.
Wir sind damit in den Stand gesetzt, ein endgiltiges Urtheil
') Unter Dreieckszahlen versteht mau bekanntlich (Bd. I. R. 149) Zahlen
. „ nCn 4- 1)
von der Form -^ ' — - ■
Deutsclie Geometer. Englische Mathematiker. 449
über Stifel dahin zusammenzufassen, dass wir in ihm einen nicht
bloss Fremdes wiedergebenden und allenfalls in Einzelheiten verbes-
sernden, sondern geradezu einen, wenn auch leider von Verschroben-
heiten nicht freien, schöpferischen mathematischen Geist zu bewun-
dern haben, den ersten grossen deutschen Zahlentheoretiker der Zeit
nach, einen der Ersten für alle Zeiten, sofern man erwägt, dass er so
gut wie ganz unberührte Aufgaben sich gestellt hat. Dadurch tritt er
gewaltig aus der Schaar der deutschen Rechenmeister und Cossisten
der ersten Hälfte des XVI. Jahrhunderts hervor und bezeichnet einen
Höhepunkt, der vorher nie erreicht war, von dem es nach Stifel's
Tode für eine ziemliche Zeit nur ein Herabsteigen gab.
63. Kapitel.
Deutsclie Geometer. Engliselie Matliematikei'.
Wir gelangen nun zu den deutschen Geometer n. An einen
dürftigen Zustand des geometrischen Denkens und Wissens in der
grossen Menge der Gebildeten haben uns einige Schriftsteller ge-
wöhnt, welche wir nebenbei auf ihre Thätigkeit auf diesem Gebiete
zu prüfen hatten. Zwar haben wir Apianus (S. 404) als einen sinn-
reichen Erfinder von trigonometrisch anwendbaren Vorrichtungen,
Gemma Frisius (S. 410) als einen bahnbrechenden Feldmesser
kennen gelernt, aber dürftig war das Wissen Vögelin's, Köbel's,
dürftiger was wir in der Magaritha philosophica fanden, sogar
die Genialität eines Stifel litt in der geometrischen Frage der Würfel-
verdoppelung kläglich Schiffbruch (S. 440). Keinen besseren Ein-
druck machen die Auszüge aus einigen geometrischen Schriften,
welche aufbewahrt sind. Die Geometrie des Wolffgang Schmid^),
Rechenmeister zu Bamberg von 1535, die Visirkunst des Burchard
Mithobius^), welche er 1544 unter dem Titel Stereometrie heraus-
gab, die Perspective des Hieronymus Rodler^) von 1546, welche
nur von niedrigerem Standpunkte wiederholte, was wir noch in diesem
Kapitel besser aus der Feder Dürer 's kennen lernen werden, die
ganz ähnliche Zwecke verfolgende Anweisung in die Geometrie des
Augustin HirschvogeP) scheinen ein längeres Verweilen bei ihnen
nicht zu rechtfertigen. Und doch würden wir der deutschen Geometrie
das grösste Unrecht zufügen, wenn wir sie ausschliesslich nach diesen
Persönlichkeiten beurtheilen wollten. Es gab denn doch auch Schriften
und Schriftsteller, welche mit Ehren als Geometer zu nennen sind.
1) Kästner I, 681—683. -) Ebenda I, 678—679. =') Ebenda IT, 9—13.
*) Ebenda 11, 13—17.
Cantor, Geschichte der Mathem. IL 2. Aufl. 29
450
G3. Kapitel.
An die Spitze unserer Darstellung setzen wir gleichsam als Ueber-
gang vom Schlechten zum Guten die Geometria deutsch eines
unbekannten Verfassers aus unbekannter Zeit, welche in einem alten
Sammelbaude der Nürnberger Stadtbibliothek aufgefunden und neu
veröffentlicht worden ist^). Mancherlei Umstände könnten zwar ver-
anlassen, den Druck des aus sechs Blättern in Quart bestehenden
Schriftchens als einer älteren Zeit angehörend zu vermuthen, und
Fachmänner haben das Jahr 1487 als obere Grenze der Zeit angege-
ben, zu welcher die Geometria deutsch erschienen sein kann. Wir er-
laubten uns, bei der immerhin vorhandenen Ungewissheit, ob sie der
Zeit unseres XII. oder unseres XIII. Abschnittes angehört, sie erst
hier in Erwähnung zu bringen, wo ein innerer Zusammenhang mit
dem Werke eines berühmten Nürnbergers unsere Aufmerksamkeit um
so mehr zu fesseln im Stande sein wird, je näher räumlich die Schil-
derungen beider Schriften gerückt sind. Die Geometria deutsch lehrt
neun geometrische Aufgaben lösen, ohne bei irgend einer Auflösung
einen Beweis auch nur anzudeuten. Die erste Aufgabe verlangt die
Herstellung eines rechten Winkels (Figur 81). Zwei einander in a
schneidende beliebige gerade Linien hc und de werden gezogen; von
a aus wird die gleiche Länge ah = ac = ad auf der einen Geraden
nach beiden Seiten, auf der anderen einmal aufgetragen; Verbindung
Fig. 81.
der Punkte bd und cd giebt den rechten Winkel. Die zweite Auf-
gabe lehrt ein regelmässiges Fünfeck „mit unverrücktem Zirkel"
zeichnen (Figur 82). Um die Endpunkte a "und b einer Strecke
werden mit dieser Strecke als Halbmesser Kreise beschrieben, ein
dritter Kreis um den Durchschnittspunkt d der beiden ersten Kreise
') S. Günther hat diese Veröffentlichung in der Zeitschr. Math. Phys. XX,
Hist.-litter. Abthl. S. 5 — 7 vollzogen. Vergl. dazu ebenda M. Curtze S. 57 flgg.
und Günther S. 11.3 ügg. Ferner Günther, Unterricht Mittela. S. 347 — 354,
Deutsche Geometer. Englische Mathematiker. 451
als Mittelpunkt. So bestimmen sicL, wenn auch noch die gemeinsame
Sehne cd der beiden ersten Kreise gezogen wurde, die Punkte c, /", g,
welche dazu dienen, mittels feh, geh die Punkte /<; und li zu erhalten.
Bögen von li und h aus bestimmen endlich i , und ahhili ist das ver-
langte Fünfeck. Die dritte Aufgabe zeichnet ein regelmässiges Sieben-
eck „behend" in einen Kreis, wenn als Seite desselben eine Strecke
gewählt wird, welche mit der Hälfte der Seite des gleichseitigen
Sehnendreiecks übereinstimmt. Die vierte Aufgabe giebt den Ueber-
gang von einem Quadrate zu einem regelmässigen Achtecke durch
Ki-eisbögen, welche von den vier Ecken als Mittelpunkten mit der
halben Diagonale des Quadrates als Halbmesser beschrieben werden,
und welche die Quadratseiten in den Eckpunkten der verlangten
Figur schneiden. Die fünfte Aufgabe liefert die Länge einer Kreis-
linie als S^mal dem Durchmesser. Die sechste Aufgabe lehrt den
verlorenen Mittelpunkt eines Kreisbogens finden (Figur 83). Von
beliebigen Punkten c und h auf dem Bogen ah als Mittelpunkten
werden mit einem und demselben
Halbmesser Bögen geschlagen, welche
den Bogen ah in d und g schnei-
den, von d und g aus noch zwei
mit dem unveränderten Halbmesser;
so findet man die Punkte e, f, i, /.-,
und die Yerbindungsgeraden ef, ik
schneiden einander in dem gesuch-
ten Punkte l. Die siebente Aufgabe
verwandelt ein gleichseitiges Dreieck in ein flächengleiches Quadrat,
indem % der Dreiecksseite als Quadratseite gelten. Die achte und die
neunte Aufgabe verlangen die Zeichnung eines Stechhelms und eines
Schildes als geometrische Figuren.
Diese beiden letzten Aufgaben bieten zur Besprechung keinen
Anlass. Kaum mehr thun es die 1., 4., 5., 6. Aufgabe, welche an
Euklid, Heron, Archimed und wieder Euklid anschliessen; höchstens
wäre bei der 1. Aufgabe darauf zu verweisen, dass ihre Auflösung
noch zur Zeit Adam Riese's nicht allgemein bekannt war (S. 421).
Die 3. Aufgabe löste Lionardo da Vinci (S. 298) genau so wie die
Geometria deutsch, und wir haben, als wir es mit jenem Schrift-
steller zu thun hatten, auf noch früheres Vorkommen hingewiesen.
Die 2. und 7. Aufgabe veranlassen einige Bemerkungen. Die Fünf-
eckszeichnung der 2. Aufgabe, welche uns vor der Geometria deutsch
nirgend vorgekommen ist, wurde von einem Mathematiker, der
um IGOO schrieb, von Christoph Clavius der Rechnung uuter-
29*
452 G3. Kapitel.
Würfen ^). Er fand die Grösse der Winkel des entstandenen aller-
dings gleichseitigen Fünfecks nicht sämmtlich zu 108^, sondern
a = & = 108" 22; h==k= 1070 2; i = 1090 12'.
Eine in neuerer Zeit wiederholte Rechnung^) hat ergeben, dass Cla-
vius die Winkel h und Je um je 20" zu nieder, den Winkel i um 40"
zu hoch angegeben hat. Die 7. Aufgabe setzt (-|^j als Fläche des
gleichseitigen Dreiecks von der Seite a, welche eigentlich ^]/3 be-
trägt. Demnach bedeutet die Construction, dass 3 oj (-Y angenommen
ist. Es ist hier auf den ungemein eigenthümlichen Zufall, wenn
wirklich nur Zufall, aufmerksam gemacht worden^), dass von den
beiden als gleichwerthig angenommenen Zahlen die eine (— -] bei den
Aegypteru (Bd. I, S. 57), die andere 3 bei nahezu allen Völkern des
Alterthums als die Verhältnisszahl des Kreisumfangs zu seinem Durch-
messer galt.
Wir verlassen hiermit die kleine Schrift, welche bei dem vielfach
Bemerkenswerthen, welches dort auf so engem Räume erscheint, bei
den Spuren weit entlegenen Wissens, die sich in ihr vereinigen, doch
ihrer Form nach nicht wohl als von einem Mathematiker für an-
gehende Mathematiker verfasst betrachtet werden kann. Sie mag
vielleicht für Zunftangehörige irgend eines Kimstgewerbes bestimmt
gewesen sein und würde dadurch jenen Bauvorschriften näher
rücken, welche seit dem XV. Jahrhunderte schon auftraten'*), aber so
wenig eigentlich Mathematisches enthalten, dass wir glaubten sie
übergehen zu sollen.
Wir kommen zu einer bestimmten Persönlichkeit, zu Johannes
Werner^). Er ist am 14. Februar 1468 in Nürnberg geboren, wid-
mete sich der Theologie und wurde auch wirklich nach Rückkehr
von einem fünfjährigen (1493 — 1498) Aufenthalte in Rom Pfarrer zu
St. Johann in seiner Vaterstadt. In diesem Amte blieb er bis zu
seinem Tode 1528. Neben der Theologie studirte Werner aufs eifrigste
Mathematik, und ihr sowie der Geographie gehören seine schrift-
^) Clavius, Geometria practica Lib. VIII prop. 29. In der fünfbändigen
Folioausgabe seiner Werke (Mainz 1611) findet sich die Stelle II, 210. -) Günther,
Die geometrischen Näherungsconstructionen Albrecht Dürers (Ansbach 1886)
S. 6—7. 3) Günther, ünten-icht Mittela. S. 352 Note. ^) Ebenda S. 335
bis 346. — Oben rauch, Geschichte der darstellenden und projectiven Geome-
trie (Brunn 1897) S. 167—192. ^) Doppelmayr, S. 31—35. — Kästner II,
52—64. — Chasles, Apergu hist. 120, 532—533 (deutsch 117, 628—629). —
Gerhardt, Math. Deutschi. S. 23— 25. — Günther, ünten-icht Mittela. S. 330.
Deutsche Geometer. Englisclie Mathematiker. 453
stellerischen Leistungen an. Was er 1514 an geographischen Schriften
herausgab^), bleibe unerörtert so weit es auf Kartenzeichnung sich
bezieht, wie wir auch bei Peter Apianus, der hierin als Schüler
Werner's betrachtet werden muss, die gleiche Enthaltsamkeit übten.
Tragen wir doch die schwersten Bedenken, die ohnedies so weit-
schichtige Geschichte der Mathematik noch mit anderen Zuthaten zu
belasten. Dagegen müssen einige rein mathematische Dinge berührt
werden, welche in dem Anhange zu einer Abhandlung eines griechi-
schen Schriftstellers sich finden. Georg Amirucio war in Trape-
zunt geboren und ging, als seine Heimath 1461 unter türkische Herr-
schaft gerieth, selbst zum Islam über, worauf er in Konstautinopel
eine «angesehene Stellung einnahm^). Eine in griechischer Sprache
von ihm verfasste Abhandlung über zur Geographie nothwendige
Vorkenntnisse kam handschriftlich nach Wien, wo sie von Stabius
eingesehen wurde. Nun war aber Stabius mit Johannes Werner näher
befreundet und hat auf dessen Verwendung hin jene Sonnenuhr in
der Lorenzkirche zu Nürnberg angefertigt, von der die Rede war, als
wir Stabius zuerst nannten. Er schlug seinem Freunde, dessen wissen-
schaftliche Neigungen und Fähigkeiten ihm bekannt waren, vor, die
griechische Abhandlung zu übersetzen, und diese Uebersetzung er-
schien eben 1514 unter dem Titel De Ms qiiae geographiae adesse
debent Georgi Amirucii opuscidum. Vorher war die Schrift so gut
wie nicht vorhanden, und das ist der Grund, warum wir auch mit ihr
in diesem Kapitel uns beschäftigen, statt in demjenigen, welches das
Ende des XV. Jahrhunderts als die Entstehungszeit behandelt; wäre
doch ohnehin in jenem Abschnitte die Schrift eines Byzantiners
schwer unterzubringen gewesen. Was wir ihr zu entnehmen haben,
ist die Auflösung einer Aufgabe der sphärischen Trigonometrie^):
Die Entfernung zweier durch ihre Länge und Breite gegebenen Punkte
einer Kugel in Graden des die Punkte verbindenden Bogens eines
Grösstenkreises zu bestimmen. Die Lösung schlägt folgenden Gang
ein, bei welchem ausschliesslich Kenntnisse der ebenen Trigonometrie
zur Anwendung kommen (Figur 84). Die Meridiane der beiden Punkte
c, d, um die es sich handelt, werden bis zum Pole a verlängert
und ae = ad, ah = ac gemacht. Weil beide Punkte durch ihre
') S. Günther, Studien zur Geschichte der mathematischen und physi-
kalischen Geographie (Halle 1877—1879) V. Heft, S. 277—332 (Johann Werner
aus Nürnberg und seine Beziehungen zur mathematischen und physischen Erd-
kunde) giebt über alle geogra^ihischen Schriften Werner's ausführliche Auskunft.
Werner's Schriften selbst, von denen darin die Rede ist, lagen uns in einem
Bande der Münchener Bibliothek vor. *) Doppelmayr S. 33, Note y.
3) Günther, Studien u. s. w. S. 306— 308.
454 63. Kapitel.
Länge und Breite bekannt sind, kennt mau auch die Bögen de, hc
von Parallelkreisen und deren Halbmesser. Folglich, sind auch die
Strecken de, hc als Sehnen jener Bögen bekannt
und !)(=—{})€— de). Ueberdies ist der Meri-
dianbogen hd und durch ihn seine Sehne Ijd be-
kannt. Ferner berechnet sich jetzt
df = ybd^ — hf, c d = ydf + fc^
und endlich zu cd der entsprechende Bogen des
Grösstenkreises. Werner hat der Uebersetzung
einen aus 11 Sätzen bestehen Anhang In Georgii Amirucii Constan-
tinopolitani opusctdum loannis Verneri Norimhergensis appendices nach-
folgen lassen. Er zeigt sich in demselben als mit stereometrischen
Sätzen, insbesondere mit der Lehre vom Dreikaut wohl vertraut.
Den VeröfFentlichungen von 1514 ist ein kaiserliches Privilegium
vorgedruckt ^) , welches noch eine Reihe anderer Schriften nennt, die
Werner im Drucke herauszugeben beabsichtigte. Leider fand er dafür
keinen Verleger, und die nachweislich schon vollendeten Schriften
gingen verloren. Darunter befand sich eine offenbar recht vollständige
sphärische Trigonometrie in fünf Büchern De triangidis per
maximonim circulorum segmenta constructis lihri V, welche nach Wer
ner's Tode an einen Nürnbergischen Mechaniker Georg Hartmann,
von diesem 1542 an einen Mathematiker, von welchem weiter unten
die Rede sein wird, Rhäticus, gelangte^). Von da an ist die Hand-
schrift verschollen, und es ist nur eine allerdings an und für sich
nicht unwahrscheinliche Vermuthung, dass Rhäticus den Inhalt der-
selben seinen eigenen Arbeiten einverleibt haben werde. Mehr als
Vermuthung ist es aber, wenn ein anderer Schriftsteller^) behauptet,
in diesen Büchern über die Dreiecke sei die Erfindung der Prostha-
phaeresis enthalten gewesen. Der sprachlich recht unglücklich aus
TCQÖsd-Bßis , Hinzusetzung, und acpaL^Eöig , Wegnahme, zusammen-
gesetzte Ausdruck lässt sich etwa als Additions- und Subtractions-
methode übersetzen und bezeichnet ein eigenthümliches, vor Erfindung
der Logarithmen sehr brauchbares Verfahren, Multiplicationen durch
Additionen oder Subtractionen zu ersetzen. Grundlage ist die Formel:
2sin« • sin/3 = cos(a — ß) — cos(a -\- ß).
Waren also beliebige Zahlen mit einander zu vervielfachen, so konnte
^) Ueber das Privilegium vergl. auch Doppclmayr S. 33 — 34 nebst Note q
(S. 32) und Note aa (S. 33). ^) Ebenda S. 33, Note bb und S. 34, Note cc.
ä) Montucla I, 584 und 617—619. — A. v. Braunmühl in der BibliotJi.
mathem. 1896 S. 105—108.
Deutsche Geometer. Englische Mathematiker. 455
jede derselben nach vorhergegangener Division oder Mnltiplication
mittels einer mit Nnllen versehenen Einheit als Sinus eines Winkels
a (ß) iu einer mit genügender Genauigkeit berechneten Sinnstafel
nachgewiesen werden. Dann waren aber aus der Tafel auch die zu
(a — ß) und zu (a -\- ß) gehörenden Cosinusse zu entnehmen, und
nach vollzogener Subtraction war nur noch die zum Beginne ein-
geführte Veränderung der Zahlen um Einheiten verschiedener Ord-
nung und eine Halbirung zu vollziehen, um das Product zu erhalten,
welches man suchte. Sollte addirt werden und nicht subtrahirt, so
wählte man als Ausgangspunkt
2cosa • eos/3 = cos(c<; — ß) -f- cos(c/ -f- ß).
Unter den verloren gegangenen Schriften Werner's war ferner
ein Tradatus rcsohdorius qui prope pediseqiius existit lihris datorum
Euclidis und ein Libellns arifhmeticus qui compleditur quaedam com-
nienta arithnietica. Die erstere Abhandlung kennzeichnet sich selbst
als einen offenbar fortlaufenden Commentar zu den euklidischen Daten,
während für den Inhalt der zweiten Abhandlung nicht der geringste
Anhaltspunkt gegeben ist, denn der Titel arithmetischer Erörterungen
kann alles Mögliche unter sich fassen.
Endlich ist der Verlust noch eines Werner'schen Werkes zu be-
dauern. Zu den durch Wohlstand wie durch feine Geistesbildung
sich auszeichnenden Patriziern der Zeit gehörte Bilibald Pirckhei-
mer^), welcher aus Eichstädt stammend, in Nürnberg eine zweite
Heimath gefunden hatte. In seinem Hause verkehrten Venatorius,
Camerarius, Oslander, Dürer, Werner, kurzum wer nur auf
humanistische und besonders auf humanistisch -mathematische Gelehr-
samkeit Anspruch machen konnte. In seiner den Freunden stets zu-
gäjaglichen Büchersammlung hatte Pirckheimer vereinigt, was er nur
an alten, namentlich an griechischen Handschriften auftreiben konnte,
einen griechischen Euklid, einen griechischen Archimed, welchen Vena-
torius (S. 406) herausgeben durfte u. s. w. Er besass auch von Wal-
ther's Erben erhandelt Regiomontan's Bücher De Trianguhs und
Anderes mehr. Durch Pirckheimer's Vermitteluug trat Werner in
Beziehung zu Sebald Beheim, einem geschickten Stückgiesser, dessen
Sohne Werner er mathematischen Unterricht ertheilte. Er legte dem-
selben eine eigens dazu angefertigte deutsche Uebersetzung der eukli-
dischen Elemente mit jedem Satze beigefügten Erläuterungen zu
Grunde, für welche er von Beheim 100 Thaler, eine damals sehr
^) Allgemeine deutsche Biographie XXVI, 810 — 817, Artikel von L. Geigei
leider ohne Benutzung von Dopj^elmayr S. 36 — 44 bearbeitet.
456 63. Kapitel.
grosse Summe, erliielt, welche Uebersetzung aber schon um das Jahr
1550 trotz emsigen Suchens darnach nicht mehr aufzufinden war^).
Wieviel die mathematischen Wissenschaften durch das Verloren-
gehen aller dieser Schriften einbüssten, kann man etwa aus dem durch
einen Druck von 1522 vor dem Untergange Bewahrten ermessen.
Damals verlegte der berühmte Wiener Buchhändler Lucas Alantsee
einen Sammelband Werner'scher Schriften, welcher unter den Augen
des Verfassers in Nürnberg gedruckt wurde. In dem einleitenden
Briefe Werner's an Alantsee wird erzählt^), dass dieser vorher selbst
in Nürnberg gewesen war und von Werner's Arbeiten in Begleitung
eines Freundes Einsicht genommen hatte. Der Begleiter war Johan-
nes Tscher tte, der einst Grammateus zur Herausgabe seines
Rechenbuchs (S. 395) veranlasste. Werner rühmt ihn hier als be-
sonders geschickt in der Perspective. Der Werner sehe Sammelband
gehörte bald zu den Seltenheiten des Buchhandels. Schon am Ende
des XVI. Jahrhunderts liess ihn Tycho Brahe vergeblich in ganz
Deutschland suchen und stöberte ihn endlich in Italien auf^). Die
erste darin enthaltene Schrift ist ein 34 Seiten füllender Lihellus
super viginti duohus elementis conicis. Werner versteht darunter
22 Sätze von den Kegelschnitten. Kegel nennt er, gleichwie Apollo-
nius es schon that, diejenige Oberfläche, welche eine Gerade erzeugt,
die durch einen festen Punkt gehend um den Umfang eines Kreises
heramgeführt wird, ausserhalb dessen Ebene der betreffende Punkt
liegt. Dagegen weichen Werner's Beweisführungen wesentlich von
denen des Apollonius ab. Dieser untersuchte den einmal hervor-
gebrachten Kegelschnitt als ebene Curve, und in seinen Figuren ist
der Kegel nirgend mit gezeichnet. Für Werner bleibt umgekehrt die
Parabel und die Hyperbel (mit der Ellipse beschäftigt er sich nicht)
immer Kegelschnitt, und an dem Kegel, der in nahezu allen Figuren
auftritt, sind die Beweise geführt, welche in Folge dieser Werner an-
gehörenden Auffassung wesentlich als sein Eigenthum bezeichnet
werden müssen. Der letzte von ihm bewiesene Satz ist der von dem
Constanten Rechtecke der Strecken, welche aus einem Hyperbelpunkte
parallel zu den beiden Asymptoten und jeweil bis zum Durchschnitte
mit der anderen Asymptote gezogen werden, der Satz also, den die
Coordinatengeometrie in die Worte kleidet, die Gleichung der auf
ihre Asymptoten als Coordinatenaxen bezogenen Hyperbel sei xy = h^.
Die Asymptoten heissen bei Werner non coincidentes. Die zunächst
ungemein auffallende Erscheinung, dass eine Abhandlung von den
*) Doppelmayr S. 35 und ebenda Note oo. -) Kästner ü, 54.
"O Ebenda 11, 52.
Deutsche Geometer. Englische Mathematiker. 457
Kegelschuitten nur zwei von den drei überhaupt vorhandenen in Be-
tracht zieht, erklärt sich durch den Zweck der Abhandlung. Werner
schrieb sie, wie er selbst am Anfange der zweiten in seiner Samm-
lung gedrackten Schrift ausspricht, nur als Einleitung in diese, also
in den Conimenfarius seu parapJirasfica enarratio in undecini modos
couficiendi eins proUematis quod ciihi dupUcatio dicitur. Georg Valla
(S. 345) war Besitzer einer sehr alten Handschrift des Archimed^)
mit Einschluss der Erläuterungen des Eutokius zu den Büchern über
Kugel und Cylinder. Aus ihr übersetzte er die von Eutokius auf-
bewahrten Würfelverdoppelungen ins Lateinische, aber, meint Werner
in dem oben erwähnten Einleitungsbriefe an seinen Verleger, Yalla
versah diese Würfelverdoppelungen mit einer harten und schäbigen
Uebersetzung, dura scabraque admodum traductione, und diese wollte
Werner durch eine andere ersetzen, bei welcher er auch die Reihen-
folge der mitgetheilten Würfelverdoppelungen abgeändert zu haben
scheint. Eratosthenes, der bei Eutokius als vorletzter erseheint, wird
erster, Plato, der erste bei Eutokius, wird siebenter, und auch andere
Umstellungen sind noch vorhanden. Am auffallendsten erscheint,
dass das als zweite Würfelverdoppelung mitgetheilte Verfahren des
Philon von Byzanz zugleich auch dem Phyloponus (sie) zugeschrieben
wird, einem Schriftsteller also, der später als Eutokius lebte, und
dessen Name somit keinenfalls diesem entnommen sein kann. In
allen diesen Würfelverdoppelungen kommen, so weit Kegelschnitte
angewandt werden, nur Parabel und Hyperbel vor, und desshalb
dürfte Werner auf Untersuchungen über die Ellipse in der einleiten-
den Abhandlung verzichtet haben. Den Würfelverdoppeluugen sind
12 Zusätze beigegeben: einen Würfel zu finden, der zu einem gege-
benen Würfel in gegebenem Verhältnisse stehe, eben einen solchen
gleich einem gegebenen Parallelopipedon ; ein Parallelopipedon mit
gegebener Höhe einem gegebenen Würfel und einem gegebenen
Parallelopipedon gleich herzustellen, letztere Aufgabe auch unter der
Bedingung, dass statt der Höhe die Grundfläche des herzustellenden
Parallelopipedons gegeben sei-, einen Cylinder zu finden einem gege-
benen Cylinder ähnlich und zu demselben in gegebenem Raumver-
hältnisse stehend. Der siebente Zusatz zeigt, dass die Flächen eines
Quadrates und des eingeschriebenen Kreises sich wie 14 : 11 ver-
halten, und von diesem Verhältnisse machen drei weitere Zusätze Ge-
brauch zur Verwandlung eines Parallelopipedons in einen Cylinder
von gleicher Höhe, eines Cy linders in einen Würfel. Der 11. Zusatz
^) Die Beschreibung des Valla'schen Codex — jetzt Florentiner Codex A
vergl. Heiberg's Archimed -Ausgabe III, Prolegomena pag. VIII.
458 63. Kaiiitel.
behauptet; die Sonneustrahlen kämen scheinbar parallel auf der Erde
an und beweist diese Behauptung wie folgt (Figur 85). Werden von
dem Sonneupunkte a aus auf zwei Strahlen lauter gleiche
Strecken ad == ai = de = ih u. s. w. aufgetragen, so
^ , verhalten sich die Verbindungsgeraden der bemerkten
^ \ Pvmkte di : eh : fg :hc u. s. w. wie 1:2:3:4 u. s. w.
hl ^e In grosser Entfernung von der Sonne verhalten sich
/ \ also zwei solche parallele Verbindungsgerade zwischen
^j 3 f zwei Strahlen wie zwei grosse in der Zahlenreihe uu-
/ ^ mittelbar auf einander folgende Zahlen, d. h. sie zeigen
"^ nur einen unmerkbaren und fast nicht vorhandenen
Fig. 85.
Längenunterschied ^) und lassen die Strahlen dadurch
parallel erscheinen. Zu derselben Ueberzeugung könne mau erfah-
rungsmässig gelangen, indem man von zwei nicht allzuweit von ein-
ander entfernten Erdpunkten auf dem gleichen Meridian gleichzeitig
die Sonnenhöhe messe und genau zu demselben Winkel gelange. Bei
grösserer Entfernung von etwa 5000 Schritten zwischen den Beob-
tungspunkten finde man allerdings verschiedene Winkel. Der Zweck
dieses 11. Zusatzes wird im 12. und letzten klar, wo hervorgehoben
ist, ein parabolischer Spiegel vereinige die parallel auf ihn fallenden
Sonneustrahlen in einem Punkte, der sphärische Spiegel thue das
nicht, ersterer zünde daher leichter als letzterer^). Nun folgt eine
Abhandlung über den archimedischen Kugelschuitt (Bd. I, S. 294),
d. h. die Aufgabe, die Kugel durch eine Ebene derart zu schneiden,
dass die Rauminhalte der beiden Kugelabschnitte in gegebenem Ver-
hältnisse stehen. Diokles hat diese Aufgabe mit Hilfe von Hyperbel
und Ellipse (Bd. I, S. 338), Dionysodorus mit Hilfe von Hyperbel
und Parabel gelöst (Bd. I, S. 383), beide Auflösungen hat Eutokius
in seinen Erläuterungen zu Archimed's Bücher über Kugel und Cylin-
der aufbewahrt^), und diese standen, wie wir schon wissen, Werner
zu Gebote. Die Auflösung des Dionysodorus giebt er aus dieser
seiner Quelle ausführlich wieder. Bezüglich der Auflösung des Diokles
begnügt er sich damit, die dort angewandte Fragestellung anzuführen,
ohne die eigentlichen Vorschriften zur Anfertigung der Zeichnung zu
erörtern. Er fühlte sich hier oifenbar dadurch beengt, dass er in der
Kegelschnittabhandlung die Behandlung der Ellipse übergangen hatte.
Zum Schlüsse fügte er eine ihm eigene Auflösung mittels Hyperbel
und Parabel bei. Die beiden noch übrigen Schriften des Werner-
schen Bandes sind astronomischen Inhaltes.
') insensibiliter ac petie nihil differe magnitudine videbuntur. -) Ergo
speculwn concavum concavitate paraholica fortius ' celeriusque incendit speculo
sphaerico. ^) Archimed (ed. Heiberg) III, 180—206.
Deiitsche Gcometer. Englische Mathematiker. 459
Was wir au geometrischen Ergebnissen aus Johannes Werner's
Schriften kennen gelernt haben, zeigt, mag es auch der Menge nach
nicht sehr viel sein , diesen Mathematiker jedenfalls in zwei Be-
ziehungen weit über die Zeitgenossen sich erhebend: einmal dadurch,
dass er bei gründlicher Bekanntschaft mit der griechischen Kegel-
schnittlehre der Nothweudigkeit strenger geometrischer Beweisführung
sich bewusst war, zweitens dadurch, dass er bei solcher Beweisführung
seine eigenen Wege ging.
Zu dem Pirckheimer'schen Kreise (S. 455) gehörte auch Albrecht
Dürer ^), ""geboren in Nürnberg 1471, gestorben ebenda 1528, in
weitesten Kreisen berühmt als der hervorragendste deutsche Künstler
des XVI. Jahrhunderts, aber kaum minder bedeutend in seiner Eigen-
schaft als Schriftsteller, welche er in drei Veröffentlichungen aus den
Jahi-eu 1525, 1527, 1528 (die letztere erst nach dem Tode des Ver-
fassers ausgegeben) bewährte. Die erste Schrift von 1525 führt den
Titel „Underweysung der messung mit dem zirckel und
richtscheyt in Linien ebnen vnnd gantzen corporen durch Albrecht
Dürer zusamen getzogen vnd zu nutz allen kunstliobhabenden mit
zugehörigen figuren in truck gebracht" und ist Pirckheimer zugeeignet.
In der Widmung meint Dürer, es gebe recht viele im Uebrigeu ganz
geschickte Maler in Deutschland, welche Mancherlei ganz falsch zeich-
neten, auch ihre Schüler es so machen lehrten, als wenn sie Wohl-
gefallen an ihrem Irrthume hätten, während doch die alleinige Ur-
sache sei, dass sie die Kunst der Messung nicht gelernt haben, ohne
die kein rechter Werkmann werden oder sein könne. Dem Zwecke,
welcher Dürer darnach vorschwebte, den Maler in den Stand zu setzen,
gewisse Constructionen nicht aus freier Hand ohne Gewähr der Rich-
tigkeit, sondern nach geometrischen wenn auch unbewiesenen Vor-
schriften auszuführen, sind im Ganzen 89 Seiten eines kleinen Folio-
formates gewidmet, deren Inhalt nach vier Büchern sich gliedert.
Dürer's Sprache vermeidet die Fremdwörter und giebt höchst wahr-
scheinlich selbstgebildete deutsche Ausdrücke für geometrische Be-
griffe. So nennt er die Kreisfläche „eyn runde Ebne", das Quadrat
„gefierte Ebne", aber auch die Kugel, die Cylinderfläche „eyn
kugelete Ebne" und „eyn bogen Ebne". Der Funkt ist ihm „eyn
^) Ueber das Leben Dürer's vergl. M. Thausing, Dürer, Geschichte seines
Lebens und seiner Kunst (Leipzig 1876). Ueber Dürer als Schriftsteller:
Kästner 1,684. — Chasles, Apergu hist. 529— 530 (deutsch 623—625). —
Gerhardt, Math. Deutschi. S. 26—27. — S. Günther, Die geometrischen
Näherungsconstructionen Albrecht Dürer's (Ansbach 1886). — Derselbe, Unter-
richt Mittela. S. 3.54—370. — H. Staigmüller, Dürer als Mathematiker (Stutt-
gart 1891).
460 63. Kapitel.
tupff", Parallelen „die alweg gleich weit von einander lauffen" oder
auch „eyn barlini^'. Man sieht daraus, wie sein Bestreben das der
Deutlichkeit war, und wie er das Werk gerade für junge Künstler-
kreise verfasste, welche fremder Sprachen nicht mächtig zu sein
pflegten. Für sie giebt er gleich im ersten Buche die Entstehung
des Würfels durch eine Parallelbewegung einer quadratischen Grund-
fläche, einer Kugel durch Umdrehung eines Kreises um einen als Axe
benutzten Durchmesser, für sie die Vorschriften zur Zeichnung man-
cherlei krummer Linien. Allerdings sind diese Vorschriften, wie die
krummen Linien selbst, sehr verschiedener Natur. Schnecken-
linien verschiedener Art, worunter Dürer theils Spiralen, theils die
perspectivische Zeichnung von Raumschneckenlinien versteht, ferner
Eigestalten werden construirt, aber nicht etwa so, dass die geo-
metrisch richtige Figur entsteht, sondern nur eine künstlerisch ge-
sprochen ähnliche Gestaltung, zusammengesetzt aus lauter Kreisbögen
von wechselndem Mittelpunkte und Halbmesser. Bedeutsam ist dabei
freilich der Gedanke, einer perspectivischen Zeichnung eine
mathematische Vorschrift zu Grunde zu legen, und dass
Dürer für Deutschland der Begründer einer ganzen perspectivischen
Literatur wurde, ist gewiss wahr, wenn wir auch nicht so weit gehen,
für ihn einen Platz unter den Begründern der descriptiven Geometrie
beanspruchen zu wollen. Die Halbmesser der Kreisbögen, aus welchen
jene krummen Linien sich zusammensetzen, sind durch Zahlenverhält-
nisse unter einander verbunden, welche theils genau, theils nicht genau
erfüllt werden, und im letzteren Falle, der allerdings einer Gesetz-
mässigkeit darum nicht entbehrt, sollen ganz besonders schöne Curven
hervorgebracht werden. Die getheilte Strecke, welche die Halbmesser
zu liefern hat, ist nämlich (Figur 86) die Berührungslinie an einen
in genau gleiche Theile getheilten Kreisbogen,
und die allmälig sich weiter von einander ent-
fernenden Theilpuukte der Strecke sind durch
Verlängerung der Halbmesser nach den Bogen-
theilpunkten eingeschnitten. Dürer zeichnet
sodann die drei Kegelschnitte. Deutsche Na-
men für dieselben kenne er nicht, wolle aber
solche bilden. Die Ellipse, die einem Ei fast
ähnele, wolle er Eierlinie nennen, die Para-
bel Brennlinie, weil aus ihr Spiegel gebildet
werden, durch die man zünden könne, die Hyperbel Gabellinie,
ein Name, den er nicht weiter begründet. Die Kegelschnitte zeichnet
er punktweise, indem er auf einer Grundlinie in gleichen Abständen
Senkrechte errichtet, deren Längen aus gewissen Verhältnisszahlen
Deutsche Geometer. Englische Mathematiker.
4G1
sich ergeben. Auffallenderweise scheint Dürer zu glauben, die Ellipse
besitze nur die grosse Axe als Sjmmetrieaxe ^). Wieder eine andere
Linie, deren Entstehung nach einem geo-
metrischen Gesetze sich ausspricht, ist die
Muschellinie, wohl zu unterscheiden
von der Conchoide der Alten (Bd. I,
S. 334) (Fig. 87). Auf einer Geraden
AB steht eine zweite CD senkrecht.
Wird ÄK= CL auf den beiden Ge-
raden aufgetragen, KL gezogen und KM
auf ihr gleich AB genommen, so ge-
hört 31 der Muschellinie an, welche,
wenn man AB und CD als Coordinaten-
axen betrachtet, einer Gleichung 4. Grades entspricht-). Die Spinnen-
linie entsteht folgendermassen : eine Strecke AB dient als Halb-
messer eines Kreises um ^; aus jeder Lage des Punktes B als Mittel-
punkt ist wieder ein Kreis mit anderem Halbmesser beschrieben und
auf diesem Kreise ein Punkt C dadurch bestimmt, dass BC eine
ganze Umdrehung vollzieht, während das Gleiche von der AB gilt.
Mit anderen Worten: Dürer hat in seiner Spinnenlinie die EpicpJdoide
erfunden. Er geht sogar noch weiter und vereinigt mehr als nur zwei
Zirkelstangeu mit einander in Gelenken , welche verhältnissmässig
selbständige Einzelbewegungen zulassen, so dass durch oi-ganische Be-
wegung Curven erzeugt werden können, welche sehr zusammengesetz-
ter Entstehung sind.
Das 2. Buch kann als Buch der vorzugsweise geradlinigen Con-
structioueu den Curvenzeichnungen des 1. Buches gegenübergestellt
werden. In ihm finden wir geschichtlich Bekanntes, aber iu wesent-
gezeichnet wie in der 1. Aufgabe der Geometria deutsch, das regel-
mässige Fünfeck und Siebeneck wie in der 2, und 3. Aufgabe jener
Schrift. Deren 6. Aufgabe ist schon im ersten Dürer'schen Buche
mit der gleichen Figur gelöst^). Die 7. Aufgabe kommt wieder im
2. Buche vor^). Darf man daraus den Schluss ziehen, Dürer habe
die Geometria deutsch, welche zu seinen Lebzeiten sehr wohl in Nürn-
berg vorhanden sein konnte, in Händen gehabt und benutzt? Wir
glauben kaum, dass dieser Schluss gerechtfertigt wäre. Die in der
4. Aufgabe gelehi-te Achteckzeichnung hat nämlich bei Dürer keinen
1) Staigmüller 1. c. S. 16. -) Ebenda S. 17, Note 1. ^) Figur 23 bei
Dürer^ welcher die einzelnen Figuren in jedem Buche mit besonderen Num-
mern versehen hat. ^) Buch II, Figur 28.
462
63. Kapitel.
Eingang gefunden^), während diese so einfach und sinnreich ist, dass
wir es für unmöglich halten, Dürer habe sie vernachlässigt, wenn er
sie kannte. Statt ihrer ist bei Dürer das Achteck zwar auch aus dem
Quadrate abgeleitet, aber durch die Halbirungssenkrechten vom Mittel-
punkte des Umki-eises auf die Quadratseiten, welche den Umkreis
selbst in den vier noch unbekannten Eckpunkten des Achtecks treffen,
und nach demselben Grundgedanken ist aus dem Achteck das Secli-
zehneck, aus dem Siebeneck das Vierzehneck abgeleitet^). Für das
Fünfeck ist ausser der Zeichnung mit unveränderter Zirkelöffnung
auch eine genaue Zeichnung gelehrt^), welche bereits im 9. Kapitel
des 1. Buches des Almagestes vorkommt
(Figur 88). Zwei zu einander senkrechte
Durchmesser werden gezeichnet. Auf dem
einen hc wii-d ac in e halbirt und von e
als Mittelpunkt aus die Entfernung bis zum
Endpunkte d des anderen Durchmessers in
den Zirkel genommen und ein Bogen ge-
schlagen, der den ersten Durchmesser wieder
in /■ schneidet. Alsdann ist df die Fünf-
ecksseite, af die Zehnecksseite des gege-
benen Kreises, was durch beigesetzte Zahlen
in der Figur angedeutet wird. Geht von einem und demselben
Peripheriepuukte eine Dreiecksseite und eine Fünfecksseite aus, so
112
stehen deren Endpunkte um — . = ^ Umkreis von einander ab.
Die Halbirung dieses Bogens bringt daher die Fünfzehnecksseite als
Sehne hervor, und so verfährt Dürer wirklich'^). Höchst eigenthüm-
lich ist Dürers Neuneckszeichnung ^). Unter Fischblasen verstand
die Oruamentzeichnung ein Zweieck von Kreis-
bögen, welche mit gleichem Halbmesser be-
schrieben wurden. Werden nun (Fig. 89) in
einen Kreis mit dem Halbmesser des Kreises
selbst drei Fischblasen ab, ac, ad gezeichnet,
welche aus Theilen von drei Kreisen sich zu-
sammensetzen, wird der Durchmesser ah der
einen Fischblase in den Punkten 1 und 2 ge-
drittheilt, mit dem Halbmesser «2 ein kleiner
Kreis um a beschrieben, und werden dessen
Durchschnittspunkte c und f mit der Fischblase geradlinig verbunden,
') Auf Buch n, Figur 27 dafür Linzuweisen scheint uns unstatthaft.
^) Buch II, Figur 12 das Vierzehneclc, Figur 14 das Achteck und Sechzehneck.
3) Buch II, Figur 1',. ") Buch II, Figur 17. ^) Buch II, Figur 18.
Deutsche Geometer. Englische Mathematiker. 463
SO soll ef die Neunecksseite des kleinen Kreises sein. Bogen ef
müsste demnach 40*^ sein und weicht etwa um .; davon ab ^). Diese
Construction ist noch nirgend sonst als bei Dürer aufgefunden, und
sie ist insbesondere durchaus verschieden von derjenigen des Lio-
uardo da Vinci, sowie von derjenigen, welche aus dessen Achtzehn-
eckconstruction (S. 300) sich herleiten liesse. Wenn Dürer des wei-
9 1
teren — des Kreisdurchmessers als Elfecksseite, — desselben als Drei-
zehnecksseite benutzt ^), so ist die erstere Vorschrift eine sehr genaue,
da der so gewonnene Kreisbogen nur um 3' '2^" zu klein ist. Bei
dem Dreizehneck dagegen wird der Bogen um mehr als 1- zu gross.
Unmittelbar an die letzterwähnten Figuren schliesst sich eine Drei-
theilung eines beliebigen Kreisbogens, Dürer sagt: „ytlich trum eines
zirckels", welche rechnungsmässig geprüft^) bei nicht allzugrossen
Bögen eine sehr brauchbare
Regel giebt (Figur 90). Man
theilt die Sehne ah in drei
gleiche Theile ac = cd ^= iV)
und errichtet in c und (7 die
Senkrechten cg, dh. Dann be-
schreibt man aus den Mittelpunkten a und h die Kreisbögen ce, gi
und df, lih. Dann ist, behauptet Dürer, ryg. ae = hf = gJij und nur
die Bogenstückchen eg, fh sind von der Theilung noch ausgeschlossen.
Man begreift sie ein, indem man ci und dJc drittheilt und vom zweiten
Theilpunkte von c und d aus gezählt neue Kreisbögen wieder um a
und h als Mittelpunkte schlägt, welche in l und m eintreffen, alsdann
sei arc. al ^= Im = mh. Von den Theilungen des ganzen Kreisum-
fanges, welche bei der Herstellung der regelmässigen Vielecke nöthig
waren, von der Dreitheilung eines Kreisbogens wendet sich Dürer
zur Anfertigung von anmuthigen Mustern von Mosaikböden, gebildet
aus regelmässigen Vielecken und aus Kreisbögen. Er weist dabei
darauf hin, dass regelmässige Dreiecke, Vierecke, Sechsecke, aber auch
die Zusammensetzung zweier regelmässiger Dreiecke zu Rauten aus-
reichen, die Ebene zu erfüllen, während andere Gestalten dazu nöthigen,
zur Erfüllung der Ebene Figuren mehrerer Gattungen gleichzeitig
anzuwenden. Am Schlüsse des zweiten Buches erörtert er noch
die Umwandlung eines gleichseitigen Dreiecks in ein flächengleiches
^) Günther, Näherungsconstructionen Dürer's S. 10 — 11, berechnet
arc. ef= 39» 39' 5^". ^) Buch II, Figur 19. — Günther 1. c. S. 12—13.
") Kästner, Geometrische Abhandhmgen. Erste Sammhmg (Göttingen 1790)
S, 241—248. — Günther 1. c. S. 13—18. — Staigmüller 1. c. S. 26, Note 1.
464 63. Kapitel.
Quadrat, eines beliebigen Dreiecks in ein flächengleiches Rechteck,
eines Quadrates in einen flächengleichen Kreis ^). Jede dieser Auf-
gaben giebt uns zu einer Bemerkung Anlass. Die erste Umwand-
lung ist die der 7. Aufgabe der Geometria deutsch und vorhin bereits
erwähnt worden. Wo zweitens ein beliebiges Dreieck in ein Recht-
eck verwandelt werden soll (Figur 91), zieht Dürer eine Höhe des
Dreiecks, welche immer der Ai-t gewählt wird,
dass sie in das Innere des Dreiecks fällt, und
bildet aus ihrer Hälfte und der Grundlinie das
gesuchte Rechteck, indem die oberen dreieckigen
Stückchen, welche nach Ziehung einer Parallelen
Fig. 91. zur Grundlinie durch die Mitte der Höhe her-
vortreten, nach unten umgeklappt werden. Die
gleiche Zeichnung tritt bei indischen Geometern auf (Bd. I, S. G14),
ohne dass wir durch diesen Hinweis die Yermuthung einer Ueber-
tragung hervorzunifen beabsichtigen. Gerade diese Construction liegt
so nahe, dass sie leicht mehrfach hat erfunden werden können.
Weit näher scheint uns ein anderer Zusammenhang zu liegen. Jener
Wiener Rathsherr Johannes Tscher tte, der Freund des Gram-
mateus, der Besucher Werner's in Nürnberg, war auch zu Dürer in
freundschaftliche Beziehungen getreten und ein Brief von Tschertte
an Dürer wird im Britischen Museum aufbewahrt"). In diesem Briefe
ist ein ungleichseitiges Dreieck durch eine Figur in ein Rechteck
gleichen Flächeninhaltes umgewandelt, und wenn auch der Veröif ent-
licher die Figur mitzutheilen unterlassen hat, so liegt die Muthmassung
doch nahe, es sei vielleicht die in Düi-er's zweitem Buche benutzte
gewesen, oder Dürer, welcher Tschertte die in dem Briefe besprochene
Aufgabe gestellt hatte, habe gerade damals zu seinem zweiten Buche
das Material vorbereitet. Drittens, die Circulatur des Quadrates be-
ruht auf der Annahme :t = 3— , von welcher Vitruvius ^) (Bd. I,
S. 508), von welcher Inder (Bd. I, S. 602) Gebrauch machten. So
bewährt sich unser Ausspruch, dass im zweiten Buche geschichtlich
Bekanntes auftrete, in ziemlich grossem Maasse. Aber wir setzten
hinzu, das geschichtlich Bekannte erscheine hier in wesentlich neuer
Auffassung. Wie ist das gemeint? Nirgend, wo uns auch Näherungs-
constructionen schwieriger Figuren früher begegneten, war mit einem
Worte darauf aufmerksam gemacht, dass eine geometrische Genauig-
keit nicht erreicht werde. Offenbar wähnte man richtige Vorschriften
1) Buch n, Fig. 28, 32, 34. -) Staigmüller 1. c. S. 51, Note 2 mit Be-
rufung auf Jahrbücher für Kunstwissenschaft I, 21. ^ Ebenda 1. c. S. 29,
Note 1 hält die Stelle bei Vitru%-ius für fehlerhaft. Dieser habe ;r = 3 gerechnet.
Deutsche Geoineter. Englische Mathematiker. 465
zu besitzen. Lionardo da Vinci sagte es sogar ausdrücklich bei der
Siebenecksconstruction. Albrecht Dürer ist der erste, welcher
die Näheruugsconstructiouen mit vollem Bewusstsein aus-
geführt hat. Beim Siebeneck spricht er von einem „geraeinen
weg den man von behendigkeyt wegen in der arbeyt braucht". Beim
Elfeck heisst es „also das es sich Mechanice aber nit demonstrative
findet", beim Dreizehneck „ist aber auch mechanice und nit demon-
strative". Bei der Bogendreitheilung lautet Dürer's Ausspruch: „wer
es will genauer haben, der such es demonstrative". Die Verwandlung
des gleichseitigen Dreiecks in ein Quadrat schränkt er ein durch die
Worte: „Man mag auch ein Dryangel vnd ein quadrat von der be-
hendigkeit wegen also gegen eynander vergleychen". Bei der Cir-
culatur des Quadrates endlich ist vollends der Satz vorausgeschickt:
„Solches ist noch nit von den gelerten demonstrirt. Mechanice aber
das ist beyleyfig also das es im werck nit oder gar ein kleyns feit
mag dise vergleychnüss also gemacht werden". Beim Fünfeck, her-
gestellt unter Anwendung einer einzigen Zirkelöifnung, und beim
Neuneck fehlen ähnliche Bemerkungen. Ob Dürer diese beiden Con-
structionen für genau hielt? Mag er in diesen Irrthum verfallen
sein, den wir für möglich, aber keinenfalls für erwiesen halten, wie
vielen Gelehrten ist nicht das Gleiche begegnet, dass sie gerade inner-
halb ihres eigenen Gebietes einen Fehlschritt thaten! Dass er in
anderen Fällen so deutlich zwischen Richtigem und nur in der Aus-
übung Nützlichem unterschied, stellt ihn auf eine wissenschaftliche
Höhe, welche kaum ein zweiter Geometer des XVI. Jahrhunderts er-
reicht hat. Dieses Urtheil wird, meinen wir, noch dadurch bestärkt,
dass Dürer bei vielen Constructionen Althergebrachtem sich gegen-
über befand, bei welchem einen wissenschaftlichen Zweifel zu hegen
weitaus nicht so nahe lag, als bei Selbsterdachtem oder durch Ver-
suche Ermitteltem. Wir haben weiter oben von der Hand gewiesen,
dass Dürer der Geometria deutsch sich bedient haben könne. Unsere
damalige Begründung erscheint uns auch jetzt vollständig zutreffend,
aber die Uebereinstimmung mehrerer Verfahren ist doch nicht zu
verkennen. Da sind wir wohl genöthigt für beide, für Dürer wie
für den Verfasser der Geometria deutsch, eine und dieselbe Quelle
anzunehmen, anzunehmen (S. 452) dass hier Vorschriften vorliegen,
welche im Baugewerbe üblich waren, und deren Ursprung nachzu-
forschen um so schwieriger ist, als gerade die sogenannte Bauhütte
es immer geliebt hat, sich recht geheimnissvoll zu gebahren. Sogar
das Werk des Vitruvius, wenn es auch bewusst oder unbewusst
noch immer den grössten Einfluss in der Baukunst übte, gelangte erst
mehr als zwanzig Jahre später als Dürer's Unterweysung in die
Cantor, Geschichte der Matheni. II. 2. Aufl. ÜO
466 63- Kapitel.
OefiPentliclikeit der des Lateinischen unkundigen deutsehen Baumeister.
Wieder ein Nürnberger war es: Walter Rivius^), Arzt und Mathe-
matiker, der 1548 Vitruv in deutscher Sprache herausgab.
Das 3. Buch bietet geringen Aiilass dabei zu verweilen. Es
handelt von mancherlei Körpern, von aus Vielflächnern zusammen-
gesetzten Denkmälern, von Höhenmessungen mit Hilfe eines recht-
winkligen Dreiecks mit in einem Gelenke beweglicher Hypotenuse^),
von der Herstellung von Sonnenuhren, endlich von der Anfertigung
eines Alphabetes aus lauter geometrischen Bestandtheilen. Eine solche
geometrische Schönschrift, wie man die Sache ganz kennzeichnend
genannt hat, ist uns schon (S. 344) bei Paciuolo begegnet.
Das 4. Buch beginnt mit einem, so viel wir wissen, ganz neuen
Gegenstande, für welchen Dürer hiernach das Erfinderrecht zukommt.
Regelmässige und halbregelmässige Vielflächner im Modelle herzustellen
war bekannt; aber war es möglich ein zusammenhängendes
Netz für solche Körper zu zeichnen, welches zusammengesetzt
dieselben entstehen Hess? Dürer beantwortete die Frage durch die
That. Er zeichnete in dem 4. Buche die Netze der fünf regelmässigen
Vielflächner, sodann diejenigen solcher Körper, deren Grenzflächen
folgende sind: 1) 4 Sechsecke, 4 Dreiecke-, 2) 6 Achtecke, 8 Drei-
ecke; 3) 6 Viereke, 8 Dreiecke; 4) 8 Sechsecke, 6 Vierecke; 5) 18 Vier-
ecke, 8 Dreiecke; 6) 6 Vierecke, 32 Dreiecke; 7) 6 Achtecke, 8 Sechs-
ecke, 12 Vierecke; 8) 6 Zwölfecke, 32 Dreiecke; 9) 6 Vierecke,
12 Dreiecke. Ueberall sind die Grenzflächen regelmässig gedacht,
nur beim 8) Körper sind 24 unter den 32 Dreiecken nicht gleich-
seitig sondern nur gleichschenklig, oder wie Dürer es ausspricht, „sie
haben aber nit all gleych seyten". Nun folgt die Würfelverdoppelung
oder allgemeiner Würfelvervielfachung, indem Dürer ausdrücklich
hervorhebt, auch bei letzterer komme es nur auf das Einschalten
zweier geometrischer Mittel an. Dürer lehrt zwei Auflösungen, die
Platonische und die Heronische (Bd. I, S. 214 und 350), ohne freilich
deren Erfinder zu nennen. Woher er die Methoden hatte, ist nicht
schwierig zu errathen: Werner wird sie ihm mitgetheilt haben. Ge-
lesen hat aber Dürer Werner's Buch nicht, da ihm die Kenntniss
der lateinischen Sprache abging. Wieder ein anderer Gegenstand
folgt, die auf einen Würfel angewandte Lehre von der Beleuch-
tung und vom Schatten werfen durch mehrfache Zeichnungen
erläutert, bei welchen der Stand der Sonne stets so gewählt ist, dass
sie mit dem sehenden Auge auf der gleichen Seite des Würfels sich
*) D op pe Im ay r an verschiedenen Stellen. -) Buch HI, Figur 19.
Der erklärende Text findet sich erst drei Seiten später gegenüber von Figur 21.
Deutsche Geometer. Englische Mathematiker. 467
befindet. Dazwischen ist kurz ausgesprochen und an einer schema-
tischen Zeichnung^) (Figur 92) zur Anschauung gebracht, dass dem
Fig. 92.
Auge in einer Grösse erscheine, was zwischen denselben
Grenzstrahlen enthalten sei, „es sey nahent oder fern, aufrecht
vber ort oder krum".
Am Schlüsse des Werkes erscheinen zwei Holzschnitte von geo-
metrisch-künstlerischer Bedeutung. Alberti hatte (S. 293) eines
Schleiers zur Anfertigung perspectivisch richtiger Abbildungen sich
bedient. Dürer veränderte Alberti's Erfindung einigermassen , und
seine Vorrichtungen sind in den beiden Holzschnitten zur Anschauung
gebracht. Ein Rahmen ist mit einer nach aussen sich öffnenden in-
wendig papierüberzogenen Thüre verschlossen. An den vier Seiten
des Rahmens und mit denselben gleichlaufend befinden sich Stäbchen,
längs deren ein oben und unten befestigter Verticalfaden und ein
rechts und links befindlicher Horizontalfaden verschiebbar sind. Der
Zeichner sitzt hinter dem Rahmen, und hinter dem Zeichner ist an
einem Wandhaken ein langer Faden befestigt. Bei geöffneter Appa-
ratthüre wird jener Faden bis zu einem abzubildenden Punkte ge-
spannt und der Ort, wo der Faden durch den Rahmen geht, durch
Kreuzung der beiden verschiebbaren Fäden bemerklich gemacht. Nun
wird der lange Faden wieder zurückgezogen, der Apparat geschlossen
und ein Punkt auf das Thürinnere bei der soeben bewerkstelligten
Fadenkreuzung gemalt. Beliebig viele Punkte des abzubildenden
Gegenstandes können so nach einander erhalten werden und geben
jedenfalls ein richtiges Bild, dessen Augenpunkt der Wandhaken ist,
von welchem der lange Faden ausgeht. Ein zweiter Vorschlag Dürer's,
der in dem zweiten Holzschnitte verdeutlicht ist, benutzt statt des
Rahmens eine Glastafel, auf welcher mit einem Stifte die Umrisse
des abzubildenden Gegenstandes festgehalten werden. Wir haben
behauptet, Dürer habe damit nur Alberti's Erfindung abgeändert^ und
darin liegt zugleich die weitere Behauptung, er habe sie gekannt.
Daran kann in der That nicht gezweifelt werden. Dürer war in den
Jahren 1505 bis 1507 in Venedig, um den staatlichen Schutz seines
Monogramms, d. h. Schutz gegen Nachdruck seiner Holzschnitte zu
1) Buch IV, Figur 55.
468 63. Kapitel.
erwirken. In einem Briefe aus Venedig hat nun Dürer von einem
Abstecher erzählt, welchen er Ende 1506 nach Bologna machte, um
daselbst Unterricht in der Perspective zu nehmen. Der Lehrer war
natürlich ein Italiener, und dass ein italienischer Lehrer seinen Schüler
mit dem seit 70 Jahren in Uebung befindlichen Verfahren Alberti's
bekannt gemacht haben wird, ist gleichfalls nicht mehr als natürlich.
Ungewissheit herrscht nur über einen Punkt: wer wohl Dürer's Lehrer
gewesen sein mag? Man hat an Lucas Paciuolo gedacht, aber dieser
lebte schon seit 1503 in Florenz und nicht mehr in Bologna^).
Scipio Ferreus dagegen lehrte von 1496 bis 1526 ununterbrochen
in Bologna. Haben wir anzunehmen, dass Dürer seinen Unterricht
genoss, dass er vielleicht auch von ihm in die Kunst Constructionen
mit nur einer Zirkelöffnung auszuführen eingeweiht wurde? Es ist
fruchtlos solchen Vermuthungen nachzujagen, die man weder beweisen
noch widerlegen kann.
Dürer's zweite Schrift von 1527 heisst Etliche vnderricht zu
befestigung der Stett, Schloss und Flecken. Sie ist gradezu
bahnbrechend in der Geschichte des Festungskriegs geworden, indem
in ihr zum ersten Male die grossen Grundgedanken ausgesprochen
sind, welche als unerlässlieh bei der Anlage und Vertheidigung eines
befestigten Platzes in Geltung blieben, so vielfältige Abänderungen
im Einzelnen die Fortschritte der Bewaffnung hervorbrachten. Die
Geschichte der Mathematik hat mit dem Werke nichts zu thun.
Nicht viel länger verweilt dieselbe bei Dürer's vier Büchern Von
menschlicher Proportion von 1528. Dürer überwachte nur den
Druck des 1. Buches, die drei folgenden lagen zwar bei seinem Tode
handschriftlich vor, allein man hat immerhin damit zu rechnen, dass
der Verfasser selbst während des Druckes starb. Dieses Werk^) ent-
spricht gleichfalls einer Vorarbeit Alberti's, wie wir es für die per-
spectivischen Vorrichtungen behauptet haben, und die Wahrschein-
lichkeit ist nicht von der Hand zu weisen, dass Dürer, nachdem er
Alberti einmal als zuverlässigen Führer erkannt hatte, auch ein zweites
Mal sich gern seiner Leitung anvertraute. Die Anlehnung ist be-
sonders darin ersichtlich, dass Dürer gleich Alberti die ganze Körper-
länge des Menschen in 600 Theile zerlegt hat, von welchen eine ge-
wisse Anzahl auf jeden Körperabschnitt kommt. Daneben kennt er
allerdings auch andere Verhältnisszahlen, z. B. dass der Mensch 7
Kopflängen gross sei u. s. w.
Waren Werner und Dürer unbedingt die für unsere Betrachtung
^) Staigmüller, Lucas Paciuolo in Zeitschr. Math. Phys. XXXIV, Histor.-
literar. Abthlg. S. 94 Note 5. -) Kästner I, 694—697.
Deutsche Geometer. Eii.:^lische Mathematiker. 469
hervorragendsten Persönlichkeiten des Pirckheimer'schen Kreises, so
sind doch zwei andere Männer noch in aller Kürze zu erwähnen:
Johannes Schöner und Andreas Oslander. Ersterer, auch
Schoner^) genannt, ist 1477 in Karlstadt in Franken geboren, 1547
in Nürnberg gestorben. Er war Priester an der St. Jacobskirche in
Bamberg, als er 1526 zur Stelle des Professors der Mathematik an
dem damals unter Mitwirkung von Melanchthon gegründeten Gym-
nasium in Nürnberg berufen wurde. Geographische und namentlich
astrologische Schriften machten ihn so berühmt, dass etwa 20 Jahre
nach seinem Tode ein dichterischer Lobredner des gleichfalls vor
Kurzem verstorbenen Simon Jacob die drei berühmten Franken
Regiomontan, Schoner, Jacob in Vergleich bringen durfte^), welche
ihren Heimathsorten Königsberg, Karlstadt, Coburg zu gleichem Ruhme
gereichten. Von diesen Uebertreibungen haben wir uns selbstver-
ständlich fern zu halten, doch erkennt die Geschichte der Mathematik
es dankbar an, dass Schöner mehrere Schriften aus Regiomontan's
Nachlasse, welche ihm zu diesem Zwecke übergeben wurden, zum
Druck beförderte, insbesondere das Werk De triangulis sammt der
beigefügten Gegenschrift gegen die Kreisquadraturen des Nicolaus
von Cusa. Auch Regiomontan's Schrift über die Kometen, dessen
Siuustafeln, dessen Erläuterungen zum Abnagest hat Schöner heraus-
gegeben, dessgleichen Peurbach's Büchlein De quadrato geometrico
und nicht minder den Algorithmus demonstratus , der sich in Regio-
montan's Nachlasse vorfand, da jener ihn aus einer Wiener Hand-
schrift abgeschrieben hatte. Das Lob dürfen wir also Schöner un-
bedingt zuerkennen, dass er in der Wahl der Schriften, welche er
der Oeffentlichkeit übergab, sehr glücklich war. An der Drucklegung
eines letzten Werkes betheiligte er sich gemeinschaftlich mit Andreas
Oslander^) (1498 — 1552). Dieser streitbare Prediger der neuen
Glaubenslehre ist vorzugsweise Reformator auf kirchlichem Gebiete
gewesen, als solcher in zahlreiche Zwistigkeiten verwickelt, wo immer
er verweilte, in Nürnberg ebensowohl als später in Königsberg am
Hofe des Herzogs Albrecht. Dort zählte er z. B. Michael Stifel
unter seine Gegner. Wir haben seiner hier in einer ganz anderen
Eigenschaft zu gedenken. Gemeinsam mit Schöner leitete er den
1543 in Nürnberg vollendeten Druck des koppernikanischen
Werkes über die Kreisbewegungen der Weltkörper, und
Oslander allein fügte dem ursprünglichen Titel De revolutionibus die
^) Doppelmayr S. 45— .50 und S. 80 Note tt. — G. A. Will, Nürnbergisches
Gelehrtenlexicon III, 559—561 (Nürnberg und Altdorf 1757). ^) Zeitschr. Math.
Phys. XX, Histor.-literar. Abthlg. S. 66. ^ Doppelmayr S. 58— 61.— Allgem.
deutsche Biographie XXIV, 473—483 Artikel von W. Möller.
470 63. Kapitel.
abschwächenden Worte orhium caelestium bei, unterdrückte eine Ein-
leitung des Verfassers und ersetzte sie durch die unglückselige Vor-
rede, welche mit der Aeusserung, es sei nicht erforderlich, dass
Hypothesen über astronomische Dinge wahr oder auch nur wahr-
scheinlich seien, es reiche schon allein hin, dass sie eine mit den
Beobachtungen übereinstimmende Rechnung ergeben, welche mit
dieser Aeusserung, sagen wir, die allerdings keineswegs beabsichtigte
Veranlassung zu späterer Ketzerrichter ei gegen das Werk und seine
Verehrer gab.
Damit gewinnen wir selbst aber den Uebergang zu dem Ver-
fasser des unsterblichen Werkes, welchen die Geschichte der Mathe-
matik stolz ist nennen zu dürfen, wenn sie auch nicht gleich der
Geschichte der Sternkunde einen neuen Abschnitt mit ihm zu begin-
nen hat. Nicolaus Koppernigk ^), wie die wahrscheinlichste
Rechtschreibung des Namens lautet, ist in Thorn am 19. Februar
1473 geboren, in Frauenburg am 24. Mai 1543 gestorben. Er stu-
dirte 1491—1494 in Krakau, 1496—1500 in Bologna. Während
dieses Aufenthaltes wurde er 1497 zum Frauenburger Domherr er-
wählt. Auch in Rom verweilte der junge Domherr noch über ein
Jahr, bevor er 1501 auf kurze Zeit nach Hause reiste. Nach Juli
1501 setzte er medicinische und juristische Studien in Italien, zunächst
in Padua fort. Den juristischen Doctortitel erwarb er den 31. Mai
1503 in Ferrara. Zwischen 1505 und 1506 war die endgültige Rück-
kehr in die Heimath. Die verschiedensten Geschäfte erfüllten dort
sein Leben, und dazwischen arbeitete er seit 1506 unablässig an dem
grossen Werke, das ein neues Weltsystem begründen sollte. Gegen
1530 war es vollendet. Etwa drei Jahre später verfasste Koppernikus
eine Selbstanzeige, die erst 1878 aus einer Wiener Handschrift zur
Veröffentlichung gelangte. Die erste gedruckte Nachricht von dem
koppernikanischen Werke gab die Narratio prima de lihris revolutio-
num von 1539 aus der Feder eines Schülers, Georg Joachim von
Lauchen, von welchem gleich nach Koppernikus die Rede sein
wird. Eben dieser brachte 1541 das druckreife Manuscript der „Re-
volutionen" nach Nürnberg und überwachte den Satz der ersten
Bogen, dann reiste er ab, und Schöner und Osiander übernahmen,
wie wir wissen, die Besorgung. Der Druck dauerte bis 1543, und
die Sage will, das erste fertige Exemplar sei dem Verfasser auf dem
*) Nicolaus Coppernicus von Leopold Prowe. Bd. I: Das Leben. Bd. II:
Urkunden (Berlin 1883—1884). Bd. III: Die Lehre, ist in Folge des Todes des
Verfassers leider unvollendet geblieben. Die beste Ausgabe des Werkes De
revolutionibus orhium caelestium ist die sogenannte Jubiläumsausgabe (Thorn
1873), ins Deutsche übersetzt von Menzzer (Thom 1879).
Deutsehe Geometer. Englische Mathematiker. 471
Todteiibette überreicht worden. Wir haben es mit dem grossen
Werke nur soweit zu thun, als es mathematisches Wissen des Ver-
fassers verräth und mittheilt, und das ist vorzugsweise im 12., 13.,
14. Kapitel des I. Buches der Fall, welche die Ueberschriften führen:
12. lieber die geraden Linien, welche Sehnen im Kreise sind. 13. lieber
die Seiten und Winkel der ebenen geradlinigen Dreiecke. 14. lieber
die sphärischen Dreiecke. Ursprünglich bildeten diese Kapitel ein
besonderes, und zwar das IL Buch des Werkes^), später wurden sie
von Koppernikus unter mancherlei Kürzungen zum I. Buche geschla-
gen und büssten so einen Theil ihrer Selbständigkeit ein, in welcher
sie dem Leser ein kurzgefasstes Lehrbuch der Trigonometrie ersetzten.
Wir glauben über den Inhalt^) genügend Rechenschaft zu geben,
wenn wir bemerken, dass Koppernikus sich ziemlich streng an den
Almagest des Ptolemäus anschloss, mit der Trigonometrie des Regio-
montan dagegen anfangs kaum bekannt gewesen sein dürfte. Als er
später diese Bekanntschaft erwarb, fügte er, wie aus der Original-
handschrift zu erkennen ist^), die beiden wichtigsten Aufgaben der
sphärischen Trigonometrie, aus den drei Seiten die Winkel, aus den
drei Winkeln die Seiten des sphärischen Dreiecks zu ermitteln, nach-
träglich bei, aber die Beweisführung ist ihm hier durchaus eigen-
thümlich. Auch an anderen Stellen der Revolutionen kommen geo-
metrische Dinge vor, welche Beachtung verdienen, und welche eine
genaue Durchforschung des koppernikanischen Werkes nach dieser
Richtung als vielleicht lohnend vermutheu lassen. Man hat z. B. be-
merkt*), dass im 4. Kapitel des III. Buches der Satz ausgesprochen
und bewiesen ist, dass jeder Punkt des Umfanges eines im Innern
eines Kreises von doppeltem Halbmesser längs dessen Umfang rollen-
den Kreises bei seiner Bewegung einen Durchmesser des grösseren
Kreises beschreibt. Zur Würdigung der mathematischen Kenntnisse
des Koppernikus sind ausser den Revolutionen noch die Einzeich-
nungen zu beachten, welche er in verschiedene nachweislich von ihm
besessene Bücher machte^). Zu diesen Büchern gehörte ein Exemplar
der Tabula diredionum Regiomontan's in einem Augsburger Drucke,
der 1490 aus Ratdolt's Werkstätte hervorgegangen war. Kopper-
nikus hat darin die Tabula foecunda des Regiomontanus durch eine
1) Jubiläumsausgabe S. 34 Note. *) Ueber den Inhalt vergl. Fasbender,
Die Kopernikanischen Sehnen- und Dreiecksberechnungen. Programm des Thor-
ner Gymnasiums und der Realschule erster Ordnung für 1872. ^) Prowe 1. c.
Bd. I Abtheilung 2 S. 478—479 Note **. ") Max. Curtze in der Bibliotli.
mathem. 1888 S. 65—66 und 1895 S. 33— 34. ^) Max. Curtze, Beliqiciae Coper-
nicanae, Zeitschr. Math. Phys. XIX, 76—82 und 432—458. XX, 221—248. Ueber
die trigonometrische Secante vergl. 1. c. XX, 221 — 222.
472 153. Kapitel.
neuberechnete Columne ergänzt, welche die Ueberschrift 'Tjtotsovovöa
führt, während die von Regiomontan herrührenden Zahlen mit Kad'stog
überschrieben sind. Der Sinn dieser Ausdrücke ist aus den bei-
stehenden Zahlen mit Sicherheit zu entnehmen
und entspricht auch dem Augenscheine (Fig. 93).
BC ist xadstog, AC ist vjiorsLvovGa oder trigo-
nometrisch ausgedrückt ersteres ist die Tan-
gente, letzteres die Secaute, welche durch
Koppernikus in die Wissenschaft eingeführt war.
Der Oeffentlichkeit gehörte aber diese trigono-
metrische Function vorläufig noch nicht an; wenig-
stens ist eine Anwendung derselben nicht einmal
in den Revolutionen des Koppernikus selbst nachweisbar.
Wir erwähnen hier gelegentlich auch eine von Koppernikus auf-
gestellte Brodorduung, welche etwa gleichzeitig mit der durch
Adam Riese berechneten Annaberger Brodordnung (S. 422) sein mag.
Deren Handschrift (nicht von Koppernikus selbst gefertigt) findet
sich mit einer Handwerksordnung von 1531 vereinigt in einem zu
Upsala aufbewahrten Sammelbande ^).
Es war von einem Schüler des Koppernikus lihäticus-) die
Rede. Wie der eigentliche Name dieses Gelehrten lautete, steht nicht
fest. Er ist fast ausschliesslich als Rhäticus, der im Voralberg Ge-
borene, bekannt nach seinem Heimathsorte Feldkirch, wo er 1514
zur Welt kam. Er starb 1576 zu Kaschau in Ungarn. Unter den
verschiedenen Vermuthungen über den Familiennamen hat diejenige
viel für sich, er habe Georg Joachim von Lauchen geheissen, wäh-
rend Andere Joachim für den Familiennamen halten. Rhäticus
studirte in Zürich, Wittenberg, wo er 1535 den Grad als Magister
erwarb, Tübingen, Nürnberg und trat an diesem letzteren Orte zu
Johannes Schöner in engere Beziehung. Während Rhäticus in
Nürnberg verweilte, starb 1536 Volmar in Wittenberg, vor wenigen
Jahren sein Lehrer in Mathematik und Astronomie. Melanchthon,
damals, wie wir wissen (S. 408), allmächtig in Universitätsangelegen-
heiten vorab so weit sie Wittenberg betrafen, setzte die Zweitheilung
der einen bisher vorhandenen mathematischen Professur durch und
liess für die höhere Mathematik, worunter man die Astronomie zu
verstehen hat, Erasmus Reinhold^) ernennen, während für die
^) Curtze in den Mittheilungen des Coppernicus -Vereins für Wissenschaft
und Kunst. Heft I, S. 47—51 (Leipzig 1878). "; Allgemeine deutsche Biogra-
phie XIV, 93—94 Artikel von Bruhns und XXVIII, 388—390 Artikel von
Günther. 3) Ebenda XXVni, 77—79 Artikel von Günther.
Deutsche Geometer. Englische Mathematiker. 473
niedere Mathematik, Aritlinietik und Geometrie umfassend, wieder auf
Melanchthon's Vorschlag, der noch nicht 23jährige Rhäticus berufen
wurde. In der Antrittsvorlesung vom 5. Januar 1537 verlas dieser
die von Melanchthon angefertigte Declamation über den Nutzen der
Arithmetik. Zwei Jahre verwaltete Rhäticus sein Amt, da drang das
Gerücht von der neuen Lehre, welche der Domherr in Frauenburg
besass, zu ihm, und er zog offenbar mit Einwilligung der Universitäts-
behörde, da ihm seine Stelle sonst doch nicht offen gehalten worden
wäre, im Frühjahr 1539 nach Preussen, um dort einen bis zum Spät-
herbst 1541 dauernden Aufenthalt zu nehmen. Erste Frucht des
täglichen Umganges mit Koppernikus war die noch 1539 in Danzig
gedruckte Narratio prima de libris revölutionum, eine vorläufige aber
schon ziemlich ausgedehnte Mittheilung über das zu erwartende Werk.
Ein Encomium Borussiae war angehängt, eine im Humanistenstyle
verfasste, etwas überschwängliche Schilderung des Landes, in welchem
Rhäticus sich befand. Er trat dadurch zu Herzog Albrecht in per-
sönliche Beziehung und verfasste für diesen eine im August 1541
vollendete Chorographie Preussens^). Inzwischen wurden die Revo-
lutionen des Koppernikus vollendet. Rhäticus brachte die fertig ge-
stellte Handschrift Ende 1541 nach Nürnberg, wo der Druck bei
Petreius begann, zuerst, wie wir gesehen haben, unter des Rhäticus
eigener Ueberwachung, dann unter der Schöner's und Osiander's. Die
Originalhandschrift hat sich bis auf den heutigen Tag erhalten. Mit
dem Druck verglichen zeigt sie einestheils erhebliche Abweichungen
von demselben, anderntheils durchaus keinerlei Strichelchen oder der-
gleichen, wodurch der Setzer sich bemerklich gemacht haben könnte,
wie weit er im Satze gelangt war. Beide Umstände vereinigt nöthigen
dazu anzunehmen, es sei von der Originalhandschrift noch eine Ab-
schrift genommen worden, welche beim Drucke selbst diente. Diese
Setzerabschrift, wie man sie wohl genannt hat, muss von einem
humanistisch Gebildeten angefertigt worden sein, der z. B. viele in
der Handschrift des Koppernikus lateinisch geschriebene Wörter mit
griechischen Lettern schrieb, der die bei Koppernikus regelmässig
auftretende Wortform caelum eben so regelmässig in coelum umwan-
delte u. s. w. Letztere Schreibweise ist in der Narratio prima des
Rhäticus in fortwährender Uebung und hat wesentlich zu der Ver-
muthung geführt, Rhäticus werde die Setzerabschrift hergestellt haben ").
Es ist um so auffallender, dass Oslander, der doch die Fortsetzung
des Druckes leitete, in seiner unterschriftlosen Vorrede nicht bloss
^) F. Hipler hat den Abdruck in der Zeitschr. Math. Phys. XX, Histor.-
literar. Abthlg. veranlasst. -) Prowe 1. c. Bd. I, Abtheilung 2, S. 504 Note *.
474 63. Kapitel.
zu der Form caeluni zurückkehrte, sondern sie sogar mit Plinius durch
Ableitung von caelare rechtfertigte.
In jenen zweiten Nürnberger Aufenthalt fällt die von Rhäticus
gehegte, aber nicht zur Ausfühning gebrachte Absicht, die Kegel-
schnitte des Apollonius herauszugeben, von welchen ein griechischer
Text aus Regiomontan's Nachlasse in Nürnberg vorhanden war.
Folgenden Jahres 1542 war Rhäticus wieder in Wittenberg und
gab dort die Schrift De laterihus et angidis triangulorum libellus im
Drucke heraus^). Regiomontan habe, so erklärt Rhäticus in einer
Vorrede, über Dreiecke geschrieben, und diese Schrift sei unlängst
veröffentlicht worden, aber lange vor dieser Veröffentlichung habe
Koppernikus unabhängig davon die gleichen Gegenstände behandelt,
indem er an Ptolemäus vielmehr sich anlehnend dieser Sätze bei der
wissenschaftlichen Begründung der Lehre von der Bewegung der
Himmelskörper bedurfte, und dessen Untersuchungen übergebe er nun
dem Drucke. Der libellus triangulmiim von 1542 ist in der That
nicht mehr und nicht weniger als das 13. und 14. Kapitel des
I. Buches der Revolutionen, welche losgetrennt aus dem Uebrigen
früher in die Oeffentlichkeit gelangten. Sie wurden allerdings mannig-
fach von Rhäticus, wie man annehmen muss, abgeändert und auch
eine wesentliche Anordnungsänderung hat dieser sich gestattet. Kop-
pernikus hat seinem 13. und 14. Kapitel im 12. Kapitel eine Tafel
der halben Sehnen des doppelten Bogens — des Wortes Sinus be-
dient er sich nicht — für die um je 10' wachsenden Winkel von 0
bis zu 90" vorausgeschickt und den Kreishalbmesser zu 100000 an-
genommen. Rhäticus hat eine Tabelle verwandter Natur den beiden
trigonometrischen Kapiteln nachfolgen lassen, die offenbar seine eigene
Arbeit gewesen ist. Das Wort Sinus vermied er, wie es in den Re-
volutionen vermieden ist, aber die Winkel Hess er, statt um 10', um
je 1' wachsen, und sein Kreishalbmesser war hundertmal grösser,
also 10000000. Jeder Winkelspalte ist die Angabe der Grade am
Kopfe beigedruckt, die der Minuten am Rande von oben nach unten
zunehmend. Aber eine zweite Angabe von Graden und Minuten findet
sich unten am Fusse der Spalte und am anderen Rande von unten
nach oben zunehmend und jene erstere Angabe zu 90" ergänzend,
so dass es möglich ist abzulesen, welcher Winkel der jedesmalige
Complementwinkel ist, der den aufgefundenen Sinus, wie wir heute
sagen, zum Cosinus hat. Diese Einrichtung rührt mit grösster Wahr-
scheinlichkeit von Rhäticus her. Was wir aus der Vorrede zum Li-
bellus triangulorum anführten, bestätigt das (S. 471) Gesagte, dass
1) Prowe 1. c. Bd. I, Abtheilung 2, S. 480—489.
Deutsche Geometer. Englische Mathematiker. 475
Koppernikus bei der ersten Niederschrift seiner Trigonometrie mit
der des Regiomontanus wohl nicht bekannt war. Auch die weitere
Behauptung, er habe später diese Keuntniss erlangt, sind wir in der
Lage bestätigen zu können. Ein Exemplar von Regiomontan's De
triangulis hat sich erhalten ^), welches die eigenhändige Widmung des
Rhäticus an Koppernikus trägt. Leider ist dieselbe nicht datirt, so
dass es unmöglich ist genau zu bestimmen, ob dieses Geschenk in
Frauenburg während des Rhäticus Aufenthalt daselbst von Hand zu
Hand erfolgte, oder ob es von Nürnberg oder Wittenberg aus als
Zeichen der Dankbarkeit dem fernen Lehrer zugeschickt wurde. Wahr-
scheinlicher ist das erstere, denn wie wollte man sonst die ebenfalls
(S. 471) erwähnte Einschaltung zweier Sätze des Regiomoutan in die
koppernikanische Originalhandschrift erklären, welche doch Rhäticus
aus Preussen nach Nürnberg brachte.
Des Rhäticus Bleiben in Wittenberg war nicht von langer' Dauer.
Noch im gleichen Jahre 1542, in welchem er heimgekehrt war, ver-
liess er diese Universität, um nach Leipzig überzusiedeln, wohin er
einem Rufe folgte. Hier beginnt die zweite Periode seiner Wirksam-
keit, von welcher wir in dem XIV. Abschnitte zu reden haben. Wenn
wir auch sonst kein Bedenken tragen und im 66. Kapitel den Be-
weis dafür reichlich liefern werden, die Grenzen der als Ueberschriften
der Abschnitte gewählten Zeiträume ziemlich weit zu überschreiten,
wenn es darauf ankommt, das Bild einer Persönlichkeit nicht zu zer-
reissen, bei Rhäticus ist es anders. Seine seit 1542 entfaltete Thätig-
keit gipfelt in einem erst 1596 fast 20 Jahre nach seinem 1577 er-
folgten Tode unter anderen Händen vollendeten Werke und hängt
mit weiteren Arbeiten ähnlicher Natur eng zusammen, welche alsdann
auch im Zusammenhange behandelt werden müssen.
Wir dürfen jetzt, nachdem wir Werner und Dürer, Koppernikus
und Rhäticus kennen gelernt haben, mit grösserer Befriedigung als
am Anfange des Kapitels auch Apian's und des Gemma Frisius uns
erinnern, sechs würdige Vertreter geometrisch -trigonometrischer Be-
strebungen in Deutschland, von denen allerdings vier eher den Tri-
gonometern als den Geometern angehören, einer, Werner, eine Mittel-
rolle spielt, Dürer endlich das volle Zeug zum wirklichen Geometer
besass: Sinn für geometrische Strenge, verbunden mit der dem Geo-
meter und dem Künstler gemeinsamen Freude an der Gestalt.
Wir würden ein neues Kapitel hier zu beginnen haben, wenn
nicht ganz äusserliche Gründe uns veranlassten noch fortzufahren.
England, wohin wir unsere Blicke zu wenden haben, liefert uns
1) Prowe 1. c. Bd. I, AbtheUung II, S. 408.
476 63. Kapitel.
am Anfange des XVI. Jahrhunderts nur etwa drei Persönlichkeiten,
welche unsere Aufmerksamkeit fesseln, aber nicht genügen ein ganzes
Kapitel zu füllen, und welche immerhin leichter an Deutschland
als an Italien, wohin wir im Nachfolgenden übergehen, sich anglie-
dern lassen.
Cuthbert Tonstall i) (1474—1559) studirte in Oxford, dann
in Cambridge, später in Padua, wo er den Grad eines Doctors der
Rechte sich erwarb, wo er aber auch mathematische Kenntnisse in
sich aufnahm, insbesondere aus den Werken von Regiomontanus und
Paciuolo. Seine vielseitige Bildung warf ihn 1522 mitten ins poli-
tische Leben. Er wurde Bischof von London, Mitglied des geheimen
Raths, seit 1530 war er Bischof von Durham. Bald als Botschafter
zu diplomatischen Verhandlungen entsandt, bald unter dem Verdachte
heimlicher Verschwörung in den Tower geworfen, durch Königin
Maria befreit und seinem Amte wiedergegeben, durch Königin Elisabeth
neuerdings abgesetzt, lernte er Gunst und Ungunst seiner Fürsten
in rascher Abwechslung kennen. Bevor er 1522 zu Amt und Würde
gelangte, gab er als Lebewohl an die Wissenschaft, a farewell to tJie
science, eine Arithmetik in vier Büchern heraus: De arte supputandi
libri quatuor, welche auch ausserhalb England sich grossen Beifalls
erfreute und 1544 in Strassburg von dem eifrigen Pädagogen jener
Stadt, JohannesSturm, neu herausgegeben wurde. Viel Neues ist
in dem AVerkchen nicht vorhanden, und Tonstall selbst beruft sich
gegen Ende des IL Buches auf Paciuolo als seine Quelle^). Man
kann dagegen Tonstall das Lob klarer Darstellung, geschickter An-
ordnung, glücklicher Auswahl von Beispielen nicht vorenthalten.
Wir heben einige wenige Einzelheiten hervor, die bemerkenswerth
sein möchten. Tonstall ordnet an verschiedenen Stellen eine Anzahl
von Ergebnissen, deren mau öfters bedarf, in Tabellen. Eine Eins-
undeins-, sowie eine Einsvoneinstabelle, ein quadratisch gedrucktes
Einmaleins fehlt so wenig als eine Tafel der zehn ersten Kubik-
zahlen^). Bruchbrüche werden so geschrieben, dass nur bei dem ersten
ein Bruchstrich steht ^), z. B. -^ o .> bedeutet -^ von
4 3 2 4 3
von
Beim Quadratwurzelausziehen sucht man Näherungswerthe nach der
RegeP) ]/ JL = — y J. • a^ . Getreidepreis und Brodpreis sollen im
1) Kästner I, 94—96. Poggendorff II, 1117. W. W. Rouse Ball, A
Histonj of the study of Matliematics at Cambridge (Cambridge 1889) pag. 10.
-) Ea aiitem rudimenta ex Ärithmetica Lucae de Burgo, cuius nonien in ea arte
non x>arurn, neque abs re celebratur: excerpsimus. pag. 175 der Strassburger Aus-
gabe, welche uns vorlag. =*) Ebenda pag. 25, 39, 50, 106—107. *) Ebenda
pag. 119. ^) Ebenda pag. 167.
Deutsche Geometer. Englische Mathematiker. 477
Verhältnisse zu einander stehen und können tabellarisch übersichtlich
gemacht werden^). Die Fassung der Regel zur Auffindung der Summe
einer geometrischen Reihe ^) ist die gleiche, welche Prodocimo di
Beldomandi (S. 207) lehrte. Neu scheint uns eine Regel zur Auf-
findung des harmonischen Mittels^) zweier Zahlen. In Buchstaben,
die freilich bei Tonstall nicht vorkommen, läuft sie auf die Formel
hinaus, das harmonische Mittel zwischen a und h sei —7-4:^ h et-
Tonstall hat seine Arithmetik dem späteren unglücklichen Kanzler
Thomas Morus gewidmet und denselben gebeten, Gedächtnissverse
zum leichteren Behalten der Regeln des doppelten falschen Ansatzes
anzufertigen. Diese Verse lauten'^):
A plure cleme phisculum.
Minus minore subtrahe,
Pluri minus coniungito.
Atque ad minus plus adiice.
Der zweite Schriftsteller, den wir nennen, ist Robert Recorde^)
(1510 — 1558). Er war Leibarzt König Eduard VI. und nachmals der
Königin Maria, muss aber in seinen Ausgaben die durch diese Stellung
möglichen reichen Einnahmen weit überschritten haben, denn der
Tod ereilte ihn im Schuldgefängnisse Kings Bench. Schriftstellerische
Leistungen hat er seit 1540 veröflentlicht. Ein erstes Werk unter
dem Titel The Groimde of Artes wurde später von John Dee ver-
mehrt und 1582 in abermals vermehrter Auflage durch John Mellis
herausgegeben ^). Die Engländer, klagt Recorde in der Vorrede, seien
zwar nur von wenigen Völkern an natürlichem Menschenverstände
übertroffeu, aber sie seien entsetzlich unwissend, und dem wolle er
durch sein Buch einigermassen abhelfen. Er hat es in Gestalt eines
Gespräches zwischen Lehrer und Schüler auf englisch verfasst. Nicht
selten kommen im fortlaufenden Texte Reimzeilen vor, welche aber
durch den Druck nicht bemerklich gemacht sind^). Anfangs werden
Fehler des Schülers getadelt und zurechtgewiesen, in deren Auswahl
nicht zu verkennen ist, dass Recorde wusste, wo und wie Rechenfehler
zu befürchten sind. Einmal schreibt z. B. der Schüler eine 6 statt
1) Ebenda pag. 224. -) Ebenda pag. 378. ^) Ebenda pag. 330.
*) Ebenda pag. 390. ^) Rouse Bali 1. c. pag. 15—19. '^) Uns lag nur
diese 3. Auflage von 1582 vor, nach welcher wir citiren. ') Der Schüler sagt
z. B. einmal: And I to youre authoritie viy witte cloe mihdue, tvJiatsoever you
say, I take ü for true, worauf der Lehrer erwidert, das sei zu viel und Thoughe
I mighte of my Scholler some credence require, yet except I shew reason, I do it
'II ot desire.
478 63. Kapitel.
der 9; beim Addiren schreibt er ein anderesmal eine zweiziffrige
Theilsumme hin, statt deren Zehner im Sinne zu behalten; einen
di'itteu Fehler begeht er beim Kürzen von Brüchen: er war an-
gewiesen worden, im Zähler und Nenner auftretende Randnullen zu
streichen und kürzt dem entsprechend -— in — , was dem Lehrer
Veranlassung giebt zu betonen, die zu streichenden Nullen müssten
in Zähler und Nenner von gleicher Anzahl sein. Die Neunerprobe
spielt bei allen Rechnungs verfahren eine wichtige Rolle ungleich der
Tonstall'schen Arithmetik, in welcher sie nie angewandt ist. Auch
beim Rechnen mit benannten Zahlen, z. B. Pfunden, Schilling, Pence
ist die Neunerprobe wichtig. Da 1 dst. = 20 sh. ^= (18 + 2) sh.
und 1 sh. = 12 A = (9 -f- 3 j A , so zählt bei der Neunerprobe 1 ^st.
für 2 sh. und 1 sh. für 3 ä. Davon sehe ich den Grund nicht, sagt
der Schüler. Von vielen anderen Dingen auch nicht, no more doe
yon of manye things eise, tröstet der Lehrer, aber man müsse zuerst
durch kurz gefasste Regeln die Kunst erlernen, bevor man deren
Begründung verstehen könne. Nach dem Zifferrechnen wird auch
das Rechnen mit Rechenpfennigen, coimters, gelehrt, welches nicht
nur den Unkundigen des Schreibens und Lesens zu empfehlen sei,
sondern auch den Kundigen, wenn sie zufällig Feder oder Tafel nicht
zur Hand habendi, und auch an den Händen kann man rechnen^).
Die Einmaleinstabelle gibt Recorde in ihrer dreieckigen Anlage. Die
goldene Regel, the golden ride, oder directe Regeldetri wird von der
rückwärtsigen Regel, the hacker ride, unterschieden. Wie viel Yard
eines 3 Yard breiten Canvas braucht man, um 30 Yard 2 Yard
breites Tuch zu füttern, fragt der Lehrer als Beispiel der zweiten
Gattung. So breiten Canvas giebt es nicht, zvhy, tJiere is nmie so
hroade, antwortet der Schüler, worauf ihn der Lehrer mit einem:
das gilt mir gleich, / doe not care for that, auf das bloss Rechnungs-
mässige der Aufgabe hinweist. Wir haben bei Tonstall der Tabelle
für Getreide- und Brodpreis gedacht. Recorde belehrt uns, dass es
eine öffentliche Liste mit Gesetzeskraft, Statute of Ässise of hreade,
gab, welche das Gewicht eines Brodes von gleichbleibendem Preise
zu dem wachsenden Preise des Weizens in Beziehung setzte, dass
aber diese gesetzliche Liste fehlerhaft war. Wir erinnern hier an
die von Riese 1533 verfertigte Annaberger Brodordnung (S. 387),
welche dort einer öffentlichen Anordnung zu Grunde gelegt wurde.
Zuletzt erscheint bei Recorde die Regel des doppelten falschen An-
*) whiche doth not onely serve for tliem, that cannot write and reade, but
also for ihem, that can doe both, but have not at some times their x>en w tables
readie witli them. *) The arte of nunibering oti the hande.
Deutsche Geometer. Englische Mathematiker. 479
Satzes, tlie rule of Falsehode, und bei dieser Gelegenheit werden die
Zeichen -{- und — eingeführt^). Ersteres bedeute, dass die An-
nahme ein zu Grosses, letzteres dass sie ein zu Kleines geliefert
habe. Welcherlei Quellen Recorde gedient haben ist nirgend an-
gegeben. Wenn es einmal heisst Some men (as Stifelius), so ist das
sicherlich ein Zusatz einer späteren Ausgabe, da 1540 die Arithmetica
iutegra noch nicht erschienen war, Stifel's Name als Mathematiker
also noch nicht bekannt sein konnte. Ob der Zusatz erst der dritten
Ausgabe angehört, oder schon in der zweiten vorkommt, ist uns
nicht möglich aufzuklären.
Gewiss nicht minder interessant als Recorde's erste Schrift muss
seine zweite sein, welche uns nur durch einen sehr dürftigen Auszug
bekannt geworden ist. Es ist eine Algebra, welche er 1556 wieder
in Form eines englischen Gespräches zwischen Lehrer und Schüler
veröffentlicht hat. Sie führt den Titel: The Wetstone of witte in
Folge eines recht kühnen Wortspiels: aus Regula Coss wurde cos
iugeniiy daraus durch Uebersetzung der Wetzstein des Witzes. Jeden-
falls hatte also Recorde die Algebra nicht als Regula della Cosa,
sondern als Regula Coss d. h. aus einem in Deutschland verfassten
Werke kennen gelernt. Am bekanntesten ist aus Recorde's Algebra
die Einführung des Gleichheitszeichens geworden. Recorde
bediente sich dazu des wenn auch nicht sofort, doch endlich zur
alleinigen Uebung gewordenen =, weil nichts einander gleicher sein
könne, als zwei parallele Strichelchen-). Es ist unbegreiflich, dass
man klüger als der Erfinder hat sein wollen und die Behauptung
aufstellte, =^ sei desshalb zu der Bedeutung gleich gekommen, weil
ein mittelalterliches Abkürzungszeichen für id est so aussehe. Auch
das Verdienst wird Recorde zugeschrieben ^) , die Ausziehung der
Quadratwurzel aus algebraischen Ausdrücken zuerst gelehrt zu haben.
Das „zuerst" wird sich wohl auf England beziehen, wie Recorde
auch nachgerühmt wird, er sei der erste Engländer gewesen, der der
Koppernikanischen Lehre sich anschloss, denn in anderen Ländern
haben wir viel früher als 1556 Quadratwurzeln aus Ausdrücken ziehen
sehen, welche aus Summen von mit bestimmten Zahlen vervielfachten
') -j- whyehc betokeneth too muche, as tliis line, — plaine whitout a Crosse
line, betokeneth too little. ^) And to avoide the tediouse repetition of tJiese
wordes: is equalle to I will sette as I do often in woorke use a pair of pa-
ralleles, or Gemove lines of one length, thus: =, because noe 2 thynges can be
more equalle. ^) Encyelopaedia Britannica (9. Edition Edinburgh 1886) XX,
310: The adaption of the rule for extracting the Square root of an integral
number to the extraction of tlie Square root of an integral algebraical function is
also Said to be due to Becorde.
480 64. Kapitel.
Potenzen der Unbekannten bestanden, nnd nm Anderes kann es sich
nicht gebandelt haben.
Einige weitere Bücher des gleichen Verfassers werden genannt,
ein Pathwai/ to knowledge (1551), Frinciples of geometry (1551), eine
nicht datirte Metisuration , verschiedenes Astrologische (155G). Eine
Uebersetzung von Euklid's Elementen soll handschriftlich geblieben sein.
Im Vorübergehen nennen wir noch drittens William Buckley ^),
der am Hofe Eduard VI. in Ansehen stand und gegen 1550 starb.
Er verfasste eine Arithnietica memorativa in lateinischen Versen. Bei
Ausziehung von Quadratwurzeln lässt er dem Radicanden sechs Nullen
rechts beifügen, um die Wurzel auf -— genau zu erhalten. Wir
wissen, dass Tonstall Aehnliches lehrte (S. 476). Ausserdem wusste
Buckley^), wie viele Combinationen zu allen möglichen Classen aus
n Elementen gebildet werden können, aus vier Elementen z. B.
1 + 2 + 4 + 8 = 15.
64. Kapitel.
Italienische Mathematiker. Die kubische Crleichuiig.
Wir gelangen in unserer Wanderung nach Italien, dem Lande,
welches den unbestritten ersten Rang der dort geraachten Erfin-
dungen den letzten Platz in der mathematischen Entwickelungs-
geschichte des Anfanges des XVI, Jahrhunderts verdankt, den wir ihm
zu geben uns veranlasst sehen, da Grosses nur dann in seiner ganzen
Höhe erscheint, wenn man die niedrigere Gestaltung der Umgebung
in Vergleich zu ziehen vermag.
Auch in Italien hat es freilich für die Männer, welche den wesent-
lichen Ruhepunkt unserer Erzählung bilden müssen, an kleineren
Vergleichungspersönlichkeiten nicht gefehlt. Wir müssen zu diesen
sogar einen Uebersetzer zählen, Gianbattista Memmo, latinisirt
Memmius^), einen venetianischen Edlen, welcher glaubte ohne Fach-
wissen, bloss auf Kenntniss der griechischen Sprache gestützt eine
lateinische Uebersetzung der vier ersten Bücher der Kegelschnitte des
Apollonius anfertigen zu können, die sein Sohn 1537 im Drucke
Ferner hat es in Italien gleichwie in Deutschland eine srosse
1) Kästner I, 48—49. — Poggendorff I, 332. -) Todhunter,
History of the Tlieory of ProbahiUtij from the fime of Pascal to fliaf of Lajjlace
pag. 26. ") Vossius pag. 55.
Italienische Mathematiker. Die kubische Gleichuug. 481
Anzahl von Rechenmeistern geringerer Art gegeben, von denen
Druckwerke sich erhalten haben, die ehemalige Verbreitung dieser
Schriften bezeugend und der Zukunft die Namensnennung dieser
Schriftsteller ermöglichend, aber keineswegs zur unabweisbaren Pflicht
machend^). Eine rühmliche Ausnahme bildet Francesco Ghaligai"),
der in seiner Summa de arithmetica von 1521, welche vielleicht von der
Practica d'arithmetica von 1548 und von 1552 nicht verschieden ist,
ein, so weit der Druck von 1552 dem Urtheile zu Grunde gelegt
wird, vortreffliches aus 13 Büchern bestehendes Werk geliefert hat.
Die ersten drei Bücher behandeln das Rechnen mit ganzen Zahlen
und Brüchen, die Ausziehung der Quadratwurzeln und die Propor-
tionen, die folgenden vier die Regeldetri und deren Anwendung auf
kanfmännische Aufgaben (Münzrechnungen , Gesellschaftsrechnungen
u. s. w.). Das 8. Buch enthält Aufgaben über die Zerlegung von
Zahlen in Theile von vorgeschriebenen Eigenschaften , das 9. ist
der Regula falsi gewidmet. Die vier letzten Bücher behandeln recht
gründlich die eigentliche Algebra, deren Gegenstände (Ausziehen der
Kubikwurzel, Rechnen mit Wurzelgrössen, quadratische Gleichungen
u. s. w.) an Aufgaben durchgenommen werden. Ghaligai liebt ge-
schichtliche Notizen, insbesondere nennt er fortwährend Leonardo von
Pisa, an den er sich vorzugsweise anschliesst. Ganz eigenthümlich
sind wenn nicht die Namen doch die Bezeichnungen der Potenzen
der Unbekannten, deren Ghaligai sich bediente. Er schreibt für
a-i= cosa = c'^, a;^ = censo = D, :r^^=cubo= m, a;^ = censo di ceuso
= DdiD, ;r^ ^ relato = B . Er hat noch einen Namen für x^^ =
dromico = H. Aber für Uberti, Thesoro universale de abacho
(1548), Feliciano, Libro di arithmetica e geometria intitulato scala
grimadelli (1550), Verini, Spechio del mercatante (1542), Catani,
Pratica delle due prime matematiche (1546) werden auch von dem
Geschichtsschreiber, welchem wir diese Büchertitel entnehmen, keine
besonderen Verdienste in Anspruch genommen, während ein anderer
Schriftsteller ^) von Feliciano zu berichten weiss , er sei der erste,
der von einer feldmesserischen Vorrichtung mit Namen Squadro sjjreche,
welche auf einer Figur durch einen kleinen Kreis dargestellt sei, und
welche nach einem Berichte des Feliciano über Reisen, welche er
unternahm, um sich zu unterrichten, schon seit Ende des XV. Jahr-
hunderts in Gebrauch gewesen sein müsse. Der Name Sfortunati's
begegnet uns von mitunter ihn zurechtweisenden Bemerkungen be-
gleitet in den Schriften der wirklich hervorragenden Mathematiker
1) Libri III, 145—147. ') Wertheim brieflich. =*) Giov. Rossi,
Groma e squadro (Torino 1877) pag. 116 — 121.
Cantok, Geschichte der Mathem. II. 2. Aufl. 31
482 61- Kapitel.
der Zeit, von denen wir gleich zu reden haben. Der hochtrabende
Titel seines Werkes lautet: Nuovo lume, libro di arithmetica (1534).
Gabriel de Aratoribus aus Mailand ist der Einzige, von dessen
Erfindungen uns eine ausdrücklich genannt wird^). Er habe zuerst
bemerkt, dass \h — V c ) (h -}- Yc -\- y ys) = ^' — y, eine Be-
merkung, welche dazu führt, den Bruch ^ rational machen zu
b -y~c
können. Natürlich ist die Regel nur an einem Zahlenbeispiele
:^ — auseinandergesetzt, au diesem aber so, dass man erkennen
3 — y¥
muss, wie dem Ergebnisse
^h+]/^Si + V^i
463
331
entsprechend in ähnlichen Fällen gerechnet werden soll.
Die Mathematiker, deren wir in Ausführlichkeit zu gedenken
haben, sind Scipione del Ferro, Hieronimo Cardano, Nicolo
Tartaglia, Luigi Ferrari.
Gleich für den Erstgenannten sind wir allerdings leider genöthigt,
unsere Zusage sofort wieder wesentlich einzuschränken, nicht weil
wir eine Ausführlichkeit der Darstellung seiner Verdienste für übel
angebracht hielten, sondern weil wir so wenig von ihm wissen^).
Wann und wo Scipione del Ferro, lateinisch Scipio Ferreus,
geboren ist, wissen wir schon nicht. Seine Lehrthätigkeit an der
Universität in Bologna dauerte 30 Jahre von 1496 bis 1526, und im
letzten Jahre seiner Wirksamkeit ist er zwischen dem 29. October
und 16. November gestorben, wie aus Einträgen von Besoldungsaus-
zahlungen in Bologneser Acten hervorgeht. Am 29. October wurde
noch eine Summe an ihn ausbezahlt, am 16. November ist schon
von ihm als Verstorbenem die Rede. Nachfolger Del Ferro's in der
Professur war während eines noch längeren Zeitraumes als dieser sie
inne gehabt hatte (1526 — 1560) sein Schwiegersohn Annibale della
Nave, der auch in Besitz der nachgelassenen Schriften des Verstor-
beneu kam, sie aber leider nicht durch den Druck zum Allgemein-
gute der damaligen mathematischen Welt machte, sondern nur Ein-
zelnen den Einblick gewährte. Wohin der handschriftliche Nachlass
Del Ferro's nach dem Tode seines Erben gekommen sein mag, ist
*) Practica Arithmeticae generalis von C'ardanus (1537) Cap. LI, §17.
*) Glierardi, Einige Materialien zur Geschichte der mathematischen Facultät
der alten Universität Bologna (deutsch von Max. Curtze) Berlin 1871 (Sepa-
ratabzug aus Grunert's Archiv Bd. LH).
Italienische Mathematiker. Die kubische Gleichuug. 483
auch nicht aus den leisesten Andeutungen zu errathen. Zwei Dinge
werden uns in Bälde von Scipione del Ferro berichtet werden: dass
er vielfach mit jener damals bei einzelnen Italienern beliebten Geo-
metrie mit unverändert bleibender Zirkelöffnung sich be-
schäftigte und zur Verbreitung dieser geistreichen Spielerei das Seine
beitrug, dass er eine hervorragende Stelle in der Geschichte der Auf-
lösung der kubischen Gleichung von der besonderen Form
x^ -\- ax = h gespielt hat.
Wie er die Auflösung dieses für Paciuolo noch unmöglichen,
von Anderen in verkehrter Weise behandelten Falles zu Wege brachte,
ist nicht berichtet ^\ wenn wir auch glauben durch Rückschlüsse einige
Kenntniss davon erlangen zu können. Wann er die Entdeckung ge-
macht, ist zweifelhaft, indem zwei einander widersprechende Angaben
darüber im Drucke erschienen sind. Cardano erzählt in seiner Ars
magna ds JRegulis Algebraicis'^) von 1545: Scipio Ferreus Bononiensis
iam annis ab hinc triginta ferme capitulum hoc invenit, tradidit
vero Anthonio Mariae Florido Veneto. Er verlegt also die Erfindung
etwa auf 1515 und lässt ungewiss, wann die Mitthoilung an jenen
Floridus erfolgte. Tartaglia dagegen in seinen Quesitl von 1546
erzählt^), jene Mittheilung an Floridus sei etwa 1506 erfolgt, denn
aus einem am 10. December 1536 stattgefundenen Gespräche werden
die Worte berichtet: se avantava che giä trenta anni tal secreto gl
era stato mostrato da un gran mathematico. Die Entdeckung selbst
würde somit möglicherweise noch weiter hinaufrücken. Uns scheint,
so wenig auf die Festlegung der Erfiudungszeit an sich Gewicht zu
legen ist, weil keinenfalls vor 1545 etwas davon in die grössere
Oeffentlichkeit drang, die Angabe Cardano's die glaubwürdigere, weil
sie, wie wir sehen werden, auf Mittheilungen des Schwiegersohnes
des Erfinders sich stützt.
Aber dieser Widerspruch in den Zeitangaben ist nur ein kleines
Beispiel von den Gegensätzen in den Darstellungen, welche über die
Geschichte der Auflösung der kubischen Gleichungen von einander
feindseligen Schriftstellern gegeben worden sind, und wir müssen,
') Der erste Versuch, die Lösung des Del Ferro nachzuerfinden , dürfte
1780 von Francis Maseres angestellt worden sein, der ihn in den Philoso-
phical Transactions für jenes Jahr, Vol. LXX pag. 221 — 238, veröffentlichte.
-) Ars magna de Begiüis Algebraicis, caput XI: De cubo et rebus aequalibus.
In der Lyoner Gesammtausgabe der Werke des Cardano von 1663, die wir als
Cardano kurzweg citiren, findet sich die Stelle Bd. IV, pag. 249. ^) Quesito
XXV fatfo da M. Zuaiie di Tonini da Coi personalmente. l'anno 1536 adi
10. Dccembrio in Venetia. In den 1606 in Venedig gedruckten Opere del Tar-
taglia steht die Stelle in dem Quesiti benannten Abschnitte, den wir kurzweg
als Quesiti citiren werden, auf pag. 235.
31*
484 64 Kapitel.
um zu einer unparteischen Würdigung zu gelangen, die verschiedenen
Erzählungen, wie sie auf einander gefolgt sind, uns vorführen. Wir
gestatten uns zur Erleichterung der Uebersichtlichkeit nur die Ver-
änderung, dass wir die vorkommenden Gleichungen u. s. w. in der
heute üblichen Form schreiben und nicht von cubo, ceuso, cosa,
numero sprechen, um Potenzen der Unbekannten oder die Gleichungs-
constante zu bezeichnen, wie es bei Cardano sowohl als bei Tartaglia
alleinige Uebung war.
Im Jahre 1545 erschien in Nürnberg bei dem dortigen Buch-
drucker Petreius und mit einer Widmung an Andreas Osiander
versehen ein Buch des Cardano unter dem Titel Ars magna de
rebus AJgebraicis. Gleich im I. Kapitel und dann wiederholt im
XI, KapiteP) erzählt der Verfasser, wie die Entwickelung der Algebra
geschichtlich verlaufen sei. Der Ai-aber Muhammed habe die Lehre
begi-ündet. Die quadratischen Gleichungen seien von ihm erledigt
worden, wie man aus dem Zeugnisse des Leonardo von Pisa ent-
nehmen könne. Abgeleitete Gleichungsformen , welche P a c i u o 1 o
veröffentHchte, haben dem sich fügen müssen; wer sie bewältigte,
wisse man nicht. Gemeint sind diejenigen Gleichungen, welche in
der allgemeinsten Form «ic* + 6x^ + c = 0 enthalten sind. Andere
abgeleitete Formen, in welchen eine Gleichungsconstante neben x^
und x'^ vorkomme, seien, fährt Cardano fort, wie er gelesen habe,
von einem Unbekannten behandelt worden; im Drucke seien diese
Ergebnisse nicht erschienen. In der Neuzeit erfand Scipio Ferreus
die Auflösung von x^ -f" f<^ "== ^ '^^^ theilte sie seinem Schüler
Floridus mit. Letzterer hatte aber einen wissenschaftlichen Wett-
kampf mit Nicolaus Tartalea, und bei dieser Veranlassung entdeckte
Tartalea neuerdings die Auflösung. Von ihm, seinem Freunde,
habe er mit vielen Bitten die Auflösung erlangt"), welche er bisher,
durch Paciuolo's Aeusserungen irre geleitet, für unmöglich gehalten
hatte. Jetzt in den Besitz des einen Falles gelangt habe er auf
den Beweis Jagd gemacht und dabei erkannt, dass noch
Mancherlei gefunden werden könne. Auch Ludovicus Fer-
rari, sein ehemaliger Schüler, hat Einiges hinzuentdeckt. Was diese
Männer fanden werde mit ihrem Namen versehen werden, wo ein
Name fehle, seien die Sätze sein Eigenthum^).
Die Ars magna de rebus Algebraicis war noch kein Jahr er-
schienen, so verhess 1546 in Venedig ein Werk des Tartaglia die
^) Cardano IV, 222 und 249. ^) qiii mihi ipsum muliis preeibus exoratus
tradidit. ^) Porro quae ab his inventa sunt illonim nominibus decorabimtur,
caetera quae nomine carent nostra sunt.
Italienische Mathematiker. Die kubische Gleichung. 485
Presse, welches die Ueberschrift führte : Quesiti et inventioni diverse
de Nicolo Tartaglia. Es waren zunächst acht Bücher voll von Erfin-
dungen, welche zumeist der Mechanik mit Einschluss der Ballistik
oder Lehre von den Geschossen und der Befestigungskunde ange-
hörten. Quesiti, Fragen, war als Ueberschrift benutzt, weil die Aus-
einandersetzung immer an Fragen anknüpfte, welche zu bestimmt
angegebenen Zeiten von bestimmt genannten Persönlichkeiten vor-
gelegt worden waren, eine untrügliche Sicherstellung der betreffenden
Erfindung und der angeführten Thatsacheu, wenn die Personen, auf
welche Bezug genommen wurde, noch am Leben und erreichbar waren.
Als 9. Buch schloss sich genau in der gleichen Darstellungsform,
wie wir sie als die der acht ersten Bücher geschildert haben, eine
Reihe von 42^ quesiti an, worin von mathematischen Dingen, haupt-
sächlich von kubischen Gleichungen und deren Auflösung die Rede
ist. Das Bild, welches hier von dem geschichtlichen Gange gegeben
ist, ergänzt Cardano's Zeichnung durch sehr wesentliche Züge. Im
Jahre 1530, so weit gi-eift Tartaglia's Darstellung zurück, legte ein
gewisser Zuane de Tonini da Coi, mit lateinischer Namensform
Co IIa, ihm zwei Aufgaben vor: Eine Zahl zu finden, welche mit
ihrer um 3 vermehrten Quadratwurzel vervielfacht das Product 5
gebe {x^ -f- ?>x^ = 5), und drei Zahlen zu finden, von welchen jede
folgende um 2 gi-össer sei als die vorhergehende und die als Product
1000 geben (cc^ + 6a- + Sx = 1000). Tartaglia hielt es nicht für
unmöglich die zweite Aufgabe zu lösen, wenn er auch keine Regel
dafür kannte; für die Auflösung der ersten Aufgabe vollends war er
überzeugt eine allgemeine Regel gefunden zu haben, die er aus ver-
schiedenen Gründen noch zu verschweigen für gut halte ^). Trotz
dieses absichtlichen Schweigens können wir aus anderen Angaben
wenigstens die Richtung erkennen, wohin Tartaglia's regola generale
zielte. In den ersten Monaten des Jahres 1535 stellte nämlich Tar-
taglia seinerseits die Aufgaben^), eine irrationale Grösse zu finden,
welche mit ihrer um 40 vermehrten Quadratwurzel vervielfacht ein
rationales Product gebe, und gleichermassen eine zweite irrationale
Grösse, welche mit dem Unterschiede zwischen 30 und ihrer Quadrat-
wurzel vervielfacht Rationales liefere. Darnach vermochte er x^ -|- 4:0 x^
und dOx^ — x^, wahrscheinlich allgemein x^ -j- ax^ zu einem ratio-
nalen Werthe zu machen, aber das war noch lange nicht die Auf-
lösung von x^ -j- ax^ = c, d. h. Auflösung der vorgenannten Aufgabe
^) Quesiti pag. 224 : quello de cuho e censo equal a numero io me x^ersuado
di liauervi trovato la sua regola generale, ma per al presente la voglio iacere per
piu rispetti. ^) Ebenda pag. 23G.
486 64. Kapitel.
mit Angabe desjenigen rationalen Werthes, den x^ -\- ax' erhalten
sollte. Am 15. December 1536 gab Tartaglia den Werth von x an,
welcher x-(x -\- 40) rational zu machen geeignet sei. Nehme man
a;2 = 78 — ]/3Ö8, so sei x = VlS — j/Söf = ]/77 — 1 und
(78 — ]/3Ü8) ■ (]/77 — 1 + 40) = 2888.
Da Coi erhob den Einwand, welchen wir grade geäussert haben; er
sagte, Tartaglia's Beispiel gründe sich darauf, dass x^ -\- ax^ mittels
x^ ^ 2a — 2 — ySa — 12 = (")/2a — 3 — l)^ rational werde, aber
Tartaglia behauptet in einem Briefe an Cardano vom 12. Februar
1539, Da Coi habe seine Aufgabe nur für den besonderen Fall der
Form x = Ym — n zu lösen verstanden^). Worin seine regola ge-
nerale bestehe, oder auch nur wie weit er, Tartaglia, die Leistung
Da Coi's zu überbieten vermöge , erfahren wir 1539 so wenig als
1530. Es war hier von Aufgaben aus dem Jahre 1535 die Rede.
Damals trat eine weitere Persönlichkeit in den Kreis der von Tar-
taglia Genannten: Antoniomaria Fior, der Floridus des Carda-
nischen Berichtes. Dieser habe in einen mathematischen Wettkampf
auf 30 Aufgaben, welche jeder dem Gegner zu stellen berechtigt sein
sollte, mit Tartaglia sich eingelassen, und der Verlauf des Wett-
kampfes wird in einem Gespräche mit Da Coi vom 10. December 1536
erzählt-). Die Aufgaben Fior's waren sämmtlich von der Form
x^ -\- ax ^^ h, und Fior gab dabei an, er sei, wenn auch einfacher
Praktiker, schon seit 30 Jahren im Besitze der ihm von einem grossen
Mathematiker anvertrauten Auf lösungsmethode ^). Tartaglia strengte
sich nun aufs Höchste an, die Regel sich zu verschaffen, und durch
sein gutes Geschick fand er sie, ^9er mia bona sorte la ritrovai, acht
Tage vor Ablauf des Termins, an welchem die Auflösungen einem
Notare übergeben werden mussten, nämlich am 12. Februar 1535.
Folgenden Tags, am 13. Februar, fand Tartaglia auch die Auflösung
des Falles x^ = ax -{- h. So war Tartaglia im Stande, sämmtliche
30 Auflösungen rechtzeitig und richtig einzuliefern. Fior dagegen
rühmte sich, auch die ihm gestellten Aufgaben gelöst zu haben, ver-
langte aber, einige seiner Freunde sollten zur Prüfung seiner Auf-
lösungen auserwählt werden, worauf Tartaglia, so erzählt dieser
wenigstens*), ihm öffentlich ein Geschenk mit dem Wettbetrage
1) Quesiti pag. 239, 243, 262. ^) Ebenda pag. 234—237. ^) anchor che non
havesse theorica, se avantava che giä trenta anni tal secreto gli era stato mostrato
da an gran mathematico. *) lui voleva che se elegesse alciini suoi amici, che
giudieassero se lui gli haveva hen risolti, over non, la quäl cosa vedendo, che da
ognuno era giudicato per perdentc, io gli feci puhlicamente un presente del precio
giocato.
Italienisclie Mathematiker. Die cubische Gleichung. 487
maclite, da Fior von Jedem als besiegt betrachtet wurde. In Briefen
vom 8. Januar, vom 17. Februar 1537 drängte nunmehr Da Coi, dass
Tartagiia seine Entdeckungen veröffentlichte. Sein könne er sie ohne-
dies nicht nennen, da Fior sie gleichfalls besitze und aus verletzter
Eigenliebe leicht dahin geführt werden könne, etwaigen Gegnern von
Tartagiia bei Wettkämpfen beizustehen. Nach zwei weiteren Jahren
liegen die Sachen noch genau ebenso, wie sie 1537 lagen ^). Car-
dano, der nach Tartaglia's Darstellung jetzt zum ersten Male in
Sceue trat, wandte sich am 12. Februar 1539 brieflich an Tartagiia
um dessen Entdeckungen. Er stellte dabei die Frage ^) nach vier in
stetiger geometrischer Progression gebildeten Zahlen, deren Summe
10 und deren Quadratsumme 60 sei; eine ähnliche Aufgabe habe
Paciuolo schon gestellt, aber nicht beantwortet. Ausserdem war in
dem Briefe die Rede von einem gewissen an Geld und Einfluss reichen
Marcliese, welcher die grösste Sehnsucht besitze, Tartaglia's Unter-
suchungen kennen zu lernen. Schon am 18. Februar antwortete Tar-
tagiia. Die sehr elegante Auflösung der Aufgabe von der geometrischen
Progression kommt im Wesentlichen auf Folgendes heraus^). Seien
a, ae, ae", ac^ die Reihengiieder und Ä ihre Summe; sei ferner
ae ^ ae- = x, mithin a -\- ae^ = A — x. Man findet leicht
x^ = (A -{-2x)a • ae^
oder in anderer Form
x^ = (A -\- 2x)ae ■ ae".
So gewinnt man zwei Gleichungspaare
ae -f- «e^ = ^ nebst ae ■ ae^
A + 2x'
a -\- ae^ ^^^ A — x nebst a ■ ac? = -. — r- -r—
noch einzeln gegeben und somit erhält man in von x abhängenden
Werthen die vier Glieder der Reihe , .
+
A-\-2x
W^Ax^-^
A -f 2 a;
^) Quesito XXXIII, pag. 254—263. ^) Ebenda pag. 256. ^^ Ebenda
pag. 259—260.
488 61- Kapitel.
Vi
3 1
Ä + 2x
0^ , 1/ ^ 4
^3 _ ^^^2 .
4
Werden die einzelnen Glinder quadrirt und dann addirt, und heisst
B die bekannte Quadratsumme, so findet man — , .^ - — = JB, und
nun ist x und sind durch a; die Reihenglieder als gefunden zu betrach-
ten. Bezüglich der kubischen Gleichung aber antwortete Tartaglia
entschieden ausweichend. Er mache es nicht wie Andere, die ihre
Bücher mit breitgetretenen Geschichten füllen; er liebe es, nur Ent-
deckungen in denselben zu veröffentlichen. Wann freilich das sein
werde, sagte Tartaglia in diesem Briefe nicht, aber Da Coi gegenüber
hatte er sich am 15. December ausgesprochen^), und im gleichen
Sinne äusserte er sich in einer mündlichen Unterredung mit Cardano,
welche am 25. März 1539 in Mailand stattfand^); er sei mit einer
Euklidübersetzung beschäftigt, und bevor diese vollendet sei, gebe er
seine Auflösung von x'^ -\- ax =^ h nicht her; sie bilde nämlich den
Schlüssel zu zahlreichen weiteren Entdeckungen, welche er sich nicht
von Anderen wegnehmen lassen wolle, was zu befürchten stehe, wenn
er gegenwärtig schon diesen Schlüssel aus der Hand gebe. So wohl-
begründet diese Abweisung war, so liess sich Tartaglia doch in der
gleichen Unterredung, in welcher wieder von dem bewussten, nie
mit Namen genannten, im Augenblicke zufällig abwesenden Marchese
die Rede war, und in welcher Cardano einen heiligen , später in
einem Briefe vom 12. Mai 1539 bestätigten^) Eid schwur, das ihm
Anvertraute ■ geheim zu halten, so weit breitschlagen, dass er in
Versen seine Methode aussprach.
Quanclo che'l cubo con le cose appresso,
Se agguaglia ä qualche numero discreto
Trouan dui altri, differenti in esso.
Dapoi terrai, questo per consueto,
Che'l lor produtto sempre sia eguale
AI terzo cubo, delle cose neto.
El residuo poi suo generale
Dein lor lati cubi, ben sottratti
Varrä la tua cosa principale.
In el secondo, de cotesti atti;
Quando che'l cubo restasse lui solo,
Tu osserverai quest' altri contratti,
1) Quesiti pag. 237. -) Ebenda pag. 265. ^) Ebenda pag. 269.
Italienische Mathematiker. Die kubische Gleichung. 489
Del numer farai due, tal part' a uolo,
Che l'una, in l'altra, si procluca schietto,
El terzo cubo della cose in stolo;
Delle quäl poi, per commun precetto,
Torrai li lati cubi, insieme gionti
Et cotal somma, sarä il tuo concetto:
El terzo, poi de questi nostri conti,
Se solue col secondo, se ben guardi
Che per natura son quasi congionti.
Questi trouai, et non con passi tardi
Nel mille cinquecent' e quattro e trenta;
Con fondamenti ben saldi, e gagliardi.
Xella Cittä dal mar' intorao centa ^).
Der scheinbare Widerspruch gegen die frühere Datumsangabe des
12. Februar 1535 (S. 486) beruhte auf der venetianischen Zeitrech-
nung mit späterem Jahresanfänge, so dass der Monat Februar dem
Jahresende von 1534 angehörte. Nach der Unterredung, beziehungs-
weise der Mittheilung der Verse, die man kaum als Stegreifverse
vs^ird betrachten dürfen, so dass es beinahe aussieht, als habe Tartaglia
sich darauf vorbereitet, sich überrumpeln zu lassen, reiste dieser
schleunigst ab. Cardano verstand den Sinn der Verse nicht, was
man ihm kaum wird verübeln können, und wandte sich am 9. April
abermals brieflich an Tartaglia um Erläuterung, welche dieser in
seiner Antwort vom 23. April 1539 nunmehr auf's Deutlichste gab^j.
Man müsse, um x^ = ax -\- h aufzulösen, die beiden Gleichungen
u — V ==h, UV = \-^\ behandeln, dann sei x = ")/w — yv. Auch
hier bedarf es kaum der Bemerkung, dass unsere Darstellung den
Sinn, aber nicht die Form von Tartaglia's Auseinandersetzungen wieder-
giebt, in denen allgemeine Buchstabenausdrücke überhaupt nicht vor-
kommen. Nun machte Cardano sich neuerdings an die Untersuchung
und bemerkte ^) am 4. August 1539 die Schwierigkeit des Falles,
welchen man später den irreductibeln genannt hat, und welcher
zu Tage tritt, wenn (y) V (-~)^ z.B. bei x^ = ^x-{-10, wo 27 > 25.
Tartaglia erkannte aus dieser Beobachtung Cardano's, dass derselbe
mit eigenen Forschungen vorangegangen war und suchte in seiner
Antwort ihn irre zu leiten, was ihm aber nicht gelang. Inzwischen
kam Da Coi im Januar 1540 nach Mailand, verkehrte daselbst mit
Cardano, gab auch einige Monate hindurch mathematischen Unter-
richt, dann reiste er mit Schimpf un(J Schande bedeckt wieder ab,
um plötzlich Mitte April neuerdings dort aufzutauchen und in die
dem Cardano abgenommene Professur der Mathematik einzutreten^).
1) Quesiti pag. 266. ^) Ebenda pag. 268. ^) Ebenda pag. 271. *) Ebenda
pag. 275 und 278,
490 64. Kapitel.
Noch ein letztes Gespräch aus dem Jahre 1541 ist in den Quesiti
abgedruckt. Es findet zwischen Tartaglia und einem englischen
Freunde Ricardo Venthuorthe vor dessen Rückreise in die Heimath
statt und enthält zwei nicht unwesentliche Mittheilungen, welche wir
zu späterer Benutzung uns merken wollen. Erstens behauptet Tar-
taglia, ax^ = & -f- ^^ besitze zwei oder vielleicht noch mehrere Auf-
lösungen^), und zweitens erzählt er-), er habe in der schlaflosen
Xacht von Martini 1536 die Auflösung der Gleichungen x^ -\- ax^ = h,
x^ ^h = ax^ und x^ = ax^ -\- h gefunden. Ueber Cardano's Buch
von 1545 ist in den Quesiti keine unmittelbare Aeusseruug vorhan-
den, aber die Erzählung von dem am 25. März 1539 geleisteten, am
12. Mai gleichen Jahres bestätigten Eide kam doch der unmittel-
baren Beschuldigung, durch jenes Buch einen Eidbruch begangen zu
haben, sehr nahe. Tartaglia's englischer Freund hiess in richtiger
Schreibart des Namens Richard Wentworth und war der Sohn
von Thomas Wentworth, der wegen seines Reichthums Gold-
Thomas, Golden Thomas, genannt wurde und einer holien Geldstrafe
sich unterwarf, um nicht zum Ritter ernannt zu werden. Eben-
derselbe Thomas erhielt 1528 das Vorrecht, in Gegenwart des Königs
bedeckten Hauptes bleiben zu dürfen^).
Lodovico oder Luigi Ferrari, der dankerfüllte Schüler Car-
dano's, der sich mit seinem Lehrer so sehr eins wusste, dass er sich
selbst von ihm geschaffen, die sono creato suo, nannte, nahm den hin-
geworfenen Fehdehandschuh auf, oder vielmehr beantwortete ihn durch
eine öffentliche Herausforderung an Tartaglia, und bei dieser allein
blieb es nicht, denn Tartaglia gab eine Erwiderung, und nicht weniger
als sechsmaliger Wechsel solcher Schmähschriften Hess die gelehrte
Mitwelt erkennen, dass wenigstens im Gebrauche von Ausdrücken,
wie man sie nur auf Fischmärkten zu vernehmen pflegt , die beiden
Gegner einander vollständig gewachsen waren. Sämmtliche 6 Car-
k'lli und 6 Bisposte, Herausforderungen und Erwiderungsschreiben,
haben sich erhalten^). Sie waren als Flugschriften gedruckt und
wurden massenweise verbreitet. Alle führen neben der Unterschrift
des Verfassers auch die von Zeugen, welche das Datum der Unter-
schrift beglaubigten. Ferrari's Cartelli sind vom 10. Februar, 1. April,
'j Quesiti pag. 281. ^) Ebenda pag. 282. ^) Catalogue Lihri (1861) II,
737—738. *) I sei cartelli di matematica disfida primamente intorno alla gene-
rale risoluzione delle equazioni cuhiehe di Lodovico Ferrari coi sei contro-cartelli
in risposta di Nicola Tartaglia comj)rendenti le solusioni de' quesiti dalV una e
daW altra parte propositi. Baccolti autografati e pubblicaii da Enrico Giordani.
Milano 1876. Der Ausdruck che sono creato suo ist von Ferrari erstmalig Car-
tello I pag. 2 gebraucht.
Italienische Mathematiker. Die kubische Gleichung. 491
l.Juiii, 10. August, October 1547, 14. Juli 154<S. Tartaglia's Risposte
sind vom 19. Februar, 21. April, 9. Juli, 30. August 1547, 16. Juni,
24. Juli 1548, so dass also durch rund anderthalb Jahre die wüste
Schimpferei in Thätigkeit blieb. Wir würden sie unberücksichtigt
lassen, wenn nicht zwischen dem gegenseitigen Schelten auch That-
sächliches mitgetheilt wäre, welches zu wissen uothwendig ist Ferrari,
sagten wir, trat als Kämpfer für seinen geliebten Lehrer auf. Er
behauptet in den ersten Büchern der Quesiti, deren 8. Buch ein Pla-
giat an Jordanus Nemorarius sei (eine Anklage, welche im IL Cartello
wiederkehrt)^) eine Menge von Fehlern nachweisen zu können; er
behauptet, Tartaglia habe mit Unrecht Tadel gegen Cardano erhoben,
den er zu nennen kaum würdig sei, il quäle a pena sete degno di
nominare; er erbietet sich, um einen zu hinterlegenden Betrag, der
bis zur Höhe von 200 Scudi von Tartaglia bestimmt werden möge,
mit diesem über alte und neue Schriftsteller, fremde und eigene Er-
findungen öffentlich zu disputiren. Tartaglia erwiderte , er denke
gar nicht daran, auf Ferrari's Herausforderung einzugehen; er habe
nur mit Cardano einen Streit, und wenn dieser sich bereit finde her-
vorzutreten, dann sei es ihm recht. Er schlage dann vor, sich gegen-
seitig Aufgaben zu stellen, die Jeder in seiner Heimath, Cardano
und Ferrari in Mailand, er in Venedig zu lösen habe; dadurch sei
die Reise an einen fremden Ort ebensowohl als die öffentliche Dis-
putation und die Wahl von Richtern vermieden. Im IL Cartello
kam Ferrari auf die Geschichte der Auflösung der kubischen Glei-
chungen-). Tartaglia's Vorwürfe gegen Cardano beruhten darauf, dass
dieser seine Erfindung preisgegeben habe. Wie aber, wenn das von
Cardano Veröffentlichte die Erfindung eines Dritten war? „Vor jetzt
fünf Jahren, erklärt Ferrari dadurch das Jahr 1542 bezeichnend, als
Cardano nach Bologna reiste und ich ihm Begleiter war, sahen wir
Annibale de Nave, einen Mann von Geist und liebenswürdigen Um-
gangsformen, der uns ein von der Hand seines Schwiegervaters
Scipione del Ferro vor langer Zeit geschriebenes Büchlein zeigte, in
welchem jene Erfindung mit Eleganz und Gelehrsamkeit entwickelt
niedergelegt ist. Ich würde Solches nicht schreiben, um nicht den
Schein auf mich zu laden, dass ich, wie es Deine Gewohnheit ist,
Gespräche erfinde, wenn nicht Annibale noch am Leben wäre, und
als Zeuge beigezogen werden könnte. Und überdies was bedarf es
äusseren Zeugnisses? Gestehst Du am Ende Deines Buches , in eben
jenem Abschnitte, in welchem Du in so unverschämter Weise Car-
dano nennest, nicht selbst zu, dass Dein Gegner Fior vor vielen
^) Cartello I pag. 2 und Cartello II pag. 6. ") Cartello II pag. 3,
492 64. Kapitel.
Jahren die genannte Erfindung besass?" Wir lassen sofort aus Tar-
taglia's Risposta \) seine Erwiderung auf diesen Punkt folgen. „Was
diese Einzelheit betrifft, so scheint es mir nicht erlaubt, sie zu be-
streiten, geschweige denn zu leugnen, denn es wäre eine übergrosse
Anmassung Ton mir, zu verstehen zu geben, dass Dinge, welche
durch mich erfunden worden sind, nicht zu anderen Zeiten von An-
deren erfunden worden sein können und in gleicher Weise in Zukunft
von Anderen erfunden werden dürften, auch wenn sie nicht durch
den genannten Herrn Hieronymo oder mich der Oeffentlichkeit über-
geben worden wären. Wohl aber kann ich der Wahrheit gemäss
sagen, dass ich diese Dinge niemals bei irgend einem Schriftsteller
gesehen habe, dass ich sie vielmehr und zwar rasch erfunden habe,
zugleich mit anderen Einzelheiten, die vielleicht von noch grösserer
Bedeutung sind." Vielleicht rechnete Tartaglia zu diesen Einzelheiten
die auf der gleichen Seite der IL Risposta erwähnte Erledigung der
drei Fälle vom Kubus, Census und Zahl, welche er, wie vielen Leuten
in Venedig bekannt sei, schon fünf Jahre vor seinen sonstigen Er-
öffnungen an Cardano, mithin 1534, vollzogen haben will. Wieder
in der IL Risposta^) wendet sich Tartaglia gegen den früher erwähnten
Vorwurf eines Plagiates an Jordanus Nemorarius. Jedenfalls seien
die Beweise, sei die Anordnung von ihm selbst, und ein mathemati-
scher Satz ohne Beweis sei werthlos; auch habe jeder Schriftsteller,
welcher ein Werk in anderer Anordnung als sein Vorgänger heraus-
gebe, auch bei gleichem Inhalte, das Recht von seinem Werke zu
reden. Werfe man ihm vor, Jordanus gar nicht genannt zu haben,
so sei das aus Schonung geschehen, denn er hätte Jordanus nicht
nennen können, ohne ihm schwere Vorwürfe wegen der Dunkelheit
seiner Darstellung zu machen. Abgesehen von diesen thatsächlichen
Aeusserungen, denen wir nachher noch einige weitere hinzuzufügen
haben werden, handelt es sich in dem IL Cartello und der zugehörigen
Risposta vielfach um Formfragen , welche auch in den folgenden
Streitschriften wiederkehren. Tartaglia wünscht regelmässig die Person
Cardano's ins Spiel zu ziehen, Ferrari lehnt diesen Versuch eben so
regelmässig ab. Ferrari will eine öffentliche Disputation in einer der
vier Städte Rom, Florenz, Pisa, Bologna, die nähere Wahl der Stadt
Tartaglia freistellend; die Richter sollen dann dem Orte der Dispu-
tation entnommen werden; Tartaglia besteht darauf, man wolle sich
gegenseitig gedruckte innerhalb bestimmter Frist zu lösende Aufgaben
vorlegen, des Ortswechsels bedürfe es so wenig wie der Richter, weil
mathematische Auflösungen, wenn richtig, überall und von Jedem als
') Risposta II pag. 6. -; Ebenda pag. 7 — 8.
Italienische Mathematiker. Die kubische Gleichung. 493
richtig erkanntj beziehungsweise zugestanden werden müssten. Einen
weitereu Streitpunkt bildet die Frage, wo und bei wem die beiden
Gegner die betreffende Wettsumme in Verwahrung zu geben haben
sollten, und ob baares Geld niedergelegt werden müsse, oder ob Tar-
taglia berechtigt sein solle, statt eines Theiles der Summe die noch
in seinem Besitze befindlichen Druckexemplare der Quesiti zu be-
nutzen. Tartaglia's Bestreben, sagten wir, ging fortwährend dahin,
einer persönlichen Begegnung auszuweichen und dafür Aufgaben stellen
zu lassen. Er selbst stellte schon in der IL Risposta deren 31, zu
deren Beantwortung er Ferrari 273 Monate als Frist setzte. Ferrari
stellte im III. Cartello 31 Gegenaufgaben, welche Tartaglia gleich in
der III. Risposta beantwortete, von da an immer höhnend, er sei
bereits Sieger, da er die ihm gestellten Aufgaben in kürzester Frist
gelöst habe, Ferrari dagegen jede Beantwortung schuldig geblieben
sei. Im V. Cartello begegnete Ferrari diesem Hohne in doppelter
Weise. Ersthch zerpflückte er unbarmherzig die sogenannten Auf-
lösungen Tartaglia's, von welchen er nur fünf als richtig gelten liess,
vierzehn seien gar nicht , zwölf unrichtig beantwortet ; zweitens
schickte er die Beantwortung sämmtlicher Aufgaben des Tartaglia
ein. Bei letzterer Gelegenheit ist ein Ausspruch Ferrari's nicht ohne
Bedeutung. Die siebzehn ersten Aufgaben des Tartaglia bezogen sich
auf Geometrie mit einer einzigen Zirkelöffnung ^), und dieses, sagt
Ferrari, freue ihn, weil er wohl wisse, dass seit etwa 50 Jahren viele
schönen Geister erfolgreiche Mühe darauf verwandten, unter welchen
Scipione del Ferro aus Bologna seligen Angedenkens einen gi-ossen
Antheil habe. Während die vier ersten Risposte den Cartelli inner-
halb weniger Wochen nachfolgten, verging jetzt ein achtmonatlicher
Zwischenraum, bevor Tartaglia antwortete, und noch überraschender
als die Zeitangabe ist der Inhalt der V. Risposta. Tartaglia erklärte
sich nämlich jetzt plötzlich zu der bisher von ihm abgelehnten öffent-
lichen Disputation bereit -j und sogar bereit, zu diesem Zwecke nach
Mailand zu kommen. Der Umschwung ist ein zu unvermittelter, als
dass nicht nach einem begründenden Zwischengliede gefragt werden
müsste, und Ferrari fand dasselbe darin ^), dass Tartaglia, der in-
zwischen nach Brescia übergesiedelt war, sich mit Annahme der Her-
ausforderung einer Bedingung fügte, die man an seinem neuen Wohn-
sitze ihm gestellt hatte.
^) CaHello V pag. 25 : quella bella inventione di operare senza mutare Vaper-
tura del compasso. Ausführliche Auszüge bei W. M. Kutta, Zur Geschichte der
Geometrie mit constanter Zirkelöffnung in Abh. der Kaiserl. Leop.-Garol. Deut-
schen Akademie der Naturforscher Bd. 71 Nr. 3. Halle 1897. -) Bisposta Y
pag. 7. ^) Cartello VI pag. 9.
494 04. Kapitel
Wie dem sei, das öffentliche Zusammentreffen in Mailand fand
am 10. August 1548 statt, und über dessen Verlauf ist ein Bericht
von Tartaglia vorhanden ^j. Er habe sich eingefunden nur von einem
Bruder begleitet, während Ferrari mit einer grossen Zahl von Freun-
den erschien, Cardano hatte das Weite gesucht. Als er der versam-
melten Menge auseinandergesetzt habe, was der Ursprung des Streites
und wesshalb er nach Mailand gekommen sei, und nun begonnen
habe, eine Kritik der 31 Auflösungen Ferrari's zu geben, sei er mit
dem Verlangen, erst müssten Kampfrichter gewählt werden, unter-
brochen worden. Er habe diesem Ansinnen widersprochen, weil er
keinen der Anwesenden kenne; Alle sollten Richter sein, und mit
ihnen Alle, welchen seine gedruckte Kritik zu Händen kommen werde.
Endlich liess man ihn reden. Er fing mit der Kritik der Beantwor-
tung einer auf Ptolemäus bezüglichen Frage an und brachte den Gegner
dahin, nicht leugnen zu können, dass er diese Aufgabe unrichtig ge-
löst habe. Er habe fortfahren wollen; da sei er mit lautem Zurufe
unterbrochen worden, nun müsse Ferrari zur Kritik seiner Auflösungen
das Wort haben. Vergeblich habe er mit der Stimme durchzudringen
versucht und beansprucht, man möge ihn vollenden lassen, dann
könne Ferrari reden, was er wolle. Man verlangte aufs Ungestümste
das Wort für Ferrari und dieser erhielt es. Der habe dann über
eine auf Vitruvius bezügliche Aufgabe, zu deren Lösung er, Tartaglia,
angeblich nicht im Stande gewesen sei, so lange geschwatzt, bis die
Mittagsstunde herankam und Jeder zum Essen ging. Da habe er,
Tartaglia, an diesem Verlaufe gemerkt, wie es gehen werde, habe für
den folgenden Tag noch Schlimmeres befürchtet und sei schweigend
und auf einem anderen Wege als der war, auf dem er gekommen,
nach Brescia zurückgekehrt. Auf die Brescianer selbst ist Tartaglia
in diesem seinem Berichte gleichfalls nicht sehr gut zu sprechen.
Man habe ihn dorthin zur öffentlichen Erklärung des Euklid mit
grossen Versprechungen und kleinen Erfüllungen berufen; man habe,
als er seine Besoldung verlangte, ihn von Herodes zu Pilatus geschickt;
man habe einen Rechtsstreit, den er darüber begonnen, Monate lang
herumgezogen, ihn endlich mit seinen Ansprüchen auf einen der ersten
Rechtsgelehrten von Brescia verwiesen, mit welchem zu processiren
er nicht Lust gehabt habe, und so sei er endlich nach grossen Ver-
lusten nach Venedig zurückgekehrt.
Damit schliessen die gedruckten Akten über den Streit wegen
der Erfindung der Auflösung der kubischen Gleichung. Aussprüche
von Da Coi und von Fior sind nicht vorhanden. Ob sie bei Ver-
^) Tartaglia, General traUato dl numeri et misure Part. II fol. 41 (Vine-
gia 1556).
Italicniscbo Mathematiker. Die kubische Gleichung. 495
öifenfclicliung der Quesiti beide schon gestorben waren? Es hült fast
eben so schwer, es zu glauben, als es in Abrede zu stellen. Denn
wenn Fior noch lebte, wie kommt es, dass keiner der beiden Gegner
auf ihn als Zeugen sich beruft? wenn er todt war, wie kommt es,
dass wieder mit keinem Worte in den Streitschriften davon Erwähnung
geschieht? Und das gleiche Dilemma gilt für Da Coi. <»
Genöthigt aus dem nun einmal allein Vorhandenen ein Urtheil
zu begründen , müssen wir dazu noch eine, wie uns scheint, sihr
wichtige, sogar unerlässliche Vorfrage beantworten: wer sind die
Gegner selbst? Wir meinen, was war ihr persönlicher Cha-
rakter, was ihre durch wissenschaftliche Thaten bekundete
Leistungsfähigkeit?
Die uns für diesen Zweck zu Gebote stehenden Quellen sind nicht
über jeden Zweifel erhaben. Cardano hat in einer besonderen Schrift
Be Vita propria^) von sich erzählt. Tartaglia hat Autobiographisches
dem G. Buche der Quesiti einverleibt"). lieber Ferrari berichtet sein
Freund und Lehrer Cardano unter der Ueberschrift Vita Ludovici
Ferrarii Bononiensis in kurzem Lebensabrisse ^).
Cardano hat ein jedenfalls nicht geschmeicheltes Bild seiner
selbst der Nachwelt hinterlassen. Ein Widerstreit von Leidenschaften
der niedrigsten Art und tiefster Frömmigkeit, von umfassendstem
Wissen und blindem Aberglauben steht er vor uns. Seine äusseren
Lebensschicksale zeigen ihn uns frühreif durch harte, alle körperlichen
und geistigen Kräfte fast im Uebermaasse anstrengende Erziehung.
Schon 1523 mit 22 Jahren lehrte Cardano in Pavia die Mathematik;
drei Jahre später war er Doctor medicinae in Padua, konnte aber das
durch diese Stellung ihm eröffnete einträgliche Gewerbe nicht aus-
üben, weil der Makel ausserehelicher Geburt an ihm haftete; erst 15o9
gelang es ihm, in der Genossenschaft der Mailänder Aerzte Aufnahme
zu finden. Nun schienen die Vermögensverhältnisse des auch durch
zahlreiche Veröffentlichungen mathematischen, philosophischen, medi-
cinischen Inhalts bald hochberühmten Gelehrten sich bessern zu müssen,
aber es schien nur so. Nach Dänemark und Schottland wurde er be-
rufen, Frankreich und Deutschland durchstreifte er, überall lolinenden
Erfolg findend, aber auch allen Ausschweifungen sich ergebend. In
Bologna, wo er von 1562 bis 1570 lehrte, führte eine Schuld von
1800 Scudi, die er nicht zu tilgen vermochte, ihn ins Gefängniss.
Sein letzter Aufenthaltsort war Rom, wo er am 21. September 1576
starb.
') Cardano I, 1—54. ^) ^Mes^» pag. 151— 153. ^^ Cardano IX, 568— 569.
Vergl. Gherardi, Einige Materialien zur Geschichte der mathematischen Fa-
cultät der alten Universität Bologna S. 126—132.
49G 64. Kapitel.
Sein Schüler, im Wisseuswürdigen wie im wenig Naeliahmuno-s-
wertben, wurde 1537 der damals löjährige Luigi Ferrari aus Bo-
logna. Begabt und gelehrt in den matbematischen Wissenschaften
aber von zügelloser Ausgelassenheit sei er gewesen, und für die Treue
der Schilderung spricht ein Raufhandel, in welchen er mit 17 Jahren
sicb# einliess, und bei welcheto der jähzornige Jüngling sämmtliche
Finger der rechten Hand einbüsste, spricht sein nicht viel späteres
Amftreten als Lehrer in Mailand. Die Cartelli gegen Tartaglia schrieb
er mit 25 Jahren. Wenn Cardano, welcher das Geburtsjahr 1522
ausdrücklich nennt, die Behauptung ausspricht, Ferrari habe Tartaglia
besiegt, bevor er 20 Jahre alt gewesen, so ist dieses ein offenbarer
Irrthum, vielleicht sogar absichtlich begangen, um Ferrari's Bedeut-
samkeit zu erhöhen. In Mailand war Ferrari in der Zeit zwischen
1549 und 1556 auch Vorsteher des Katasterwesens. Eine Fistel, die
er sich zuzog, und die es ihm unmöglich machte, zu Pferde zu sitzen
und wie ehedem die praktischen Arbeiten seiner Untergebenen da und
dort zu beaufsichtigen, veranlassten ihn wohl, die Stellung aufzugeben
und nach der Heimath, nach Bologna zurückzukehren. Dort lebte er
als Lehrer seiner Wissenschaft bis 1565. lieber seinem Tode schwebt
ein geheimnissvolles Dunkel. Seine Schwester, so wird kurz be-
richtet, habe ihn muthmasslich vergiftet.
Tartaglia endlich erzählt, sein Vater Micheletto — einen Fa-
miliennamen will er von ihm niemals gekannt haben — sei 1506
etwa gestorben und habe es der Wittwe überlassen, sich mit ihren
drei Kindern, unter welchen Nicolo, der damals sechs Jahre alt war,
aber bereits lesen konnte, zu ernähren. Der etwa zwölfjährige Knabe
wurde 1512 bei der Einnahme Brescias durch die Franzosen im Dome,
wohin die Mutter sich mit den Kindern geflüchtet hatte, schwer ver-
wundet. Ein fui-chtbarer Hieb über die unteren Theile des Gesichts
heilte nur mangelhaft, die Zähne blieben wacklig, die Sprache wurde
stotternd, und um ihretwillen legten Nicolo's Altersgenossen ihm einen
Spottnamen bei, den er später freiwillig als Namen behielt: der Stamm-
ler, Tartaglia. Als er 14 Jahre alt geworden war, brachte die Mutter
ihn zu einem Schreiblehrer. Es war Sitte, das Schulgeld in drei
Abtheilungen zu entrichten. Das erste Drittel musste voraus erlegt
werden, das zweite, wenn die Hälfte der Buchstaben, also A bis K,
erlernt war, das letzte Drittel am Ende des Unterrichts. Tartaglia's
Mutter hatte nur das erste Drittel aufzubringen gewusst. Der Knabe
wurde desshalb entlassen, noch ehe er die Anfangsbuchstaben seines
Namens zu schreiben erlernt hatte, wie er mit bitterer Selbstverhöh-
nung erzählt, und war von da an in Allem sein eigener Lehrer, sich
stets nach den Vorschriften der Verstorbenen richtend, sojmi Je opere
Cardano's ältere Schriften. 497
degJi Imomini defonti continuamente nii son travagliato. Die Erzählung
ist jedenfalls sehr geschickt angelegt, das Mitleid und damit auch das
Wohlwollen der Leser anzuregen. Ob sie überall wahrheitsgetreu ist,
ist eine andere Frage. Einen Familiennamen seines Vaters will Tar-
taglia z. B. 1546 nie gekannt haben. Als er elf Jahre später am
10. December 1557 in Venedig sein Testament machte^), wird in
diesem amtlichen Actenstücke als Familiennamen Fontana augegeben.
Ist das der Name der Mutter gewesen, oder hat ihn Tartaglia sich
selbst beigelegt, weil etwa ein Brunnen bei seinem Hause stand, oder
hat die Nothwendigkeit, ein Testament genau anfertigen zu lassen,
sein Gedächtniss so sehr geschärft, dass der väterliche Name ihm
nun doch einfiel? Alle drei Möglichkeiten sind vorhanden. Eine
Zusatzbemerkung des Notars zum Testamente giebt an, der Erblasser
sei in der Nacht vom 18. auf den 14. December 1557 verstorben.
Aus unseren Auszügen aus den Streitschriften wissen wir überdies,
dass Tartaglia eine mathematische Lehrthätigkeit abwechselnd in
Venedig, in Brescia, dann wieder in Venedig ausübte-, die wesentlich-
sten Umstände auch seines Lebens sind uns mithin bekannt.
65. Kapitel.
Cardano's ältere Scliriften.
Weit wichtiger für die abschliessende Beurtheilung des grossen
Streites, wichtiger unter allen Umständen für die Geschichte der
Mathematik ist es, kennen zu lernen, was jeder Einzelne unter den
Männern, mit welchen wir uns beschäftigen, wissenschaftlich geleistet
hat. Allerdings werden wir uns dabei entschliessen müssen, bei Auf-
zählung der Verdienste Cardano's die Zeitgrenze von 1550 weiter zu
überschreiten, als wir es uns irgend seither gestatteten. Der Zu-
sammenhang seiner Leistungen muss gewahrt bleiben, wenn man die
ganze Bedeutung des Mannes erkennen will.
Wir beginnen mit einer Schrift recht untergeordneter Bedeutung,
mit Cardano's Libellus qui dicihir Computus minor ^) von 1539. Kaum
dass wir Zinsrechnungen und ein grosses Einmaleins mit der Aus-
dehnung bis zu 20 mal 20 darin erwähneuswerth finden.
Dem gleichen Jahre 1539 gehört die Practica Aritlimeticae gene-
') VeröfFentliclit durch Fürst Bald. Boncompagni in dem Bande In
\iemoriain Bominici CJieJini. Collectcuiea mathematlca (Milano 1881) pag. 363 —
412. -) Cardano IV, 216—220.
Cantor, Geschiclite der Matbem. II. 2. Aufl. 32
498 65. Kapitel.
rcdis ^) an. Im Grossen und Ganzen der Summa des Paciuolo nach-
gebildet, enthält sie doch manches Eigenthümliche. Der Gedanke,
Gleichungen dadurch in ihrem Grade zu erniedrigen und damit einer
Auflösung fähig zu machen, dass mau auf beiden Seiten Gleiches
addirt und dann durch einen sich kund gebenden Gemeintheiler divi-
dirt, ist wiederholt in Anwendung gebracht"). Aus
2x^ -f* 4x- -\- 2b ^ 16 X -\- bö
wird durch beiderseitige Addition von 2x~ -{- lOx -f~ ^ ^^^ ^^eue Glei-
chung (2x -f G) (x' + ö) = {2x -}- 6) (x -j- 10) und daraus :/;- = a: -f- 5,
aus welcher x = — -}-y 5-y- sich ergiebt. Umständlicher verfährt
Cardano bei 6x'^ — Ax^ = Mx -\- 24. Zunächst addirt er beider-
seitig Qx^ — 4:x'' und erhält 2{6x^ — 4cX^) = 6x^ - 4x^ -\-Mx -\-24:.
Dann addirt er nochmals links 2(12a;^), rechts 24:X^ und erhält
2(6x^ + Sx-) = 6x^ -f 20:^2 -f 34a; -f 24
oder
2 • 2x\^x + 4) = (ßx + 4)(2^:2 -f 4.x + 6),
woraus x^=2x-{-d und a: = 3 sich ergiebt. Auch darauf wird auf-
merksam gemacht^), dass die Division a^x^ — a^ durch a{x — 1),
sowie die von a^x^ + a^ durch a{x -f 1) aufgehe, und dass man
dieses sich wohl merken müsse, um Gleichungen von der Form
ax^ =- ßx -\- y und ax^ -\- y = ßx
durch beiderseitig vollzogene Additionen in eine durch a: + 1 theil-
bare Gestalt zu bringen. Irgend eine Aufgabe kaufmännischer Natur
dadurch in Gleichungsgestalt zu bringen, dass man eine unbekannte
Grösse als res betrachte und als solche in die Rechnung einbeziehe,
nennt Cardano Begula de modo^). Es ist im Grunde die gleiche Vor-
schrift, welche einige Jahre später Michael Stifel bei jeder Ge-
legenheit breittrat (S. 440) , und in welcher wir Cardano's Einfluss
gemuthmasst haben. Jedenfalls hat nämlich Stifel die Practica Arith-
meticae generalis gekannt, welcher er einige am Ende des 3. Buches
der Arithmetica integra mitgetheilte Aufgaben ausdrücklich entnahm^).
Gleichungen mit mehreren Unbekannten behandelt Cardano nach der
von ihm erfundenen Regida de duiilica^), welche in der Einsetzung
neuer, die Rechnung erleichternder Hiifsgrössen besteht. Die beiden
Gleichungen, welche wir heute x- -\- y- = a und xy -\- x -]^ y =^ h
schreiben würden, bringt Cardano z. B. durch xy = z zur Auflösung.
1) Cardano IV, 14—215. -) Ebenda lY, 29 und 61. ^) Ebenda
IV, 83. *) Ebenda IV, 79. ^) Beispielsweise ist Arithmetica integra fol.
306 recto identisch mit Cardano IV, 139 Nr. 14 u. s. w. «) Cardano IV, 8ü.
Cardano's ältere Schriften 409
x -^ y = h — z, [x -\- y)- = (h — zf. Abera iicli (x -{- yY = a -{-2z
and dalier
//- — 2hz + z' = a -{-2z, z = h-{-l—ya-{-2h-{-l,
Dieses letzte Ergebniss lässt erkennen, warum bei Auflösung der nach
z quadratischen Gleichung die Wurzelgrösse mit dem Minuszeichen
genommen werden musste. Weiter ist
(x — yf = a-2z = a — 2}> — 2-^ Y^a + Sb + 4,
also auch
x — y = Va-2h—2-{- Y^a + SV+l:
bekannt, und nun sind die Werthe x und y sofort zu finden.
Quadratwurzeln, deren Ausziehung bei den Gleichungsauflösungen
vielfach verlangt wird, sind schon vorher nach zwei Methoden nähe-
rungsweise berechnet ^). Die erste Methode geht aus von "j/a f\j h ,
wo
h
die
ganzzahlige Annäherung
bedeutet;
ist
dann
a
— !>■' -
= r,,
so
ist
die
zweite Annäherung Ya ro h^ mit h^
=
^' + i
■Ti"'
dann
wird
weiter
v-„ = ^ = n
,, a=h,'
—
»2
gesetzt und
]/« cxj h.2 mit h = &i — ^
als neue Annäherungen. Die zweite Methode dient für Quadrat- und
Kubikwurzeln in gemeinschaftlich erkannter Weise-, man hängt dem
Radicaude'u rechts 2, 4, 6 ... , beziehungsweise o, 6, 9 . . . Nullen an,
begnügt sich dann bei Ausziehung der Wurzel mit ganzzahliger An-
näherung, deren Ganze aber nur Zehntel, Hundertel, Tausendstel . . . sind.
Das 42. Kapitel von den wunderbaren Eigenschaften der Zahlen^),
de proprietatibus numerorum mirificis enthält vieles, was auf Leo-
nardo von Pisa zurückgeht. Cardano hat den Gegenstand später
ungefähr in gleicher Ausdehnung, aber als besondere kleine Schrift^):
De numerorum proprietatibus caput unicum wiederholt behandelt und
hierbei nicht Unwichtiges hinzugefügt. Die Bearbeitung von 15,39
lehrt die Entstehung der vollkommenen Zahlen nach der euklidischen
Regel und spricht den Satz aus*), die Randziffer sei immer 6 oder 8,
was allerdings Nikomachus^) schon bemerkt hatte; die spätere Be-
arbeitung beweist diesen Satz^). Nach EukHd (Bd. I, S. 253—254)
ist (1 -[- 2 -[- • • -|- 2^)2" eine vollkommene Zahl, sofern
') Cardano IV, 30—31. ^) Ebenda IV, 51—63. ^) Ebenda IV, 1—13.
^) Ebenda IV, 52. ^) Nikoniacbus, Introdtictio etc. (ed. Hoclie) pag. 40
liu. 20—21 (Buch I. Kap. XVI, § 3). «) Cardano IV, :].
32*
500 ßö. Kapitel.
1 + 2H \- 2« = 2» + i — 1
Primzahl ist. Die Randziffer von 2" ist stets 2, oder 4, oder S, oder 6,
die von 2"+^ — 1 also 3, oder 7, oder 5, oder 1. Die dritte Mög-
lichkeit fällt weg, weil 2" + ^ — 1 Primzahl sein muss, also entsteht
die Randziffer der vollkommenen Zahl ausschliesslich durch 2-3, oder
4 • 7, oder 6 • 1 und ist 6^ S, 6. In- der ersten Bearbeitung sind Drei-
eckszahlen und Quadratzahlen durch Punkte dargestellt ^), in der
zweiten ist hinzugefügt-), dass zwei aufeinander folgende Dreiecks-
zahlen eine Quadratzahl geben, wenn man sie iunctis capitihus ad-
versis d. h. über Kopf aneinanderfüge, womit offenbar eine Punkten-
vereinigung gleich der folgenden
gemeint ist. Der zweiten Bearbeitung gehört auch die wichtige Be-
hauptung an^), dass die Wurzel einer ganzen Zahl niemals ein Bruch
sein könne, was am Anfange des dritten Tractates gezeigt werde.
Diesen in den gedruckten Werken Cardano's unauffindbaren dritten
Tractat sind wir im Stande zu bezeichnen und zugleich eine obere
Grenze für die Zeit der Niederschrift der zweiten Bearbeitung an-
zugeben. In der Abhandlung über die eigenen Bücher, De lihris
propriis, welche selbst in mehrfacher Bearbeitung erhalten ist, erzählt
Cardano, dass er nach Bemeisterung der kubischen Gleichung, mithin
nicht wohl vor der 1542 vorgenommenen Reise nach Bologna, ein
mathematisches Gesammtwerk als Opus perfedum zu schreiben beab-
sichtigte, welches aus 14 Büchern bestehen sollte^). Die Ueberschriften
der 14 Bücher sollten heissen:
1. Von den ganzen Zahlen. 2. Von den Brüchen. 3. Von den Quadrat-
imd Kubikwurzeln. 4. Von den Unbekannten. 5. Von den Proportionen.
6. Von den Eigenschaften der Zahlen. 7. Vom Handel. 8. Von den Er-
trägen {De redditihus, vermuthlich Zinsrechnung). 9. Von den ausser-
gewöhnlichen Aufgaben (De Ms quae sunt extra ordinem). 10) Von den
grossen Regeln oder der sogenannten Ars magna. 11. Von der Ausmes-
sung ebener Figuren. 12. Von Körpermessungen. 1.3. Arithmetische Auf-
gaben. 14. Geometrische Aufgaben.
Ausser den Ueberschriften giebt Cardano auch die Anfange ein-
zelner dieser 14 Bücher an, welche demnach schon in der Ausarbei-
tung ziemlich weit vorgeschritten gewesen sein müssen. Das erste
Buch Be integris sollte mit den Worten anfangen: Si ab antiquitate
aut necessitafe disciplina uUa nohilis dici iwtest, und ein so beginnen-
') Cardano IV, 53. -) Ebenda IV, 6. =») Ebenda IV, 8. ") Ebenda
I, 103,
Cardano's ältere Scliriften. 501
des Bruchstück ist vorhanden^). In dem dritten Buche von den
Quadrat- und Kubikwurzeln konnte sehr gut der Satz vorkommen,
von vrelehem wir oben mit Cardano sagten, dass er am Anlange des
dritten Traetates gezeigt sei. Ueber das sechste Buch äussert er sich,
er habe 9G Blätter davon geschrieben, welche anfangen: Numerorum
alii dicuniur primi, und genau so beginnt jenes Kapitel, welches wir
bisher als zweite Bearbeitung eines Kapitels der Practica Arithmeticae
generalis benannt haben. Es ist daher nichts Anderes als wieder ein
o
Bruchstück des leider unvollendet gebliebenen Opus perfectum und
kaum vor 1542 geschrieben.
Wir kehren zu dem Werke von 1539, zur Practica Arithmeticae
generalis zurück. Eine nicht unbedeutsame Bemerkung desselben, die
bei einer unbestimmten Aufgabe gemacht ist, lautet ^) : „Ich habe
nicht gesagt in ganzen oder gebrochenen Zahlen, weil jede Frage,
deren Erledigung in Brüchen erfolgt, auch ganzzahlig erfüllt werden
kann und ich desshalb Eines von dem Anderen nicht trennen wollte."
Eine von Georg Valla herrührende Aufgabe^) (S. 345) unbestimmter
Natur ist die, zwei Rechtecke von gleicher Seitensumme zu finden,
deren Flächen Vielfache von einander sind. Cardano giebt a und
ah(h -\- 1) als die Seiten des einen, a(h -\- 1) und alr' als die Seiten
des anderen &- fachen Rechtecks. Eine andere von Cardano behandelte
Aufgabe^) ist die von den 2 mal 15 Männern, die in einem Kreise
so zu ordnen sind, dass ein gewisses Abzählen nur immer auf eine
Persönlichkeit der einen Gruppe trifft, während die andere Gruppe ver-
schont bleibt. Sie begegnete uns schon in einer französischen Samm-
lung (S. 362), Cardano giebt ihr einen Namen. Er nennt sie Lucius
Joseph, das Josephsspiel, weil sie einst von Josephus zur Rettung
seines Lebens ersonnen worden sei. Näheres werden wir von zwei
Schriftstellern unseres XV. Abschnittes erfahren.
Auch Reihen sehr verschiedener Art kommen vor, z. B. arith-
metische Reihen von gleichen Unterschieden, welche in einander ge-
schoben eine einzige Reihe bilden^). Aus 1, 7, 13,... und 3, 9, 15...
entsteht nach dieser Bildungsweise 1, 3, 7, 9, 13, 15 . . . Die Reihe
X -\- 2x^ -^ iiX^ -\- '^x'^ -\- • • • sei leicht zu summiren, dagegen stelle
X -{- 2x^ -\- ox^ -[- 4iX^ + ■ ■ ■ ^^^^ schwierige Summenbildung dar^).
Eine Anzahl von Aufgaben gehört der Wahrscheinlichkeits-
rechnung an. Paciuolo (S. 327) beantwortete die Frage nach der
richtigen Theilung zwischen zwei Spielern, von denen der eine .s'^,
der andere s., Spiele gewonnen hatte, und die sich trennen, bevor die
s Gewinnspiele, auf welche die ganze Entscheidung geht, von Einem
1) Cardano IX, 117—128. ^) Ebenda IV, 57 (§ 78). ^) Ebenda IV, 170.
*) Ebenda IV, 113. ">) Ebenda IV, 33. '^) Ebenda IV, 37.
502 65. Kapitel.
erreicht sind, dahin.
ricMen. Cardano erkannte es als wesentlichen Mangel dieses Theilungs-
vorschlags, dass die Zahl s, welche die wichtigste ist, gar nicht be-
rücksichtigt werde ^). Sein Gegenvorschlag ist allerdings wenig glück-
lich. In dem besonderen Beispiele, von welchem Cardano redet, ist
.5=10, s^ = 7, Sg == 9, der erste Spieler hätte also noch dreimal, der
zweite einmal zu gewinnen. Um nun ein erstes Spiel zu gewinnen,
bedarf der zweite wie der erste Spieler eines Gewinnspiels. Um ein
zweites Spiel als solches zu gewinnen, sind dem ersten zwei Gewinn-
spiele nöthig, denn ohne einen ersten Gewinn gelangt er nicht
zum zweiten. Um ein drittes Spiel als solches zu gewinnen, sind
dem ersten drei Gewinuspiele erforderlich, deren Begründung in der
Noth wendigkeit liegt, überhaupt zu einem dritten Gewinne zu ge-
langen. Um das erste, zweite und dritte Spiel zu gewinnen, bedarf
es somit 1 -\- 2 -\- ^ = G Gewinnspiele und das Theilnngsverhältniss
der beiden Spieler muss wie 1 : 6 sein, allgemein wie
(1 -f 2 + . . + (s - 5,)) : (1 + 2 . • + (s-s,)).
Anschliessend an diese Aufgabe und des gleichen Gedankenganges
sich bedienend, besprach Cardano eine andere, welche hiermit in die
AVissenschaft eingeführt war, um erst etwa zwei Jahrhunderte später
als sogenannte Petersburger Aufgabe zur richtigen Geltung zu
gelangen. Ein Reicher und ein Armer spielen um gleichen Einsatz.
Gewinnt der Arme, so wird am folgenden Tage um verdoppelten
Einsatz gespielt und dieses Verfahren fortgesetzt, während ein ein-
maliges Gewinnen des Reichen dem Spiele ein für alle mal ein Ende
macht. Cardano begründete hier den grossen Nachtheil, in welchem
der Reiche bei diesen Spielbedingungen sich befinde.
Endlich gedenken wir noch mit einem Worte der Stellung, welche
Cardano 1539 zu nichtpositiven Gleichungswurzeln einnahm. Nega-
tiven Wurzeln (fictae) erkannte er die Bedeutung zu^), dass für
einen Gegenstand nicht nur nichts erlöst wird, sondern für dessen
Beseitigung noch gezahlt werden muss. Imaginäres nennt er einfach
unmöglich^): cum numerus non possit detrahi a quadrato dimidn
radicum, tunc casus est impossihüis, d. h. wenn in der Auflösung der
Gleichung ctr -\-h = ax, bei welcher a; = ^ + 1/ (^j — h heraus-
kommt, h von (--) nicht abgezogen werden kann, so ist es ein Zeichen
von der Unmöglichkeit des Geforderten.
^) Cardano IV, 112: Ad rationem ludorum sciendum est quod in ludis non
habet eonsiderari iiisl terminus ad quem, et hoc in progressione dividendo totwn
per easdem paites. -) Ebenda IV, 1.57. ■'') Ebenda IV, 72.
Cardano's ältere Schriften. 503
Diese Auszüge dürften genügend erkennen lassen, dass die Ver-
öffentlichung von 1539 bereits einen hohen Grad mathematischer Be-
fähigung Cardano's bewies, dass sie ahnen liess, es stehe Grosses von
ihm zu erwarten, wenn er mit erweitertem Wissen noch unbetretene
Bahnen einschlage. Diese Ahnung wirkte vielleicht bei Tartaglia,
welcher die Practica Arithmeticae generalis schon kannte, mit, als er
sich 1539 des Eides Cardano's versicherte, bevor er ihm die Regel
zur Auflösung von x^ -\- ax == h anvertraute.
Den Eid der Verschwiegenheit hat Cardano in seiner
Veröffentlichung von 1545 unzweifelhaft gebrochen. Das
Unrecht, welches er Tartaglia gegenüber dadurch beging, mag durch
die rühmende Nennung des Verletzten einestheils, durch den Umstand,
dass Cardano inzwischen von Del Ferro's schriftlich erhaltenen früheren
Arbeiten Kenntniss erhalten hatte, anderntheils gemindert sein, aus
der Welt geschafft ist es nicht. Aber die Geschichte der Mathematik
sitzt weniger über den Menschen als über den Mathematiker zu Ge-
i-icht, und desshalb ist es unter allen Umständen nothwendig, zuzu-
sehen, ob etwa in dem Werke von 1545 nur die Entdeckung von
Tartaglia, beziehungsweise von Del Ferro sich vorfindet, oder was
Cardano selbst zugeschrieben werden muss.
Artis magnae sive de regulis algebraicis liber unus^)
ist der Titel des, wie wir schon wissen, in Nürnberg gedruckten und
Osiander zugeeigneten Buches. Das 10. Buch des Opus perfectum
sollte (S. 500) die Ueberschrift Ars magna führen. Seine Anfangs-
Avorte sind in der Abhandlung über die eigenen Bücher angegeben^).
Beides stimmt mit dem Drucke von 1545 genau überein. Eine weitere
Uebereinstimmung liegt darin, dass in diesem Drucke von einem
3. und 4. Buche die Rede, welche ihrem Inhalte nach mit Wurzel-
grössen, mit Unbekannten es zu thun haben müssen, also mit den
ebenso bezifferten Büchern des Opus perfectum sich decken. Kein
Zweifel ist daher möglich: die Ars magna von 1545 ist das
10. Buch des Opus perfectum, und wenn wir vorher sahen, dass
der Plan zu diesem grossartig gedachten Werke kaum vor 1542 ent-
standen sein kann, so wissen wir jetzt, dass er 1545 mit Einschluss
eines ganz vollendeten Buches in fertiger Gestalt vorgelegen haben muss.
Die kubischen Gleichungen nebst ihrer Auflösung bilden gewiss
den wesentlichen Inhalt der Ars magna, aber Zusätze Cardano's sind
deutlich zu erkennen, um welche er das von Tartaglia Erlernte ver-
mehi-t hat^). Die Gleichungen x^ -\- ax = b, x^=' ax-\-h aufzulösen
1) Cardano IV, 221—302. ^) Ebenda I, 103. ">) Das Cardano
Eigenthümliche ist vortrefflich hervorgehoben bei Cos sali, Origine, trasporto in
Ilalia, primi progressi in cssa delV algebra (Parma 1797— 1799) Vol. II, pag. 159sqq.
504 6ö. Kapitel.
hatte Tartaglia ihn deutlich gelehrt, und wenn er die so erhaltenen
Auflösungen in eine geometrische Form kleidete^), so ist damit nicht
das geringste Verdienst verbunden. Die Form x^ -\- h = ax war in
Tartaglia's Terzinen (S. 489) sehr stiefmütterlich behandelt. Se solve
col secondo hiess es im 20. Verse, sie sei mittels x'^ = ax -\-h zu lösen;
mehr war nicht gesagt. Cardano's Auflösung^) kam auf folgende Be-
trachtung hinaus. Sei y^ = ay -\- h zugleich mit x^ -}- h = ax, so
ist h = ax — x^ =' y^ — ay. Daraus folgen aber Proportionen und
Gleichungen:
(2/2 — a):{a — x^) = X'.y,
{if — a-]r a — x^) : (a — x^) = (x + y):y,
{y^ — x^) : {y + x) = (a — x^) : y,
(y~x):l = (« — x^) : y,
y- — xy = a — x^,
so dass, sobald man y kennt, nicht bloss ein Werth von x ermittelt
ist, sondern gleich deren zwei. Demnächst werden die Gleichungen
in Angriff genommen, welche Kubus, Census und Zahl enthalten^),
x^ = ax^ -f" ^j ^^ -\~ (^^' =^ ^7 x^ -\- h = ax^ .
Die beiden ersten Formen werden durch x = y -{- -r-) ^^ = V 5"
vom quadratischen Gliede befreit. Ein Beispiel lautet
x^ -f 6x^ = 100
und führt zu
1/42 + /1700 + ]742 — ]/l
700
3
Die dritte Form x^ 4- h = ax^ behandelt Cardano mittels x = ^— - ,
2/ '
wodurch sie in y'^ -\- b = ya^/h übergeht und diese liefert, wie erst
gezeigt worden ist, unter Benutzung von z^ = zayh -\- h zwei Werthe
von y, also auch von x. Bei kubischen Gleichungen mit allen vier
möglichen Gliedern*) führen Substitutionen, welche immer auf
a; = «/ + Y hinauslaufen (a als Coefficient des quadratischen Gliedes
gedacht) auf früher behandelte Gleichungsformen zurück, auch ist
nicht ausser Auge zu lassen, dass die Anordnung der Ars magna der
Art getroffen ist, dass von solchen Umformungen, de capitidorum trans-
^) Ars magna, Cap. XI und XII. ^) Ebenda, Cap. XIII. ») Ebenda,
Cap. XIV, XV, XVI. ") Ebenda, Cap. XVII-XXIII.
Cardano's ältere Schriften. 505
mutatione^) , die Rede ist, bevor Cardano den kubischen Gleichungen
sich zuwendet.
Von grosser Wichtigkeit ist ein Ausspruch Cardano's, der sich
im XVIII. Kapitel findet^). Er hatte die drei Gleichungen
a;3-|-l0a; — G^-2+4, x^-\-2\x=^x^ + b, x^ -\-2Qx=^l2x- + b
behandelt. Er hatte gefunden, dass jede derselben drei Wurzeln
besitze, die erste 2, 2 + 1/2, 2-1/2, die zweite 5, 2 + ys, 2-l/3,
die dritte 2, 5+l/l9, 5 — yTO. Schon darin lag ein ungeheurer
Fortschritt, da noch niemals Gleichungen mit mehr als zwei
Wurzelwerthen bekannt geworden waren. Aber Cardano geht
viel weiter. Er addirt die jedesmaligen Wurzelwerthe und bemerkt,
dass in allen drei Fällen die Summe der Wurzelwerthe den
Coefficienten des quadratischen Gliedes bilde. Er verweist
dabei zugleich rückwärts auf das I. Kapitel, welches jetzt erst dem
dem Leser vollkommen deutlich wird. Dort findet sich unter Anderem
die Bemerkung^), x^ = 12x -\- \Q habe die Wurzeln x == 4 und
X = — 2, die positive Wurzel (vera) sei das Doppelte der negativen
(fida). Kann es, bei Beachtung der Rückverweisung im XVIII. Ka-
pitel, einem Zweifel unterworfen sein, dass Cardano das Vorhan-
densein zweier gleichen negativen Wurzeln zum mindesten
ahnte, dass er das Nichtvorkommen eines quadratischen Gliedes auf
das gegenseitige Aufheben der drei Wurzelwerthe zurückführte?
An die Auflösung der kubischen Gleichungen mit wie immer
gearteten Coefficienten schliessen sich Untersuchungen über besondere
Fälle an*). Wir erwähnen davon nur die beiden ersten, wonach
x^ = (a -{- h^)x -\- ah
durch
und x^ == (a^ -{- h^)x -\- 2ah(a -f- h) durch x = a -{- h erfüllt wird.
Wir können aber der Ars magna auch solche Dinge entnehmen,
welche nicht im Geringsten mit der von Tartaglia empfangenen Be-
lehrung zusammenhängend nur um so gewisser Cardano's geistiges
Eigenthum bilden. Das XXX. und das XXXVII. Kapitel sind in
dieser Beziehung ganz besonders reicher Ausbeute. Das XXX. Ka-
pitel ^) führt die Ueberschrift De regula aurea und enthält eine
Methode zur näherungsweisen Auflösung numerischer Gleichungen,
die erste, welche in Europa zur Veröfi^entlichung gelangte. Wohl
') Ars magna, Cap. VII. ^) Cardano IV, 259, letztes Alinea der zweiten
Columne. =') Ebenda IV, 223. '') Ars magna, Cap. XXV. °) Cardano
IV, 273—274.
506 t55. Kapite..
hatte ein Araber (Bd. I, S. 736) x^ -}-h = ax unter der Voraussetzung,
dass a gegen h sehr gross sei, näherungsweise lösen gelehrt. Wohl
hatte Leonardo von Pisa (S.46 — 47) eine sehr nahezu genaue Wurzel von
erkannt, aber wie er sich dieselbe verschafft, ist nirgend angedeutet,
und anzunehmen, Cardauo's Regula aurea sei gerade Leonardo's
Methode gewesen^), ist eine Vermuthung, welche nicht die geringste
Stütze besitzt. Cardano's Verfahren, welches wir als seine Erfindung
rühmen zu müssen glauben, ist allerdings von ihm nur an Gleichungen
dritten und vierten Grades geübt, doch liegt nichts in dem Verfahren
selbst, was diese Beschränkung noth wendig machte. Wir erlauben
uns daher zur besseren Würdigung der goldenen Regel sie in ganz
allgemeinen Buchstaben zu schildern. Es sei f(x) eine ganze alge-
braische Function von x, welche von der nten bis zur 1. Potenz der
Unbekannten mit positiven Coefficienten (dieses Positivsein der Coeffi-
cienten bildet die einzige Einengung der goldenen Regel), welche
theilweise auch 0 sein können, herabsteigt, und es sei eine Wurzel
der Gleichung f{x) = Je zn suchen. Nun seien a und a -\- 1 zwei
auf einander folgende positive ganze Zahlen von der Eigenschaft, dass
f(a) = h — h, f(a -|- 1) = ^' + ^', so ist x zwischen diesen beiden
ganzen Zahlen enthalten, d. h. wir können nach Belieben
x = a-\- ((« + 1) — a)d- oder x = (a + 1) — ({a + 1) — a)£
setzen mit d- und s als positiven echten Brüchen. Ersteres Verfahren
wollen wir das additive, letzteres das subtractive Ergänzungs-
verfahren nennen. Wegen
f(a + 1) > fix) > f(a) ist f(a + 1) - f{a) > f(x) - f{a)
und
fix) - fia) _ Jc-{k-h) _ b ^^^
f(a + 1) - /■(«) (A- + V) -{k-h) & + h'
Diesen Bruch benutzen wir als d-, d. h. wir wählen in zweiter An-
näherung X c\) a -\- ) , 1' •■ Nehmen wir nun an, es würde etwa
fia -\- _^ \ ^= Je — h"<C l'. Wir wenden nun weiter das subtrac
tive Ergänzungsverfahren an; wir setzen
s=(a + l)-((a+l)-{a+^-^))e = a+l~J^.,
wo es nur darauf ankommt, ein geeignetes £ < 1 einzusetzen. Als
solches dient
^) Genocchi in den von Tortolini herausgegebenen Ann-iU di scienze
inatematiche e fisicke VI, 165 — 168.
Cardano's ältere Schriften. 507
/•(« + 1) — /'(^) iJc-\-h') — k _ b'
/•(« + !)-/•«.+
{k-\-h'} — {k — b") b'-{-b"
b-\- b'J
und die dritte Annäherung wird
b'
X c<i a -{- \
/^(« +
b + h' &'+&'
&'
hJ^h' ?/+&'
ausgerechnet und der Betrag mit /.' verglichen wird. Je nachdem /-•
zwischen dem neuen Substitutionswerthe und /'(«) oder zwischen dem-
selben und f(cl-\-^.^ liegt, wird nach additivem oder subtractivem
Ergänzungsverfahreu weiter gerechnet, wodurch man dem wahren x
so nahe kommen kann, als man nur will. Wir haben weiter oben
die Beschränkung hervorgehoben, nach welcher f(i^ nur positive
Coefficienten enthalten darf. Cardaoo lässt sie nachträglich fallen,
indem er eine Gleichung x^ -\-nx^ -{- q = inx:^ -{-p nach der goldenen
Regel behandelt. Er setzt auch in solchem Falle x = a und x = a-{- 1
und zieht das Substitutionsergebniss der rechten Seite von dem der
linken ab, um die beiden dem Vorzeichen nach entgegengesetzten
Zahlen — h und b' zu finden, welche den zweiten Näherungswerth
xc\j a -\- , herstellen lassen u. s. w. Man darf gewiss nicht
sagen, dass mit dieser Erweiterung die Nullsetzung eines Gleichungs-
polynoms an die Stelle der bisherigen Gleichungen mit nur positiven
Gliedern auf beiden Seiten des Gleichheitszeichens getreten sei, aber
ebenso gewiss war Cardano damit auf dem Wege zu dieser wichtigen
Neuerung, und keineufalls verdient die goldene Regel den wegwerfen-
den Namen eines wilden Näherungsverfahrens. Wie Cardano zu ihr
geführt wurde, ist unschwer zu errathen^). Sie entstand in seinem
an weittragenden Gedanken überreichen Geiste aus der alten Methode
des doppelten falschen Ansatzes, welche sie zu ersetzen bestimmt war,
und welche von nun an auch wirklich ihren Jahrhunderte hindurch
behaupteten Platz in den Lehrbüchern räumt und wahre Näherungs-
verfahren an ihre Stelle treten lässt.
Noch weit merkwürdiger ist das XXX VII. Kapitel-) De regula
falsum ponendi. Negatives hat, wie wir früher gesagt haben, nicht
die Berechtigung, eine wahre Gleichungswurzel darzustellen. Gleich-
wohl rechnet Cardano mit solchen Zahlen, und weiss ihnen mit Hilfe
des Begriffes einer Schuld statt eines Besitzes oder einer Bezahlung
statt eines Ertrags einen Sinn abzugewinnen. Aber so weit hatte er
M Vergl. Cossali 1. c. II, 321. "^ Cardano IV, 286—288.
508 65. Kapitel.
vielfache Vorgänger, welche wir au verschiedenen Stellen dieses wie
des I. Bandes nennen konnten. Wie verhielt es sich dagegen mit
Quadratwurzeln aus negativen Zahlen? Einmal haben wir (S. 360)
in einer französischen Aufgabensammlung mit solchen Ausdrücken
rechnen sehen; eine Randnote macht darauf aufmerksam, diese Aus-
drücke forderten Unmögliches, aber ob die Randnote auch dem
XV. Jahrhunderte angehörte, ob sie jünger war, ist nicht sicher-
gestellt, und unter allen Umständen blieb jenes vereinzelte Vorkom-
men, so viele Ehre es dem Schreiber in unseren Augen macht, un-
gedruckt und damit wirkungslos. Bahnbrechend dagegen für alle
Zukunft wurde Cardano's Kühnheit, in der Ars magna mit Quadrat-
wurzeln aus Negativem zu rechnen, also mit solchen Zahlen,
welche er früher als ganz unmögliche bezeichnet hatte. „Die zweite
Art einer falschen Annahme, sagt Cardano ^), ist die durch eine Wurzel
aus Minus, per radicem m. Soll z. B. 10 in zwei Theile getheilt
werden, deren Product 40 sei, so ist das offenbar eine unmögliche
Forderung, aber wir verfahren so: nimm die Hälfte von 10, also 5;
vervielfache sie mit sieh selbst, giebt 25; ziehe 40, das verlangte
Product davon ab, so bleibt — 15, dessen Wurzel zu 5 addirt und
von 5 abgezogen die gewünschten Theile 5 + ]/ — 15 und 5 — y^l5
liefert. Vervielfache 5 -(- ]/ — 15 mit 5 — ]/ — 15. Die kreuzweise
entstehenden Producte fallen weg, dimissis hicruciationihus , und es
entsteht 25 minus — 15, was so viel ist wie -\- 15. Das Product ist
also 40." Etwas weiter unten fährt er dann fort: quae quantitas
vere est sophistica, quoniam, per eara, non ut in puro m. nee in aliis
operationes exercere licet, nee venari quid sit, d. h. es ist dieses eine
auf formaler Logik beruhende Grösse, weil es nicht gestattet ist, die
Rechnungsverfahren an ihnen wie an reinen Minusgrössen oder an
anderen zu üben, noch einem Sinne derselben nachzustellen.
Wahrlich, es waren nicht geringe Entdeckungen, denen der auf-
merksame Leser in der Ars magna des Cardano begegnete, aber es
bedurfte schon eines mehr als gewöhnlichen mathematischen Geistes,
um alle diese Dinge zu würdigen oder auch nur zu verstehen. Dem
gewöhnlichsten Leser dagegen musste eine Leistung in die Augen
fallen, welche wir darum zum Schlüsse unserer Darstellung aufgespart
haben: die Auflösung der Gleichung vierten Grades. Schon
im XXVI. Kapitel zeigt Cardano, dass die Gleichung
11 7 '> I «^
X* -+- ax = bx- -\- YT
leicht aufzulösen sei. Er führt sie nämlich in die Form x^ == h (^ + 2t)
1) Cardano IV, 287.
Cardano's ältere Schriften. 509
über, welche die Quadrat wurzelausziehung gestattet und dann nur
noch eine quadratische Gleichung zu behandeln verlangt. Aehnlich
verhält es sich mit anderen Formen. Aber das sind doch nur ganz
besondere Fälle. Allgemeinerer Natur sind die Fragen des XXXIX. Ka-
pitels, auf welche Cardano durch die von Da Coi gestellte Aufgabe,
ic* -\- Qx^ + 36 = QOx aufzulösen, aufmerksam gemacht worden war.
Er selbst gesteht zu, nicht im Stande gewesen zu sein, diese Aufgabe
zu bewältigen. Luigi Ferrari ist der Erfinder, der erst 23 Jahre
alte Erfinder, setzen wir hinzu. Ferrari ging aus^) von der Quadri-
rung einer dreitheiligen Grösse, deren beide ersten Theile, sofern sie
nicht zu dem dritten in Beziehung treten, vereinigt aufgefasst werden,
also von der Formel
(^ -I- 7i + Cy = {Ä-{-Sy + 2ÄC-\- 2BC + CK
Ist nämlich, wie in Da Coi's Aufgabe
x^ -\- a x^ -{- c = hx
vorgelegt und addirt man beiderseitig {^Yc — a)x^ ^ so entsteht
{x' + Y'cy = {2yc — a)x'^ + hx.
Der Ausdruck links als (^A -f- J5)^ aufgefasst und C = t gesetzt zeigt,
dass wieder linker Hand ein Quadrat auftreten muss, wenn
2ÄC+2BC-}-C''=:2xH + 2Y^-t -{- e
beiderseitig addirt wird, oder dass man erhält
(^2 -f-y^-f tf = {2yc — a + 2t)x^ -]-hx-{- (f- + 2tyc) .
Wäre auch der Ausdruck rechter Hand ein Quadrat, so könnte man
die Wurzelausziehung auf beiden Seiten vornehmen und würde damit
die Aufgabe auf eine quadratische Gleichung zurückgeführt, d. h. auf-
gelöst haben. Nun wird aber der Ausdruck rechter Hand wirklich
ein Quadrat, wenn nur 4(2]/c — a -{- 2t) (t" -\- 2t ■ Yc) = W oder
anders geschrieben, wenn
fJ^{?.Y~c-^)f+{2c-aY^)t = '^^-
Man muss also t aus einer kubischen Gleichung finden, und das ist
wieder eine Zurückführung einer noch ungelösten Aufgabe auf eine
schon gelöste. Wir lassen den lateinischen Wortlaut der hier erläu-
terten Entwickelung folgen, der nunmehr unseren Lesern verständ-
licher, sein dürfte, als ohne die vorausgeschickte Auseinandersetzung:
Semper recluces partem quad. quadrati ad I^ addo tantum utiiqendue
parti, ut 1 quadr. quadratum cum quadrato et numero habeant radicem,
hoc facile est cum posueris dimidium numeri quadratorum radicem numeri;
') Eine sehr klare Darstellung des Ferrari'schen Verfahrens bei Cos sali
1. c. n. 299—305.
510 65. Kapitel.
item facies, iit denominationes extremae sint plus in ambabus aequationibus,
nam secus trinomium seu binomium reductum ad binomium necessario
careret radice. Quibus iam peractis addes tantuin de quadratis et numero
uni j)arti, ut idem additum alteri parti, in qua erunt res, faciant trinomium
habens K quadratam per positionem, et babebis nunierum quadratorum et
numeri addendi utrique parti, quo habito ab utroque extrabes 1^ quadratam
quae erit in una 1 quadratum p numero (vel m numero), ex alia 1 i^ositio
vel plures p numero (vel m numero, vel numerus m positionibus), quare
babes propositum.
Wesentlich ist das Feklen des kubischen Gliedes in der Gleichung
vierten Grades. Nun sollte man denken, der Erfinder der Befreiung
der kubischen Gleichung vom quadratischen Gliede werde auch hier
die zweckentsprechende Substitution leicht erkannt und die Unbekannte
einer neuen Unbekannten weniger dem Viertel des Coefficienten des
früheren kubischen Gliedes gleich gesetzt haben; aber hier ist eines
jener deutlich sprechenden Beispiele dafür, dass das Naheliegende
mitunter längere Zeit übersehen wird. Cardano zog die so natur-
gemässe Folgerung aus seiner früheren Erfindung keineswegs. Er
verwandelte^) /. B.
x^ + Qx^ = 64 durch x ^ — ^ in i/ -\- ßy = ^64 = 4,
d. h. allgemein, er Hess x^ -{- ax^ = c durch x =
y
yc .
-^~ in
• _ ^
y' + ay = Vc
übergehen.
Wir sind mit unseren Auszügen aus der Ars magna von 1545
zu Ende. Was erwartet man von Tartaglia, was muss man von ihm
erwarten, sobald er das grossartige Werk gelesen? Entweder dass er
vor dem Genius des Verfassers in Bewunderung sich beugte und
schweigend sich mit den ihm gewordenen Lobeserhebungen begnügte,
oder wenn sein Charakter kleinlicher war, beziehungsweise wenn seine
Verhältnisse es mit sich brachten, dass er aus seiner Erfindung so
viel als möglich für sich herauszuschlagen suchen musste, dass er in
diesem letzteren Falle schleunigst die Ars magna zu überbieten
suchte und seine eigenen Entdeckungen der Oeffentlichkeit übergab.
Vergleichen wir damit neuerdings den schon geschilderten Inhalt der
Quesiti -).
Tartaglia behauptet, schon längst in Besitz vieler Dinge zu sein,
1) Cardano IV, 297. Quaesito VII. ^) Wir steben in dieser Darstel-
lung in wesentlicber Uebereinstimmung mit Gberardi, der in seinen sebon
wiederholt genannten Materialien zur Gescbicbte der mathematischen Facultät
der alten Universität Bologna (deutsch von Max. Curtze, Berlin 1871) zum
ersten Male die Tartaglia-Legende prüfte und ihre Unglaubwürdigkeit darthat.
Ciirdano's ältere Schriften. 53 1
welche er nennt, welche aber auch in der Ars magna stehen, er be-
hauptet auch noch vieles Andere zu wissen. Den Beweis für das
Eine bleibt er schuldig, die leiseste Andeutung, worin seine sonstigen
Entdeckungen bestehen, vermeidet er. Oder soll es als Beweis gelten,
wenn er 1547 Gespräche, die er geführt haben will, mit Zeitangaben
versieht, denen jede Bestätigung abgeht? Ob Da Coi damals, wie
wir (S. 495) als möglich hinstellten, gestorben oder verschollen war,
ob das Gleiche für Fior gilt, kommt nicht gar sehr in Betracht. Die
von diesen beiden etwa zu erhärtenden oder zu widerlegenden That-
saclien sind nicht so erheblich. Bedeutsam ist nur das Gespräch von
1541 mit Ventuorthe, und dieser Engländer war nach Tartaglia's
eigener Aussage eben 1541 in sein Vaterland zurückgekehrt, sein
Zeugniss in Italien somit 1547 so gut wie unbeibringlich, wenn man
die damaligen Verkehrsverhältnisse berücksichtigt. In diesem Ge-
spräche will Tartaglia behauptet haben, ax^ = }) -\- t" besitze zwei
oder vielleicht noch mehr Auflösungen, eine Wahrheit, die er sehr
gut erst durch Cardano's Ars magna kennen gelernt haben kann. In
diesem Gespräche giebt er die Lösung der Gleichung ;X'^ -}- Gic^== 100
mit X = ]/42 + yiTÖO + ]/42 — /rTOO — 2, in welcher die Be-
freiung der kubischen Gleichung vom quadratischen Gliede durch das
in jenem Wurzelwerthe vorkommende — 2 mittelbar gesichert ist,
aber gerade dieses Beispiel nebst seiner Auflösung waren wir in der
Lage (S. 504) aus der Ars magna anzuführen. Will man glauben,
Cardano habe auch dieses von Tartaglia besessen, und Tartaglia habe
in den Quesiti nur versäumt, auf den weiteren Diebstahl aufmerksam
zu machen? Nein, Tartaglia war im Stande x^ -\- ax^ =\> mit ratio-
nalen Coefficienten a und h zu versehen, indem er von einem quadra-
tisch-irrationalen X ausging (S. 486), aber die Befreiung der all-
gemeinen kubischen Gleichung von ihrem quadratischen Gliede hat
er nie besessen, hat er, als er sie in der Ars magna las, nicht ein-
mal verstanden, sonst hätte er in den Quesiti ganz anders darüber
sich ausdrücken müssen. Von allen Ruhmredigkeiten Tartaglia's über
seine Verdienste um die Erweiterung der Lehre von den Gleichungen
bleibt für's erste nur die Thatsache, dass er 1539 die Auflösung der
eines quadratischen Gliedes entbehrenden kubischen Gleichung besass.
Weiteres wollte Tartaglia seiner in den Streitschriften von 1547 bis
1548 wiederholt auftretenden Zusicherung gemäss dann der Welt mit-
theilen, wenn er in späterer Zeit die Arbeit, deren Vollendung ihn
jetzt voll beschäftigte, die Uebersetzung des Euklid, abgeschlossen
haben werde. Und wie verhält es sich mit der späteren Zeit? Tar-
taglia hat von 1556 ab seinen General Trattato de' niimeri e misure
512 <i-'j- Kapitel.
dem Drucke übergeben. Der 1. Band erschien 1556, der 2. Band
1558, der 3. Band 1560, nachdem Tartaglia schon gestorben war.
Nirgend ist auch nur eine weitere Entdeckung im Gebiete der
Gleichungslehre mitgetheilt. Wir werden Tartaglia's Schriften im
nächsten Kapitel genauer Besprechung unterziehen, aber schon jetzt
dürfen wir unsere Verwunderung aussprechen, dass er, auch nachdem
der öffentliche Streit gegen Feri-ari und Cardano durch die Disputation
vom 10. August 1548, wie sie auch betrachtet werden mag, zu Ende
geführt war, nachdem also aus dem Besitze algebraischer Geheimnisse
ein klingender Vortheil für Tartaglia nicht mehr in Aussicht stand,
gar nicht eilte, die Entdeckungen zu veröffentlichen, welche ihn zum
grössten Mathematiker seiner Zeit stempeln mussten, sondern Jahr
um Jahr der Niederschrift von verhältnissmässig unbedeutenden Dingen
widmete. Mit dieser Verwunderung regt sich zugleich auch der
Zweifel, wie es mit jenen erwähnten nachweisbaren Kenntnissen von
1539 sich verhielt.
Nicht ob er sie besass, können wir anzweifehi, aber woher er sie
besass? Wir haben Scipione del Ferro als ersten Auflöser der Glei-
chung x^ -\- ax = h kennen gelernt, wir haben (S. 483) gesagt, es
sei zwar nirgend berichtet, wie er verfuhr, aber gewisse Rückschlüsse
seien berechtigt. Hier ist der Ort, sie zu ziehen. Cardano und Fer-
rari nahmen 1542 Einsicht von Del Ferro's Buche. Cardano nannte
am Anfange des XL Kapitels der Ars magna von 1545 den ersten
Erfinder, nannte Tartaglia als zweiten^). Die Auflösungsmethode,
welche er mittheilt, ist genau die des Tartaglia, wie wir sie aus dessen
Terzinen und aus dessen an Cardano gerichtetem Briefe vom 23. April
1539 kennen. Folgt daraus nicht mit an Gewissheit grenzender
Wahrscheinlichkeit, dass die beiden Verfahren, das des Del Ferro und
das des Tartaglia, nur eines und dasselbe waren? Findet diese An-
nahme nicht eine weitere Bestätigung in Ferrari's Worten, welche er
im sechsten Cartello ^) Tartaglia entgegenschleudert : „Herr Hierony-
mus konnte diesen Gleichungsfall dem ersten Erfinder, d. i. Herrn
Scipio del Ferro aus Bologna zuschreiben und ausser diesem noch
Herrn Antonio Maria Fiore, welcher — Ihr gesteht es in Eurem Buche
ein — die Sache früher als Ihr wusste. Nichtsdestoweniger war er
so höflich. Euch glauben zu wollen, dass auch Ihr das Verfahren
erfunden habet, ohne es von einem von diesen oder von einem ihrer
Schüler erhalten zu haben und hat Euren Ruhm zugleich mit dem
') Scipio Ferreus Bononiensis iam annis ab liinc triginta fenne capitidum
hoc invenit, tradidit vero Anthonio Mariae Florida Veneto, qui cum in certamen
cum Nicoiao Tartalea Brixellense aliquando venisset, occasionem dedit ut Nico-
laus invenerit. ^) Cartello VI, pag. 4—5.
Cardano's ältere Schriften. 513
jeuer Beiden verkündet. Und Ihr? Für diese Wohlthat, an die ich
Euch in meinem zweiten Cartello erinnerte^), für viele andere, welche
ich bezeugen kann, habt Ihr zur Unzeit so bäuerisch über ihn ge-
schrieben, dass Ihr verrü(5kt erscheint." Wir nageln den Ausdruck
„er war so höflich Euch glauben zu wollen" e stato sl cortese, che vi
a voluto crederc, fest, welcher Ferrari's Zweifel an Tartaglia's Erfinder-
recht ausspricht.
Ist es denn nur in einer Weise möglich, die kubischen Glei-
chungen aufzulösen? Die Geschichte hat diese Frage mit lautem Nein
beantwortet. Eine 1615 gedruckte Auflösung von Vieta, von welcher
noch in diesem Bande die Rede sein wird, eine 1G83 veröffentlichte
Auflösung von Tschirnhausen, Dutzende von späteren Auflösungen
weichen alle unter einander und von der, wie wir begründet haben,
Tartaglia und Del Ferro gemeinschaftlichen ab. Ist es unter diesen
Umständen nicht gestattet, Zweifel daran zu hegen, dass beide unter-
einander übereinstimmende Gedankenfolgen ganz unabhängig in zwei
verschiedenen Köpfen sich bildeten?
Nur zwei wichtige Bedenken stehen diesem Zweifel wiederum
gegenüber. Erstlich wer sollte Tartaglia die Del Ferro'sche Ent-
deckung mitgetheilt haben? Diesem Bedenken gegenüber haben wir
keine andere Entgegnung als: wir wissen es nicht, und wir empfinden
selbst diese Lücke aufs Unangenehmste. Nur das könnte gesagt
werden, dass wo eine Handschrift vorhanden war, wo Fior die Methode
kannte, es wenigstens nicht ausgeschlossen erscheint, dass auch ein
Zweiter, ein Dritter heimliche Kenntniss erhielt und sie ebenso heim-
lich weiter verbreitete'-). Dann muss man freilich auf den neuen Ein-
wurf gefasst sein, warum dieser Zweite, dieser Dritte nicht hervortrat
und für sich und seinen eigenen Nutzen das Geheimniss verwerthete
ähnlich wie Fior es that? Diesem Einwurfe gestehen wir die kräftigste
Wirkung zu. Das zweite Bedenken äussert sich in der Frage, ob
Tartaglia denn zuzutrauen war, dass er, auf eine oder die andere
Art in den Besitz von Del Ferro's Geheimniss gelangt, doch immer
nur von seiner eigenen Entdeckung sprach? Wir müssen die Be-
antwortung aufschieben, bis wir Tartaglia's Schriften besprochen
haben, eine Aufgabe, welcher wir uns jetzt zuwenden.
^) Cartello II, pag. 3: Te inventorem celebravit, te exoi-atutn sihi tradidisse
commemoravit. Quid vis amplius? ^) So ist die Ansicht Gherardi's 1. c.
S. 115—116.
Cantor, Geschichte der Mathem. II. 2. Aufl.
014 66. Kapitel.
66. Kapitel.
Tartaglia's Schriften. Cardano's spätere Schriften .
Tartaglia eröffnete seine schriftstellerische Laufbahn 1537 mit
der Nuova scienza, einem Versuche die Lehre von dem Wurfe
auf theoretischer Grundlage aufzubauen. Hervorzuheben ist daraus
die Behauptung, dass die Bahn des geworfenen Körpers eine in jedem
ihrer Theile krumme Linie bilde, während die Schulmeinung dahin
ging, der Anfang und das Ende der Bahn sei eine gerade Linie ^).
Ausserdem wusste Tartaglia, dass der unter einem Winkel von 45"
geworfene Körper am weitesten fliege. Im dritten Buche der Nuova
scienza ist ausschliesslich von Aufgaben der Feldmessung die Rede,
wobei ein rechtwinklig hergestelltes Viereck das Hauptwerkzeug bildet.
Um die rechten Winkel selbst zu prüfen, solle man durch längs den
Seiten gezogene Striche einen solchen zur Abbildung bringen, dann
um den Scheitel als Mittelpunkt einen Kreis beschreiben und schliess-
lich messen, ob der von den Schenkeln begrenzte Kreisbogen sich
viermal auf dem Kreise herumtragen lasse.
Demnächst veröfieutlichte Tartaglia 1543 eine lateinische Aus-
gabe des Archimed^). Die Vorrede, natürlich gleichfalls in latei-
nischer Sprache geschrieben, enthält folgende Erzählung: „Nachdem
durch einen Glückszufall eine zerrissene und kaum lesbare griechische
Handschrift des Archimed in meine Hände gekommen war, wandte
ich alle Arbeit, alle Mühe und Sorgfalt auf die Theile, die sich lesen
Hessen, sie in unsere Sprache zu übertragen, was freilich schwer
war"^). Deutlicher und bestimmter kann man sich nicht ausdrücken,
und nun hat die wörtliche Uebereinstimmung insbesondere solcher
Stellen, deren Uebersetzung verfehlt und zum Theil ganz sinnlos
ist, zur Gewissheit erhoben, dass Tartaglia die ganze Uebersetzung
abgeschrieben hat, dass es die Arbeit Wilhelm's von Moer-
becke (S. 99) war, die der freche Herausgeber als seine eigene rühmte!
Noch im gleichen Jahre 1543 erschien die italienische Ueber-
setzung des Euklid*) von Tartaglia, ein Werk, mit welchem er
1) Libri III, lüü— 161. — Heller, Geschichte der Physik I, 326—327.
*) Heiberg's Archimedausgabe (1880—1881) Bd. III Prolegomena pag. XXIX sqq.
und Heiberg, Neue Studien zu Archimedes. Zeitschr. Math. Phys. XXXIV,
Supplementheft, besonders S. 6—7. ^) Cum sorte quadam ad manus meas per-
venissent fracti et qui vix legi poterant qiiidam libri manu graeca scripti illius
celeberrimi pliilosophi Archimedis . . . omnem operam meam omne Studium et
cmam adhihui, ut nostram in Unguam, quae partes eorum legi poterant, conver-
terentur, quod sane difficile fuit. *) Eticlide Heg. Philos. solo introduttore delle
Tartaglia's Schriften. Cardano's spätere Scliriften. 515
ofifenbar grossen Erfolg gehabt haben muss, da nicht weniger als
fünf Auflagen innerhalb 42 Jahren bekannt sind. Die italienische
Uebersetzung ist, wie der Titel ausdrücklich erklärt, aus zwei latei-
nischen Texten, nämlich aus denen von Campano und von Zam-
berti, abgeleitet, während der griechische Euklid bereits seit zehn
Jahren im Drucke vorhanden war. Das gleicht so ziemlich einem
Eingeständnisse, dass Tartaglia nicht im Stande war, des griechischen
Textes sich zu bedienen, und kann dadurch als Bestätigung gelten,
dass Tartaglia noch viel weniger befähigt war, einen griechischen
Archimed zu übersetzen. Im Uebrigen ist Tartaglia's Bearbeitung
nicht ohne Verdienst. Sie ist mit vielen eingehenden Erläuterungen
versehen, auch ist die Nummerirung der Sätze und die Anordnung
des Stoffes zuweilen eine andere als bei Campano und Zamberti.
Am Rande sind stets die Nummern jener beiden Ausgaben angegeben
auch in den Fällen, in welchen alle drei Ausgaben übereinstimmen^).
Die Quesiti et invenzioni diverse sind von 1546. In deren
V. Buche ist die Aufnahme topographischer Pläne mittels der Bus-
sole gelehrt. Den sonstigen mathematischen Inhalt bildet aus-
schliesslich die Geschichte der Entdeckung der Auflösung kubischer
Gleichungen. Sie ist von uns bereits ausführlich in Tartaglia'schem
Sinne erzählt, aber auch dahin erläutert worden, dass irgend Neues,
was der Leser, beziehungsweise also auch der Schreiber, nicht aus
der Ars magna Cardano's wissen konnte, durchaus nicht vorkommt.
Im Anschlüsse an die Quesiti nennen wir der Vollständigkeit der
Aufzählung wegen Tartaglia's Risposte auf die Cartelli Ferrari's.
Dann folgte 1551 La travagliata invenzione und kurz dar-
auf Ragionamenti sopra la travagliata invenzione. Beide
Schriften sind der Mathematik fremd. Wir müssen gleichwohl Weniges
über sie bemerken und zugleich auf ein etwas älteres Werk Car-
dano's zurückgreifen. Cardano nämlich, dessen Vielseitigkeit als
Arzt, als Astrolog, als Physiker, als Philosoph, als Mathematiker ihn
zu einem der fruchtbarsten Schriftsteller seines Zeitalters machte, wo-
von zehn Foliobände erhaltener Werke ausreichendes Zeugniss liefern,
hatte auch eine Schrift De subtilitate verfasst, welche 1550 in
Nürnberg, 1552 abermals und zwar in Paris gedruckt worden ist.
In XXI Bücher eingetheilt^) enthält sie Dinge aus fast allen Wissens-
gebieten. Im XL Buche z. B. ist eine Zusammenstellung der ästhe-
Seientie Matematiche düigentamente reassetato ei alla integritä ridotto j)er etc.
Nie. Tartalea etc. et per commune commodo et iitilüa di latino in volgar tradotto
1543 in fol., 1544, 1545 in fol., 1565, 1569, 1585 in 4».
1) Wertteim brieflich. ^) Cardano HI, 353—672.
33*
516 66. Kapitel.
tisch wirksamsten Verhältnisszahleu der meuschlictien Gliedmassen zu
finden^), im XVIL Buche die Beschreibung eines Schlosses, welches
nur dann sich öffnet, wenn gewisse Wortstellungen drehbarer Buch-
stabenvereinigungen hervorgebracht sind^). Gleichfalls im XVIL Buche
ist von einer Vorrichtung die Rede ^) , welche mittels dreier in ein-
ander greifender Stahlringe bewirkt, dass aus einer offenen Lampe,
wie man sie auch halte, kein Oel herauslaufe. Das ist die sogenannte
Ca r danische Aufhängung, welche aber mit Unrecht diesen Namen
führt, da nach dem Wortlaute bei Cardano selbst er hier über eine
schon sehr alte Erfindung berichtet ^). Von anderen Stellen der Bücher
De subtilitate wird noch in anderem Zusammenhange die Rede sein.
Hier nennen wir nur noch eine Erfindung gleich aus dem L Buche.
Dort^) ist eine Vorrichtung zur Hebung gesunkener Schiffe beschrie-
ben, welche auf dem Gedanken beruht, das gesunkene Schiff mittels
von Tauchern daran befestigten imd straff angezogenen Tauen mit
so schwer als möglich beladenen Kähnen in Verbindung zu setzen.
Werden alsdenn die Kähne erleichtert, so hebt das Wasser sie und
zugleich das an ihnen befestigte Schiff. Kein anderer Gedanke als
dieser ist es, welcher der Travagliata invenzione Tartaglia's zu Grunde
liegt, während der Name Cardano's vergeblich gesucht wird, und
wenn auch nicht zu verkennen ist, dass zwischen einem hingeworfenen
und einem ausführlich entwickelten Gedanken ein erheblicher Unter-
schied ist, so ist doch Tartaglia's Verschweigen des Namens dessen,
der den Gedanken zuerst äusserte, um so bezeichnender, als der Streit
über die kubischen Gleichungen zwischen Beiden vorhergegangen war.
Gleichwie in der Travagliata invenzione fehlt Cardano's Name auch
in den Ragionamenti, welche der Hauptsache nach eine weitere Aus-
führung der eben genannten Schrift sind. Dabei ist unter anderen
das specifische Gewicht einer ganzen Anzahl von Stoffen auf das Ge-
wicht des Regenwassers als Einheit zurückgefühi-t. Die Versuche
Tartaglia's müssen indessen an einem bisher noch nicht ermittelten
einheitlichen Fehler gelitten haben, da .sämmtliche specifische Ge-
wichte, die er augiebt, zu klein sind. Die Ragionamenti von 1551
sind in Gestalt von Gesprächen mit Richard Ventuorthe gedacht.
Selbstverständlich kann diese Gesprächsform nicht gegen unsere Be-
merkung (S. 490), jener Engländer sei 1541 in seine Heimath zurück-
1) Cardauo III, 555—556. -) Ebenda pag. 623. ^) Ebenda pag. 612.
*) Breusing, Die nautischen Instrumente bis zur Erfindung des Spiegelsextan-
ten (Bremen 1890) S. 16—17. Berthelot hat in den Compt. ßend. CXI, 940
(Paris 1890) das Vorkommen der Cardanischen Aufhängung in einer Handschrift
des XII. S. nachgewiesen. ^) Cardano III, 364—365: Modus quo naves
demersac gurgitihus recuperantitr.
Tartaglia's Schriften. Cardano's spätere Schriften. 517
gekehrt, verwerthet werden, denn man hat es sicherlich mit erdichteten
Gesprächen zu thun, wie Tartaglia sie in allen neun Büchern der
Quesiti als stylistische, auch sonst vielfach beliebte und gebrauchte
Form benutzt hatte, und von einem neuen wirklichen Aufenthalte
des „Gevatters" (mio Compare) in Italien ist nirgend eine Andeutung
zu finden.
Nun gelangte der General Trattato di numeri et misure
zur Veröffentlichung, das mathematische Hauptwerk Tartaglia's, wel-
chem wir einen ausführlichen Bericht zu widmen haben, ebensowohl
weil es an und für sich eines solchen würdig erscheint, als weil eine
parteilose Beendigung der von uns begonnenen Untersuchung ihn
nothwendig macht. Der I. Band, die 1. Parte enthaltend, trägt die
Jahreszahl 1556. Der II. Band trägt die gleiche Jahreszahl und
enthält die 2. Parte. Im III. Bande sind die 3., 4., 5., 6. Parte ver-
einigt, wemi auch jede mit neu beginnender Blattbezifferung; die
Jahreszahl der Titelblätter dieser vier letzten Abtheilungen ist 1560.
Jede einzelne Parte ist mit einer besonderen Widmung versehen, auf
welche gleichfalls geachtet wird werden müssen, da geschichtlich Ver-
werthbares dort sich findet.
Die Parte 1 ist wieder dem englischen Edelmanne Ricardo
Ventvorth zugeeignet, von dessen derzeitigem Aufenthaltsorte aber-
mals keine Andeutung sich findet. Tartaglia beklagt die kostbare
Zeit, welche er durch die Cartelli und Risposte verloren habe, jam-
mert über Aerger und Zeitverlust in Brescia und setzt hinzu, dass
er seit zwei Jahren — mithin seit 1554 — mit eisernem Fleisse an
eine grosse Arbeit sich gemacht habe. Schnelligkeit habe nothgethan,
weil er befürchten musste, durch Tod, Krankheit oder sonstige Zu-
fälle wieder gestört zu werden. Jetzt sei er mit der Arbeit
fertig, und sie sei in sechs Abtheilungen getheilt^). So schreibt Tar-
taglia am 23. März 1556. Nicht anders drückt er sich am 3. April
1556 in der an den Grafen L'Andriano gerichteten Widmung der
Parte 2 aus. Er habe in den letzten zwei Jahren einen sechstheiligen
Tractat verfasst, dessen zweiter Theil hier vorliege^). Die Wid-
mungen der vier weiteren Theile hat Tartaglia, der, wie wir uns
erinnern, im December 1557 starb, nicht mehr verfasst. Sie rühren
vom Verleger Curtio Trojano deiNavo her, und deren erste trägt
die Zeitangabe des 1. Januar 1560, die anderen sind nicht datirt.
Die Widmung der Parte 6 enthält die Mittheilung, der Verfasser sei
*) La ho ridutta a fine, <& questa mia cosi longa fatica mi e parso da divi-
dere in sei paHi distinte. *) Havendo questi duoi anni passati composto nn
general Trattato di numeri & misure, ma in sei parti divisi per la diversita di
lor soggetti, delle quali sei parti questa e Ja seconda.
518 66- Kapitel.
vor Vollendung dieser Schlussabtheilung vom Tode betroffen worden,
aber so weit sei das Geschick gütig gewesen, dass es ihn nicht weg-
raffte, bevor in verschiedenen Bruchstücken und vielen Notizbüchern
seine Absichten soweit schriftlich niedergelegt waren, dass er nur noch
in einem Bande und in fortlaufender Darstellung zu vereinigen hatte,
O 0 7
was auf viele Blättchen in lückenhafter Form geschrieben war; dieser
Mühe aber konnte Jeder sich unterziehen, der nur massiges Ver-
ständniss von mathematischen Dingen besass^). Ein gewisser Wider-
spruch zwischen diesen drei Aeusserungen und einem Zwischensatze
der Parte 5, in welchem auf eine noch in Aussicht stehende neue
Algebra verwiesen ist^), lässt sich nicht leugnen, aber so weit
glauben wir mindestens den Worten des Verlegers trauen zu müssen,
dass, als Tartaglia starb, in seinem Nachlasse nichts w^eiter sich vor-
fand, was auf Algebra sich bezog, als was nachher in der Parte 6
des General Trattato gedruckt wurde. Wir berufen uns dafür auf
Tartaglia's Testament vom December 1557. Damals waren die vier
ersten Abtheilungen des General Trattato im Drucke vollendet, und
Exemplare derselben waren in Tartaglia's Besitz^), über welche letzt-
willig verfugt wird. Vom schriftlichen Nachlasse ist nicht in be-
stimmten Worten die Rede, aber der Verleger Trojan Navo ist aus-
drücklich zum Testamentsvollstrecker ernannt^), und diese Thatsache
verstärkt wesentlich unseren Glauben an die Erklärung dessen, der
sicherlich alle vorhandenen Papiere durchstöberte, wie er sie durch-
stöbern musste. Gab doch grade dieser Verleger 1565 aus Tartaglia's
Nachlasse das Werkchen des Jordanus Nemorarius De Fondero-
sitate heraus^), eine Ausgabe, welche mit ihren 46 Sätzen zwar nicht
alle 50 Sätze der Handschriften der Oeffentlichkeit übergab, aber
doch weit über die 13 Sätze hinausging, welche Peter Apianus 1533
bei Petreius in Nürnberg zum Drucke beförderte. Und eine Nova
Algebra, verschieden von dem, was als Parte 6 im General Trat-
tato gedruckt ist, sollte er übersehen haben? Kaum glaublich. Tar-
taglia's „neue Algebra" ist aufzufassen, wie so viele Aeusserungen
des gleichen Schriftstellers, als ein auf die Zukunft ausgestellter
') . . . che non cel tolse iwima, ch'egli havesse in diversi fragmenti & in
molti memoriali scritta tutta intorno a tal parte l'intentione sua tanto, che non li
restava a far altro se non quello, che egli haveva in molte carte scritto S con
ragionamento interrotlo, racogliere in un volume, & con continuato discorso, fatica
ch'ogni mediocre intendente delle 3Iatematiche poteva condurla a fine. ^) Parte 5
fol. 88 verso 1. 7 v. u.: si narrara nella nostra nova Algebra. ^) 3Ii attrovo
lihri del mio general trattato de numeri et miswe pfl 2.da ga ^t 4a parte.
*) Mio commissario et executor di questo mio ultimo testamento lasso it sop(_2 M.
Troian Navo lihrer. *) Gherardi 1. c. S. 96 Note 2.
Tartaglia's Schriften. Cardano's spätere Schriften. 510
Wechsel, zu dessen Einlösung keine oder doch nur geringe Mittel
bereit lagen.
Der General Trattato ist ein ganz vortreffliches Lehrbuch der
Rechenkunst, von einer Reichhaltigkeit, welche auch hinter der der
Summa des Paciuolo in keiner Weise zurücksteht, von grösster Klar-
heit und sogar einer gewissen Eleganz der Darstellung. Natürlich
ist Vieles, man kann getrost sagen das Allermeiste, der Sache nach
alt und nur in der Form neu, allein auch ganz Neues, uns wenigstens
aus den Schriften keines anderen Verfassers bekannt, begegnet an
verschiedenen Stellen den Blicken des aufmerksamen Lesers. Eine
ganz besondere Neigung besitzt Tartaglia, frühere Schriftsteller tadelnd
zu erwähnen, während er ihre Namensnennung da, wo er sich ihnen
streng anschliesst, ziemlich regelmässig unterlässt. Ganz besonders
Paciuolo und Cardano gegenüber ist diese doppelte Gewohnheit auf-
fällig. Wir heben nunmehr Einzelheiten hervor, indem wir nach der
Reihenfolge der Abtheilungen uns richten.
Parte 1. Die Campano'sche Euklidübersetzung nennt das Ver-
vielfältigen unterschiedslos bald muUiplicare, bald ducere'^). Das hält
Tartaglia für unrichtig. MuJtiplicare beziehe sich nur auf abstracte
Zahlen, und der kleinste Multiplicator sei 2, ducere dagegen müsse
bei geometrischen Quantitäten gesagt werden, wie bei der Verviel-
fältigung von Linien mit Linien oder von Linien mit Oberflächen^).
Ganz ähnlich sei bei der entgegengesetzten Operation das misurare,
welches bei Raumgrössen stattfinde, von dem auf Zahlen sich be-
schränkenden parfAre zu unterscheiden^). Diese Begriffsbestimmungen
auf Brüche angewandt führen dazu, dass bei ihnen als an sich con-
tinuirlichen Grössen nur die Ausdrücke ducere und misurare in An-
wendung kommen sollten*). Beim Multipliciren und Dividiren sind
alle die zahlreichen Regeln gelehrt, welche dafür bekannt waren, ins-
besondere erscheint das partire a danda d. h. das Dividiren unter-
wärts^), welches von nun an gegen das alte Dividiren überwärts sich
siegreich behauptet. Tartaglia lehrt es an dem Beispiele 912345 : 1987
mit dem avenimento (Quotient) 459 und dem avanzo (Rest) 312.
Die Pratica d. h. dasjenige Verfahren, welches bei den deutschen
Rechenmeistern die welsche Praktik hiess, und welches insbesondere
beim Rechnen mit benannten Zahlen beliebt war, wird aufs Ausführ-
lichste gelehrt^). Für das Zurückführen verschiedener Brüche auf
den kleinsten Gemeinnenner, beziehungsweise für die Auffindung der
^) Ducere heisst es z. B. bei der Ausmessung der Rechtecke. Vgl. Kästner
I, 294—295. 2) General Trattato, Parte 1 fol. 17 verso. ^) Ebenda fol. 27
recto. ^) Ebenda fol. 119 recto und verso. ^) Ebenda fol. 35 recto und verso.
^) Ebenda fol. 53 verso bis lOG recto.
520 &&■ Kapitel.
kleinsten ganzen ZaM, deren Bruchtheile von gegebenem Nenner
ganzzahlig ausfallen , ist ein besonderer Name angegeben, accatare ^)
(wörtlich: betteln, borgen). Tartaglia lehrt, wie man einen Brod-
tarif anfertigen könne, der den Veränderungen des Fruchtpreises sich
anpasse-). Seine Bemerkung, daran habe noch kein Verfasser einer
Arithmetik gedacht, ist gegenüber den Vorgängern, von welchen wir
wissen (S. 478), höchstens für Italien keine eitle Ruhmredigkeit. Die
zeitliche Entfernung zweier bestimmter Tage wird durch eine Sub-
traction gefunden^), die derjenigen von benannten Zahlen nach-
gebildet ist. Die Zeit vom 17. des dritten Monats 1552 bis zum 23.
des ersten Monats 1555 wird z. B. nach folgendem leichtverständ-
lichen Schema berechnet:
23 I 1555
17 III 1552
differentia 6 X 2
Terminrechuung d. h. Abtragung verschiedener an verschiedenen Tagen
fälligen Zahlungen an einem mittleren Tage heisst reccare a im di^).
Die Rechnung wird so geführt, dass, wenn die Zahlungen z^, z^y • •• ^n
nach t^, t^, . . . tn Zeit zu leisten waren, die Entfernung T des mitt-
leren Tages sich durch T = j — ^-j , ergiebt. Nicht
uninteressant ist eine Polemik gegen Paciuolo und Cardano über
Zinseszins bei Bruchtheilen von Jahren^), eine Polemik, auf welche wir
schon (S. 325) mit dem Bemerken hingewiesen haben, es handle sich
dabei nicht um eigentlich Mathematisches. Die Frage heisst: Was
wird aus 100 in 2% Jahren zu 20% mit Zinseszinsen? Darüber ist
Tartaglia mit den beiden anderen Schriftstellern einig, dass 100 zu
20% mit Zinseszinsen in 1 Jahre zu 120, in 2 Jaliren zu 144, in
3 Jahren zu 172-3-, in % Jahre zu 110 anwachse. Den Betrag nach
272 Jahren berechnen aber Paciuolo und Cardano vom dritten Jahre
i 1
rückwärts mittels des Dreisatzes 110 : 100 = 172^- : x, x = 157--,
o ' 11 '
Tartaglia dagegen vom zweiten Jahre vorwärts mittels des Dreisatzes
100 : 110 = 144 : ic, a;=158-^- Der Zinseszins, .sagt er, werde
immer vom Gläubiger auferlegt, und dieser stelle die Bedingung zu
seinem Vortheile, welcher demnach bei der Rechnung zu wahren sei.
Auch eine Frage der Wahrscheinlichkeitsrechnung, und zwar wieder
die Theilungsfrage bei unterbrochenen Spielen (S. 501), wird unter-
^) General Trattato, Parte 1 fol. 109 verso. -) Ebenda fol. 171 recto.
3) Ebenda fol. 182 recto. ') Ebenda fol. 185 verso. ^) Ebenda fol. 191
verso bis 192 verso.
Tartaglia's Schriften, Cardano's spätere Schriften. 521
sucht ^). Eine streng beweisbare Auflösung gebe es nicht, weil die
Frage mehr nach Recht als nach Vernunftgründen zu behandeln sei,
la risoluzione di una teil questione e piii presto yiiidickde che per
ragione. Am wenigsten Anstoss errege folgende Theilung. Das Spiel
soll wieder auf s Spiele gehen, und s^, s^ sind die von beiden Spielern
erreichten Gewinnspiele. Der Erste ist dem Zweiten um s^ — s., Ge-
winne vor. Da er bei s Gewinnen den ganzen Einsatz des Gegners
ausser dem eigenen an sich zieht, so gebühren ihm jetzt ^- von
dessen Einsatz, während Jenem nur ^ ~ desselben bleibt. Der
Erste behält überdies — des eigenen Einsatzes, und da beide Einsätze
als gleich vorausgesetzt werden, so verhalten sich die beiderseitigen
Theile wie (s + s^ — Sg) : (5 + ^o — ^i)- ß®i ^ = f^^? % = ^^; ^2 = ^^
werden die Verhältnisszahlen 80 : 40 oder der Erste nimmt y , der
Zweite — des Gesammteinsatzes.
Parte 2. Sehr verschiedenartige Reihen werden der Summi-
rung unterworfen, unter anderen solche, deren Glieder nach dem
Gesetze wachsen, dass jedes Glied das Doppelte der Summe sämmt-
licher vorhergehender Glieder vorstellt^), mithin die Reihe
1 + 2 + 6 + 18 + 54 + 162 H .
Ist Sn die Summe der ersten n Glieder dieser Reihe, so ist s„^ die
Summe der ersten 2n — 1 Glieder oder «2«— 1 = 5„^- Ein Beweis
ist der Behauptung nicht beigefügt, lässt sich aber leicht erbringen.
Weil 1 + 2 = 3 = S2, so ist das dritte Glied 2 • 3 und
53 = 3 + 2.3 = 32-,
ähnlicherweise ist s^ = 3^ -|- 2 • 3^ = 3^ und
Sfi O . ^2« — 1 '^"^ " Ofi .
Die Anzahl aller Versetzungen aus n von einander verschiedenen
Elementen^) ist 1 • 2 • 3 • • • n. Die arithmetischen Reihen auf ein-
ander folgender Ordnung werden gebildet, und zwar jede auf sechs
Glieder, deren letztes der Bildungs weise entsprechend regelmässig die
Summe sämmtlicher Glieder der unmittelbar darüber stehenden Reihe
liefert^).
^) General Trattato, Parte 1, fol. 265 verso. ^) Ebenda Parte 2, fol. 16
verso. ^) Ebenda fol. 16 verso. *) Ebenda fol. 17 recto.
522
G6.
Kapitel
1 1
1
1
1
1
1 2
3
4
5
6
1 ?>
r,
10
15
21
1 4
10
20
35
56
1 5
15
35
70
126
1 6
•21
56
126
252
1 7
28
84
210
462
1 8
36
120
330
792
Auffallend ist der Zweck, der mit diesen Reihen sicli verbindet. Sie
sollen die Anzahl der mit 1 bis 8 gewöhnlichen sechsflächigen Würfeln
möglicher) Würfe zählen, so dass es bei 6 Würfeln 462 solcher ver-
schiedenen Würfe gebe, bei 8 Würfeln
1 + 8 + 36 + 120 + 330 + 792 = 1287.
Andere Schriften des XVI. Jahrhunderts lassen die etwas dunkle Stelle
verstehen lernen. Man gab damals viel auf Würfel, die nicht nur
zu Glücksspielen verwandt wurden, sondern auch zu regelmässiger
Beantwortung von Fragen. Bücher, welche in deutschei: Sprache
diesem Gegenstande gewidmet sind, führen den Namen Loossbuch.
Ihrer Beschreibung ^j entnehmen wir Folgendes. Ist nur ein I. Würfel
in Gebrauch, so können mit demselben sechs von einander verschiedene
Würfe erzielt werden. Tritt ein IL Würfel hinzu, so mag man nur
die Würfe als verschieden erachten , bei welchen II nicht weniger
Augen zeigt als I, denn der Wurf I =:= 3 Augen, II = 1 Auge war
alsdann in der Form 1 = 1 Auge, II = 3 Augen schon da, ist mit-
hin kein neuer Wurf. Der verschiedenen Würfe mit den Würfeln I
und II sind es daher 6 + 5-f4-f3-f2-fl=^ = 21 oder in
der Sprache der Combinatorik: Die Anzahl der mit zwei sechsflächigen
Würfeln möglichen wesentlich verschiedenen Würfe ist gleich der
Anzahl der Combinationen mit Wiederholung aus 6 Elementen zur
Classe 2. Durch Fortsetzung der gleichen Betrachtung erkennt man,
dass mit h Würfeln von je n Flächen so viele wesentlich verschie-
dene Würfe möglich sind, als durch die Anzahl der Combinationen
mit Wiederholung aus n Elementen zur Classe /.; angegeben ist, mithin
w(w + l)---(n-|-^- — 1) , .,6-7---13 ^^Q„
— ~^ — -, -• Bei n = h, Jc = S erscheint -~^ 5-= 1287.
Dieselbe Zahl ist aber auch die Summe der sechs ersten Glieder der
aus den Zahlen 1, 8, 36, 120, 330, 792 bestehenden arithmetischen
Reihe 7. Ordnung, und Tartaglia's Behauptung ist damit bestätigt.
Eine Anwendung dieser Anzahl der wesentlich verschiedenen Würfe
1) Kästner I, 226—241.
Tartaglia's Schriften. Cardano's spätere Schriften. 523
bei Wahrscheinlichkeitsaufgabeu ist allerdings unstatthaft, weil die
Häufigkeit, in welcher jeder als wesentlich verschieden bezeichnete
Einzelwurf vorkommt, nicht berücksichtigt ist. — Näherungsweise
Ausziehung von Quadratwurzeln hatte Cardano in der Practica Arith-
meticae generalis von 1537 gelehrt (S. 499). Auch Tartaglia be-
schreibt die gleichen Verfahrungsweisen-^), indem er nicht mit Un-
recht die eine, welcher in fortgesetzter Anwendung von ]/J. rv) a
J^ ^2
4- ^-x besteht, auf die alten Araber zurückführt, während er für
die andere — Anhängung von Nullen vor der Wurzelausziehung —
auf Orontius Finaeus verweist. Quadratwurzeln aus Brüchen ^J wer-
den gewöhnlich, j>«^ commmie, durch annähernde Wurzelausziehung
aus Zähler und Nenner, besser aber so gefunden, dass man dem Bruche
durch Erweiterung einen quadratischen Nenner verschafft, um nur im
Zähler einer angenäherten Wurzel zu bedürfen. Eine ganz feine Be-
merkung hebt hervor^), dass jede angenäherte Wurzelausziehung einen
Fehler mit sich führe, die Einsetzung solcher Werthe dürfe also immer
erst am Ende einer ganzen Rechnung eintreten, damit die Fehler sich
nicht vervielfältigen. Näherungsweise Ausziehung von Kubikwurzeln^)
haben manche Schriftsteller, wie Sacrobosco, gar nicht, andere, wie
Cardano, grundfalsch gelehrt. Michael Stifel hat für Wurzelaus-
ziehungen Vortreffliches geleistet, nelle estrattioni delle radici rationali
(('• discrete si e mostrato molto eccelente, Näherungsverfahren aber nicht
angegeben. Tartaglia behauptet alsdann 1514, das wäre demnach im
Alter von 14 Jahren, etwa zur gleichen Zeit als er Schreibunterricht
nahm, was die Glaubwürdigkeit der Behauptung nicht gerade erhöht,
gefunden zu haben, dass in erster Annäherung
in zweiter Annäherung yÄ r\J a. -j- r-^ — g zu setzen sei. Cardano
und Ferrari, heisst es an einer späteren Stelle^), hätten aus dem
Werke Stifel's gelernt, wie man auch höhere Wurzeln zu ziehen habe,
ein eigentliches Näherungsverfahren fehle jedoch bei Stifel, so dass
dessen Nachbeter hier rathlos gewesen seien und Fehler über Fehler
machten. Dem Lobe Stifel's, dem damit verbundenen Eingeständnisse,
die Arithmetica integra selbstverständlich gelesen zu haben, gegen-
über musste man die eiserne Stirn Tartaglia's besitzen, um die Er-
findung der Binomialcoefficienten, deren Bildungsgesetz
^) General Trattato, Parte 2, fol, 19 verso und 22 recto (durch einen Druck-
fehler sind diese Blätter mit 25 und 28 bezeichnet). ") Ebenda fol. 25 recto.
^) Ebenda fol. 26 verso. ^) Ebenda fol. 27 recto bis 28 verso. ^) Ebenda
fol. 42 recto 1. 16 sqq.
524 66. Kapitel.
C) +
,Tcf ' U + l/ U + 1/'
deren Anwendung zur Ausziehung von Wurzeln mit beliebig hohem
Wurzelexponenten ganz unbefangen für sich in Anspruch zu nehmen ^),
ohne bei dieser Gelegenheit Stifel's Namen auch nur zu erwähnen.
Einen Hauptbestandtheil der Parte 2 bildet das Rechnen mit Pro-
portionen, wie wir es von früheren arithmetischen Schriftstellern her
zur Genüge kennen. Vielleicht zum ersten Male bediente sich Tar-
taglia hier des Wortes Dignität-), welches geraume Zeit der Kunst-
ausdruck für Potenz geblieben ist. — Auch zahlentheoretische Bemer-
kungen treten auf, darunter solche über vollkommene Zahlen^). Tar-
taglia geht dabei von der ausgesprochenen, irrigen — vermuthlich
Stifel (S. 435) entnommenen — Meinung aus, 2^''+^ — 1 sei immer
Primzahl, mithin auch immer 2- "(2-"+^ — 1) eine vollkommene Zahl.
Beweislos fügt Tartaglia hinzu, alle vollkommenen Zahlen mit Aus-
schluss der 6 Hessen durch 9 getheilt 1 zum Reste. Wir sind diesem
Satze bei Bovillus (S. 385) begegnet. — Dem Rationalmachen von
Brüchen , deren Nenner Summe oder Differenz zweier irrationaler
Grössen ist, wird besonderes Gewicht beigelegt. Dabei ist die Vor-
schrift ausgesprochen^), welche allein das blinde Umhertasten zu einem
verständigen Verfahren umzuwandeln im Stande ist, man müsse zu-
nächst die im Nenner auftretenden Irrationalitäten zu Wurzelgrössen
gleicher Benennung machen , also z. B. -~ -3- = ^ ^^
]/5 -f 1/3 "|/25 + y243
243 25
setzen; dann habe man mit j^ ^ — , welches immer eine auf-
■|/243 4- y25
gehende Division darstelle, den Bruch zu erweitern.
Parte 3 ist geometrischen Untersuchungen gewidmet. Für einen
Uebersetzer des Euklid, wie Tartaglia es war, klingt es da recht auf-
fallend, wenn als euklidische Definitionen^) angegeben wird, die gerade
Linie sei die kürzeste Ausdehnung von einem Punkte zum andern,
die Ebene die kürzeste Ausdehnung von einer Linie zur anderen.
Auf Nachlässigkeit eines fremden Herausgebers kann man die Schuld
nicht schieben , da Tartaglia's Testament zeigt, dass der Druck von
Parte 3 und 4 noch während seines Lebens vollendet war (S. 517).
^) General Trattato , Parte 2 , fol. 69 recto : Begola generale dal presente
auttor ritrovata da sapere in tale estrattioni di radici in infinito piu oltra pro-
cedere nelle altri sequenti specie. Die Tabelle der Binomialcoefficienten steht
fol. 69 verso und fol. 71 verso und an letzterer Stelle auch das Bildungsgesetz.
*) Ebenda fol. 138 verso: Li numeri signalati detti qiiadri, cubi, censi di censi
. . . che si chiamano dignita. ^) Ebenda fol. 146 verso. *) Ebenda Parte
2, fol. 153 recto. ^) Ebenda Parte 3, fol. 3 verso und fol. 4 verso.
Tartaglia's Schriften. Cardano's spätere Schriften. 525
Er wird mithin selbst für diese und manche andere Versehen ver-
antwortlieh sein, entschuldigt durch zunehmende Kränklichkeit. Nur
so ist es begreiflich, dass einmal von einem Rhombus mit der Seite 6
und den Diagonalen 10 und 20 die Rede ist^), als ob 5 und 10 die
Katheten eines rechtwinkligen Dreiecks mit der Hypotenuse 6 sein
könnten, während an einer anderen Stelle des folgenden Abschnittes^)
vollkommen richtig ein Rhombus von der Seite 13 und den Diago-
nalen 10 und 24 besprochen wird. — Die durch eine Zeichnung unter-
stützte Beschreibung des squadro-') , jenes von Feliciano (S. 481)
genaimten Winkelkreuzes zur Absteckung senkrechter Linien auf dem
Felde, dürfte die erste sein, welche in einem Druckwerke vorkommt.
Die Prüfung dieser Rechtwinkligkeit durch Wiederholung des Ver-
fahrens, welches nach Drehung der Vorrichtung um 90° genau die
gleichen Signalstangen wie vorher als richtig aufgestellt ergeben
muss, und Anwendungen des Winkelkreuzes werden gelehrt. Das
Ausmessen beliebig begrenzter Felder '^) erfolgt durch Theilung in
geradlinige Figuren mittels Hilfslinien, die man auf den Feldern selbst
absteckt, oder bei Unzugänglichkeit der Felder um diese herum zu
legen hat. Weitere im Leben nützliche Aufgaben beziehen sich auf
Körperinhalte, woraus wir die Berechnung des Mauerwerkes recht-
winkliger und kreisrunder Thürme") hervorheben. Ist d die Dicke,
h die Höhe der Mauer, Ua und «,• der äussere beziehungsweise innere
U^ + Wj
Umfang, so ist in beiden Fällen der Mauerinhalt h ■ d ^ ? ^^'
für indessen eine Ableitung nicht gegeben ist.
Parte 4. Hauptinhalt dieser Abtheilung ist Flächen- und Kör-
perberechnung. Bei der letzteren schliesst sich Tartagiia anfangs an
Euklid, später an Archimed an, welche er als seine Quellen nennt.
Bei den Flächenberechnungen ist auch auf andere Schriftsteller Rück-
sicht genommen, insbesondere werden L-rthümer von solchen bemerkt^).
Boethius irrte, indem er Dreiecksfläche und Dreieckszahl mit einander
verwechselte; Orontius Finaeus beging mannigfache geometrische Irr-
thümer; Stifel's Würfelverdoppelung ist falsch; Bovillus und ebenso
Albrecht Dürer haben das Quadrat in einen flächengleichen Kreis
verwandelt, indem sie diesem -- der Diagonale zum Durchmesser
gaben u. s. w. Zeigt schon dieser mehr kritische Abschnitt, dass
Tartaglia's unleugbare mathematische Begabung vielleicht vorzugs-
1) General Trattato, Parte 3, fol. 26 verso. ') Ebenda Parte 4, fol. 9 verso.
3) Ebenda Parte 3, fol. 24 recto. *) Ebenda fol. 29 verso. ^) Ebenda fol. 47
verso. •') Ebenda Parte 4, fol. 5 recto, 19 recto bis 20 recto, 21 recto, 22 recto
und verso.
526 66. Kapitel.
weise auf geometrischem Gebiete lag, so gewinnt diese Auffassung
fast Gewissheit, wenn wir zur folgenden Abtheilung übergehen.
Parte ö. Hier sind Auflösungen von durch Zeichnung erfüll-
baren Aufgaben unter Anwendung von Lineal und Zirkel mit be-
liebiger, mitunter auch mit unveränderlicher Zirkelöffnung ^) vereinigt,
welche nnsere Achtung vor dem Erfinder auf hohe Stufe bringen.
Vielfach giebt Tartaglia ganz bestimmte Zeitpunkte an, wann er
diese, wann er jene Auflösung zu Wege gebracht haben will, freilich
ohne diesen Angaben irgend einen äusseren Beleg hinzuzufügen, so
dass wir bei der wiederholt erkannten Unglaubwm-digkeit Tartaglia's
diesen Zeitbestimmungen kaum Gewicht beizulegen haben. Im Jahre
1530 z. B. will er die Aufgabe gelöst haben, in ein gleichseitiges
Dreieck ein Quadrat einzuzeichnen, dessen eine Seite auf einer Drei-
eeksseite liegen sollte, und diese Aufgabe habe er alsdann auf den
Fall eines ungleichseitigen Dreiecks erweitert^) (Fig. 94). Sei Ijc die
grösste Seite des Dreiecks abc. Man ziehe die zu ihr senkrechte
Höhe ad des Dreiecks und ferner in den End-
punkten &, c die Senkrechten hf und ce, beide
von gleicher Länge mit bc. Die Geraden fd,
ed schneiden alsdann ab^ac in 1i,g, und diese
Punkte sind zwei Eckpunkte des Quadrates,
dessen zwei andere Eckpunkte i, l' gefunden
werden, indem man von h, g Senkrechte hi, gk
auf die Grundlinie bc fällt. Es ist Acge<^nagd
und A bhfc\) ahd. Folglich gc : ce == ga : ad
und fb :bh ^ da : ah, welche letztere Propor-
tion wegen fb = ce auch ce :bh = da : ah geschrieben werden kann.
Vervielfacht man beide Proportionen mit einander, so entsteht
gc : bh = ga : ah und folglich ist gh || bc. Die Rechtwinkligkeit des
Vierecks ghiJc ist damit bewiesen, die Gleichseitigkeit bleibt noch
fraglich. Nun ist
cd : ce =^ dl' : gl-, db : bf ^= di : ih
oder wegen ce = bf und gJi = ih auch db :ce = di:gh. Vereinigung
der beiden Proportionen liefert {cd -\- db) : ce = (dl- + di) : gl' d. h.
bc : ce == iJc : glc. Aber bc = ce, also auch ik = gl: Die nächste
Aufgabe verlangt statt des eingezeichneten Quadrates ein Rechteck,
dessen Seiten im Verhältnisse von 1 : 2 stehen , und dessen eine
') Ausführliche Auszüge bei W. M. Kutta, Zur Geschichte der Geometrie
mit coustanter ZirkelöfFnung in Abh. der Kaiserl. Leop.-Carol. Deutschen Aca-
demie der Naturforscher. Bd. 71 Nro. 3. Halle 1897. -) General Trattato,
Parte 5, fol. 18 reeto und verso.
Tartaglia's Schriften. Cardano's spätere Schriften.
grössere Seite auf der grössten Dreiecksseite- liege. Der einzige
Unterschied in der Zeichnung gegen vorhin besteht (Fig. 95) darin,
dass die Senkrechten hf, ce in den Eud- j^
punkten der Grundlinie nicht mehr der
ganzen, sondern der halben Grundlinie gleich
gemacht werden. Im Uebrigen ist auch
die Beweisführung bis zur Herstellung der
Proportion bc:ce= ilr.gh buchstäblich ab-
zuschreiben, dann heisst es weiter hc = 2cc,
also auch ik == 2gli, und das Verlangte ist erfüllt. Die Bedeutung
dieser zweiten Aufgabe besteht darin, dass sie die Lösung einer dritten
Aufgabe vermittelt, der Aufgabe, in ein gleichseitiges und gleichwink-
liges Fünfeck ein Quadrat derart einzuzeichnen, dass dessen vier Ecken
auf ebensovielen Fünfecksseiten liegen. Werden (Fig. 9G) die Fünf-
ecksseiten hc, cd bis zum Durchschnitte in g verlängert, werden so-
dann in die Dreiecke ahg, aeg die Rechtecke JiilJi, ilmii mit Seiten
Fig. 97.
im Verhältnisse von 1 : 2 eingezeichnet, so muss liJcmn das verlangte
Quadrat sein. Diese Aufgabe ist die sechste von denen, welche Fer-
rari am 1. Juni 1547 in seinem dritten Cartello stellte, und Tartaglia
gab die Auflösung schon in seiner dritten Risposta am 9. Juli 1547,
allerdings ohne einen Beweis beizufügen, doch ist nicht denkbar, dass
er zufällig und ohne den Grund des Verfahrens einzusehen auf das-
selbe verfallen sein sollte. — Unter den mit unveränderter Zirkel-
öffnung zu lösenden Aufgaben verlangt die erste: eine Strecke in eine
beliebig gegebene Anzahl gleicher Theile zu theilen-^). Um die End-
punkte der Strecke werden (Fig. 97) mit 5em gegebenen Zirkel Kreise
gerissen und auf denselben Bögen von 60'^ vom Durchschnittspunkte
der Strecke aus aufgetragen, auf dem einen Kreise nach oben, auf
dem anderen nach unten. Die Mittelpunkte der Kreise verbindet man
^) General Trattato, Parte 5, fol. 22 verso.
528 6G. Kapitel.
mit den so auf den Kreisen selbst bestimmten Punkten durcli Halb-
messer, welche einander parallel verlaufen, und welche bis zu «facher
z. B. dreifacher Länge verlängert werden. Die Verbindungsgeraden
der entsprechenden Punkte auf beiden verlängerten Halbmessern schnei-
den, wie man erkennt, die gegebene Strecke in den gesuchten Punkten.
Eine ganze Menge, nämlich 67 von den im Ganzen 75 in den eukli-
dischen Elementen gelösten Aufgaben werden unter gegenseitiger Be-
nutzung und mit unveränderter Zirkelöffnung behandelt^). Wir be-
gnügen uns damit, die Behandlung der beiden ersten Aufgaben an-
zudeuten. Erstens sei (Fig. 98) über einer gegebenen Strecke al> ein
gleichseitiges Dreieck zu zeichnen. Von a aus in der Richtung gegen
h schneidet man mit der gegebenen Zirkelöffnung auf der, wenn noth-
wendig verlängerten ah die ad ab, und ebenso von h aus die bc in
a h
der Richtung gegen a. üeber dd und hc die gleichseitigen Dreiecke
ade, hcf zu zeichnen gelingt sofort, und mit diesen Dreiecken sind
die Seiten hf, ae gegeben, welche beide mit ah Winkel von 60°
bilden, also den dritten Eckpunkt des gesuchten Dreiecks ahg als
Durchschnittspunkt besitzen. Zweitens sei von einem Punkte a aus
eine Parallele zu einer gegebenen Geraden hc zu ziehen. Die gege-
bene Zirkelweite reiche (Fig. 99) von a bis zu dem Punkte e auf hc.
Man zieht ae und verlängert um ef ^= ae. Dann schneidet man von
/■ aus den Punkt g der hc ein, so dass fg = ef, verlängert um
gh = fg und zieht ah als die gewünschte Parallele. Ist die Zirkel-
weite so gering, dass mit ihr von a aus kein Punkt e der Geraden
hc getroffen wird, so zieht man eine ganz beliebige ae und wählt
auf ihr einen , oder wenn nothwendig mehrere Zwischenpunkte
a^ , Oo . . . , die alle weniger von einander und zuletzt von e entfernt
sind, als die gegebene Zirkelweite, worauf man Hilfsparallelen zieht,
bis man zuletzt zu derjenigen Parallelen gelangt, welche durch a
hindurchgeht.
*) Geltend Trattato, Parte 5, fol. 64 recto bis 81 recto.
Tartaglia's Schriften. Cardano's spätere Schriften.
529
Fig. 100.
Wir stellen diesen geistreichen Constructionen Tartaglia's eine
von denen gegenüber, die Ferrari im October des Jahres 1547 ver-
öffentlichte^). Von dem grösseren Schenkel eines Winkels, und zwar
vom Scheitelpunkte aus, ein Stück abzuschneiden, welches dem kleineren
Schenkel gleich sei. Zunächst wird (Fig. 100) -^hac durch die ad
halbirt, was mit jeder Zirkelweite möglich ist, ^
dann wird mit der gegebenen Zirkelweite he
von b aus der Punkt e auf der ad, von e aus
durch 6/"= he der Punkt f auf der ac be-
stimmt, so ist af = ah. Diese Construction
versagt allerdings, wenn die Zirkelweite he klei-
ner als die senkrechte Entfernung von h nach
ad ist. Dann wird ^had wiederholt durch
rtfZj, vielleicht auch noch -^had-^ durch ad^
u. s. w. halbirt und einzigweis ah = ■ • • ^ af^
= af\ = af hervorgebracht, wo fi, f^, • ■ ■
Punkte jener Hilfslinien sind. Dass Ferrari sich mehrfach mit der
Geometrie mit unveränderter Zirkel weite beschäftigte, hat auch Car-
dano im XV. Buche seines Werkes De subtilitate von 1550 bezeugt^).
Die Leistungen Tartaglia's auf dem gleichen Gebiete gehen in-
dessen um einen bedeutenden Schritt über alles, was von Anderen
geliefert wurde, hinaus. Er war der Einzige, welcher auch auf Kegel-
schnitte bezügliche Aufgaben mittels unveränderter Zirkelöänung zu
lösen wusste^). In dem gleichen 5. Abschnitte, aus welchem wir wie
aus dem 3. und 4. nur Geometrisches berichten konnten, begegnet
dem Leser sehr unvermuthet eine Aufgabe ganz anderer Art^). Die
Zahl 8 soll in zwei Theile zerlegt werden, welche mit einander und
überdies mit ihrer Differenz vervielfacht das grösstmögliche Product
hervorbringen; eine Aufgabe aus der Lehre von den Maximal-
werthen einer Function ist also gestellt und, fügen wir hinzu,
richtig gelöst. Die Regel, sagt Tartaglia, sei folgende: Man müsse
8 halbiren, das Quadrat der HäKte um sein Drittel vermehrt sei
alsdann das Quadrat der Differenz der beiden Theile. In Buchstaben
kleidet sich die Regel folgendermassen. Sei a als Summe der beiden
Theile x -\- y gedacht, so wird
und
a 1 -| /a* a n /a^
2.
jy^^i
1) Cartello V, pag. 29. ^) Cardano EI, 589—592. ^) Geyieral Trat-
tato, Parte 5, fol. 81 verso bis 83 verso. *) Ebenda fol. 88 verso.
Caktoe , Geschichte der Mathem. n. 2. Aufl. ' 34
oBO 66. Kapitel.
im gegebenen Einzelfalle a = 8 sind die beiden Theile 4 -f- 1/ 5- ?
4 — [/ ^ö ■ Das ist vollständig richtig, denn prüfen wir nach dem
heutigen Verfahren und setzen — -{- s , — s als die beiden Theile,
2 2 als die Differenz, so soll 2^/^ -f" ^W-^ — ^ j == ^ — 2s^ zum
Maximum werden. Das bedingt — — 6/^ = 0 und
ya^ iL _L ^ j_ l/^ _^ iL l/"*
12' Y ' ^~Y ' F12' Y~^~Y~Ki2"
Wie hat aber Tartaglia die Regel gefunden? Der Grund, sagt er,
hänge von der „neuen Algebra" ab, und darunter ist wohl die Algebra
der kubischen Gleichungen verstanden. Ein sehr geistreicher Wieder-
herstellungsversuch von Tartaglia's Verfahren ist folgender ^). Wenn
^ 2^^ einen Maximalwerth m besitzen soll, so kommt es auf die
Auflösung der Gleichung — 2^^ = m oder ^^ + y = x -^ ^"- ^"
der Ars magna des Cardano war gelehrt (S. 504), dass diese Glei-
chung mittels y'^ = -. y -\- 1^ gelöst werde, indem
sei. Der grösste Werth, den y annehmen darf, so dass 0 reell bleibt,
geht aus r- hervor , d. h. ist w = ^ , und dieser liefert
o 4 4 ' 1/3
5' = -~ =^ 1/— , wie oben. Der grösste Werth von y liefert aber m
als Maximum, denn m = 2y^ — Y?/=2y(?/- — yj muss mit y
gleichzeitig wachsen, also auch gleichzeitig mit y seinen grösstmög-
lichen Werth erhalten.
Parte 6. Die Algebra bildet die letzte Abtheiluug des General
Trattato. Jeder Leser wird mit besonderer Begierde dieser Abtheilung
sich zuwenden, denn Tartaglia, welcher (S. 488) Anderen, d. h. Car-
dano, den Vorwurf machte, sie füllten ihre Bücher mit breitgetretenen
Geschichten, was er nicht wolle, wird doch diesem Grundsatze treu
geblieben sein, wird doch Jahre hindurch Materialien aufgespeichert
haben, von welchen er wiederholt versicherte, dass er sie besitze, und
wird als Ort ihres Erscheinens die letzte Abtheilung seines grossen
') H. G. Zeuthen, Notes swr Vhistoire des mathematiques. II. Tartalea
contra Carclanum. Bulletin de l'Academie Royale des Sciences et des Lettres de
Danemark, 1893.
Tartaglia's Schriften. Cardano's ältere Schriften. 531
Handbuches ausersehen haben. Jeder Leser, sagen wir, wird mit
solcher Erwartung an Parte 6 herantreten, wird beim Lesen die
grösste Enttäuschung empfinden. Ausschliesslich quadratische Glei-
chungen oder solche, die auf quadratische sich zurückführen, wenn
man eine Potenz der Unbekannten als neue Unbekannte wählt, sind
behandelt. Dann folgt das Rationalmachen von Gleichungen, das
Wegschaffen von Brüchen, Wurzelausziehungen aus beiden Seiten,
schliesslich 56 Aufgaben zur Einübung aller Vorschriften, aber
wesentlich Neues, Dinge, die vor dem General Trattato nicht auch
schon bekannt gewesen wären, sucht man vergebens.
Tartaglia's schriftstellerische Laufbahn war beendet. Wir haben
das Verdienstliche aus seineu theils während seines Lebens, the'ils
nach seinem Tode erschienenen Schriften hervorgehoben. Wir haben
wahrscheinlich gemacht, dass in Form von niedergeschriebenen Notizen
nichts Weiteres von ihm vorhanden war. Li das Lmere seines Geistes
einzudringen, zu ermitteln, welcherlei grosse oder kleine Entdeckungen
dadurch zu Grunde gingen, dass Tartaglia sie nicht zu Papier brachte,
ist ein Ding der Unmöglichkeit; aber denken wir uns Tartaglia's
Schriften, so wie sie im Drucke vorliegen, seien niemals erschie-
nen, so bleibt die Mathematik das, was sie ist, um keinen
einzigen grösseren und fruchtbaren Gedanken ärmer. Sogar
mit Bezug auf kubische Gleichungen gilt diese Wahrheit, insofern
deren Behandlung durch Cardano der nachgelassenen Schrift Del Ferro's
hätte entnommen werden können und dann gleiche Vervollkommnung
durch ihn zu erfahren fähig war, wie es mit den Mittheilungen Tar-
taglia's erging. Und kommen wir auf die (S. 512) gestellte Frage
zurück, ob Tartaglia wirklich fremde Erfindungen Cardano als seine
eigenen mitzutheilen im Stande war, so müssen wir jetzt dieselbe
voll und ganz bejahen. Wir glauben nicht an eine selbständige Auf-
lösung der kubischen Gleichung durch Tartaglia. Ob Cardano frei-
lich, ohne dass sein Geist durch die Begierde, dem Nebenbuhler es
zuvorzuthun, zu übermenschlicher Anstrengung angespornt worden
wäre, alles das vollbracht hätte, was er wirklich vollbrachte, ist eine
andere Frage, und hier liegt ein, wenn auch sehr mittelbares Ver-
dienst Tartaglia's um die Entwickelung der mathematischen Wissen-
schaften vor. Als unmittelbares Verdienst haben wir nur zu bezeich-
nen, dass Tartaglia in seinem General Trattato das für lange Jahre
unerreicht beste Handbuch schuf, fähig und bestimmt Paciuolo's
Summa abzulösen und zu verdrängen.
Wir haben von Vervollkommnungen gesprochen, welche Car-
dano zu Tartaglia's Mittheilungen hinzufügte. Schon unser Bericht
über die Ars magna gestattet diesen Ausdruck, aber Cardano's wissen-
532 66. Kapitel.
schaftliclie Thätigkeit war docIi lange nicht beendigt, und wir müssen
nunmehr seinen mathematischen Schriften uns zuwenden, welche er
nach 1560 herausgab, und zu denen, welche erst nach seinem Tode
aus seinem Nachlasse an die Oeffentlichkeit gelangten.
Im Jahre 1570 erschien in Basel ein stattlicher Folioband, welcher
drei Schriften Cardano's in sich vereinigte. Die erste war das Opus
novura de proportionibus, die zweite ein neuer Abdruck der
Ars magna von 1545, die dritte führte den nie und nirgend er-
klärten Titel De regula Aliza, der durch unrichtige Transscription
aus dem arabischen Worte dizzä (schwierig anzustellen, mühselig,
beschwerlich) entstanden sein kann^), und alsdann Regel der schwie-
rigen Fälle bedeuten würde. Die Ars magna ist nach der ersten
Nürnberger Ausgabe schon zur Genüge besprochen worden, wir haben
es also nur mit den beiden anderen Schriften zu thun. Aus dem
OjMS tiovum de x>roportionihus^) dürfte Folgendes zu erwähnen sein.
Die Schrift ist in Sätze, nicht wie andere Cardanische Werke in
Kapitel getheilt. Im 137. Satze^) sind die Binomialcoefficienten als
Erfindung Michael Stifel's bezeichnet und genau so wie in dessen
Ai'ithmetica integra zum Abdrucke gebracht. Man mag hierin eine
Abfertigung der unbegründeten Anmassungen Tartaglia's (S. 524) von
1556 erkennen. Im 3. Satze^) sind die 15 zweielementigen Combi-
nationen aus sechs von einander verschiedenen Elementen der Reihe
nach gebildet. Im 170. Satze ^) ist als Erfndung in Anspruch ge-
nommen, dass die Anzahl sämmtlicher Combinationen aus ti von ein-
ander verschiedenen Elementen zu allen möglichen Classen von der
1. bis zur nten einschliesslich durch 2" — 1 ermittelt werden. Dieser
Satz veranlasst uns zu einer eigenthümlichen Frage. Michael StifeP)
führt ihn nämUch schon in seiner Arithmetica integra ausdrücklich
als dem Cardano angehörend an. Demnach müsste der Satz 1544
veröffentlicht gewesen sein, was nur in der Arithmetik von 1539 der
Fall sein konnte, wo wir aber vergeblich darnach gesucht haben.
Auffallend genug ist es Cardano genau so wie uns ergangen, denn er
bemerkt ausdrücklich ^) : Ich habe dieses schon anderwärts gelehrt,
glaube aber bei der Rechnung mich geirrt zu haben; die Stelle selbst
kann ich nicht auffinden. Der 70. Satz^) vergleicht zwei geometrische
Progressionen von je drei GUedern mit einander und behauptet, dass
die Glieder der einen um die ausser der Reihe benutzten Glieder der
^) Diese Vermutliung rührt von H. Armin Wittstein her. -; Car-
dano IV, 463 -GOl. ^) Ebenda IV, 529. ") Ebenda IV, 467. =) Ebenda
IV, 5.57. «) Arithmetica integra fol. 101 recto: De regula quadam Hieronymi
Cardani. '') Et hoc rdias docui, quanquain credam me errasse in supptitatione
num locum invenire non imssum. *) Cardano IV, 4<J5.
Tartaglia's Schriften. Cardano's spätere Scliriften. 533
anderen vermehrt eine arithmetische Progression liefern können, nicht
aber wenn man die Glieder so zusammenfasse, wie ihre Anordnung
in den geometrischen Progressionen es verlange; aus 2, 4, 8 und 1,
3 9. 9
^, , - könne beispielsweise die arithmetische Progression 2 -{- 1 , 4 -f - ,
8 -f- ., gebildet werden. Cardano's Beweis in Buchstaben umgesetzt,
sonst aber unverändert, ist folgender. Seien a, as, as^ und ß, ß7],
ßrf die gegebenen Progressionen, sei zugleich £ > 1 und t; > 1, so
kann « -f- /3, as -{- ßrj, aa^ -\- ßiq^ keine arithmetische Progression
sein. Wegen der für £ und ri ausgesprochenen Bedingung ist
af""' — «£ > as — a ,
ßyf — ßri> ßrj - ß
und durch Addition
(a,2 _|_ ß^2^ _ (-^, _|_ ß^^ -> ^^^ _|_ ^^-) — (« -f ß).
Ebensowenig kann aber a -\- ßr}'^, as -{- ßt], as--\- ß eine arith-
metische Progression sein. Diesen letzteren Beweis führt allerdings
Cardano nicht aus, er lässt sich aber leicht ergänzen:
(« + ßv') — («« + ßv) = ßviv - 1) - ci(s - 1),
{as + ßrj) - {as' + /3) = ß{rj - 1) - as{s - 1).
Sollten beide Differenzen einander gleich sein, so müsste
/3(7j -lf = - a{s - ly
oder eine Gleichung zwischen Positivem und Negativem stattfinden.
Dass nämlich Cardano a, s, ß, iq sämmtlich als positiv voraussetzt,
geht schon aus seinem Beweise des ersten Falles hervor.
Auch Geometrisches und Mechanisches kommt in dem Opus novum
de proportionibiis vor. Die Sätze 159, 160, 161 stehen in innigem
Zusammenhange^) und handeln von den Winkeln, welche Kreisbögen
mit geraden Linien bilden. Diese Winkel hatten Campanus (S. 104)
Schwierigkeiten bereitet, aber seither, also etwa 300 Jahre lang, hatte
man sich nicht weiter darum gekümmert. Im XVL Buche De sub-
tilitate^) berührte Cardano den Gegenstand. Dann ging ein fran-
zösischer Geometer, Peletier, von welchem erst im XIV. Abschnitte
unseres Buches die Rede sein wird, wohin nach streng eingehaltener
Zeitordnung auch Cardano's hierauf zielende Betrachtungen gehören
würden, auf den Gegenstand genauer ein. Dann kamen eben die
Cardano'schen Untersuchungen von 1570. Der Winkel, welchen
(Figur 101) der Kreisbogen he mit der Geraden hc bildet, sagt
1) Cardano IV, 543—546. ^) Ebenda III, 600—601.
534
66. Kapitel.
Cardano, kann einem geradlinigen Winkel a nicht gleich sein. Jeden-
falls kann man nämlich einen zweiten geradlinigen Winkel chd = a
machen, so dass entweder hcl
innerhalb des Winkelranmes
che fällt oder ausserhalb, letz-
teres wenn etwa -^chd' = a
wäre. In beiden Fällen müsste,
wenn auch -^ che ^ a wäre,
der Theil gleich dem Ganzen
sein. Daraus folgt weiter, dass
ein solcher gemischtliniger
Winkel durch eine Gerade
nicht halbirt werden kann, weil
die Halbirungsgerade ihn in einen geradlinigen und einen wiederum
gemischtlinigen Winkel zerlegen würde, die einander nicht gleich sein
können. Weiter ist gewiss, dass zwischen zwei einander berührende
Kreise eine Gerade nicht gezogen werden kann (Figur 102). Die Be-
Fig. 101.
rührungslinie cf an beide Kreise steht auf den zusammenfallenden
Halbmessern ac und hc senkrecht. Jede Gerade, die mit cf einen
noch so kleinen Winkel in der Drehungsrichtung gegen ch ein-
schliesst, liegt innerhalb des Kreises um h, also nicht zwischen beiden
Kreisen. Dem Winkel zweier gleichen, sich schneidenden Kreise ist
ein geradliniger Winkel allerdings gleich (Figur 103). Sind die Sehnen
hd, he einander gleich, so ist -^ dha= ehe, also auch -^dhe = ahc
durch gleichmässige Veränderung gleicher Grössen. Zwischen zwei
gerade Linien, welche einen Winkel bilden, kann man Kreisbögen in
beliebiger Anzahl einschalten, denn man braucht nur den geradlinigen
Winkel durch irgend eine Gerade zu theilen und diese Gerade als
Tangente des zu zeichnenden Kreises im Scheitelpunkte des Winkels
zu benutzen. Schon diese Dinge seien alle wahr, aber schwer zu begrei-
fen, und mit ihnen sind die Schwierigkeiten keineswegs abgeschlossen.
Man behauptet z, B., durch fortgesetzte Halbirung einer Grösse müsse
man zu einer solchen gelangen, die kleiner sei als irgend eine ge-
Tartaglia's Pchrifton. Cardano's spätere Schriften. 535
gebeue Grösse und diese Wahrheit versage beim geradlinigen Winkel
verglichen mit dem Winkel, Avelchen der Kreisbogen mit seiner Be-
rührenden bildet, dem angulus contadus, wie Cardano ihn nennt,
während anderwärts vom Contingenzwinkel gesprochen zu werden
pflegte. Eine andere Schwierigkeit entsteht (Figur 104) bei in a sieh
berührenden Kreisen durch Ziehen der Sehnen
afd und age. Der geradlinige Winkel ead ist
gleich dem doppelt krummlinigen Winkel gae,
und doch ist die Basis ge des letzteren wesent-
lich grösser als die Basis de des ersteren, kann
wenigstens wesentlich grösser gemacht werden
dadurch, dass man mit agc beliebig nahe an
afd heranrückt. Die Schwierigkeiten, zumal die
der Untheilbarkeit des Contingenzwinkels (sei es
zwischen Kreisbogen und Tangente, sei es zwischen
zwei einander berührenden Kreisbögen) beruhen der Hauptsache nach
darauf, dass, wenn auch der Satz richtig ist, ein Vermindertes müsse
schliesslich kleiner werden als ein Bleibendes, hier eine Ausnahme
eintritt, weiF) das Bleibende die Krümmung des Kreises ist, das sich
Vermindernde ein bis zum Punkte abnehmender Winkel; die Krüm-
mung des Kreises verhindere mithin rechtmässig die Theilung. Wir
kommen, wie gesagt, im folgenden XIV. Abschnitte wiederholt auf
diese Dinge zu reden und wollen hier nur Cardano's keineswegs ein-
wandfreie Aeusserungen aufbewahren.
Der 173. Satz^) des Opus novum de proportionibus , bei welchem
wir noch einen Augenblick verweilen, lehrt die Herstellung einer
hin- und hergehenden geradlinigen Bewegung durch Drehungen. Es
sei, erklärt Cardano, eine Erfindung des Ferrari; den Beweis aber
habe dieser nicht zu führen vermocht, und er habe denselben dess-
halb ergänzt. Der 196. Satz^) beschäftigt sich mit dem sogenannten
Rade des Aristoteles (Bd. I, S. 241). Cardano hilft sich mit ziemlich
weitläufigen Redensarten um die Sache herum, statt dass er eine Er-
klärung für das nicht abzuleugnende Dilemma gäbe. Immerhin ist
diese Betrachtung gleich der vorerwähnten über gemischtlinige Winkel
geschichtlich bemerkenswerth. Mau erkennt das erstmalig wieder
auftauchende Bestreben , Fragen der Veränderung zu beantworten,
neben dem Sein auch das Werden von Raumgebilden der mathemati-
schen Betrachtung zu unterwerfen.
^) cum ergo circuli ciirvitas maneat et angulus tendat in punctum perpetua
diminutione, necesse est, ut curvitas circuli impediat divisionem rede. ^) Car-
dano IV, .560—561. ^) Ebenda IV, 575-576.
536 66. Kapitel.
Von ungleicli grösserer Bedeutung ist die Begula ÄUza^). Der
letzte Absatz des 5. Kapitels dieses Buches spricht sich dahin aus,
es sei leicht, einen, auch wohl mehrere Wurzelwerthe , aestimationes,
zu entdecken , wenn die Gleichungsconstante eine zusammengesetzte
Zahl sei; sei sie dagegen Primzahl, so sei es schwierig, eine einzige
Wurzel zu finden"). Wenn auch nicht in klarsten Worten gesagt,
ist die Entstehung der Gleichungsconstante als Product der Wurzel-
werthe hier mindestens angedeutet, und das 17. Kapitel Quot modis
numerus possit produci ex non numero^), d. h. auf wie viele Arten
eine ganze Zahl das Product irrationaler Factoren sein kann, mit
Beispielen wie
(4 + l/|)(3^-l/S) = io
und andere, zeigt, dass wir jene Andeutung richtig verstehen. Im
46. Kapitel^) ist eine Gleichung sechsten Grades, allerdings eine solche
besonderer Gestalt, nämlich x^ -f" (^^^ ~\~ ^^^^^ ~h <^*^ = hx^, dadurch
zur Auflösung gebracht, dass Cardano sie als Eliminationsergebniss
zweier Gleichungen auffasst, ein so neuer, eigen thümlicher Gedanke,
dass er der Hervorhebung würdig ist. Setzt man
xy = a, x^ + 2/^ + x^xj + xf = l,
so entsteht mittelst y = — die vorgelegte Gleichung, aber auch eine
andere Behandlung wird zulässig. Aus xy = a folgt
2a{x-\-y) = 2x^y-]r2xy^=(x-\-yy—x^—y'-''—xhj—xy^=(x-\-yy' — h
und daraus (x -\- yY ^^ 2 a {x -\- y) -\- h, eine Gleichung, welche nach
X -\- y aufgelöst werden kann; da überdies das Produkt xy = a be-
kannt ist, so ist auch x und y einzeln als bekannt anzusehen. Neben
der algebraischen Auflösung von Gleichungen ist Cardano auch die
geometrische Construction nicht fremd, welche Wurzelwerthe mittels
Durchschnitten von Kegelschnitten z. B. einer Parabel und einer
Hyperbel bestimmen lässt. Weiss er doch, dass die Griechen schon
dieses Verfahren übten, wo es um die Aufgabe der Würfelverdoppelung
sich handelte, und dass Eutokius aus älteren Quellenschriften das
Wichtigste überlieferte. Er, Cardano, sei über diesen einfachsten
Fall kubischer Aufgaben weit hinausgegangen. Insbesondere steht
') Cardano IV, 377 — 434. Der Erste, der dieses ebenso schwierige als
inhaltreiche Buch verstand, war Cossali, Origine, trasporto in Italia, primi
progressi in essa äelV Algebra II passim, besonders pag. 331, 415, 441 — 484.
^ Ebenda IV, 384 : Quintum, quocl videmus numerum aequationis si sit compositus,
ut 18, 12, 24 facile habere aestimationeni et lylures etiain , si autem x>rimus diffi-
cile est invenire iinam solam. ^) Ebenda IV, 393. *) Ebenda IV, 421 — 422.
Tartaglia's Schriften. Cardano's siiätevc Schriften. 537
die Gleichung .<;•' + 1^^ = 1^^'^ dabei im Vordergründe^). Den vor-
wiegend umfassendsten Theil des Buches Bc regula Alisa hat Car-
dano jedoch der Betrachtung derjenigen Fälle gewidmet, bei welchen
die Formel Del Ferro's unter der Kubikwurzel Ausdrücke auftreten
lässt, welche selbst Quadratwurzeln aus Negativem enthalten, und dass
er dabei, sowohl wegen der noch immer fehlenden allgemeinen Sym-
bolik, als wegen der nur sehr langsam von der griechischen Gewohnheit
der Unterscheidung aller überhaupt denkbarer Sonderfälle sich los-
reissenden Methodik, zahllose Unterfälle zu beachten sich veranlasst
sieht, macht gerade die Schwierigkeit des Buches aus, ganz abgesehen
davon, dass auch nicht wenige Druckfehler dem Verständniss im Wege
stehen^). Wie sehr Cardano das Bewusstsein hatte, dass hier ein Un-
entbehrliches durch ihn geliefert sei, geht aus einer Bemerkung hervor,
welche dem 12. Kapitel der Ars magna in der Basler Ausgabe hinzu-
gefügt wurde, in welcher er den Leser für die hier erwähnten Fälle
der Unmöglichkeit geradezu auf die Regula Alisa verweist^).
Wir haben, wie schon (S. 532) gesagt worden ist, auch noch
mathematische Schriften von Cardano, welche in seinem Nachlasse
aufgefunden und des Druckes würdig erachtet worden sind. Dazu
gehört das (S. 499 — 500) erörterte Kapitel De numerorum proprietatihus,
das ebenda im Vorbeigehen genannte Bruchstück De integris, aber
auch Anderes, welches uns jetzt beschäftigen soll. Dem Buche I)e
ludo aleae^), über das Würfelspiel, entnehmen wir, dass der Verfasser,
wie er von der Leidenschaft des Spieles erfasst war, wie er von den
dabei möglichen Betrügereien Kenntniss besass, auch den Fragen
Beachtung schenkte, welche mathematischer Beantwortung zugänglich
sind. Er weiss ganz genau, dass mit zwei Würfeln 6 Paschwürfe
und 15 ungleiche Würfe möglich sind, von welchen letzteren aber
jeder doppelt auftritt, so das im Ganzen 36 Würfe vorhanden sind.
Er weiss, dass bei 3 Würfeln es 6 Dreipasche giebt, 30 Zweipasche,
deren jeder dreimal vorkommt, 20 ungleiche Würfe, deren jeder sechs-
mal vorkommt. Die Gesammtzahl der Würfe ist 216. Ob er diese
richtigen Zahlen durch Formeln, ob mindestens theilweise durch Auf-
zählung der Einzelfälle sich verschafft hat, ist nicht gesagt, doch hat
eben wegen dieses Schweigens das letztere viel für sich. Für zahl-
reich angestellte Versuche spricht jedenfalls ein Ausdruck, der das
Zusammentreffen von Vermuthung und Ereigniss bei häufiger Wieder-
^) Cardano IV, 389 — 390, Ca^jut 12: De modo demonstrandi geometrice
aestimationem cuhi et numeri aequalium quadratis. ^) So ist ebenda IV, 384
im 6. Kapitel der Satz T^ p est, T^ m quadrata nulla est iuxta usum communem
dadurch für Viele unverständlich geworden, dass im Drucke das Komma nach
est fehlt. ^) Ebenda IV, 251. *) Ebenda I, 262—276.
538 66. Kapitel.
lioluug betrifft^) und damit au das Gesetz der g rosse u Zahlen
der späteren Zeit denken lässt. Noch viel deutlicher spricht aber
Cardano dieses Gesetz an einer anderen Stelle aus^). Es handelt sich
um die Wahrscheinlichkeit, mit 2 Würfeln n-m&l nach einander grad
zu werfen, und dass darauf im Verhältnisse von 1 : (2" — 1) zu
wetten sei; bei unendlicher Anzahl der Würfe werde das Ergebniss
mit der Erfahrung übereinstimmen, denn die Länge der Zeit ist es,
welche alle Möglichkeiten zeigt.
Einem Werke Ars magna arithmeticae^) hat Cardano selbst einen
hohen Werth beigelegt. Es umfasst 40 Sätze und daran anschliessend
ebensoviele Aufgaben. Es werde, sagt der Verfasser in der Widmung
an den Bischof von Burgo Sancti Sepulchri, ein Zeugniss von ewiger
Dauer, aeternum testimonium, für die Trefflichkeit des Mannes abgeben,
dem es zugeeignet sei. Nur zwei Dinge seien fremden ürspninges
und ihrem Erfinder ausdrücklich zugewiesen, alles Uebrige gehöre
ihm selbst an. Jene fremden Erfindungen sind von Ferrari und
beziehen sich auf Gleichungen o. Grades mit allen vier Gliedern,
deren Erörterung im 39. Kapitel vorgenommen ist^)-, sie besagen, dass
x^ + «^'^ + Y (.^^^3C == h
und
x^ -(- Y a^x = ax^ -\- h
leicht gelöst werden können. Die Meinung ist offenbar die, man
solle jenen beiden Gleichungen die Umformung in
geben und dann die Kubikwurzel ausziehen. Cardano fügt dann eine
ebenfalls viergliedrige Gleichung 4. Grades: x"^ -\- a^ x^ = 2ax^ + h^
hinzu''), welche durch ■2:^ = ii-il/T ^ erfüllt werde. Der leicht
zu erkennende Gedankengang verlangte die Umwandlung in
{ax — x^y = h^ ,
woraus die Folgerung ax — x^ ^ h beziehungsweise x^ -\- h = ax
gezogen wurde, welcher die gegebenen Wurzelwerthe genügen. Dass
Cardano nicht auch (ic- — axy = ö'^, x^ = ax -\- h zu Hilfe nahm,
um zn x = - -^y — -\- h zu gelangen, ist vielleicht darin begründet,
*) Cardano I, 265: Haec igitur cognitio est secundum coniecttiram et pt'o-
ximiorem, et non est ratio recta in Ms. Attamen contigit, quod in multis circui-
tibus res succedit proxima coniecturae. ^) Ebenda I, 267: In infinito numcro
iactniim id contingere proxime necesse est, magnitudo enim circuitus est temporis
longitndo, (ptae omiies formas ostendit. ^) Ebenda IV, 303 — 376. ■*) Ebenda
IV, 352—353. ^) Ebenda IV, 356.
Tartaglia's Schriften. Cardano's spätere Schriften.
539
dass er einem wesentlich negativen Wnrzelwerthe auszuweichen wünschte,
während andererseits gerade bei Cardano eine solche Scheu nicht recht
begreiflich ist. Weitaus die bedeutsamste Bemerkung findet sich im
18. KapiteP). Sind die äussersten Glieder, heisst es dort, einander
gleich, so giebt es nur eine Wurzel, und diese ist immer positiv ohne
Rücksicht auf den Grad der Gleichung; sind dagegen die äussersten
Glieder Zwischengliedern gleich, so giebt es immer mehr als eine
Wurzel, und in diesem Falle kommen auch Unmöglichkeiten vor.
Als Beispiele des ersten Satzes sind angegeben:
a.-2 = 3a; + 10, x^ + 3x = 10, x^ = dx^ + 6 , x'-\- 3.r- = 6 ,
a;3 = 4x'+10, x''-\-10x = 20, ^^ + 3*'2 = 7a.- + 20,
^3 = 3^2_|_7^_^20, x-^ + 3x=^ + 7a;2=10, x^-\-'dx^-{-lx'- = 20x-\-W-
als Beispiele des zweiten Satzes:
a;2-j-10 = 8a;, x^-{-10=6x% :^-^-10 = G.^•, .^^ + 10 = lOa;^' + 3a;,
x^ + ox^ + 10 = 2x' + bx.
Diese Beispiele erklären, was an dem Ausdrucke der Sätze dunkel
geblieben sein mag. Cardano behauptet hier, allerdings ohne irgend
einen Beweis, dass, falls eine Gleichung n-ten Grades auf Null
gebracht nur einen Zeichenwechsel der Glieder wahrneh-
men lasse, immer eine und nur eine positive Wurzel vor-
handen sei; zweimaliger Zeichenwechsel sei das Kennzei-
chen mehrerer positiver oder lauter imaginärer Wurzeln;
auf vollständiges oder unvollständiges Vorhandensein der
Gleichungsglieder kommt es nicht an. — Um auch ein Beispiel
von in diesem Buche enthaltenen Aufgaben vorzuführen, wählen wir
die 37. 2) (Figur 105). Ein bei Ä recht-
winkliges Dreieck, in welchem die Höhe
ÄD gezogen ist, soll aus den Angaben
AB -\- äC =12, BC—ÄD = 6 ge-
funden werden. Nun ist bekannt aus
geometrischen Gründen
äB'-\-äC' = BC''
und 2AB- AC = 2BG- AD. Durch Addition beider Gleichungen
entsteht {AB + AGf =144 = BG^ -^ 2BC ■ AB. Nun sei
AB = x, mithin BG =^ x -\- 6, so nimmt die gefundene Gleichung
Fig. 105.
^) Cardano IV, 323: Septimum notandum est quod cum fuerint denomina-
tiones extremae aequales extremis, scmper aequatio erit una tantiim et casus possi-
hilis, quotquot fuerint denominationes. Cum vero denominationes intermediae fuerint
aequales extremis timc semper erunt plures aequationes in quaesito et casus poterit
cum hoc etiam esse impossibilis. -) Ebenda IV, 372.
540
66. Kapitel.
die Gestalt an 3x- + 24ä; + 36 = 144, woraus x = ÄD = yb2 — 4,
x-{-Q = BC= ]/52 + 2. Ferner AB'^ + J.^^ = ^BO^ = 56 + V 832
gemeinschaftlich mit AB-{-AC=12. ^e\ AC=Q->^y, AB=Q — y,
so geht die erstere Gleichung über in 72 -|- 2?/^ z= 56 -f- |/832 und
y=Vy2m^, also ^C=6+l/]/2Ü8 — 8, AB = Q — V'y2^^^ .
Dieser sehr einfachen Entwickelung setzt dann Cardano eine doppelte
Grenzbedingung für den Unterschied 6 zwischen BC und AD hinzu.
Er müsse kleiner als die Summe von AB und AC sein, und das
liegt auf der Hand, denn AB -\- AC^ BG, also um so mehr
AB -\- AC '> BC — AB. Ferner aber müsse jener Unterschied
grösser sein als die Quadratwurzel aus — vom Quadrate von AB-\- AC.
Bei der Aufstellung dieser Grenze kann Cardano etwa folgenden Ge-
dankengang eingeschlagen haben (Figur 106). Die Spitzen sämmt-
licher über BC als Hypotenuse be-
schriebener rechtwinkliger Dreiecke
liegen auf dem Halbkreise BA^A^C.
Unter ihnen zeichnet sich das gleich-
schenklig rechtwinklige Dreieck BA^ C
durch folgende Eigenschaft aus: Es
hat die grösste Höhe AqDq und dess-
halb auch den grössten 'Flächeninhalt.
BC
aber auch durch
AC
iA-B
Letzterer wird durch
gemessen. Somit ist
und damit zugleich 2AqB-AqC ein Maximum. Weil aber A^B^"
+ A^C^" = A^B^- + JiC'2 = BC^- constant ist, muss des Weiteren
A^B'- -\-AqC^ + 2A^B • ^ C = (^o-ß + A Gf ein Maximum sein,
oder die Lage von A in A^ macht das Quadrat der Kathetensumme
des Dreiecks ABC zu einem Maxiraum. Ferner macht, wie wir
schon
ge-
sagten, die gleiche Lage AqBq
zu
einem Maximum, also
AqDq zu einem Minimum, so dass jedes BC-
sein muss. Nun ist
-AC^BC — A^D^
B C=^- — A^+_A<^
folglich um so gewisser
BC-AD>y^^Y^'.
Noch andere nachgelassene mathematische Schriften des Cardano
sind dem Drucke übergeben worden, aus welchen indessen Auszüge
zu veranstalten kaum verlohnt. Der Sermo de x:>lus et mimis^) würde
1) Cardanus IV, 4.35—439.
Tartaglia's Schriften. Cardano's spätere Schriften. 541
vielleicht trotz seiner Kürze am ersten eine Bemerkung gestatten, wenn
diese kleine Schrift nicht bereits unter dem Einflüsse von Bombelli's
Algebra verfasst wäi-e, von welcher im folgenden Abschnitte die
Rede sein wird. Jene Algebra erschien in erster Auflage 1572, Car-
dano starb 1576; der Sermo de plus et minus gehört sonach jedenfalls
7Ai dem Letzten, was aus seiner Feder stammte.
Fassen wir nun auch den Gesammteindruck dessen zusam-men, was
unsere verschiedenen Auszüge aus Cardanischen Scliriften uns geliefert
haben, so finden wir folgende wesentliche Dinge, die als Cardano's
und Ferrari's Eigenthum gesichert sind. Für Cardano erhalten wir:
eine näherungsweise Auflösung von Grieichungen höherer Grade, das
Bewusstsein des Vorhandenseins dreier Wurzeln einer kubischen
Gleichung, die Kenntniss des Zusammenhanges des Coefficienten des
quadratischen Gliedes in der kubischen Gleichung mit der Summe
der Wurzeln, auch im Falle gleicher Wurzelwerthe, die Wegschaff'uug
des quadratischen Gliedes in der kubischen Gleichung, eine Ahnung
von dem Zusammenhange der Gleichungsconstanten mit den Wurzeln,
eine Ahnung von dem Zusammenhange zwischen dem Zeichenwechsel
innerhalb einer Gleichung und deren Wurzeln, das Rechnen mit
Imaginärem, erstmalige richtige Beantwortung einzelner Wahrschein-
lichkeitsaufgaben, Herumtasten an geometrischen Untersuchungeu,
welche das Wesen krummer Linien und ihren Gegensatz gegen Gerade
betreflen. Für Ferrari bleibt: die Auflösung der ein kubisches Glied
nicht enthaltenden Gleichung vierten Grades, die Umsetzung kreis-
förmiger Bewegung in geradlinige. Was blieb uns für Tartaglia?
Grosse geometrische Gewandtheit, eine wirkliche Methode zum Rational-
machen von Brüchen mit zweigliedrigem Nenner, einige Reihen-
betrachtungen, die Lösung einer Maximalaufgabe, neben zahlreichen
Aneignungen fremdem geistigen Eigenthums, worunter wir die
Auflösung von des quadratischen Gliedes entbehrenden kubischen
Gleichungen zu rechnen schwerwiegende Gründe besassen.
Wir erachten es nicht als überflüssig, zu bekennen, dass die
Werthschätzung, welche wir sonach Cardano und Ferrari angedeihen,
lassen müssen, und welche beide, insbesondere aber Cardano, unver-
gleichbar höher als Tartaglia stellt, geradezu im Gegensatze zu der
Auffassung der bisherigen Geschichtsschreibung sich befindet^), dass
aber die weitverbreiteten Irrthümer, beziehungsweise was wir für
Irrthum halten, insgesammt dem Grundfehler entstammen, dass man
erst die Quesiti des Tartaglia las und unter deren Einflüsse erst die
^) Gherardi, an welchen wir uns mehrfach anlehnten, bildet selbstver-
ständlich eine Ausnahme.
542 66. Kapitel. Tartaglia's Schriften. Cardano's spätere Schriften.
Ars magna des Cardano, während die Zeitfolge der Veröffentlichung
das umgekehrte Verfahren nothwendig macht.
Eine kurze Bemerkung müssen wir uns noch gestattten, bevor
wir diesen XIII. Abschnitt, welcher der ersten Hälfte des XVI. Jahr-
hunderts gewidmet war, abschliessen. Schon seit Erfindung der
Buchdruckerkunst begann die nationale Abschliessung
wissenschaftlicher Bestrebungen mehr und mehr zu
schwinden. Im XVL Jahrhunderte ist sie schon nahezu verwischt.
Die grossen Druckereien in Paris, in Nürnberg, in Basel haben eine
europäische Bedeutung angenommen. Wir haben beispielsweise Schriften
des Italieners Cardano an allen drei Orten in die Oeffentlichkeit treten
sehen. Erleichtert, um nicht zu sagen ermöglicht, wird solches wissen-
schaftliche Weltbürgerthum durch die Einheit der wissenschaft-
lichen Sprache. Neue Dinge werden ziemlich ausschliesslich in
lateinischer Mundart veröffentlicht. Damit ist aber eine andere That-
sache eng verbunden: Schriften, welche in dem einen Lande ent-
standen sind, werden verhältnissmässig rasch in dem anderen Lande
gelesen, rufen Nachahmung oder Widerspruch hervor. Orontius
Finaeus findet in Nonius einen geometrischen Gegner, während Tar-
taglia ihn wegen seiner Wurzelausziehungen anführt. Bouvelles und
Dürer werden in Italien gelesen. Stifel wird von Cardano und
Tartaglia benutzt, und er selbst benutzt Erfindungen Cardano's. Wir
haben dieses schon mit Bezug auf solche Stellen der Arithmetica
integra bemerkt, welche der Arithmetik Cardano's von 1539 entlehnt
sind. Die Regula del modo übte ihren Einfluss auf die allgemeine
Regel Stifel's zur Gleichungsansetzung und Auflösung, Cardanische
Gleichungsbeispiele, welche mittels Addition derselben Glieder auf
beiden Seiten behandelt werden, bilden den Schluss der Arithmetica
integra. Aber auch die Cardanische Ars magna fand in Stifel einen
verständnissvollen Leser, und der Ausgabe der Rudolff"schen Coss,
welche Stifel 1553 besorgte, ist ein Anhang beigefügt, welcher mit
den kubischen Gleichungen sich beschäftigt, welcher Del Ferro als
den Erfinder der Auflösung nennt. Dass Tartaglia, den Cardano in
der Ars magna Del Ferro zur Seite stellte, bei Stifel nicht einmal
genannt ist, wird dahin gedeutet werden müssen, dass Stifel auch von
dem Cardano-Tartaglia'schen Streite Kenntniss erhalten hatte und auf
des Ersteren Seite stand.
Alle diese eingetretenen Veränderungen in der Geschichte der
Wissenschaften werden in unserer Darstellung derselben ihren Wieder-
schein erkennen lassen müssen.
XIV. Die Zeit von 1550—1600.
Gl. Kapitel.
Geschichte der Mathematik. Classikeransgabeii. Geometrie.
Mechanik.
Die zum Schlüsse des vorhergehenden Abschnittes angedeuteten
Verhältnisse und die als Folgen derselben nicht mehr von Volk zu
Volk zu trennende Entwickelung der Wissenschaften nöthigen uns,
die seither von uns gebrauchte geographische Eintheilung der ein-
zelnen Abschnitte zu verlassen. Trennt man aber nicht mehr von
Volk zu Volk, ist es eben so unmöglich die chronologische Trennung
von Jahr zu Jahr, oder von Jahrzehnt zu Jahrzehnt vorzunehmen,
weil der Jahrgang des Druckes doch nicht übereinstimmt mit den oft
langen Jahren der Vorbereitung, und weil ferner alsdann Dinge ver-
schiedenster Gattung neben einander, getrennt dagegen von Ver-
wandtem aufzutreten drohen, so bleibt nur übrig, den Sl»off nach
dem Inhalte der Schriften, welche wir zu nennen haben,
2U ordnen. Recht mangelhaft ist allerdings auch diese Anordnung.
Ein und derselbe Schriftsteller wird nicht selten an verschiedenen
Stellen genannt werden müssen; seine eigene Bedeutung wird mög-
licherweise dabei nicht in einem richtigen Lichte erscheinen, ins-
besondere dann, wenn er das erste Mal, dass er auftritt, uns vielleicht
grade seine schwächste Seite zukehrt. Wir hoffen hier dennoch eine
Abhilfe treffen zu können dadurch, dass wir den wirklich bedeutenden
Mathematikern am Schlüsse eine Zusammenfassung widmen. Lebens-
schicksale derselben in so engen Grenzen, als die Anlage unseres
Werkes sie fordert und gestattet, werden berichtet werden, wo der
Name zuerst erscheint.
Wir beginnen mit solchen Schriftstellern, welche die Geschichte
der Mathematik selbst zum Gegenstande ihrer Forschung machten.
Petrus Ramus^), mit französischem Namen Pierre de la
') Ch. Wad dington: Ramus, sa vie, ses ecrits et ses opinions (Paris 1855).
— Cantor in der Zeitsclir. Math. Phys. 11, 354—359; in, 133—143; IV, 314—
315. — L. Am. Sedillot, Les professeurs de mathematiques et de physique
generale au College de France im Bulletino Boncompagni Bd. II und III (1869
—1870). Ueber ßamus vergl. II, 389—418.
Cantoe, Geschichte der Mathera. 11. 2. Aufl. 35
546 *j'^- Kapitel.
Ramee (1515 — 1572), gehörte zu den einflussreichsten Schriftstellern
seiner Zeit, wozu ihn einestheils Beziehungen zu hochgestellten Per-
sönlichkeiten, anderntheils eine ausgesprochen streitbare Geistesver-
aulagung machte, welche ihn in den Vordergrund von lebhaften
Kämpfen stellte. Mit der These Quaecunque ab Äristotde dida essent
commentitia esse warf Ramus 153G der ganzen, an allen Universitäten
hochmächtigen Aristotelischen Schule den Fehdehandschuh hin. In
den Hörsälen begann das geistige Ringen, aber an anderen Kampf-
plätzen und mit anderen als geistigen Waffen setzte es sich fort, bis
die auf die Nacht des St. Bartholomäus folgende Nacht Ramus dem
Dolche der Mörder überlieferte. Bis 1568 lebte Ramus in Frankreich,
meistens in Paris. Dann entzog er sich den ihm dort drohenden
persönlichen Gefahren durch eine mit königlicher Erlaubniss unter-
nommene Reise nach Deutschland, die ausgesprochenermassen wissen-
schaftlichen Zwecken dienen sollte; Strassburg, Heidelberg, Frankfurt
am Main, Nürnberg, Augsburg, Basel gehörten zu den besuchten
Städten. Ueberall war Ramus im Dienste der von ihm vertretenen
Sache thätig, überall knüpften sich an seinen Aufenthalt Streitigkeiten
an. Im September 1570 kehrte er nach Paris zurück, welches er nicht
wieder verliess. Von den zahlreichen Schriften, welche Ramus verfasste,
nennen wir an dieser Stelle nur eine aus 3 Büchern bestehende
von 1567, welche der Königin Katharina von Medicis gewidmet war^),
und welche später, 1569 und häufiger, wiederholt gedruckt wurde,
als die 3 ersten von 31 Büchern mathematischer Untersuchungen,
Scholae mathematkae. Diese 3 Bücher stellen eine wirkliche Geschichte
der Mathematik dar, natürlich in sehr bescheidenen Grenzen vermöge
der äusserst geringen Mittel, über welche man .damals noch verfügte,
aber doch mit vorwiegender Benutzung solcher Quellen, welche heute
noch als zuverlässige gelten. Beispielsweise hat Ramus offenbar sehr
viel über griechische Mathematik aus Proklos entnommen, dessen
Erläuterungen zum ersten Buche der euklidischen Elemente seit 1533,
wie wir wissen (S. 406), durch Grynäus griechisch herausgegeben
waren, während eine 1560 erschienene lateinische Uebersetzung weiter
unten genannt werden wird. Ramus hat jedenfalls der griechischen
Ausgabe sich bedient, da er wiederholt den griechischen Wortlaut
anführt. Den deutschen Mathematikern hat Ramus eine fast über-
triebene Bewunderung gezollt und sie insbesondere seinen Landsleuten
als Muster hingestellt. Andrerseits wendet er sich freilich auch an
deutsche Fürsten mit der Aufforderung, Professuren der Mathematik
an ihren Universitäten zu errichten, und schlägt z. B. für Heidelberg
^) P. Hami prooemium mathcmaticum in tres libros distrihutum.
Gescliiclite der Mathematik. Classikerausgaben. Geometrie. Mechanik. 547
ausdrücklich Xyl ander als geeignete Persönlichkeit vor, einen Gelehrten,
der uns bald beschäftigen wird. Der Inhalt der Geschichte der
Mathematik gliedert sich für Ramus in vier Perioden. Er unter-
scheidet 1. eine chaldäische Periode von Adam bis zu Abraham;
2. eine egyptische Periode, beginnend von Abraham, der die
Mathematik in dieses Land brachte. Beide Perioden zusammen sind
auf vier Seiten abgehandelt. 3. Die griechische Periode von
Thaies bis zu Theon von Alexandrien füllt bei Ramus 34 Seiten.
4. Die neuere Mathematik werde, hofft Ramus, einen anderen
Bearbeiter finden.
Ein zweiter Schriftsteller, welcher auf geschichtliche Unter-
suchungen sein Augenmerk richtete, war Bernardino Baldi ^) (1553
bis 1617). Er ist in Urbino geboren. Sein Familienname war
eigentlich C an tagall in a, während der Name Baldi sich von einem
Urgrossvater auf ihn vererbte. Baldi war in neuen und alten Sprachen
hochgelehrt; er sprach z. B. französisch und deutsch und las geläufig-
arabisch. In der Mathematik war er Schüler des Commandinus,
von welchem wir noch zu reden haben. Im Jahre 1586 zum Abte
von Guastalla gewählt, beschäftigte Baldi sich von da an wesentlich
mit theologischen und kirchenrechtlichen Fragen. Seine mathematisch-
wissenschaftliche Thätigkeit war aber damit doch nicht abgeschlossen.
Früqhte derselben sind eine Cronica de' Matematici und Vite de'
Matematid aus der Zeit bis 1596. Erstere erschien 1707 in Urbino
im Drucke, letztere befanden sich handschriftlich in der reichen
Sammlung des Fürsten Boncompagni in Rom; eine gewisse Anzahl
der in ihnen enthaltenen Lebensbeschreibungen ist veröffentlicht^).
Leicht hat sich Baldi, welcher zwölf Jahre sammelte, dann zwei Jahre
zur eigentlichen Niederschrift verwandte, seine Aufgabe nicht gemacht.
Wie schwierig sie aber für ihn war und blieb, zeigt schon ein Blick
in die nach der Zeitfolge geordnete Mathematikerchronik. Jordanus
ist ziemlich richtig auf 1250 angesetzt, sein Name aber Hemorarius
geschrieben. Leonardo von Pisa dagegen erscheint mit richtigem
Namen im Jahre 1400. So ungewiss war damals die Kenntniss von
jenen beiden grossen Männern. Baldi hat seine Arbeit bis in die
Zeit fortgesetzt, welcher er selbst angehörte. Tartaglia, Ramus,
^) Affo, Vitaßi Monsignore Bernardino Baldida Urbino {17S3). — Kästner
II, 129—142. — Libri IV, 70—78. ^) BuUetino Boncompagni an vielen Stellen,
welche in dem Gesammtregister der XX Bände des Bulletino pag. 731 angegeben
sind. Vergl. Bull. Boncamp. Bd. V, XII, XIX, XX. Die Vorrede zu den Vite
vergl. XIX, 355 — 357. Auf der letzten Seite die Stelle: Dodici anni ho io penato
nel raccogliere da varij autori la materia di qiiesta historia , e quasi in due ho
dato la forma che si vede a l'edifttio.
35*
548 67. Kapitel.
Clavius kommen noch bei ihm vor, Guidobaldo del Monte ist die
letzte bei ihm genannte Persönlichkeit. Bei Ramus sind besonders die
Scholae mathematicae gerühmt, welche also vermuthlich auch als
mittelbare Quelle benutzt wurden. Die Vite behandeln meistens ältere
Mathematiker, hauptsächlich Griechen, dann Araber, doch sind auch
spätere Schriftsteller nicht vernachlässigt, Campanus ^) z. B., der in
der Chronik auf das Jahr 1264 angesetzt ist, in der ausführlicheren
Lebensbeschreibung dagegen unrichtig auf 1200. Die einzelnen Lebens-
beschreibungen sind selbst genau datirt, so die des Campanus vom
13. October 1588. Die Chronik dürfte also hier die spätere Bearbeitung
sein. Um so auffallender ist es, dass die Lebenszeit nicht ihr ent-
sprechend auch in den Vite richtig gestellt wurde.
Ein besonderes Kapitel aus der Geschichte der Mathematik hat
1557 und in verbessei-ter Auflage 1569 der bekannte Nürnberger
Humanist Joachim Camerarius (1500 — 1574) bearbeitet, die Lehre
von den Zahlzeichen und vom Rechnen^). Der sehr umständliche
Titel sagt, dass die griechischen und römischen, sowie die sarra-
cenischen oder indischen Zahlzeichen beschrieben würden, auch die
Anfänge gi-iechischer Logistik, endHch sei ein Ueberblick über die
Arithmetik des Nikomachus gegeben. Das Büchlein ist auch heute
noch lesenswerth und enthält manche schätzbare Einzelheiten.
Matthäus Hostus^), ein Sprachforscher und Münzenkundiger
(1509 — 1587), war 53 Jahre lang Professor der griechischen Sprache
in Frankfurt an der Oder. Er gab 1582 in Antwerpen eine 62 Seiten
starke Schrift Bc numeratione emenäata veterihns Latinis et Graecis
usüata heraus, welche gleichfalls heute noch lesenswerth ist.
Geschichtlichen Arbeiten nahe verwandt sind die Bemühungen
der Männer, welche Werke des Alterthums, sei es im Urtexte,
sei es in Uebersetzungen, zum ersten Male oder neuerdings
herausgaben.
Wir hätten deren eine grosse Menge zu nennen, wenn wir Voll-
ständigkeit anstrebten. Wir begnügen uns damit, die wichtigsten
hervorzuheben. Joachim Camerarius, von dem wir erst gesprochen
haben, gab 1549 die beweislosen Sätze der sechs ersten Bücher der
euklidischen Elemente griechisch und lateinisch heraus. Eine Vorrede
dazu schrieb Rhäticus. Später wurde 1577 die gleiche Ausgabe
noch einmal aufgelegt durch Moritz Steinmetz, sogar 1724 noch
einmal durch L. F. Weisse*).
Pierre Mondore''), lateinisch Petrus Montaureus, Biblio-
^) BuUetino Boncompagni XIX, 591—596. ^) Kästner, I, 134—136.
°) Cantor, Mathem. Beitr. z. Kulturleb. d. Völker S. 159, Anmerkung 318.
*) Kästner I, 345—348. =) Montucla I, 564.
Geschiebte der Mathematik. Classikerausgaben. Geometrie. Mechanik. 549
thekar der königlichen Bibliothek in Paris, veröffentlichte 1551 das
zehnte Buch der euklidischen Elemente, später beabsichtigte er
Weiteres folgen zu lassen. Aber sein langes Zurückhalten brachte
den vorbereiteten Schriften den Untergang, In der Bartholomäusnacht
wurde Mondore getödtet, sein Arbeitszimmer geplündert. Die Hand-
schriften seiner Werke wurden vernichtet.
Jean de la Pene^), ein Professor am College de France, der,
1528 in Aix geboren, 1556 erstmalig in Folge von Wettbewerb seine
Lehranstellung erhielt, aber schon 1558 im Alter von kaum 30 Jahren
starb, gab 1557 die Sphärik des Theodosius griechisch und lateinisch,
im gleichen Jahre auch ebenso die optischen und musikalischen
Schriften des Euklid heraus.
Dasselbe Jahr 1557 ist das Druckjahr der Ausgabe der euklidischen
Elemente durch Jacques Peletier oder Peletarius, von welcher
wegen der Anmerkungen weiter unten zu reden sein wird und 1557
war es auch, dass Pasquier Duhamel (f 1565) einen Commeutar
zu der Sandeszahl des Archimedes herausgab^).
Der Zeitfolge wenig voraneilend nennen wir eine französische
Euklidübersetzung durch Pierre ForcadeP), Buch I bis V seiner
Euklidübersetzung erschienen 1564, Buch VII bis IX sodann 1566.
Schon vor der Euklidübersetzung gab Forcadel 1561 eine französische
Uebersetzung der Arithmetik des Gemma Frisius (S. 411), den er
Gemme Phrison nannte, und nachmals 1570 wieder eine französische
Uebersetzung des Algorithmus demonstratus (S. 63). Forcadel aus
Beziers gehörte gleich Jean de la Pene zu den Schülern im engeren
Sinne und zu den Freunden von Ramus, welcher ihm 1560 zur Er-
langung der mathematischen Professur am College de France behilflich
war, die er bis zu seinem Tode 1573 inne hatte. Forcadel, viel-
gerühmt und vielgetadelt, lehrte ausschliesslich in französischer Sprache,
und zwar 1548 in Lyon, seit 1550 in nicht officieller Stellung in
Paris. Eine Reise in Italien fällt vor 1561.
Schon 1562 war in Deutschland eine deutsche Euklidübersetzung
erschienen, welcher wir, sowie einer anderen Uebersetzung aus der
Feder des gleichen Gelehrten, uns etwas ausführlicher zuwenden
müssen. Wilhelm Holzmann, weitaus bekannter unter dem Ge-
lehrtennamen Xylander*), ist 1532 in Augsburg als Sohn armer
^) Montucla I, 564. — Sedillot im Bulletino Boncompagni 11, 391 und
422. '-] Poggendorff I, 616. ^) Ebenda I, 722. — L. Am. Sedillot,
Les professeurs de mathe'matique et de physique generale ati College de France
im Bulletino Boncompagni II, 424—427. — Fontes, Pierre Forcadel lecteur du
Roy es Mathematiques in den Memoires de VAcademie des sciences, inscriptions
et helles-lettres de Toulouse. 9. Se'rie, T. VI (1894), VII (1895), VIII (1896). ^) Freher,
550 67. Kapitel.
Eltern geboren und 1570 als Professor der aristotelischen Logik in
Heidelberg gestorben. Diese Stellung nahm er seit 1502 ein, nachdem
er vorher vier Jahre Professor der griechischen Sprache gewesen war,
und in dem letzten dieser vier Jahre überdies mathematische Vor-
lesungen gehalten hatte. Einer seiner wenig berühmten Vorgänger
in diesem letzeren Fache war Marcus Morsheime r, welchen wir
nur nennen, weil ein 1558 von ihm veröffentlichtes Buch^) das erste
zu sein scheint, welches über Rechnungen des Rechtsverkehrs in den
Druck gegeben wurde. Als Xylander die logische Professur über-
tragen wurde, welche in jeder Beziehung höhere Ansprüche befriedigte,
als die untergeordnete mathematische Lehrthätigkeit der damaligen
Zeit, wurde für diese Simon Grynäus der Jüngere (1539 — 1582)
mit dem unverhältnissmässig geringen Jahresgehalte von fl. 60 nebst
freier Wohnung angestellt, der Sohn eines Vetters jenes älteren Simon
Grynäus, welcher die erste griechische Euklidausgabe veranstaltet hatte.
Wilhelm Xylander also hat schon 1562 von Heidelberg aus eine
deutsche Uebersetzung der euklidischen Elemente Buch I bis VI in
Basel drucken lassen. Vorangegangen war im Drucke eine 1556 von
Augsburg aus veranstaltete Ausgabe der Lehrbegriffe des Psellus in
griechischer und lateinischer Sprache, aber die Euklidübersetzung war
schon vor diesem letztgenannten Drucke mindestens begonnen, denn
in der Vorrede zum Euklid sagt „M. Wilhelm Holzmann genannt
Xylander, Griechischer Professor des Chiirf. Studiums in Heydclherff" ,
er habe schon vor sieben Jahren, mithin 1555, die ersten vier Bücher
Euklid's aus dem Griechischen ins Deutsche übersetzt und erläutert
und von seiner Hand geschrieben der Augsburger Stadtbehörde über-
geben, die auch solches günstiglich angenommen und in sondern Gnaden
gegen ihn erkannt haben. Als erste Bearbeitung in einer lebenden
Volkssprache ist Xylander's Euklid merkwürdig genug und mag in
Deutschland durch Verbreitung geometrischen Wissens unter Malern,
Goldarbeitern, Baumeistern, für welche ausgesprochenermassen die
Uebersetzung bestimmt ist, also unter demselben Kreise, für welchen
Albrecht Dürer einst schrieb (S. 459), wirksam gewesen sein. Die arith-
metischen Bücher Euklid's waren schon etwas früher in deutscher
Sprache bekannt. Hu* Herausgeber war Johann ScheybP), lateinisch
Scheubclius (1494 — 1570). Dessen Veröffentlichung von 1558 führt
den Titel: Das sibend, acht und nennt Buch des hochberühmbten Mathe-
Tlieatrum vironim eruditione darorum pag. 1471. — Kästner I, 184, 279, 348.
— Zeitschr. Math. Phys. III, 1.38—139. — Allgem. Deutsehe Biographie XLIV,
582—593 (Artikel von Fr. Scholl).
^) Disputatio juridica de rebus mathematicis. Basel 1558. ^) Poggen-
dorff IL 792.
Geschiclitc der Matheuiatik. Classikerausgaben. Geometrie. Mechanik. 551
matici Enclidis Megareusis. Der Xylander'sebeii Bearbeitung der ersten
sechs planimetrischen Bücher sind nicht allzuviele Verdienste nachzu-
rühmen. Die Beweise z. B., von welchen Xylander wie seine Vor-
gänger und wie noch viele Nachfolger annahmen, dass sie gar nicht
dem Euklid angehörten, sondern Zusätze des Theon, des Hypsikles,
des Campanus seien, die er unterschiedslos nach einander aufzählt, hat
er mitunter weggelassen, „flögen auch etiva scJnverlich von Ungelehrteu
hegriff'en werden, und ein einfältiger deutscher Liebhaher dieser Künste
ist ivold zufrieden^ so er die Sacke versteht, oh er wohl die Demonstra-
tion nicht weiss.'' Statt der Beweise müssen nicht selten Zahlen-
beispiele dienen, welche Xylander als seinen Zwecken entsprechender
ansah, und die Beweise und Erklärungen, die er giebt, sind zum Theil
überaus kläglich. Dass auf wirkliche Schwierigkeiten, wie sie z. B.
die Lehre von den Parallellinien oder von den Berührungen bietet,
nicht mit einer Silbe eingegangen ist, erscheint demnach nur als
selbstverständlich. Ungleich wichtiger ist eine Veröffentlichung Xy-
lander's aus dem Jahre 1575, in welcher er keinerlei Vorgänger be-
sass, vielmehr einen ungemein schwierigen Schriftsteller des Alter-
thums für Europa erstmalig lesbar machte: seine lateinische
Diophantübersetzung^). Wohl hatte Regiomontanus (S. 263)
Diophant's Arithmetik in Italien gesehen und ihren hohen Werth
erkannt, wohl hatte 1572 ein Italiener, Bombelli, der uns als alge-
braischer Schriftsteller wieder begegnen wird, in Gemeinschaft mit
einem anderen Gelehrten, Pazzi, eine Vaticanhandschrift des Diophant
zu übersetzen angefangen und davon sowie von dem nachmaligen
Scheitern ihres Unternehmens in einer Vorrede von 1572 Mittheilung
gemacht^), aber Xylander's Bemühungen waren davon ganz unab-
hängig, und, was die Hauptsache ist, sie waren erfolgreich. Auf
einer Reise nach Wittenberg wurde Xylander von dortigen Professoren
auf den griechischen Arithmetiker aufmerksam gemacht, indem er bei
ihnen die Abschrift eines Bruchstückes zu sehen bekam. Ein ge-
wisser Andreas Dudicius Sbardellatus, Gesandter des römischen Kaisers
am polnischen Hofe, wurde ihm als Besitzer eines vollständigen Codex
genannt. An diesen wandte sich Xylander, erhielt ohne Verzug die
Handschrift mit der dringenden Ermunterung zur Herausgabe und
vollzog die Uebersetzung, welche 1575 in Basel die Presse verliess.
Ein griechischer Text war allerdings nicht mit abgedruckt, mancherlei
Fehler der Uebersetzung sind später nachgewiesen worden, allein das
^) Nesselmann, Algebra der Griechen S. 279 — 280. -i Vergl. S. 4 der
nicht paginirten Vorrede Agli Lettori in der Algebra von Rafael Bombelli
(Venedig 1572).
552 67. Kapitel.
Eine wie das Andere findet volle Entscliuldigung darin, dass dem
Uebersetzer nur ein einziger Text zur Verfügung stand. Statt Splitter-
richterei zu üben , sollte man vielmehr das grosse Verdienst Xylan-
der's um die Neuentdeckung des geistreichen Werkes anerkennen,
welches alsbald von den hervorragendsten Geistern insbesondere in
Frankreich und Belgien studirt wurde und ungeahnte Früchte trug.
In der Xylander'schen Diophantübersetzuug findet sich auf S. 9 und
öfter ein Gleichheitszeichen in Gestalt zweier senkrechten Parallel-
striche II . Ueber den Ursprung des Zeichens ist nichts angegeben.
Vielleicht war in Xylander's griechischer Vorlage das Wort I'öol durch
zwei L abgekürzt, während eine Pariser Handschrift bekanntlich ein
i als Abkürzungszeichen dafür benutzt (Bd. I, S. 442). Da die von
Xylander benutzte Handschrift mit grosser Wahrscheinlichkeit die-
jenige ist, welche gegenwärtig als Cod. Guelferbytanus Gudianus 1
in Wolfenbüttel aufbewahrt wird^), so möchte es sich lohnen, dort
einmal nachzusehen. Jedenfalls erkennt man aus Xylander's Zeichen,
dass das von Recorde erfundene damals, also 18 Jahre nach dessen
Veröffentlichung (S. 479), sich noch nicht verbreitet hatte. Der Dio-
phant ist dem Herzoge Ludwig von Württemberg zugeeignet. Es
wird zwar berichtet, dieser habe die Widmung durch ein Geschenk
von 500 Thalern beantwortet, doch betrug dasselbe in Wahrheit nur
50 Thaler, so dass Xylander, der sich fortwährend in Geldverlegen-
heiten befand, noch in dem gleichen Jahre 1575 oder zu Anfang von
1576 kurz vor seinem Tode sich bei der Universitätsbehörde um ein
Darlehen von 50 Gulden bewarb, gegen welches er sein Silberzeug
zu verpfänden sich erbot.
Zehn Jahre später 1585 gab ein belgischer Mathematiker, der
uns mehrfach beschäftigen wird, Simon Stevin'^), eine französische
Bearbeitung der ersten vier Bücher des Diophant heraus.
Einer ganz eigenthümlichen Behandlungsweise des VII. Buches
der Euklidischen Elemente bediente sich 1564 ein gewisser Johan-
nes Sthen^) aus Lüneburg. Philomathes und Orthophronius imter-
halten sich über mathematische Dinge, und bei dieser Gelegenheit
werden Erklärungen und Sätze jenes VII. Buches griechisch angeführt.
Die lateinische Uebersetzung und Erläuterung folgt jedesmal unmittel-
bar, aber kein Beweis. Statt dessen dienen vorzugsweise Zahlen-
beispiele. Auch das VIII. und IX. Buch wollte Sthen in ähnlicher
Weise bearbeiten, doch scheint er nicht dazu gekommen zu sein.
*) P. Tannery im 11. Bande seiner in der Bibliotheca Teubneriana erschie-
nenen Diophantausgabe, Prolegomena pag.XXVIII — XXIX, Nr. 11. ^) Quetelet
pag. 159, Note 1. ^) Kästner I, 132—134.
Geschichte der Mathematik. Chissikerausgaben. Geometrie. Mechanik. 553
Um die gleiche Zeit erschienen 1564 bis 1566 in Strassburg Ab-
drücke und Bearbeitungen der Euklidischen Elemente in griechischer
und lateinischer Sprache, bei deren Zusammenstellung Conrad Dasy-
podius und Christian Herlinus ^) theilweise zusammengewirkt
hatten, ersterer in weitesten Kreisen bekannt durch die von ihm er-
fundene und ausgeführte, sowie 1578 beschriebene kunstreiche Uhr
im Strassburger Münster^). Die von Dasypodius allein veranstalteten
Abdrücke enthalten den Euklidischen Text in griechischer und latei-
nischer Sprache neben einander. Die Bearbeitung der sechs ersten
Euklidischen Bücher, zu welcher Beide in der Weise sich vereinigten,
dass Herlinus Buch I und V, Dasypodius Buch H, HI, IV, VI über-
nahm, lassen alle Folgerungen in der Form schulgerechter Schlüsse
erscheinen, eine wohl ziemlich zwecklose Künstelei, welche aber da-
mals anders beurtheilt worden sein muss, sonst wäre nicht 1571 eine
neue Auflage möglich gewesen.
Als einer der fleissigsten Uebersetzer und Herausgeber, wobei
das lobende Beiwort Geltung behält, auch wenn wir den Vergleich
auf Herausgeber aller Jahrhunderte ausdehnen, muss Federigo Com-
mandino^) (1509 — 1575) von Urbino gerühmt werden. Schriften
des Ptolemäus, des Archimed, des ApoUonius, des Euklid, des Aristarch,
des Pappus, des Heron hat er übersetzt, und diese Bearbeitungen er-
schienen in den Jahren 1558 bis 1592, also bis zu 17 Jahren nach
Commandino's Tode. Einzelne dieser Uebersetzungen , insbesondere
die des Pappus, sind Jahrhunderte lang die einzigen geblieben, welche
überhaupt vorhanden waren, und sie mussten sogar den Urtext er-
setzen, welcher noch nicht gedruckt worden war. Neben seiner
mathematischen Uebersetzungsthätigkeit war Commandino auch Arzt.
Ein griechisch zwar schon in Verbindung mit den Euklidischen
Elementen durch den älteren Grynäus herausgegebener Schriftsteller
war Proklus. Seine Uebersetzung stellte ein venetianischer Edelmann
Francesco Barozzi^), lateinisch Barocius (etwa 1538 bis nach
1587) sich als Aufgabe, und diese Uebersetzung erschien 1565. Auch
Schriften von Heron hat Barozzi übersetzt, wenngleich diese Ueber-
setzungen sich wegen des äusserst mangelhaften Zustandes des zu
Grunde liegenden Textes nicht sehr brauchbar erweisen konnten.
Immer blieb noch Euklid der meistbevorzugte griechische Schrift-
steller, wie einige Namen bestätigen, welche wir jetzt zu nennen
1) Kästner I, 332—334. ^) Ebenda II, 215— 221. — Wilhelm Schmidt,
Heron von Alexandrien, Konrad Dasypodius und die Strassburger astronomische
Münsteruhr. Zeitschr. Math. Phys. XLH, Supplementheft S. 177—194. ^) Libri
III, 118—121. *) Vossius pag. 336.
554 67. Kapitel.
haben. Da tritt uus der sogeuaunte Euklid des Candalla gegen-
über. Frauyois de Foix-Candale^) (etwa 1502 — 1594) war aus
königlichem Blute, wie in Distichen gerühmt wird, welche zu Anfang
der Euklidausgabe stehen. Er war Bischof im südlichen Frankreich
und trieb Mathematik aus innerem Drange. Die Ausgaben der
Euklidischen Elemente von Campanus und von Theon — unter letzterem
Namen ist die von Zamberti verstanden — machten ihn stutzig. Ent-
weder müssen der Verschiedenheit dieser Ausgaben gemäss mehrere
Euklide gewesen sein, oder des einzigen Schriftstellers Werk müsse
vielfache Veränderung erlitten haben. Dann war aber eine Wieder-
herstellung geboten, und dieser Aufgabe unterzog sich Candale oder
Flussates, wie sein Name (von Foix abgeleitet) sich gleichfalls
geschrieben findet. Unter dem Eigenen, welches Candale bei dieser
Bearbeitung bot, nennen wir seine Bemerkung zu Euklid III, 16.
Der Berührungswinkel, sagt er, sei von anderer Art als ein gerad-
liniger, also kein Wunder, dass er kleiner sei als jeder geradlinige,
und dass es doch unter den Berührungswinkeln immer kleinere und
kleinere gebe. Die Art des Berührungswinkels sei eben kleiner
als die des geradlinigen, wie die grösste Mücke kleiner sei als das
kleinste Kameel. Candale hielt sich bei einer Bearbeitung von
einiger Freiheit für berechtigt, den Elementen neue Bücher eigener
Erfindung über regelmässige Körper hinzuzufügen. Der erste Ab-
druck von 1566 enthält ein solches Zusatzbuch, der zweite von
1578 deren drei. Unter den neuen Körpern ist einer durch 6 Qua-
drate und 8 Dreiecke, ein anderer durch 20 Dreiecke imd 12 Fünf-
ecke begrenzt. Exodaedron und Icosidodecacdron sind die Namen,
welche für jene Körper vorgeschlagen sind.
Das Jahr 1570 ist das Druckjahr des ersten englischen Euklid^).
Sir Henry Billingsley war der Uebersetzer. Als Gehilfe diente
ihm dabei eine ungleich interessantere Persönlichkeit, zu welcher wir
uns wenden.
John Dee^) (1527 — 1608) verliess England schon mit 21 Jahren.
Er lehrte 1549 in Löwen, 1550 in Paris. Seine Zuhörer, meist älter
als er selbst, waren, wie er erzählt, so zahlreich, dass kein geschlossener
Raum sie fasste; ein Theil drängte sich von aussen an die Fenster,
^) Kästner I, 313 — 324. — Poggendorff I, 764 unter dem Namen
Fhissates. P. Tannery in dem Bulletin Barhoux XXVIII, 59 (1893) macht da-
rauf aufmerksam, dass die Linie Foix-Candale ihren Namen von der englischen
Grafschaft Kendal entnommen habe, mit welcher ihr Gründer belehnt worden
war. -) Ball, WMorij of mathematics at Cambridge pag. 22 — 23. ^) Kästner
n, 46—47 und I, •272. — Encyclopaedia Britannica (ed. IX) VII, 22. — Ball 1. c.
pag. 19—21.
Geschichte der Mathematik. Classikerausgahen. Geometrie. Mechanik. 555
um so bestmöglich hören luul sehen zu können. Eine Berufung nach
Oxford lehnte er 1554 ab. Mit dem Beginne der Regierung von
Königin Elisabeth, also etwa 1558, trat dagegen Dee in königliche
Dienste. Im Jahre 1564 begab er sich nach Deutschland zu Kaiser
Maximilian IL, dem er eine Schrift zugeeignet hatte. 1570 erschien
Dee in Urbino bei Commandino. Er brachte die Uebersetzung der
Euklidischen Schrift von der Theilung der Figuren mit (Bd. I, S. 272),
deren arabische Bearbeitung durch Mohammed Bagdadinus er um
1563 in der Bibliotheca Cottoniana ^) aufgefunden, übersetzt und als
euklidisch erkannt hatte, ein Beweis für Dee's Sprachkenntnisse wie
nicht minder für sein umfassendes Wissen in mathematisch-geschicht-
licher Beziehung. Der Druck des Werkchens wurde 1570 durch Dee
und Commandino gemeinschaftlich veranstaltet und erfolgte 1703 auf's
Neue in der von David Gregory besorgten Gesammtausgabe der
Euklidischen Werke. Dee's Wanderleben führte ihn auch 1571 nach
Lothringen, 1578 wieder nach Deutschland, dazwischen wiederholt
nach England, 1583 nach Polen und Böhmen, wo er viel mit Alchymie
sich beschäftigte und in Folge dessen bei Kaiser Rudolf IL in grosser
Gunst stand. Zuletzt lebte er in England in Noth und Zurück-
gezogenheit, weil er um einiger mechanischer Kunstwerke willen, die
er angefertigt hatte und in Folge einer sehr auffälligen Tracht, die
er anzulegen sich gewöhnt hatte, für einen Zauberer gehalten und von
Jedermann gemieden wurde.
Die lateinische Ausgabe der euklidischen Elemente
von Clavius gehört dem Jahre 1574 an und wurde 1589, 1591,
1603, 1607, 1612 neu aufgelegt. Christoph Clavius^), ursprünglich
Schlüssel, ist 1537 in Bamberg geboren. Er war Mitglied des
Jesuitenordens und lehrte 14 Jahre lang Mathematik in dem Collegium
seines Ordens in Rom. Dort starb er 1612. Weiten Kreisen ist er
bekannt als einer der Mitarbeiter an dem Werke der Kalender-
verbesserung, zu welchem Papst Gregor XIII. ihn beizog. Die
zahlreichen neuen Auflagen, in welchen sein Euklid gedruckt werden
musste, beweisen die hohe Anerkennung, welche dieses Werk fand,
und selten ist eine solche Anerkennung in gleich hohem Maasse ver-
dient gewesen. Clavius hat in einem umfang- und inhaltreichen
Bande vereinigt, was die früheren Herausgeber und Erklärer da imd
dort zerstreut mitgetheilt hatten. Er hat bei dieser Sammlung scharfe
Kritik geübt, alte Irrthümer aufgedeckt und vernichtet. Er ist keiner
^) Von Sir Robert Cotton angelegt, wurde diese Sammlung 1700 Staats-
eigenthum und befindet sich gegenwärtig im Britischen Museum in London.
^) Allgem. deutsche Biogi-aphie IV, 298 — 299, Artikel von Bruhns.
556 67. Kapitel.
einzigen Schwierigkeit aus dem Wege gegangen. Er hat vielfach
eigene Erläuternngsversuche mit Glück gewagt. Nur wenige Einzel-
heiten wollen wir hervorheben. Ob wir gleich das Erste, welches
wir erwähnen, die Benutzung des Wortes fluere bei der Beschrei-
bung der Entstehung^) von Linien und Oberflächen mittels fliessen-
der Punkte und Linien Clavius zuschreiben dürfen , ist bei der
grossen Aehnlichkeit seiner Ausdrucksweise mit der von Petrus
Philomeui von Dacien (S. 91) gebrauchten fast zweifelhaft. Die
Parallelen theorie sucht Clavius -) auf folgende beide Sätze zu stützen:
1. Eine Linie, deren einzelne Punkte gleich weit von einer derselben
Ebene mit ihr augehörenden Geraden abstehen, ist gerade. 2. Wenn
eine Gerade längs einer anderen Geraden so hingeschoben wird, dass
beide fortwährend einen rechten Winkel mit einander bilden, so be-
schreibt auch der andere Endpunkt der verschobenen Geraden eine
Gerade. Bei Clavius^) dürfte als einem der Ersten die jetzt wohl
allgemein angenommene Ansicht ausgesprochen sein, dass die Ent-
stehung des pythagoraeisches Lehrsatzes eine zahlentheoretische von
der Gleichung 3- + 4- = 5^ aus war, und dass erst in zweiter Linie
die Verallgemeinerung desselben auf jedes rechtwinklige Dreieck
stattfand. Der Irrthum, dass Euklid von Megara Verfasser der Elemente
gewesen sei, wird von Clavius endgiltig abgethan, während, wie wir
noch sehen werden, der andere Irrthum, als wenn nur die Lehrsätze
von Euklid, die Beweise dagegen von Theon herrührten, bereits 1559
durch Buteo beseitigt war. Unter den Prolegomena genannten Vor-
bemerkungen findet sich ein Abschnitt über die Persönlichkeit des
Euklid, und in diesem ist ausdrücklich des Gegensatzes gedacht,
welcher zwischen den Berichten des Proklos und des Valerius Maximus
obwaltet, und ist die Entscheidung im Sinne des Proklos getroffen:
unser Euklid, der so scharfsinnige Geometer, ist ein durchaus Anderer
als der Philosoph von Megara*). Davon, dass Euklid die Beweise
nicht selbst verfasst haben sollte, ist bei Clavius nur so weit die
Rede, als er es durchaus verwirft^). Dagegen ist nach den Axiomen
und unmittelbar vor dem Satze I, 1 ausdrücklich gesagt^), es seien
Unterschiede zwischen der theonischen Ueberlieferung, traditw TJwonis,
und der von Campanus befolgten arabischen Ueberlieferung, ordo quem
Campanus ex traditiotie Ardbum est secutus, vorhanden, welche man
*) Euclidis Elementa ed. Clavius. Köln 1591 (IIl. ed.) pag. 2 und pag. 3.
^) Ebenda pag. 50—51. Vergl. Stäckel und Engel, Die Theorie der Parallel-
linien von Euklid bis auf Gauss (Leii^zig 1895) S. 17 — 18. ^ Clavius 1. c.
pag. 85. *) Itaque Euclides noster , Geometra aeutissimus, ab ilJo Megareo
Philosopho longe alius est. ^) Clavius 1. c. II, pag. 191. ®) Ebenda I,
pag. 19.
Geschichte der Mathematik. Classikerausgaben. Geometrie. Mechanik. 557
kennen müsse, wenn man nicht durch Verweisungen, welche bald die
eine, bald die andere Ausgabe berücksichtigen, in Verwirrung gerathen
solle. Desshalb ist jeder Satz des Clavius mit doppelter Bezifferung ver-
sehen, einer im Texte fortlaufenden nach Theon, einer Randbezifferung
nach Campanus, d. h. also nach den Arabern, und grade die dadurch in
leichter Weise ermöglichte Vergleichung der einander entsprechenden
Ordnungszahlen, welche gestattet, ohne Mühe zu erkennen, ob ein
mittelalterlicher Schriftsteller nach dem arabischen oder nach dem
griechischen Euklid seine geometrischen Kenntnisse sich erworben
habe, lässt die Ausgaben von Clavius noch heute für geschichtliche
Untersuchungen das Beiwort der Unentbehrlichkeit verdienen.
Von einer spanischen Uebersetzung ^) der 6 ersten Bücher der
euklidischen Elemente, welche 1576 in Sevilla gedruckt wurde, ist
uns nur der Name des Uebersetzers Rodrigo Zamorano bekannt.
Ein Neapolitaner Giuseppe Auria-) übersetzte auf Grundlage
einiger im Vatican befindlichen Codices geometrisch -astronomische
Schriften des Theodosius, welche 1587 und 1588 gedruckt wurden.
Eine Diophantübersetzung ins Lateinische soll ebenderselbe an-
gefertigt haben , über deren handschriftliches Vorhandensein be-
richtet wird.
Baldi, der gelehrte Abt von Guastalla (S. 547), übersetzte die
Automaten des Heron und gab sie 1589 im Drucke heraus. Die
Origiualhandschrift dieser Uebersetzung ist im Besitze Libri's^), eines
Liebhabers solcher Schriftstücke, der sie zu beurtheilen verstand,
gewesen. Nach seiner Aussage wäre die Ausführung der Feder-
zeichnungen zu den Figuren von wunderbarer Vollendung gewesen,
wodurch der Bericht an Glaubwürdigkeit gewinnt, dass Baldi eben-
soviele Begabung als Neigung zur Malerei besessen habe und nur mit
Gewalt von seinen Lehrern abgehalten worden sei, sich der Kunst zu
widmen^). Auch Heron's Schrift über Wurfgeschosse hat Baldi über-
setzt, doch fand diese erst IGIG Veröffentlichung^).
Ein für die damalige Zeit hochmerkwürdiges Druckwerk ist die
arabische Bearbeitung der euklidischen Elemente von Nasir Eddin
(Bd. I, S. 735), welche 1594 in Rom erschien^). Es wird berichtet,
dass Baldi grade dieses Buch mit Vorliebe in den Nachmittagsstunden
gelesen habe'^).
Als letzten Uebersetzer von Schriften des Alterthums nennen wir
einen Mann, der seiner Lebenszeit nach schon wesentlich früher hätte
^) Kästner I, 263. *) Montucla I, 564. — Diophant übersetzt von
Otto Schulz (Berlin 1822\ Vorbericht S. XLH— XLIH. ») Libri IV, 72.
*) Ebenda IV, 70. ») Ebenda IV, 77, Notel. ") Kästner I, 367 flgg.
^) Libri IV, 75.
558 C'''- Kapitel.
erwähnt werden müssen, und dessen Bearbeitungen eine ganze Anzahl
anderweitiger Bemühungen überflüssig gemacht hätten , wenn sie
rechtzeitig zum Drucke gegeben worden wären. Francesco Mau-
rolico^) (1494 — 1575) von Messina war wie Keiner befähigt grade
solchen Arbeiten sich zu widmen. Sein Vater, ein byzantinischer Arzt,
war vor den Türken fliehend nach Sicilien gekommen und unter-
richtete selbst den hoffnungsvollen Sohn in Naturwissenschaften und
Astronomie sowie in der griechischen Sprache, die überdies in Sicilien
keineswegs ausgestorben war. Francesco Maurolico, mit latinisirtem
Namen Maurolycus, auch wohl Maroli genannt, wurde Geistlicher,
seine wissenschaftliche Thätigkeit aber griä" nach allen Fächern über.
Die blossen Titel der von ihm theils vollendeten, theils geplanten
Werke füllen ganze Seiten. Die Stadt Messina ernannte ihn zu ihrem
Geschichtsschreiber. Physikalische und besonders meteorologische Be-
obachtungen, welche er anstellte, gaben ihm unter den Physikern
einen ehrenvollen Platz. Dabei fand er noch Zeit, die Festungsbauten
von Messina bei ihrer Herstellung zu überwachen, schrieb er zahl-
reiche, handschriftlich vorhandene und in unserer Zeit gedruckte
mathematische Abhandlungen. Für 's Erste haben wir es nur mit
seinen Uebersetzungen zu thun. Nur ein Sammelband ist 1558 bei
Maurolico's Lebzeiten erschienen. Seinen Inhalt bilden die Sphärik
des Theodosius, die des Menelaus, eine eben solche von Maurolico
selbst, das Buch des Autolykus von der bewegten Kugel, Theodosius
über die bewohnte Erde, die Phaenomena des Euklid. Nur seltene
Exemplare dieses Bandes haben sich erhalten-). Noch im XVI. Jahr-
hunderte, aber erst nach dem Tode des Uebersetzers, erschienen 1591
die euklidischen Phaenomena abermals. Die beiden wichtigsten Ueber-
setzungen blieben dagegen fast ein volles Jahrhundert der Oeffent-
lichkeit vorenthalten. Die Kegelschnitte des Apollonius erschienen 1654.
Maurolico hat hier erstmalig einen Versuch gewagt, der später viel-
fach den Scharfsinn der Mathematiker in Bewegung setzt, den einer
sogenannten Restitution. Nur 4 Bücher Kegelschnitte haben
griechisch sich erhalten. Maurolico stellte nun nach den ziemlich
dürftigen Angaben über den Inhalt der folgenden Bücher, welche
da und dort vorkommen, diese wieder her, allerdings ein missglückter
Versuch, wie sich herausstellte, als im XVII. Jahrhunderte wenigstens
das 5., 6. und 7. Buch in arabischer Bearbeitung aufgefunden wurden,
1) Kästner II, 64—74. — Libri III, 102—118; IV, 241. — F. Napoli im
BuUetino Boiwompagni (1876) IX, 1—22. -) Hultsch, Vorrede zur Ausgabe
des Autolykos (Leipzig 1885) pag. XVI, Note 17: Mawolyci libri quamvis typis
olim expressi exempla nunc multo rariora sunt quam Autolyci Codices Graeci
manu scripti.
Geschichte der Mathematik. Classikeraiisgaben. Geometrie. Mechanik. 559
aber immerhin Interessantes bietend^ insbesondere wo es um grösste
und kleinste Werthe sich handelt, welche gewisse mit den Kegel-
schnitten in Verbindung stehende Strecken annehmen, eine Gattung
von Untersuchungen, welche den Inhalt des fünften Buches bildet.
Am hervorragendsten ist die Archimedübersetzung Maurolico's, der
sich unter den Zeitgenossen schon den Namen des zweiten Archi-
med erworben hatte. Erst 1670 begann man den Druck dieser Be-
arbeitung, welcher nach mannigfachen Zwischenfällen gar erst 1685
in Palermo vollendet wurde.
Wir haben eine ziemlich grosse Anzahl von Schriftstellern aller
Länder genannt, welche Uebertragung der Werke griechischer Mathe-
matiker bald ins Lateinische, bald in die lebenden Sprachen sich an-
gelegen sein Hessen, und wir haben, wie wir (S. 548) es aussprachen,
nicht einmal auf Vollständigkeit in dieser Beziehung gesehen. Die
Wirkung aller dieser Veröffentlichungen blieb nicht aus. Mit der
Vervielfältigung der Mittel geometrische Kenntnisse zu erwerben
wnchs die Verbreitung dieser Kenntnisse, mit dieser deren Werth-
schätzung. Hatte man lange genug den ersten Unterricht, so weit
er überhaupt Mathematisches enthielt, auf das Rechnen beschränkt,
so drängte jetzt die Geometrie sich vor. Von Heinrich von Navarra,
dem nachmaligen Heinrich IV. von Frankreich, und von dessen Freund
Coligny wissen wir, dass sie als Knaben hauptsächlich zwei Werke
zu lesen bekamen, Plutarch's Lebensbeschreibungen und Euklid's
Elemente^). Schriftsteller über Geometrie traten auf, in erster
Linie jene Uebersetzer selbst, welche nicht immer sich damit begnüg-
ten, nur das Alte in neuer Sprache wiederzugeben, welche vielmehr
es liebten, in Gestalt von Erläuterungen von dem Ihrigen hinzuzu-
thuu. Die Lehre vom Contingenzwinkel bot zu solchen eigenen
Gedanken reichlich Gelegenheit. Mit ihr hat sich, wie wir (S. 554)
beiläufig erwähnten, Candale einigermassen beschäftigt. Cardano's
Auffassung, hauptsächlich in dem Opus novum de proportionibus nieder-
gelegt, haben wir (S. 533—535) vorgreifend geschildert, als wir
die Gesammtthätigkeit dieses geistreichen Mannes darlegten. Damals
nannten wir Peletier als den Vertreter einer anderen Meinung,
welche er in einer Eukhdausgabe aussprach; als wir jedoch (S. 549)
jener Euklidausgabe von 1557 gedachten, verwiesen wir auf später,
um von den Anmerkungen zu reden, worunter wir eben das auf den
Contingenzwinkel Bezügliche verstanden. Wir wollen jetzt diese Zu-
sage erfüllen, indem wir an den ausführlichen Bericht uns anlehnen,
') De Jouy, Lliermite en province. Le Berceau de Henry IV. No. XIV.
28. Juni 1817 ed. Mozin II, 77.
560 G7. Kapitel.
welchen Clavius in seiner Euklidausgabe gegeben bat ^). Darnach
hat Peletier die Schwierigkeit dadurch zu heben versucht, dass er
den Contingenz Winkel gar nicht als einen Winkel betrachtete, er sei
ein Nichts, und, was genau damit übereinstimmt, der Winkel, welchen
der Kreis mit dem Durchmesser bilde, sei von dem rechten Winkel
nicht im mindesten verschieden. Clavius seinerseits meint, wenn
dem so wäre, würde eine Schwierigkeit überhaupt niemals vorhanden
gewesen sein, denn der Euklidische Satz III, 16 besage dann nur,
dass das Nichts kleiner sei als ein spitzer Winkel, und das bedürfe
nicht erst eines Beweises. Man komme vielmehr nur so über die
Sache hinaus, dass man mit Cardano (er hätte hinzufügen können
auch mit Candale, den er in der That an einer Stelle^) neben Car-
dano nennt) den Contingenzwinkel zwar für ein Etwas, für einen
Winkel, aber für einen Winkel anderer Art, als der geradlinige sei,
erkläre. Ein Grund, welchen Peletarius scharfsinnig
genug für seine Meinung anführte, war folgender: Die
Winkel, welche (Figur 107) concentrische , immer
grösser werdende Kreise mit dem allen gemeinsamen
Durchmesser bilden, werden vom kleineren zum grösse-
ren Kreise verglichen jedenfalls nicht kleiner, denn
sonst könnte, wenn man den äusseren Halbkreis längs
des Durchmessers bis zur Berührung mit dem inneren
Halbkreise verschiebe, sein mit dem Durchmesser ge-
bildeter Winkel den des kleinereu Halbkreises mit
y. jjj^ demselben Durchmesser nicht umschliessen. Grösser
können jene Winkel aber auch nicht werden, weil sie
sonst bei fortwährendem Wachsen, dem niemals ein Ende gesetzt
zu werden brauche, schliesslich einmal grösser als ein rechter Winkel
werden würden, was unmöglich sei. Folglich seien alle jene Winkel
thatsächlich gleich und der bei der erwähnten Verschiebung auftre-
tende Contingenzwinkel sei der Unterschied ganz gleicher Grössen,
mithin Nichts. Clavius fühlte die Stärke des ersten, die Schwäche
des zweiten Theils dieser Beweisführung und entgegnete, es sei ein-
fach nicht wahr, dass bei fortwährender Vergrösserung eines Winkels
die Grösse des rechten Winkels erreicht oder gar übertroffen werden
müsse. Man denke sich nur (Figur 108) den geradlinig rechten Winkel
BAF. Ziehe man AG, so weiche CAF von dem rechten Winkel
um den spitzen Winkel CAB ab; aber man könne auch AB, AE
und unendlich viele andere Gerade ziehen, deren mit AF gebildete
') Euclidis Ekmenta ed. Clavius, Köln 1591 (ed. III) pag. 133— 14£
*) Ebenda pag. 144.
Geschichte der Mathematik. Classikerausgaben. Geometrie Mechanik. 561
Winkel grösser und grösser werden, ohne jemals den rechten Winkel
7A\ erreichen. Alle übrigen Gründe, welche von beiden Seiten, und
zwar, wie es in der Regel der Fall zu sein j^ *
pflegt, mit um so grösserer Heftigkeit und
Hartnäckigkeit, je weniger schliesslich bei
dem Streite' herauskam, ins Gefecht geführt
wurden, waren von ähnlicher Art. Wichtig
erscheint der Begriff der Grenze, welcher
eine fortwährend wachsende Grösse sich ^. ,,^„
F:g. 108.
nähert, ohne sie zu überschreiten, wichtig
der Begriff der Krummlinigkeit, der als zur geraden Linie gegensätz-
lich sich bemerklich macht, wie er auch von der einen oder von der
anderen Partei aufgefasst wurde. Wir sprechen von der einen und
von der anderen Partei, weil der Streit nicht zwischen den bis hier-
her genannten Persönlichkeiten zu Ende geführt wurde. Noch Ströme
von Tinte wurden vergossen, bis erst im XVII. Jahrhunderte der
Streit über den Contingenzwinkel aufhörte, nicht weil eine Partei
sich als besiegt zugestand, sondern weil im Streite über das Unend-
lichkleine ein noch mehr zu logischen Spitzfiudeleien herausfordern-
der Gegenstand auftauchte.
Das von uns erwähnte Erwachen geometrischer Neigungen zeitigte
auch fruchtbarere Untersuchungen als solche über den Contingenz-
winkel. Peletier hat 1573 eine kleine Schrift De Vusage de la geo-
metrie dem Drucke übergeben. Neben Flächenberechnuugen ist auch
ein Distanzmesser^) beschrieben, auf dessen Erfindung Peletier sich
sehr viel zu gute that, dessen genaue Einrichtung wir aber der uns
zur Verfügung stehenden etwas sehr undeutlichen Beschreibung nicht
zu entnehmen vermögen.
Ein geistvoller Geometer war Johannes Buteo^) oder Borrel
(1492 — 1572). Er ist in Charpey in der Dauphinee geboren, wess-
halb er in den Ueberschriften mitunter Delphinaticus heisst. Er ge-
hörte dem Mönchsorden des heiligen Antonius an. Seine mathema-
tischen Studien hat er unter Orontius Finaeus gemacht, was ihn aber
nicht abhielt, gegen dessen vermeintliche Kreisquadratur aufzutreten.
Gedruckt sind von ihm Opera geometrica 1554, De quadratura circuli
mit einem Anhange Amiotationes in errores interpretwm Euclidis 1559
und eine Logistica 1559. In der Logistik sollen sämmtliche mit vier
1) Kästner I, 653 — 655. Brieflicher Mittheilung von H. Ambros Sturm
zufolge ist in einem Antiquariatskataloge Peletarius, Be usu geometriae Über,
Paris 1571, angezeigt gewesen, vielleicht gleichen Inhaltes mit der jüngeren
französischen Ausgabe. ^) Montucla I, 574 — 575. — Kästner I, 468 — 476.
— Nouvelle BiograpMe universelle VII, 898 — 899.
Cantor , GeacMchto der Mathem. U. 2. Aufl. 36
562 67. Kaijitel.
Würfeln überhaupt mögliche Würfe aufgezählt und Schlüssel mit
Buchstabenversetzungen beschrieben sein, Aufgaben von der Art derer,
mit welchen Cardano und Tartaglia sich beschäftigten. Die Opera
geometrica sind einzelne Abhandlungen von sehr gemischter Natur,
welche nur zu einem Bande zusammengestellt sind. Vieles ist anti-
quarischen Inhaltes, bildet also gewissermassen geometrische Erläu-
terungen zu römischen Schriftstellern. Buteo hat z. B. muthmasslich
nach Valla (S. 345) auf jene Stelle des Quintilian aufmerksam ge-
macht, welche unrichtige Flächenberechnungen betrifft. Ferner sind
römische Gesetze an der Hand der Geometrie geprüft. Ein Beispiel
eigener Erfindungsgabe Buteo's liefert die Abhandlung Ad prohlonn
cubi duplicandi. StifeFs Würfelverdoppelung wird darin mit Recht
getadelt, damit aber ein sehr ungerechtfertigter Spott über die bar-
barische Schreibweise der ganzen Arithmetica integra verbunden^)
und insbesondere eine näherungsweise Würfelverdoppelung mittels
Zirkel und Lineal gelehrt. Sie besteht in Folgendem. Sei ein
Würfel von der Seite a, also dem Körperinhalte a^ gegeben, so ist
es leicht, durch Aneinandersetzung zweier solcher Würfel ein Paral-
lelopipedon von dem Körperinhalte 2a^ zu erhalten, dessen Höhe a
ist, während die Grundfläche aus einem Rechtecke von den Seiten
a und 2 a besteht. Diesen Körper will Buteo nach und nach in
einen Würfel verwandeln. Zunächst verwandelt er die Grundfläche
in ein Quadrat von der Seite ay2, und legt er nun den neuen
Körper, welcher immer noch den Körperinhalt 2a^ besitzt, auf eine
Seitenfläche, so ist «]/2 die Höhe des neuen Parallelopipedons, dessen
rechteckige Grundfläche die Abmessungen a und «■|/2 besitzt. Diese
Grundfläche verwandelt sich in ein Quadrat von der Seite a}/2, und
ein erneutes Umlegen des entstandenen Körpers zeigt ilm in Form
eines Parallelopipedons von der Höhe a]/2 mit der Grundfläche, welche
durch das Rechteck der Seiten «]/2 und ay2 gebildet ist. Es ist
leicht ersichtlich, dass man in ganz ähnlicher Weise von dem jetzt
bekannten dritten Parallelopipedou zu einem vierten, von diesem
weiter gelangen kann. Das siebente Parallelopipedou hat Abmessungen,
welche durch a ■ 2^'^ , a • 2^^ , a ■ 2^^ in heutiger Schreibweise dar-
gestellt werden, und hier, sagt Buteo, sei die Ungleichheit nicht mehr
merklich: was aber nicht in die Sinne falle, hindere beim Gebrauche
^) In libro cui titulum fecit Arithmetica integra, uhi etiam multa super geo-
metricis inculcavit, ah Euclide (ut ipse iactat) omissa. Cuius propositiones inquit
non sioit evangelium Christi. Huiusmodi autem Arithmetica muUiplici rerum ver-
borumque harharie tantum inter alias, quascunque legerim, capiit extulit omnes (ut
cum poeta dicam) Quantum lenta sölent inter vihurna cupressi.
Geschichte der Mathematik. Classikerausgaben. Geometrie. Mechanik. 563
nicht, und vou diesem Gedanken hätten auch Archimed und Ptole-
mäus bei der Kreisrechnung Gebrauch gemacht. Nach diesem Aus-
spruche weiss man schon, was man von Buteo's De quadratura cir-
ciili zu erwarten hat, Anerkennung näheruugsweiser, Widerlegung
vermeintlich genauer Kreisquadraturen. Die beiden Bücher, in welche
jene Schrift zerfällt, erfüllen diese Erwartung. Das erste Buch ist
vorzugsweise den Arbeiten Archimed's und seiner Vorgänger gewidmet.
Mit vollendeter Klarheit weiss Buteo Archimed's Ziel und Verfahren
darzustellen, aber, was noch mehr heissen will, er wird auch dem
vielverketzerten Bryson (Bd. I, S. 191) gerecht^). Wenn man nur
sage, das dem Kreise flächengleiche Quadrat sei irgend ein mittleres,
quadraiiun medium idcimque, zwischen Sehnen- und Tangentenvieleck,
so sei damit eine Wahrheit ausgesprochen. Nach der Auseinander-
setzung der archimedischen Untersuchung ist unter der Ueberschrift
Quemadmodum et alii ad dimensioncm limites vero propiores inveniantur^),
d. h. wie auch andere der Wahrheit näherkommende Grenzen für die
Ausmessung gefunden werden, gezeigt, dass allerdings genauere Ver-
hältuisszahlen als 3- und 3^ gefunden werden können, aber nur auf
Kosten der Bequemlichkeit der Rechnung, weil mit viel grösseren
Zahlen alsdann umgegangen werden müsse. Hierher gehört das ptole-
mäische 3— (Bd. I, S. 394). Aus dem zweiten Buche erwähnen wir,
dass 7t = yi0 den Arabern zugeschrieben wird^). Ferner ist der so-
genannten Quadratur des Campanus (S. 101) gedacht"*). Es sei un-
möglich der Verfasser dieses Schriftchens derselbe Campanus, wel-
cher durch seine Uebersetzung der euklidischen Elemente aus dem
Arabischen und durch seine Anmerkungen und Zusätze zu denselben
sich so sehr verdient gemacht habe. Sodann widerlegt Buteo mit
ziemlichem Geschicke verschiedene Quadraturen, die wir nebst ihren
Urhebern Nicolaus von Cusa, Orontius Finaeus, Dürer, Bovillus bereits
kennen. Dem zweiten Buche folgt noch der Anhang Annotationes
in errares interpretum Euclidis. In ihm ist, wie (S. 556) schon er-
wähnt wurde, in ausführlicher Untersuchung^) und unter Zuziehung
der einschlagenden Quellen, welche Buteo vollständig beherrscht, der
Nachweis geliefert, dass Euklid selbst und nicht Theon der Verfasser
der in den Elementen mitgetheilten Beweise, und Theon nur Heraus-
geber gewesen sei.
Unter die Schriftsteller über Geometrie ist bis zu einem gewissen
Grade auch Ramus zu zählen, dessen Scholae mathematicae von 1569
^) De quadratura circuU (Lugduni 1559) pag. 14. ^ Ebenda pag. 63.
3) Ebenda pag. 106. ^) Ebenda pag. 107. ^j Ebenda pag. 209—212.
564 6'- Kapitel. "
(S. 546) sich über nahezu alle Theile der Mathematik verbreiten und
dadurch ihrem Verfasser mehr als nur einen Platz in unserer Zu-
sammenstellung sichern zu müssen scheinen. Führen wir Einiges
hierher Gehörende an. Vom 8. Buche der Scholae mathematicae an,
welches die Sätze des I. Buches der euklidischen Elemente zu er-
läutern bestimmt ist, kommen wiederholt Figuren vor. Bald sind
dieselben ohne jede Bezeichnung, bald führen sie in altgewohnter
Weise Buchstaben, die den einzelnen Punkten als Benennung dienen^).
Auffallend ist dabei die Reihenfolge der Buchstaben. Während früher
entweder die griechische, beziehungsweise die arabische, oder die latei-
nische Reihenfolge, also entweder a, h, g oder a, h, c u. s. w. üblich
war, entfernt Ramus sich von beiden. Er benutzt zunächst immer
die Selbstlauter a, e, i, o, u, y, und nur wenn mehr als sechs Punkte
der Bezeichnung bedürfen, treten auch Mitlauter auf, zuerst s, dann
r, t, l, m u. s. w. Einen Grund für die Abweichung von der ein-
gebürgerten Uebung giebt Ramus nicht an. Wir halten es für müssig,
unsererseits nach einem solchen zu suchen; die Thatsache selbst schien
uns aber erwähnenswerth, weil bei der grossen Verbreitung der
Schriften des Ramus insbesondere unter den Anhängern der kirch-
lichen Reformation hier vielleicht der Ursprung einer anderweitigen
Bezeichnung liegt, von welcher wir im 69. Kapitel zu reden haben.
Aber suchen wir Bemerkenswertheres auf In der Bewunderung Euklid's
stimmten und stimmen alle Schriftsteller überein, welche mit seinen
Elementen sich beschäftigt haben. Ramus theilt kaum die Bewun-
derung der Elemente, geschweige denn die Euklid's-). Man müsse
gleich Proklos von der Sucht, Euklid immer nur loben zu wollen,
ergriffen sein, um gegen die grossen methodischen Fehler, welche er
sich zu Schulden habe kommen lassen, blind zu sein. Die Arithmetik
gehe ihrem Begriffe nach der Geometrie voraus, Euklid drehe die
Reihenfolge um. Ferner stelle Euklid eine ganze Anzahl von Defi-
nitionen an die Spitze, und das sei vollends verkehrt. Die Natur
hat nicht einen Wald dadurch hervorgebracht, dass sie am An-
fange die Wurzeln aller Bäume steckte, der Architekt nicht dadurch
eine Stadt, dass er am Anfange alle Fundamentirungen vornahm.
Jedem folgenden Baume gab die Natur seine Wurzeln, jedem Ge-
bäude der Baumeister seine Grundmauern. So musste Euklid das
Dreieck definiren, wo die Lehre von den Dreiecken beginnt, das
Vieleck, wo von Vielecken gehandelt wird, und denselben Weg
überall bei den Anfängen einschlagen. Das X. Buch vollends, welches,
wie wir (S. 549) gesehen haben, durch Mondore besonders heraus-
') Scholae mathematicae (ed. Frankfurt 1G27) pag. 174, 17G, 179, 180, 183
und Läufiger. -) Ebenda pag. 96 — 98.
Gescliiebte der Mathematik. Classikerausgaben. Geometrie. Mechanik. 565
gegeben und dadurch bevorzugt worden wai-, ist für Ramus eine Qual^).
Kein Theil der Geometrie erscheint ihm unnützer, keiner überladener
mit Vorschriften und Lehrsätzen; es ist ihm zweifelhaft, ob überhaupt
diese Spitzfindeleien berechtigt sind, innerhalb einer wahren Beschäf-
tigung mit der Geometrie eine Stelle einzunehmen. Er selbst habe
das X. Buch mit Eifer und Genauigkeit durchforscht, aber kein an-
deres Urtheil fällen können, als dass in ihm ein Kreuz für edle
Geister errichtet sei. Um alle Beschwerden des Ramus gegen Euklid
vereinigt zu sehen , greifen wir über die eigentlich geometrischen
Bücher hinaus und sehen zu, was er von den arithmetischen Büchern
sagt. Ihnen wird der Mangel an Brauchbarkeit durchweg vorgeworfen
und, um eiu bestimmtes Beispiel ins Auge zu fassen, der Satz IX, 20
von der Unendlichkeit der Anzahl der Primzahlen als zu speciell ge-
tadelt. Von allen Zahlengattungen gebe es unendlich, viele, zusam-
mengesetzte, gerade, ungerade"^), vollkommene u. s. w. Man müsse
desshalb als allgemeine Forderung aufstellen, dass jede Anzahl ins
Unendliche wachse und nicht Sonderbeweise führen. Diese Auszüge,
welche wir hier vereinigt haben, lassen, so kurz sie gewählt wurden,
Ramus als das erkennen, als was wir ihn früher schilderten, als streit-
baren und streitsüchtigen Dialektiker. Theoretische Feinheiten richtig
zu würdigen war seine Sache nicht, und strengen, nach seiner Meinung
ganz unnöthigen Beweisführungen der Geometrie zog er gewöhnliches
Rechnen vor, wie es von den Kaufleuten der Strasse St. Denis in
Paris zu erlernen war, die zu besuchen, und mit denen für ihn lehr-
reiche Gespräche zu führen für Ramus ein Genuss war^). So ent-
ziehen sich die Scholae mathematicae fast vollständig der Erwähnung
in einem der Geschichte der Mathematik gewidmeten Werke, und
mau findet es begreiflich, dass Mathematiker, welche einen auch nur
flüchtigen Blick hineinwarfen, nicht Neigung empfanden, ein Werk
zu studiren, dessen drei ersten Bücher allein von Wichtigkeit ge-
wesen wären, weil sie, wie wir (S. 546) sagten, für ihren geschicht-
lichen Inhalt Quellen verwertheten, denen heute noch das Lob der
grössten Zuverlässigkeit gespendet werden muss. Ob eine von Ramus
verfasste Geometrie, welche 1577 nach seinem Tode im Drucke er-
schien, sich von den Mängeln frei zu halten wusste, welche ihr
Urheber Euklid vorzuwerfen liebte, ob sie dadurch so viel besser war,
wissen wir nicht.
Ein wirklicher Geometer war Giovanni Battista Benedetti
oder Benedictis (1530 — 1590), Philosoph und Mathematiker des
^) Scholae mathematicae (ed. Frankfurt 1627) pag. 252. -) Ebenda pag. 250.
^) Ebenda pag. 52.
566 67. Kapitel.
Herzogs von Savoyen. In Venedig geboren, nennt er sich bis zu
einem gewissen Grade Schüler des Tartaglia^). Es sei billig und
recht, Jedem das Seine zu geben, und desshalb sage er, dass Tar-
taglia ihm die vier ersten Bücher des Euklid, aber auch nur diese
erklärt habe. Alles übrige habe er mit eigener Mühe und Arbeit
untersucht, denn für den Wissbegierigen sei nichts schwer. So drückt
sich Benedetti in der Vorrede zu einem 1553 gedruckten Werke ^) aus,
welches er demnach mit 23 Jahren vollendet hatte. Der Inhalt ist
eine vollständige Auflösung der Aufgaben, welche in den euklidischen
Elementen vorkommen, sowie anderer unter Anwendung einer
einzigen Zirkelöffnung. Da wir diesen Gegenstand wiederholt
als italienische Liebhaberei bezeichnet haben, so ist es nicht über-
flüssig, die Jahreszahlen der einzelnen Veröffentlichungen ins Gedächt-
niss zurückzurufen. Die Cartelli und Risposte sind von 1547 bis
1548 erschienen, und in ihnen konnte Benedetti, welcher mit 18 Jahren
für ein Wunder galt^), Aufgaben dieser Gattung von seinem Lehrer
gestellt, von Ferrari gelöst finden. Auch Cardano's De svibtilitate
von 1550 kann die Neigung gestachelt haben, die Geometrie mit
bleibender Zirkelöffnung zu fördern. Die Auflösungen Tartaglia's
dagegen erschienen erst 1560 im Drucke, und wenn eine Einwirkung
vorhanden war, so kann sie nicht von Tartaglia auf Benedetti statt-
gefunden haben, sondern nur umgekehrt. Die Auszüge aus dem Be-
nedetti'schen Werke*), welche unserem Berichte zu Grunde liegen,
zeigen indessen keine Aehnlichkeit des Ganges weder mit Ferrari noch
mit Tartaglia, und auf den Gang, das heisst auf die Reihenfolge der
behandelten Aufgaben, deren jede, sobald sie selbst gelöst ist, bei
Lösung der folgenden Aufgaben dienen kann, kommt es natürlich
hauptsächlich an. Die fünf ersten Aufgaben Benedetti's sind: 1. Auf
einer Linie in einem bestimmten Punkte derselben eine Senkrechte
zu errichten. 2. Eine Strecke um ein ihr gleiches Stück zu ver-
längern, sofern die Strecke kleiner ist als die gegebene Zirkelöffnung.
3. Das Gleiche zu leisten, sofern die Strecke grösser als die gege-
bene Zirkelöffnung ist. 4. Eine gegebene Strecke zu halbiren. 5. Von
einem gegebenen Punkte auf eine gegebene Gerade eine Senkrechte
zu fällen. Wir führen nur die Auflösung der letzteren Aufgabe an,
um ein Beispiel von Benedetti's Verfahren zu geben (Figur 109).
Von d soll eine de senkrecht zu cf gezogen werden. Man zieht von
^) Libri III, 123 Note 1. -) Benedictis, De resolutione omnium Eucli-
dis problematum aliorunique nna tantummodo circuli data apertura. Venedig
1553. ^) Libri III, 123 Note 2 beruft sich für diesen Ausspruch auf Mazzu-
chelli, Scrittori d'Italia tomo n, part. 2, pag. 218. *) Ebenda HI, 266—271.
Geschichte der Mathematik. Classikerausgaben. Geometrie. Mechanik. 567
Fig. 109.
einem Punkte /" der gegebenen Geraden aus die fd und verlängert
sie gemäss 2. oder 3. um da = fd. Dann zieht man von a aus ac
nach einem zweiten Punkte c der gegebenen
Geraden und halbirt ac gemäss 4. in h. Die
nun gezogene hd ist somit der cf parallel,
und wird gemäss 1. die de senkrecht zu bd
gezogen, so ist de auch senkrecht zu cf.
Ein zweites Werk Benedetti's führt die Ueber-
schrift Specidationes diversae und ist 1585
gedruckt. Die im Titel ausgesprochenen ver-
schiedenen Untersuchungen sind in der That
verschiedenartig^). Sechs Abschnitte enthalten arithmetische Sätze,
Perspective, Mechanik, Proportionen, Streitfragen, Briefe. Unter den
arithmetischen Sätzen findet sich der Beweis der Vertäu schbarkeit
der Factoren eines Productes, welche bis dahin zwar wohl verschie-
dentlich bemerkt, aber noch nie als eines Beweises bedürftig gefun-
den worden war. In eben diesem Abschnitte sind algebraische Auf-
gaben durch geometrische Betrachtungen gelöst, während man sonst
umgekehrt vorzog, die Auflösung geometrischer Aufgaben durch Zu-
rückftthrung derselben auf Gleichungen zu erreichen. Seien beispiels-
weise drei Unbekannte x, y, z aus den Gleichungen x -\- y = 50,
50 + 70 — 60
y-\- 2= 70, z-\-x== 60 zu bestimmen. Durch y
30
weit ist freilich von Geometrie keine Rede, aber nachträglich zeigt
Benedetti an einer Zeichnung die Richtigkeit der Rechnung (Figur 110).
Dem Dreiecke ahc ist der Kreis eoii eiubeschrieben und jede Seite ist
die Summe zweier Unbekannten, welche als die Entfernungen der
Eckpunkte des Dreiecks von den Berührungspunkten des Kreises auf-
gefasst werden. Man sieht hier deutlich, wie die eine Unbekannte
doppelt übrig bleibt, wenn man eine Seite von der Summe der beiden
') Libri III, 124—131, 258—265, 272—276.
568 67. Kapitel.
anderen abzieht. Eine zweite Aufgabe, die Gleichung xr' -f- Ax = B-
oder (A -f- x)x = B^, wird geometrisch folgendermassen gelöst
(Figur 111). Die Stücke ef = A, de = B
werden unter rechtem Winkel an einander ge-
setzt. Dann wird ef in a halbirt und um a
als Mittelpunkt mit ad als Halbmesser ein
Kreis beschrieben, bis zu dessen Durchschnitt
in h und c die ef nach beiden Seiten
verlängert wird. Offenbar ist he = fc = x.
Hier vermuthlich ist die Aufgabe gelöst, mit
vier gegebenen Strecken als Seiten ein
Sehnenviereck zu zeichnen^).
Bevor wir über den Abschnitt der Speculationes diversae berichten,
welcher der Mechanik gewidmet ist, müssen wir zurückgreifend
eines Schriftstellers gedenken, der auf diesem Grebiete Benedetti's Vor-
gänger war.
Guidobaldo del Monte-) (1545 — 1607) war ein hochangesehener
Edelmann aus Pesaro. Er hatte erst beabsichtigt, sich dem Studium
zu widmen, dann focht er gegen die Türken, später hat er als In-
spector der Festungen Toscanas seinem Vaterlande gedient; zuletzt
erfreute er sich auf seinen Gütern einer wissenschaftlich ausgefüllten
Zurückgezogenheit. In seiner Mechanik von 1577 ist das Gesetz ent-
halten, dass Last und Kraft zu einander im umgekehrten
Verhältnisse der Räume stehen, welche sie in derselben Zeit
durchlaufen, aber über die Anwendung beim Flaschenzuge ging
Del Monte nicht hinaus, die Lehre von der schiefen Ebene, vom Keil,
von der Schraube hat er nicht verstanden^), 1579 wurde die Theoria
planisphaerorium gedruckt. In ihr sind mancherlei Constructionen
gelehrt, welche nicht ohne Interesse sind^); die Quellen, welchen sie
entstammen, scheinen nicht genannt zu sein. Dort findet man die
Beschreibung der Ellipse durch einen Punkt einer Strecke, welche
mit ihren Endpunkten auf den Schenkeln eines Winkels sich ver-
schiebt, wie Proklus sie kannte (Bd. I, S. 466), die von den drei
Brüdern beschriebene Gärtnerconstruction der Ellipse (Bd. 1, S. 690)
u. s. w. Andere Schriften Del Monte's sind durch Auszüge zu wenig
bekannt, als dass wir uns ein Urtheil darüber bilden könnten, wie
weit eine Geschichte der Mathematik bei denselben zu verweilen hat.
Und nun kehren wir zu Benedetti's Werk von 1585 zurück. In
1) Chasles, Aperrii Jiist. 443 (deutscli 496). -) Libri IV, 79—84.
') Lagrange, Analytische Mechanik (deutsch von Servus). Berlin 1887, S. 17
und 8. *) Vergl. Chasles, Äpergu hist. 98 (deutsch 95) mit Les Oeuvres mathe-
mathiqiies de Simon Stevin (Leyden 1634), pag. 347 — 348.
Geschichte der Mathematik. Classikerausgabeu. Geometrie. Mechanik. 509
dem mechanischen Abschnitte ist die Wirkungsweise des Keils und
des Flaschenzuges, so wie auch die des Winkelhebels richtig ver-
standen. Wenn Benedetti sagt, dass die Grösse eines beliebigen Ge-
wichtes oder die bewegende Kraft in Beziehung auf eine andere
Grösse durch den Nutzen, heneficio, der Senkrechten erkannt werde,
die vom Mittelpunkte der Wage auf die Linie der Neigung gezogen
seien, so ist damit die Grundlage der gegenwärtigen Lehre von
den Momenten ausgesprochen^). Benedetti hat ferner erkannt, dass
ein auf gezwungener Bahn sich bewegender Körper, ^vem\ er frei-
gelassen werde, die Richtung der Bei-ührungslinie einschlage^). Li
den Streitschriften, welche gegen Aristotelische Lehren gerichtet sind,
wendet sich Benedetti unter Anderem der von Aristoteles geleugneten,
ununterbrochen auf einer begrenzten Strecke fortdauernden Bewegung
zu^). Aristoteles hatte nämlich in seiner Physik (VIII, 8 pag. 262a)
darauf hingewiesen, dass der Körper am Ende der Strecke angelangt
nothwendig anhalten müsse, bevor er den gleichen Weg zurückmache,
dass also ein Augenblick der Ruhe die Bewegung unterbreche. Bene-
detti widerlegte die Behauptung dadurch, dass er die hin- und her-
gehende geradlinige Bewegung von einer in gleichbleibendem Sinne
andauernden, also nie unterbrochenen kreis-
förmigen Bewegung abhängig machte, mit-
hin bis zu einem gewissen Grade einer 1570
veröffentlichten von Ferrari gemachten Er-
findung (S. 535) sich bediente (Figur 112).
Der Punkt Ä, welcher den Kreisumfang
AN ü im Sinne des Zeigers einer Uhr durch-
läuft, ist in jeder seiner Lagen mit dem
Punkte B geradlinig verbunden. NB und
ÜB sind die Grenzlagen dieser Geraden, jede
andere Lage schneidet die Strecke CD in
irgend einem Punkte T, und während A
einen ganzen Kreisumlauf vollzieht, bewegt p.
sich T unterbrechungslos erst von C nach D,
dann zurück von IJ nach C. Eine zweite gleichfalls geometrische
Betrachtung Benedetti's wendet sich gegen die Aristotelische Behaup-
tung, auf einer endlichen geraden Strecke sei eine unendliche Bewe-
gung nicht denkbar. Die Gerade CB (Figur 113, S. 570) drehe sich im
Sinne des Zeigers einer Uhr um C, so dass sie die Gerade BR in
^) Dühring, Kritische Geschichte der allgemeinen Principien der Mechanik
(Berlin 1873) S. 17. -) Montucla I, 693—694. '■") Lasswitz, Geschichte
der Atomistik vom Mittelalter bis Newton (Hamburg und Leiijzig) II, 14—18,
570 67. Kapitel.
einem von R sich weiter und weiter entfernenden Punkte A schneidet.
Zugleich schneidet sie alsdann die RX, welche als Senkrechte die
beiden Parallelen BR und CX verbin-
— det, in einem Punkte I, und dieser
Punkt I durchläuft die endliche Strecke
B RA
RX, während A auf der Strecke BR
Qr j^ einen unendlichen Weg zurücklegt, mit-
Fig. 113. hin vollzieht sich hier eine unendliche
Bewegung auf RX.
Es ist der Anfang einer geometrisch begründeten Mechanik, der
sich in diesen Betrachtungen enthüllt. Die Mechanik hört allmälig
auf, blosse Erfahrungssätze zu sammeln, oder, was noch schlimmer
war, philosophisch abgeleitete Behauptungen in die Welt zu schleudern,
unbekümmert darum, ob sie zur Erfahrung passen oder ihr wider-
sprechen. Die Mechanik beginnt ein Kapitel der Mathematik
zu werden.
Der Mechanik und der Geometrie gemeinschaftlich gehören Unter-
suchungen an, welche Maurolycus und Commandinus unabhängig
von einander anstellten, und in deren Veröflfentlichung Commandinus,
ähnlich wie bei den Uebersetzungsarbeiten, seinem Vorgänger den
Rang ablief. Es handelt sich um Schwerpunktsbestimmungen.
Seit Archimed fBd. I, S. 308 — 309) solche wiederholt vornahm, seit
Pappus (Bd. I, S. 421) darauf zurückkam, war der Gegenstand lange
Jahrhunderte hindurch fast unberührt geblieben, bis Lionardo da
Vinci (S. 302) den Schwerpunkt einer Pyramide mit dreieckiger
Basis entdeckte. War er durch das Studium Archimedischer Schriften
dazu geführt worden, diese Aufgabe sich zu stellen? Wir möchten
es fast annehmen. Jedenfalls traten Schwerpunktsaufgaben in den
Vordergrund, als man in Folge des Erscheinens neuer mit reichhaltigen
Erläuterungen versehener Ausgaben der griechischen Classiker die
Bedeutung dieser Aufgaben zu würdigen lernte, und es ist nichts
weniger als Zufall, dass die Herausgeber des Archimed und des Pappus
zu den ersten Schriftstellern gehören, welche wieder an Schwerpunkts-
bestimmungen sich versuchten^). Maurolycus fand 1548 den Schwer-
punkt der Pyramide, des Kegels, des Umdrehungsparaboloids, er ver-
werthete die Kenntniss desselben zur Raumbestimmung jener Körper
ähnlich wie Pappus es gethan hatte. Gedruckt wurden allerdings
alle diese Dinge erst 1685 in der Archimedausgabe des Maurolycus,
nachdem die Wissenschaft in gewaltigen Schritten diese ersten Ziel-
punkte längst und weit hinter sich gelassen hatte, angekündigt waren
») Libri HI, 115—116.
Clescliichte der Mathematik. Classikerausgabeii. Geometrie. Mechanik. 571
sie in deu Opuscida mathematica des Maurolycus von 1575. C om-
ni an dinus dagegen gab seine fast gleichinhaltliche Schrift De centro
gravitatis solidorum schon 1565 alsbald nach der Fertigstellung im
Drucke heraus.
Eine Stelle der Opuscnla matliematica des Maurolycus hat Be-
achtung gefunden^), in welcher man eine Art von geometrischer
Dualität erkennen wollte. Man kann allenfalls diese Benennung
gebrauchen, muss sich aber ja davor hüten, mehr aus diesem Namen
herauslesen zu wollen, als Maurolycus bei der Sache dachte. Dieser
sagt nämlich, der Würfel sei ein Würfel mit 6 Flächen und 8 Ecken,
das Octaeder ein solcher mit 6 Ecken und 8 Flächen, sie entsprächen
einander durch Correlation, unde haec sihi invicem correlativa sunt.
Ebenso seien Ikosaeder und Dodekaeder correlative Körper, weil das
Ikosaeder 20 Flächen und 12 Ecken, das Dodekaeder 20 Ecken und
12 Flächen besitze. Das Tetraeder mit 4 Flächen und 4 Ecken habe
keinen correlativen Körper, es entspreche sich selbst, ipstun enim met
sihi respondet.
Von den uns als üebersetzer bekannt gewordenen Schriftstellern
verdient auch Barozzi als Geometer genannt zu werden. Er hat
1586 einen Band veröffentlicht, welcher von den Asymptoten handelt^).
Verdienstlich ist daran die umfassende Literaturkenntniss des Ver-
fassers. Griechen (Apollonius, Pappus, Eutokius), neuere Schriftsteller
(Orontius Finaeus, Werner, Cardano, Peletarius), jüdische Philosophen
aus verschiedenen Jahrhunderten hat er gelesen, und er giebt sich
die mitunter recht überflüssige Mühe, ihre philosophischen Zweifel zu
erörtern. Dagegen hat er, so weit er in dieser ersteren Beziehung
ausgreift, seinen eigentlichen Gegenstand zu eng gefasst. Nur die
Asymptoten der Hyperbel sind betrachtet. Dass es auch andere
krumme Linien mit geradlinigen Asymptoten gebe, wie» z. B. die
Conchoide (Bd. I, S. 335) ist mit keinem Worte angedeutet, und noch
weniger ist natürlich von allgemeinen asymptotischen Eigenschaften
die Rede.
68. Kapitel.
Fortsetzung der (reometrie und Mechanik. Cyclometrie und
Trigonometrie.
Wir müssen noch einen Schriftsteller nennen, welcher auf den
beiden hier in unserer Darstellung vereinigten Gebieten der Geo-
') J. H. T. Müller in Grunerfs Archiv der Mathematik und Physik XXXIV,
1—6. ^) Kästner n, 94—98.
572 68. Kapitel.
metrie und Meclianik sich grosse Verdienste erworben hat: Simon
Stevin^j.
Er ist 1548 in Brügge geboren, 1620 in Leiden oder im Haag
gestorben. Er begann als Kaufmann in Antwerpen und setzte ver-
muthlich diese Beschäftigung auf Reisen in Polen, Dänemark, dem
ganzen nördlichen Europa fort. Später stand Stevin in nahen Be-
ziehungen zu Moritz von Oranien, der ebenso ausseramtlich auf seineu
Kath hörte, als ihm amtliche Stellungen zuwies. Man weiss von einer
Anstellung Stevin's als Vorstand des Waterstaet (Oberwasserbaumeister)
und von einer solchen als Generalquartiermeister. Ein von Stevin
zuerst ausgesprochener, dann von den Zeitgenossen viel bewunderter
und "weitergesponnener Gedanke ist der von dem „weisen Jahrhun-
derte" ^). Vor undenklichen Zeiten habe, behauptet er, das Men-
schengeschlecht ein allumfassendes Wissen besessen, von welchem
mehr und mehr verloren ging, und welches erst allmälig wieder er-
worben werden müsse, damit dereinst ein zweites weises Jahrhundert
erscheine. Stevin war Niederländer durch und durch und schrieb
vorzugsweise in seiner niederdeutschen Muttersprache, welche er für
diejenige erklärte, die vermöge ihres Reichthums an einsilbigen leicht
zusammensetzbaren Stämmen sich vorzugsweise zur Weltsprache eigne ^ j.
Freilich fügte er sich der Thatsache, dass die von ihm erwünschte
Allgemeinverständlichkeit des Niederdeutschen nicht entfernt vorhan-
den war, und übersetzte theils selbst seine Schriften nachmals ins
Französische, theils Hess er es zu, dass sie ins Lateinische übersetzt
wurden. Zuerst scheinen 1584 Zinstafeln im Drucke erschienen zu
sein, dann 1585 ein Band, welcher die Arithmetik, die vier ersten
Bücher des Diophant, die praktische Arithmetik und eine Schrift mit
dem Titel La Disme in sich schloss. Demselben Jahre 1585 gehören
fünf Bücher geometrischer Aufgaben an. Im Jahre 1586 folgten
einige Bücher mechanischen Inhaltes. Sehr mannigfaltig sind die Ily-
ponuwmata mathematica, welche Snellius ins Lateinische übersetzt
hatte, und welche in dieser letzteren Sprache 1608 gedruckt wurden.
Die Trisfonometrie Stevin's fand 1628 einen Uebersetzer in die deutsche
^) Kästner III, 392— 418. — Steichen, Memoire sur Ja vie et les travaux
de Simon Stevin (Bruxelles 1846). — Quetelet pag. 144—168. — Bierens de
Haan, Bouwstoffen Toor de geschiedenis der wis- en natuurkundige wetenschappen
in de Nederlande II, 183—229 und 440—445. — AUgem. deutsche Biographie.
XXXVI, 158—160. Die Werke Stevin's wurden von Albert Girard 1634
m einem starken Foliobande im Drucke herausgegeben, den wir als Stevin
citiren.j Zwei Schriften (über Musik und über Mühlen) hat Bierens de Haan
neu aufgefunden und 1887 I.e. pag. 231— 360 zum Abdrucke gebracht. ^ Stevin
pag. 106 (Gcogi-aphie, Definition VI). ^) Stevin pag. 114 sqq.
Fortsetzung der Geometrie u. Mechanik. Cyclometrie n. Trigonometrie. 573
Sprache in Daniel Schwenter^), der uns im 71. Kapitel bekannt
werden wird. Noch späteren Datums sind Schriften Stevin's über
die Befestigungskunst, welche unter den Fachmännern nicht minder
berühmt sind, als die demselben Gegenstände gewidmeten Unter-
suchungen Dürers (S. 468). Auch bei Stevin sind bahnbrechende
Gedanken ausgesprochen, von welchen hier, wo wir mit einfacher
Namensnennung uns begnügen müssen, der der Vertheidigung mittels
Schleussenwerke erwähnt werden darf, weil er Stevin in seiner
doppelten Eigenschaft als Wasser- und Festungsbaumeister kenn-
zeichnet.
Die eigentlich mathematischen Schriften Stevin's nöthigen uns,
ihm mehrfach unsere Aufmerksamkeit zuzuwenden. Fürs Erste haben
wir es mit seinen geometrischen und mechanischen Werken zu thun,
wobei aber eine Schwierigkeit auftritt. Die weitaus verbreiteste Aus-
gabe von Stevin's Werken ist die französische Uebersetzung durch
Albert Girard, welche nach Stevin's Tode vorbereitet erst 1634
nach Girard's Tode herauskam. Bei der an Unauffindbarkeit grenzen-
den Seltenheit der früheren Drucke ist es uns unmöglich zu bestimmen,
wie weit in dieser Girard'schen Gesammtausgabe, abgesehen von Zu-
sätzen des Herausgebers, welche durch Beisetzung von dessen Namen
als solche gekennzeichnet sind, noch Veränderungen eintraten. Ob
z. B. die fünf Bücher geometrischer Aufgaben von 1585 in den sechs
Büchern De la pmdique de Geometrie unserer Ausgabe enthalten sind,
lässt sich nicht entnehmen. Unwahrscheinlich ist es nicht, aber
denkbar wäre auch, dass jene erste geometrische Schrift für uns gänz-
lich verloren gegangen wäre. Die letztere Möglichkeit beruht darauf,
dass in der lateinischen Ausgabe von 1605—1608, welche in manchen
Dingen von der französischen Ausgabe sich unterscheiden soll, und
welche namentlich eine Abtheilung De miscellaneis besitzt, welche
dort ganz fehlt ^), auch ein Verzeichni.ss von Schriften sich findet,
welche hätten abgedruckt werden sollen, aber vom Herausgeber noch
nicht druckfertig gestellt werden konnten und desshalb vorläufig
zurückgelegt wurden ■"'). Allerdings sind die Prohlemata geometrica
weder in den Miscellaneis noch in dem Verzeichnisse fehlender Stücke
enthalten, und damit ist für die erstere Möglichkeit eine Stütze ge-
wonnen, welche durch einen Ausspruch des Adriaen van Roomen
von 1593 wesentlich verstärkt wird. Dieser berichtet nämlich^) von
einem umfassenden geometrischen Werke Stevin's, an welchem derselbe
arbeite, nachdem er 1583 (?) eine Probe davon in den fünf Büchern
Aufgaben gegeben habe.
1) Wertheim brieflich. '^ Kästner III, 407. ^) Ebenda III, 410—411.
*) Quetelet pag. 1G7, Xote 1.
574 6*^- Kapitel.
Die französische Ausgabe besteht aus sechs Theileu, von welchen
der I. eine besondere Seitenzählung, S. 1^222, besitzt, während die
Theile II bis VI gemeinschaftlich einer neuen Seiteubezeichnnng,
S. 1 — 678, unterworfen sind. Das Ganze bildet mithin einen sehr
starken Folioband von 900 Seiten. Die durch zweifache Seitenzählung
angedeutete wesentliche Zweitheilung des ganzen Bandes ist darauf
zurückzuführen, dass in der vor S. 1 des I. Theils sich befindenden
Inhaltsübersicht die Theile II bis V als 3Iemoires mathematiques du
Prince Maurice de Nassau (Accente sind im Drucke nur äusserst
selten angegeben) bezeichnet sind, denen dann mit den einführenden
Worten et ajn-es les susdites Menioires der VI. Theil folgt. Natürlich
ist nicht gemeint, die Theile II bis V seien von Moritz von Nassau
verfasst. Dem widerspricht schon die Thasache, dass in ihnen die mecha-
nischen Schriften inbegriffen sind, welche Stevin 1586 unter eigenem
Namen veröffentlichte. Die Meinung ist vielmehr die, es seien hier
Ai-beiten vereinigt, welche für jenen Fürsten bestimmt waren, und
auf deren Niederschrift er einen gewissen Einfluss ausübte, welcher
da und dort durch die Bemerkung, solches rühre vom Prinzen her,
hervorgehoben ist. Wie weit diese Bemerkungen selbst auf der Wahr-
heitsliebe Stevin's, wie weit sie auf seiner höfischen Gewandtheit be-
ruhen, das zu ermitteln ist unmöglich. Der I. Theil enthält Arith-
metisches und Algebraisches, der IL Theil mathematische Kosmographie,
der III. Theil die oben erwähnten sechs Bücher praktischer Geometrie,
der IV. Theil Mechanisches, der V. Theil Optisches, der VI. Theil auf
das Kriegswesen bezügliche Schi-iften.
Dem III. Theile, zu welchem wir uns näher wenden, ein ganz
allgemeines Lob zu spenden, ist nicht viel Veranlassung. Die prak-
tische Geometrie Stevin's ist unzweifelhaft ein durch seine An-
lage eigenthümliches Werk, aber darum noch kein weit hervorragendes.
Die Eigeuthümlichkeit besteht darin, dass Stevin bestrebt ist, der
Geometrie eine arithmetische Anordnung zu geben. In der Arithmetik
lernt man zuerst die Zahl aussprechen, dann führt man mit der Zahl
die vier einfachen Rechnungs verfahren des Addirens, Subtrahirens,
Multiplicirens, Dividirens aus, dann kommen die Proportionsrechnungen.
Dem entsprechend lehrt die Geometrie zuerst die einzelnen Raum-
gebilde kennen, welche später den Rechnungsverfahren unterworfen,
zuletzt in Verhältniss zu einander gebracht werden. In das Bereich
des Keunenlernens einzelner Raumgebilde zieht aber Stevin Auf-
gaben, welche man nicht leicht dort suchen wird. Wir nennen
deren zwei auf die Ellipse bezügliche, deren Auflösungen Stevin
selbst anzugehören scheinen: die punktweise Zeichnung einer Ellipse,
deren beide Axen gegeben sind, und die Auffindung der kleinen Axe,
Fortsetzung der Geometrie u. Mechanik. Cyclometrie u. Trigonometrie.
Fig. 114.
wenn die grosse Axe und ein EUipsenbogen gegeben sind^) (Figur 114).
Die halbe kleine Axe wird als Verlängerung der grossen Axe gezeich-
net, ausserdem eine ihr gleiche Senkrechte
in dem Punkte errichtet, wo beide Axen
Bneinanderstossen und aus dem. gleichen
Punkte als Mittelpunkt mit der halben
kleinen Axe als Halbmesser ein Kreis-
quadrant beschrieben. Den wagrechten Halb-
messer des Kreisquadranten und ebenso die halbe grosse Axe theilt
man, jede dieser Strecken für sich, in eine gleiche Anzahl, etwa vier
gleiche Theile und nennt diejenigen Theilpunkte einander entsprechend,
welche von dem mehrgenannten Aneinanderstossungspunkte der grossen
und halben kleinen Axe nach rechts und links gezählt die gleich-
vielten sind. In allen Theilpuukten werden Senkrechte errichtet,
auf den Theilpuukten der halben kleinen Axe bis zum Durchschnitte
mit dem beschriebenen Kreisquadranten. Die Senkrechten in den
Theilpuukten der halben grossen Axen macht man den . nunmehr
schon abgegrenzten Längen der* Senkrechten in den entsprechenden
Theilpuukten gleich, so sind dadurch Punkte der Ellipse gegeben.
Für die zweite Aufgabe beruft sich Stevin auf einen Satz, welchen
Guido Ubaldus, also offenbar Guidobaldo del Monte, bewiesen
habe, und der dahin zielt, dass wenn von einem Punkte G der kleinen
Axe (Figur 115) nach einem Punkte /
der Ellipse die Gl der halben gi-ossen
Axe gleich gezeichnet wird, das Stück HI
dieser Geraden der halben kleinen Axe
gleich sein muss und umgekehrt^). Kennt
man also die grosse Axe, so zieht man
in deren Mitte senkrecht die , Richtung
der kleinen Axe, schlägt von einem Punkte I
des gegebenen Ellipsenbogens mit der halben grossen Axe einen Kreis-
bogen, der die Richtung der kleinen Axe in G schneidet und misst
auf IG das Stück IH bis zum Durchschnitte mit der grossen Axe,
so ist dadurch die halbe kleine Axe bestimmt. Bei der Definition
der Körper sind Körpernetze gezeichnet^), wie Dürer sie auch her-
gestellt hat (S. 466). Für das Paralleltrapez ist der Name hace (Axt)
Fig. 115.
^) Stevin n, 348 — 349. Unter I, beziehungsweise II, verstehen wir die
beiden Paginirungen, von welchen im Texte die Rede war. ^) Die Wahrheit
dieses Satzes beweist sich leicht wie folgt: IH : HM = GH : HC, also
IH{CM—3IH) = GH-3IH, IHCM=IGMH, IG^=\~ji^) =pL^2 = "'-
3; Stevin II, 359.
576 68. Kapitel.
statt des gebräuchlicheren mensa (Tisch) in Vorschlag gebracht^).
Beim Addiren von Linien, welches ebenso wie das von Flächen und
auch das von Körpern gelehrt wird, ist eines der vorgeführten Bei-
spiele die Addition zweier Kreisperipherien ^), welche durch die Peri-
pherie eines neuen Kreises dargestellt werde, dessen Halbmesser die
Summe der Halbmesser der beiden gegebenen Kreise sei. Unter dem
Begriffe des Theilens von Flächen behandelt Steviu die Aufgabe, die
Zähne eines kleinen Rades einzuschneiden^). Man befestigt das künf-
tige Rädchen in dem Mittelpunkte einer sehr viel grösseren kreis-
runden Platte, deren Umfang man in die vorgeschriebene Anzahl von
Theilen theilt. Dann zieht man Halbmesser nach allen Theilpunkten,
wodurch die kleinere Scheibe mit getheilt wird. Fehler seien auch
bei der Theilung des grossen Kreises unvermeidlich, aber verkleinert
werden sie unmerklich, la faute se trouve du taut insensihJe en Ja petite
plaque. Auch Figuren mit einspringenden Winkeln werden der Thei-
lung unterworfen*). Dabei ist die Bemerkung gemacht, welche als
Definition solcher Figuren gelten kann, man müsse darauf achten,
dass eine Gerade, welche dieselbe in zwei Theile zerlege, wirklich
nicht mehr als zwei Theile hervorbringe.
Ungleich wichtiger als Stevin's geometrische Leistungen sind seine
Verdienste innerhalb der 3Iechanik, welche wir hier im Verein mit
jenen behandeln. Stevin war es, der das Gesetz des Gleichge-
wichtes auf der schiefen Ebene entdeckte (Figur 116). Das
Dreieck AGB stehe senkrecht auf einer
Ebene, welche die Grundlinie J. 6' unterstützt^).
Die Seite JBC sei halb so gross als die BA.
Man legt eine Kette von in gleichen Entfer-
nungen von einander aufgereihten gleichen
Kugeln um das Dreieck, so dass zwei Kugeln
längs BC, vier längs BA hängen, fünf nach unten einen Zug ausüben.
Das ganze System ist nun offenbar im Gleichgewichte, weil sonst in
einem Drehungssinne oder in dem entgegengesetzten eine niemals
aufhörende Bewegung eintreten müsste, was widersinnig ist, et ainsi
ce mouvement naurait aucune fin, ce qui est absurde. Die fünf unten
hängenden Kugeln halten sich aber bei dem gleichmässigen Zuge
den sie ausüben, gegenseitig im Gleichgewichte und können daher
entfernt werden, dann bleibt noch immer Gleichgewicht zwischen den
vier Kugeln auf AB und den zwei Kugeln auf BC. Die vier Kugeln
können dabei in eine und ebenso die zwei in eine vereinig-t werden.
») Stevin II, 37.3. ^ Ebenda E, 389. ^) Ebenda U, 403. *) Ebenda
II. 405 und 411. '^) Ebenda II. 448.
Fortsetzung der Geometrie u. Mechanik. Cyclometrie u. Trigonometrie. 57t
wenn nur ihre Gewichte den Geraden AB, BC proportional bleiben.
Weiter wird alsdann die BC senkrecht gedacht und durch ein Seil
um eine Rolle bei B, an welchem ein Gewicht hängt, ersetzt, so wird
in dieser Form das Gesetz des Gleichgewichtes der schiefen Ebene
vollends klar^). Aber Stevin geht noch einen grossen Schritt weiter:
er erkennt das Gleichgewicht zwischen drei Kräften, welche den Seiten
eines Dreiecks parallel und proportional sind"), er führt damit zu-
gleich in die Mechanik die Uebung ein, Kräfte nach Richtung
und Grösse durch gerade Linien zu versinnlichen, wodurch
die Mechanik vollends eine geometrische Wissenschaft wird.
Noch hervorragender steht Stevin in der Geschichte der Hydro-
statik da, wo er durch das sogenannte hydrostatische Para-
doxon^) den ersten gewaltigen Fortschritt seit Archimed und über
das von Jenem Geleistete hinaus vollbrachte. Mit jenem Namen hat
man den Satz belegt, dass jede Avie immer geformte Flüssigkeitssäule
auf ihre Grundlage einen dem Producte der Höhe in die Basis der
Säule proportionalen Druck ausübe. Stevin's Beweis ist folgender.
Zuerst zeigt er, dass ein fester Körper, welcher einer Flüssigkeit
parigrave ist — gleiche Dichtigkeit mit ihr hat — an jedem Orte der
Flüssigkeit, wo er nur eingetaucht wird, in Ruhe verbleibt. Ein ■
gerader Flüssigkeitscylinder drückt ferner seine Grundlage mit dem
ganzen Gewichte, welches dem Producte aus Höhe in Basis propor-
tional ist. Eine Veränderung kann an dieser Wahrheit nicht statt-
finden, wenn nach dem Vorhergehenden ein parigraver Körper be-
liebiger Form eingetaucht wird, und ebensowenig, wenn man sich
diesen Körper am Rande des Gefässes befestigt denkt, so dass er mi.t
dem Gefässe eins wird, und nur die beliebig geformte Flüssigkeits-
säule übrig bleibt. Der Seitendruck der Flüssigkeiten wird
demnächst untersucht und dabei eine Methode angewandt, welche,
wenn auch Archimed offenbar nachgebildet, doch von hervorragendster
Bedeutung ist, insofern sie zum ersten Male uns wieder begegnet^).
Die gedrückte Seitenwand wird in kleine Flächentheilchen zerlegt,
und da zeigt sich, dass jedes Flächentheilchen einem Drucke ausgesetzt
ist, welcher zwischen zwei Grenzen liegt, d. h. grösser ist als ein ge-
wisser kleinster Druck, kleiner als ein anderer grösster Druck, dass
ferner jene als Grenzen auftretenden Druckgrössen wie die Gewichte
ein- und umschriebener Körper sich verhalten. Darin fährt Stevin
aber fort: Que si on divisait le fond ÄCDE en plus de 4 parties
egales, soit en 8; il appert que les corps inscrifs et circonscrits ne
0 Stevin II, 449 Corollaire IV. -) Ebenda II, 449 Corollaire VI. ^) Eben-
da II, 488 Corollaire 11. *) Ebenda II, 488 sqq. Theoreme IX.
Cantok, Geschichte der Mathem. 11. 2. Aufl, 37
578 (58. Kapitel.
differoyent que de la moitie de la difference precedente; et est manifeste
qu'on poiirroit partir le fond en tant de pariies egales que la difference
des Corps inscrits et circonscrits ä la demi-colomne, differeroyent moins
qu'aucun corps donne', si petit puisse-il estre. Es ist nicht zu ver-
kennen, dass hier ein Grrenzüb ergang vorgenommen ist auf Grundlage
der Zerlegung eines Flächenstückes in mehr und mehr, kleinere und
kleinere Flächentheilchen , und bei der grossen Wichtigkeit der spä-
teren Entwickelung grade dieser Betrachtungsweise erscheint es wün-
schen-swerth hervorzuheben, dass diese Untersuchungen Stevin's zuerst
1608 in der lateinischen Ausgabe der Hyponmemata mathematica in
deren dritten Bande gedruckt wurden.
Die Schwimmfähigkeit beladener Schilfe untersuchend kam Stevin
zu den Sätzen^), dass der Schwerpunkt des Schiffes tiefer als der
Schwerpunkt des verdrängten Wassers sich befinden müsse, und dass
ein Umschlagen des Schiffes um so leichter zu befürchten stehe, je
höher sein Schwerpunkt liege. Wenn auch nicht deutlich ausgesprochen,
lag darin die Unterscheidung des labilen von dem stabilen Gleich-
gewichte wenigstens angedeutet.
Bei seinen Zeitgenossen war Stevin viel bewundert wegen der
Erfindung eines mit Segeln versehenen Wagens, der um das Jahr
1600 auf dem Strande zwischen Scheweningen und Fetten seine Frobe-
fahrt machte. Der Wägen, dessen kleineres Modell man 1802 in
Scheweningen noch auf bewahi-te, war mit 28 Fersonen besetzt. Frinz
Moritz selbst lenkte, und die alleinige Kraft des Windes trieb das
Fuhrwerk 14 Wegstunden weit mit solcher Geschwindigkeit, dass kein
Fferd mitkommen konnte"). Soviel zunächst über Stevin.
Den geometrischen und mechanischen Betrachtungen gleichmässig
verwandt ist die Herstellung gewisser Vorrichtungen, welche
in das Ende des XVI. Jahrhunderts fäUt.
Commandinus soll einen doppelten Zirkel mit beweglichem
Scharnier und veränderlichen Zirkelstangen erfunden haben^), welcher
dazu diente, eine gegebene Strecke in eine Anzahl von gleichen Theilen
zu theilen.
Barozzi hat einen Kegelschnittzirkel eigener Erfindung be-
schrieben*). Ob freilich die Erfindung eine ganz selbständige war,
oder ob Barozzi auf irgend eine Weise Kenntniss von arabischen Vor-
arbeiten (Bd. I, S. 707) erhalten hatte, müssen wir dahingestellt sein
lassen. Jedenfalls ist Barozzi's Vorrichtung denen der Araber sehr
1) Stevin II, 512—513. -) Quetelet pag. 155—156. ^) Libri III,
121. *) Kästner II, 98. — A. von Braunmühl, Notiz über die ersten
Kegelschnittzirkel. Zeitschr. Math. Phys. XXXV, Histor.-Iiterar. Abthlg. S. 161
—165.
Fortsetzung der Geometrie u. Mechanik. Cyclometvie u. Trigonometrie. 579
ähnlicli. Die Beschreibung findet sich in dem Buche über Asymptoten
und kennzeichnet die Vorrichtung als eine solche, welche den Kegel-
schnitt als Durchschnitt einer Ebene mit einem Ki-eiskegel entstehen
lässt. Die eine Zirkelstange enthält nämlich ein Röhrchen, in wel-
chem ein Stift derartig verschiebbar ist, dass er, während das Röhr-
chen einen Kegelmantel beschreibt, fortwährend mit der Zeichnungs-
ebene in Berührung bleibt und auf ihr, je nach der Stellung des
Zirkels, diesen oder jenen Kegelschnitt hervorbringt. Nach seinem
Instrumente hat dann Barozzi noch ein zweites beschrieben, welches
ungefähr auf dem gleichen Grundgedanken beruht, und welches von
einem anderen Italiener Giulio Thiene^) erfunden worden ist.
Ein Professor Hommel (1518—1562) in Leipzig bediente sich^)
des sogenannten Transversalmaassstabes (Figur 117), bei welchem
durch Trausversallinieu, die von
dem oberen Rande des Maass-
stabes gegen den unteren ge-
neigt gezeichnet sind, die Mög-
lichkeit gegeben ist, auch solche
Längen abzumessen, welche in
Gestalt von Bruchtheilen der
kleinsten in Anwendung kom-
menden Maasseinheit sich aus-
drücken. Dass er in Levi ben Gerson (S. 289) einen Vorgänger hatte,
war ihm vermuthlich unbekannt.
Eine ähnliche Aufgabe hatte, wie wir uns erinnern, Nonius sich
gestellt (S. 389), eine ähnliche löste Clavius^'). Allerdings fällt die
Veröffentlichung der von Clavius ersonnenen Vorrichtung schon in
den Anfang des XVII. Jahrhunderts, aber unsere Leser sind daran
gewöhnt, dass wir die Zeitgrenzen nicht genau einhalten können.
Clavius verlangt, mau solle einen Maassstab in 100 oder, wenn seine
Länge es gestattet, in 1000 gleiche Theile theilen. Auf einem be-
sonderen Stäbchen werde die Länge von 11 Theilen aufgetragen und
selbst in 10 gleiche Theile getheilt. Jedes Theilchen des Hilfsmaass-
stabes beträgt also 11 Tausendstel des ursprünglich 100 theiligen, be-
ziehungsweise 11 Zehntausendstel des ursprünglich lOOOtheiligen
Maassstabes, und durch Verschiebung längs dem ursprünglichen Maass-
stabe kann eine Messung auf ~ der dortigen kleinsten Längeneinheit
, \ \ \ \ \ \ \ \
\ \ \ MIM
M 1 M \ 1
\ \ w \\
\ \ M M M.
M M M MM 1
M M M M M
\ M M M M 1
\ 1 M M \\\
\ \ \ \ \ \ IM
Fig. 117.
') Ueber ihn vergl. Lampertico, Di Giulio Thiene uome cl'arme e di
scienza del Secolo XFJin den Atti des R. Instituto Veneto für 1891. -) Kästner
II, 355. 3) Breusing, Nonius oder Vernier? in den Astronomischen Nach-
richten von 1880 Nr. 2289 (Band XCVI, S. 129—134).
37*
580 <^8. Kapitel.
genau vorgeuommeu werden. Das Neue und Wichtige bei dieser
Einrichtung ist die Auftragung der Hilfstheilung auf ein frei
bewegliches Stäbchen, welche von da an, wenn auch nicht so-
fort, Regel und stete Uebung geworden ist. Clavius veröffentlichte
seine Erfindung 1606 in seiner Geometria practica, und in einer zweiten
Schrift, Astrolahium, hat er sie auch auf Winkelablesungen ausgedehnt.
Ein in einzelne Grade abgetheilter Kreisquadrant dient zur Ablesung
von einzelnen Winkelminuteu, sofern ein Hilfsbogen von 6P in 60
gleiche Theile getheilt zum Anlegen vorbereitet ist. Die Geometria
practica verdient vollauf das Lob, welches in den Worten ausgesprochen
ist^), sie sei „das Muster eines Lehrbegriffes der praktischen Geo-
metrie, vollkommen für ihi-e Zeit". Das Werk ist in acht Bücher
getheilt. Das 1. Buch enthält die Beschreibung von zu Längen- und
Winkelmessungen nöthigen Vorrichtungen und die trigonometrische
Berechnung von Dreiecken. Die eigentliche Feldmessung ist im 2.
und 3. Buche gelehrt. Das 4. Buch bringt Inhaltsformelu für ebene
Figuren, das 5. Buch solche für Raumkörper, wobei die archimedische
22
Verhältnisszahl -^ als genügend benutzt wird. Das 6. Buch löst allerlei
Theilungsaufgaben, sowie solche, welche auf Vergrösserung von Raum-
gebilden in gegebenem Verhältnisse sich beziehen. Die Würfelver-
doppelung bildet einen besonderen Fall der letzteren Aufgabe, und
Clavius bedient sich bei ihr der von griechischen Schriftstellern zu
gleichem Zwecke benutzten krummen Linien. Im Anschlüsse an die
Würfelverdoppelung erscheint die Lehre von den Wurzelausziehungen,
um die vorher geometrisch gelösten Aufgaben auch rechnerisch be-
wältigen zu können. Das 7. Buch bezeichnet sich als das von den
isoperimetrischen Figuren und Körpern nebst einem Anhange von
der Quadratrix. In dem ziemlich- umfangreichen 8. Buche sind sehr
verschiedene geometrische Aufgaben vereinigt. Dort sind z. B. auch
einige von den Näherungsconstructionen besprochen, welche Dürer
gelehrt hat ('S. 462), und welche unter Handwerkern weit verbreitet
waren. Trigonometrische Rechnung führt im 29. Satze dieses Buches
zur Auffindung der Winkel in dem mit fester Zirkelöffnung her-
gestellten gleichseitigen Fünfecke, und damit zum Nachweise, dass
von genauer Gleichwinkligkeit hier nicht die Rede sein könne. Im
30. Satze wird die Auffindung der Siebenecksseite als halbe Drei-
ecksseite gelehrt, aber in einer anderen Ausdrucks weise und unter
Berufung auf Carolus Marianus Cremonensis, eine Persönlich-
keit, die damals bekannter gewesen sein muss, als sie gegenwärtig
1) Kästner III, 287.
Fortsetzung der Geometrie u. Mechanik. Cyclometi'ie u. Trigonometrie. 581
ist. Seine Vorschrift verlaugt ^), dass mau (Fig. 118) den Halbmesser
I)Ä des Kreises, in welchen das regelmässige Siebeneck eingezeichnet
werden soll, um ÄE = ^-^J^ verlängere.
Dann soll mau um E mit EB = DA als Halb-
messer einen neuen Kreis beschreiben, welcher
den ersten in B schneide, so sei AB die Sie-
benecksseite. Die Rechnung liefert DE=^—j
wenn BE = BD = r. Ist BG ± DE, so
folgt weiter DG ^=^ GE =^ und
BE' — GE'
BG'
Ferner ist
AB' = BG'-j-AG'
39 r
64
Fig. 118.
BG'-\-{DA — DGy
39 r-
+ r
64 ' V 8/ 4
also AB =^ ^y?» , und das ist die Hälfte der Seite des regelmässi-
gen Sehnendreiecks. Den Schluss des ganzen Werkes bildet eine
Tafel der Quadrate und Würfel aller ganzen Zahlen von 1 bis 1000
und eine Anweisung, wie man bei Ausziehung von Quadrat- und
Kubikwurzeln diese Tafel mit Vortheil anwenden könne. So weit die
Tafel Kubikzahlen enthielt, war sie die von grösster Ausdehnung,
welche noch veröffentlicht worden war und blieb es auch für lange
Zeit. Die Tafel der Quadratzahlen aber war schon vor ihrem Er-
scheinen durch die Tahnla tetragonica von 1592 des italienischen
Astronomen Magini (1555 — 1615) weit überboten'''). Auf 24 Blättern
enthält diese die Quadrate der Zahlen von 1 bis 100100.
Hätten wir streng die Zeitfolge eingehalten, so wäre vor Clavius
ein anderer ganz tüchtiger Geometer zu nennen gewesen. Simon
Jacob ^) ist in Coburg geboren und 1564 in Frankfurt am Main
gestorben. Er verfasste ein Rechenbuch nebst Geometrie als zweite
Bearbeitung eines bloss der Rechenkunst gewidmeten Werkes und
schrieb 1552 die Vorrede dazu. Der Druck begann 1557, wurde aber
unterbrochen. Als der Verfasser dann 1564 starb, besorgte sein
Bruder Pancraz Jacob 1565 die neue Ausgabe, welche selbst wieder-
holt gedruckt wurde. In dem dritten, treometrischen Theile ist im
^) Auf das Verfahren des Cremonesers hat S. Günther, Zeitschr. Math.
Phys. XX, Hist.-literar. Abthlg. S. 116 aufmerksam gemacht, dann H.A.J. Press-
land, On the history and degree of certain geometrical approximations in den
Proceedings of the Edinburgh Mathematical Society Vol.X. ^i J. W. L. Glaisher,
Report of the Committee of mathematical tables. London 1873, pag. 26. ^) Allgem.
deutsche Biographie XIII, 559.
582 68. Kapitel.
59. Satze angegeben, die Seiten 25, 33, 60, 16 in der genannten
Reihenfolge aneinander gefügt bildeten ein Sehnenviereck im Kreise
vom Durchmesser 65, die beiden Diagonalen seien 52 und 39. Wie
Jacob zu diesen Zahlen gekommen ist, hat er mit keinem Worte
angedeutet. Erwähnenswerth mag aber auch erscheinen, dass das
Wort corauscus, eine andere Form für cormisfns, erklärt wird als
„eine Linie, so mit dem Basi Parallel oder gleichweitig ist".
Wenzel Jamitzer^) (1508 — 1586), dessen Name auch in den
Schreibweisen Jamnitzer und Gamiczer vorkommt, ein geschickter
Goldschmied zur Nürnberg, hat 1568 Abbildungen zahlreicher geo-
metrischer Körper der Oefifentlichkeit übergeben. Hat die Sammlung
gleich mehr künstlerisches als geometrisches Interesse, so darf doch
vielleicht bemerkt werden, dass in ihr auch Zeichnungen von Stern-
polyedern vorkommen, den ersten, welche nachgewiesen worden sind.
Eine ganz andere Persönlichkeit als diejenigen, welchen wir die
letzten Seiten gewidmet haben, war Franciscus Vieta^), der grösste
französische Mathematiker des ganzen XVI. Jahrhunderts. Fran^ois
Viete Seigneur de la Bigotiere ist 1540 in Fontenay-le-Comte
in Poitou geboren, 1603 in Paris gestorben. Er gehörte einer katho-
lischen Familie an und starb als Katholik. Da er unzweifelhaft eine
Reihe von Jahren hindurch zu den Hugenotten gehört hat, so muss
eine zweimalige Glaubensänderung bei ihm angenommen werden.
Vieta widmete sich der Rechtsgelehrsamkeit und begann nach in
Poitiers vollendetem Studium seine Laufbahn als Rechtsanwalt in
seiner Vaterstadt, eine Stellung, welche er jedoch 1567 freiwillig
wieder aufgab. Als er später Parlamentsrath in Rennes geworden
war, vertrieben ihn die aus Religionszwistigkeiten entstandenen Un-
ruhen, und Herzog von Rohan, der bekannte Führer der Hugenotten,
nahm Vieta unter seinen persönlichen Schutz. Auf seine Empfehlung
hin wurde Vieta 1589 Maitre des requetes, Berichterstatter über Bitt-
schriften. Nachdem Heinrich von Navarra als König Heinrich IV.
den Thron bestiegen hatte, wurde Vieta 1589 Parlamentsrath in
Tours, später Mitglied des königlichen geheimen Raths. Vieta's Tod
wird von dem Herausgeber seines Nachlasses als ein plötzlicher be-
zeichnet, praecix)iti et immaturo autoris fato ^), Näheres ist aber nicht
*) Doppelmayr S. 160 und 205. — Kästner II, 19—24. — Günther,
Vermischte Untersuchungen zur Geschichte der mathematischen Wissenschaften
S. 35—36. — Allgemeine Deutsche Biographie XIII, 691—692. Artikel von
R. Bergau. *) Kästner III, 37 — 38 und 162 — 175. — Notwelle Biographie
universelle (Paris 1866) XLVI, 135—137. Die 1646 veranstaltete Ausgabe von
Vieta's Werken citiren wir als Vieta mit nachfolgender Seitenzahl. ^) Vieta
pag. 83.
Fortsetzung der Geometrie u. Mechanik. Cyclometrie u. Trigonometrie. 583
bekannt. Von Vieta's amtlicher Thätigkeit wird nur eine verdienst-
liche Leistung berichtet: in Tours sei es ihm gelungen, den Schlüssel
zn einer aus mehr als 500 Zeichen bestehenden Geheimschrift zu
ermitteln, deren die mit Frankreich auf feindlichem Fusse stehende
spanische Regierung sich bediente, wodurch alle aufgefangenen De-
peschen plötzlich leicht verständhch wurden. Schriftsteller war Vieta
nur auf mathematischem Gebiete und zwar in äus.serst fruchtbarer
Weise. Er liess seit 1571, besonders aber seit 1591, zahlreiche Ab-
handlungen und Bücher auf eigene Kosten drucken und verschickte
sie an Fachgenossen aller Länder. Dabei kamen ihm seine günstigen
Vermögensverhältnisse zu statten. In dieser Beziehung wird erzählt,
es hätten sich 20000 Thaler in klingender Münze neben seinem Sterbe-
bette vorgefunden. Für den guten Gebrauch, welchen er von seinen
Geldmitteln zu machen wusste, und nicht minder für die Milde seines
Charakters zeugt die Thatsache, dass er zwischen 1600 und 1001
einen wissenschaftlichen Gegner, Adriaen van Roomen, einen Monat
lang als Gast bei sich beherbergte und ihm alsdann die Rückreise
bezahlte^). Vieta's Schriften wurden gemäss der erwähnten Art ihrer
Verbreitung rasch bekannt, gingen aber auch rasch verloren, und^so
war bereits 1646 Franciscus van Schooten, der eine Gesammt-
ausgabe der Vieta'schen Abhandlungen veranstaltete, nicht mehr im
Stande, sie sämmtlich beizubringen. Wir werden sehen, dass muth-
masslich wenigstens einige wesentliche Verluste zu beklagen sind.
Dazu gehört bereits der Canon mathematicus von 1579. Es war ein
Tabellenwerk ^), welches die Sinus, Tangenten und Secanten aufein-
anderfolgender Winkel, noch verschiedene andere Tafeln und eine
ebene und sjihärische Trigonometrie enthielt. Zahllose Druckfehler
entstellten das Werk, und deshalb zog Vietä alle Exemplare, deren
er habhaft werden konnte, zurück und vernichtete sie. In Folge dessen
gehört Vieta's Canon von 1579 zu den grössten Seltenheiten'^), und
noch weniger bekannt ist ein Abdruck, welcher 1609, also nach
Vieta's Tode, veranstaltet wurde'^). In dem Canon findet sich eine
entschiedene Absage an die Sexagesimalbrüche zu Gunsten der Deci-
malbrüche. Letztere sind meistens durch kleinere Typen von den
ganzen Zahlen unterschieden, zuletzt ausser durch kleinere Typen
^) So berichtet der franzö.sische Geschichtsschreiber De Thou im 129. Buche
seiner Geschichte, aus welchem ein Auszug der Gesammtausgabe von Vieta's
Werken vorgedruckt ist. *) Montucla I, 610—611. ^) Ein Exemplar findet
sich in der Landesbibliothek zu Kassel. Vergl. Hunrath in Zeitschr. Math.
Phys. XXXVni, Histor.-literar. Abthl. S. 25. ■ *) Ein Exemplar findet sich in
der königlichen Bibliothek zu Stockholm. Vergl. G. Eneström in der Biblioth.
mathem. 1892 S. 92.
584 68. Kapitel.
noch durch einen sie von den ganzen Zahlen trennenden senkrechten
Strich, den Vorgänger des später eingeführten Pünktchens^). Die
Gesammtausgabe von 1646 enthält die in ihr gesammelten Schriften
nicht in der Zeitfolge ihres Erscheinens geordnet, auch nicht inner-
halb der sachlich zusammengehörenden Abhandlungen ist diese Zeit-
folge genau eingehalten, und ebensowenig unterstützen Datirungen
die Uebersicht; man ist vielmehr genöthigt, aus anderen bibliogra-
phischen Schriften die Angaben zu entnehmen, wann die einzelnen
Stücke erstmalig gedruckt worden sind-).
Zunächst haben wir es mit Vieta als Geometer zu thun und
haben desshalb mit zwei Abhandlungen zu beginnen, welche 1593
zuerst im Drucke erschienen: Effedionum geometricarum canonica
recensio^) und Supplementum Geometriae^). Die erstere Schrift ist
das, was man heute algebraische Geometrie zu nennen pflegt,
d. h. eine Zusammenstellung derjenigen mit Zirkel und Lineal aus-
führbaren Constructionen, welche dazu dienen, gewisse Rechnungs-
operationen, z. B. Auffindung des geometrischen Mittels zwischen
zwei gegebenen Werthen, Auffindung des vierten Gliedes einer Pro-
portion, von welcher drei Glieder bekannt sind u. s. w., durch Zeich-
nung auszuführen. Das war freilich keineswegs neu. Fast jede der
in den Effectiones geometricae beschriebenen Constructionen ist bereits
in den Euklidischen Elementen gelehrt oder stützt sich unmittelbar
auf dort Gelehrtes, und wenn auf ganz neuerdings Veröffentlichtes
Rücksicht genommen werden will, so hat Benedetti in seinen Spe-
culationes diversae von 1585 (S. 567) Aehnliches behandelt. Aber
neu war die Zusammenstellung dieser Aufgaben, ihre Vereinigung
in der bestimmten Absicht, rechnerisch erhaltene Ausdrücke geome-
trisch zu ermitteln, und darin lag ein bemerkenswerther Fortschritt.
Zirkel und Lineal genügen aber entfernt nicht, alle Aufgaben zu
lösen. Sie reichen schon bei solchen nicht aus, die wir kubische
Aufgaben nennen, weil sie in Gleichungsgestalt vorgelegt zum dritten
Grade sich erheben. Dazu kann man sich dann verschiedener Curven
bedienen, z. B. der nikomedischen Conchoide, welche die Aufgabe
löst, von einem gegebenen Punkte aus eine Gerade so zu ziehen, dass
deren zwischen zwei gegebenen Linien liegendes Stück eine gegebene
Länge besitze; auch Archimed zählte die Ausführung dieses Ver-
langens zu den erfüllbaren Forderungen^). Mit Constructionen solcher
1) Hunrath 1. c. S. 26. ^) Wesentliche Dienste leistet z. B. J. G. Th.
Graesse, Tresor de Iwres rares et pre'cieux ou Nouveau Dictionnaire Bibliogra-
phique. 3) Vieta pag. 229—239. ^) Ebenda pag. 240—257. ") Ebenda pag. 240:
Et opus nie videtwr absolvisse Nicomedes siia conchoide .... Postidatum autem
omnino admisit Ärchimedes.
Fig. 119.
Fortsetzung der Geometrie u. Mechanik. Cyclometrie u. Trigonometrie. 585
Art hat es das Supplementum Geomefriae zu thun. Iin 9. Satze des-
selben ist z. B. die Dreitheilimg eines Winkels in der Weise voll-
zogen, dass man (Figur 119) den zu
theilenden Winkel DBE als Centri-
winkel eines Kreises zeichnet, den
einen Schenkel DB bis zum zweiten
Durchschnitte C mit dem Kreise und
darüber hinaus verlängert und alsdann
vom Endpunkte E des anderen Schen-
kels nach dem verlängerten ersten
Schenkel DB eine Gerade EF zieht,
deren jenseits des Kreises gelegenes
Stück GF dem Kreishalbmesser BE gleich sei. Der Winkel bei F
ist alsdann ein Drittel des zu theilenden Winkels. Vieta's Construc-
tion ist nicht die des Nikomedes (Bd. I, S. 337), sondern diejenige des
Archimed (Bd. I, S. 284). Nun ist aber nicht überflüssig in Erinne-
rung zu bringen, dass die archimedische Construction in den soge-
nannten Wahlsätzen erhalten ist, die nikomedische bei Pappus. Die
Sammlungen des Pappus waren seit 1588 durch Commandinus her-
ausgegeben, und Vieta hat sie, wie aus vielfachen Uebereinstimmungen
ausser Zweifel ist, eingehend studirt. Die Wahlsätze Archimed's da-
gegen wurden aus dem Arabischen erstmalig 1659 durch Foster be-
kannt^). Daraus geht hervor, dass die Dreitheilung des Winkels,
welche Vieta lehrte, kein Anlehen bei einem alten Schriftsteller, son-
dern selbständige Nacherfindung war. Die ganze Bedeutung des
Supplementum Geometriae enthüllt aber der IG. und besonders der
25. und letzte Satz, der allgemeine Folgesatz"), consectarium generale,
Vieta's, dass jede kubische oder biquadratische Aufgabe,
wenn sonst nicht lösbar, ihre Lösung dadurch finde, dass
man sie entweder auf eine Einschiebung zweier mittleren
Proportionalen oder auf eine Winkeldreitheilung zurück-
führe. Für die biquadratischen Aufgaben gelte diese Behauptung,
weil biquadratische Gleichungen, wie in der Abhandlung De aequa-
tiomim recognitione gezeigt sei, immer auf kubische sich zurückführen
lassen. Zweierlei können wir diesem Ausspruche nebenher entnehmen.
Erstens geht aus ihm hervor, dass die Recognitio aequationum, wenn
sie auch erstmalig 1615 durch Anderson dem Drucke übergeben
wurde, doch 1593 bereits der Hauptsache nach fertig gestellt war.
Zweitens kann man den Ausdruck omnia Problemata alioqui non
solubiUa, nachdem die Auflösung kubischer Gleichungen durch
^) Archimedes (ed. Heiberg) II, 428. ^) Vieta pag. 257.
586 68. Kapitel.
eiu algebraisch allgemeines Verfahren einmal bekannt war, billiger-
weise nicht anders verstehen, als dass Vieta sich vollständig klar
darüber war, dass die geometrische Auflösung den grossen Vorzug
vor der algebraischen besass, dass für sie die Schwierigkeit von unter
dem Kubikwurzelzeichen auftretenden imaginären Quadratwurzeln nicht
vorhanden war.
Wieder im Jahre 1593 erschien Variorum de rchns mathematicis
responsorum liher VIII ^), ein einzelnes Buch aus einer Sammlung,
welche leider nicht vollständiger bekannt geworden ist. In dem allein
veröffentlichten achten Buche ist auch der Streit über den Contin-
genzwinkel Gegenstand der Betrachtung^). Vieta stellt sich ganz
und voll auf den Standpunkt Peletier's, der Contingenzwinkel sei kein
Winkel, aber die Beweisführung ist neu. Der Kreis, sagt Vieta, wird
als eine ebene Figur von unendlich vielen Seiten und Winkeln be-
trachtet; eine gerade Linie aber, welche eine Gerade berührt, reda
rectam contingms, wird, von wie unbedeutender Länge sie sein mag,
mit jener Geraden zusammenfallen, coincidit in eandem lineam rectam,
und bildet keinen Winkel, nee cmgidum facit. Nirgend war noch so
deutlich ausgesprochen worden, was eigentlich unter Berührung zu
verstehen sei. Des Wortes Contingenzwinkel oder eines ähnlich
klingenden bedient sich übrigens Vieta nicht. Er übersetzt das
griechische Tce^axonÖYig (Bd. I, S. 250) mit cormcidaris. Das ist über-
haupt eine Eigenthümlichkeit Vieta's, durch welche seine Schriften
meistens so schwer zu lesen sind, dass er es liebte, mit Neubildungen
um sich zu werfen, in deren Auswahl er meistens so wenig glücklich
griff, dass seine Ausdrücke kaum je Bürgerrecht erlangten. Vieta
besass durchweg die Neigung, seine Entdeckungen in thunlich dunkelste
Sprache zu kleiden, vielleicht mit der Absicht, in deren Alleinbesitz
zu bleiben, während andererseits durch den Druck sein Erstlingsrecht
gewahrt war.
Dem Jahre 1596 entstammt der Pseudomesolahum et alia quae-
dam adiuncta capitida^). Es war eine Streitschrift gegen einen in
ihr nicht mit Namen genannten Verfasser, den aber jeder zeitgenös-
sische Leser sofort als Josef Scaliger erkennen musste. Dessen
Werk von 1594, die in Leyden gedruckten Cyclometrica elementa, nebst
den vielen Widerlegungen, welche es hervorrief, werden noch in
diesem Kapitel zur Rede kommen. Vieta's Pseudomesolahum erörtert
die Möglichkeit einer Würfelverdoppelung, sofern andere Aufgaben
als bereits gelöst vorausgesetzt werden, aber freilich sind das selbst
1) Vieta pag. 347— 435. ^) Ebenda pag. 386. ^) Ebenda pag. 258— 285.
Für die Datirung vergl. C h a s 1 e s , AperQi(> hist. pag. 443 Note 3 (deutsch
S. 497 Note 126).
Fortsetzung der Geometrie u. Mechanik. Cyclometrie u. Trigonometrie. 587
Aufgaben, deren Bewältigung andere Mittel als die ausscUiessliche
Benutzung von Zirkel und Lineal erfordert.
Die Zusätze, adinnda capihäa, betreffen zunächst die Aufgabe, aus
vier Strecken, von denen je drei eine grössere Summe als die vierte
haben, ein Sehnenviereck herzustellen. Die schon von ßegiomon-
tanus ins Auge gefasste Aufgabe hatte jetzt zeitgemässes Interesse.
Benedetti und Jacob waren Vieta vorausgegangen, ein anderer
deutscher Geometer, den wir gleich nennen werden, folgte, auch
Scaliger, und das gab offenbar Vieta Veranlassung zum Nachdenken
über die Aufgabe, hatte eine Behandlung derselben vorgeschlagen,
die wie gewöhnlich falsch war. Seien a, h, c, ä die vier zur Bildung
eines Sehnenvierecks geeigneten und gegebenen Strecken. Nun seien
]/a^ -|- W und l/c^4- d^ die Hypotenusen, welche a, h beziehungsweise
c, d zu einem rechtwinkligen Dreieck ergänzen; ihr arithmetisches
Mittel — "j/a^ -f- W -\- -^Vc^ -f- d^ werde der Durchmesser des Umkreises
des verlangten Sehnenvierecks sein. Die Widerlegung Scaliger's war
für Vieta leicht. In denselben Umkreis, sagte er, müsse das Sehnen-
viereck wie in der Reihenfolge a, h, c, d der Seiten, so auch in
deren Reihenfolge a, c, h, d sich einzeichnen lassen, aus welcher für
den Durchmesser des Umkreises nach Scaliger's Vorschrift
-:!Y«' H- c' + IVh^ + d^
sich ei-gebe 5 es würde also
]/«; + h- + ]/ 6- + d^ = Ya- + c- + yp + f?2
sein müssen, und das ist nicht wahr. Bei « == 15, 6 = 20, t = 7,
d=24: ist
y«2 _|_ ^2 _^ -|/c2 _|_ ^p _ -j/225 + 400 + y49 + 576 = 25 -f 25 = 50
und
Ya' + c^ + Yb' -\-d' = 1/225 + 49 + l/400 + 576 < 17 + 32 < 50.
Vieta bleibt bei dieser Widerlegung nicht stehen, sondern zeigt nun
seinerseits, wie unter Anwendung von Zirkel und Lineal die Aufgabe
der Lösung fähig sei^), wobei er vorzugsweise den Fall von vier
unter einander ungleichen Strecken als den einzigen, der wirkliche
Schwierigkeiten macht, behandelt (Figur 120, folg. S.). Weil im Seh-
nenvierecke gegenüberliegende Winkel sich zu zwei Rechten ergänzen,
muss -^ ÄBE= 180'' — ÄDC=CDE sein; ferner ist -^ AEB
^) Vieta pag. 278.
588
68. Kapitel.
= CED, also AäBEc\jCDE, also EÄ.EB: ÄB = EC.EDiCD.
Mit Hilfe dieser Proportion kann man jede Seite des Dreiecks CDE
berechnen, also auch die Höhe CK und den Abschnitt EK. Ferner ist
AECKr^EDL,
wenn DL senkrecht zu BC gezogen ist. Die Aehnlichkeit dieser
Dreiecke gestattet BL und CL unmittelbar zu finden, mittelbar auch
BL. Dann liefern BL und BL die Diagonale BB, und diese ge-
stattet mit den vier gegebenen Strecken, das A^iereck AB CD wirk-
lich zu zeichnen. Dessen Umkreis ist zugleich Umkreis des in allen
rig. 120.
Fig
seinen Seiten gegebenen Dreiecks ABD, und den Durchmesser des
Umkreises eines Dreiecks aus dessen Seiten zu finden, ist bekannt.
Ein zweiter Zusatz zu dem Pseudomesolabum ^) lehrt die näherungs-
weise Auffindung der Seiten der regelmässigen Fünfecke, Siebenecke,
Neunecke, die einem gegebenen Kreise einbeschrieben sind (Figur 121).
In dem gegebenen Kreise ist DB die Vierecksseite, DE die Sechs-
ecksseite. Letztere wird zum Durchschnitte G mit dem verlängerten
Durchmesser CB ausgezogen, dann wird BG in 7 halbirt und DI ge-
zogen, deren Stück DH der Ungleichung DE < DH < DB genügt
und nahezu den fünften Theil der Kreis-
peripherie bespannt. In ähnlicher Weise
wie 5 zwischen 6 und 4, liegt 7 zwi-
schen 8 und 6, liegt 9 zwischen 10
und 8. Das Sehnensiebeneck wird dem-
nach gefunden, indem man (Figur 122)
von der Spitze des senkrechten Kreis-
durchmessers aus die Seiten des Seh-
nensechsecks und des Sehnenachtecks zeichnet und bis zum Durch-
schnitte mit dem wagrechten Durchmesser verlängert. Die durch jene
^) Vieta pag. 283—285.
Fortsetzung der Geometrie u. Mechanik. Cyclometrie u. Trio-onometrie. 589
Durchschnittspunkte begrenzte Strecke wird halbirt und der Hal-
birungspunkt wieder mit der Spitze des senkrechten Durchmessers
vereinigt, so entsteht eine Sehne über nahezu dem Siebentel der
Kreisperipherie. Die Zeichnung des Neunecks mit Hilfe der Acht-
ecks- und Zehnecksseite ergiebt sich darnach von selbst. Vieta hat
das volle Bewusstsein der nur näherungsweisen Richtigkeit dieser
Zeichnungen in dem Maasse, dass er am Schlüsse durch Rechnung
nachweist, wie gross der dabei begangene Fehler ist.
Ein deutscher Geometer, sagten wir, habe nach Vieta die Auf-
gabe vom Sehnenvierecke behandelt. Johannes Richter (1537 bis
1616), fast ausschliesslich unter dem wissenschaftlichen Namen Prä-
torius^) bekannt, war Verfertiger mathematischer Instrumente in
Nürnberg, dann von 1571 ab während fünf Jahren Professor der
Mathematik in Wittenberg, worauf er in gleicher Eigenschaft nach
der nürnbergischen Universität Altdorf übersiedelte. Er erfand etwa
im Jahre 1590 den Mess tisch, welcher nach ihm auch wohl Men-
sula Praetoriana genannt worden ist. Dem Jahre 1598 entstammt
eine eigene Schrift über das Sehnenviereck ^): Prohlema, quod jubet ex
quatuor lineis rectis datis quadrilatermn fieri, quod sit in circuh, aliquot
modis explicatum. Prätorius beginnt mit einem geschichtlichen üeber-
blicke. Die Aufgabe sei eine bereits alte, und die Fragen, welche
man sich vorgelegt habe, seien hauptsächlich die nach dem Durch-
messer des Umkreises und nach dem Flächeninhalte des Vierecks.
Regiomontanus habe mit der Aufgabe sich beschäftigt, Simon Jacob
habe die Diagonalen des Vierecks und den Kreisdurchmesser berechnet.
Vieta's Auflösung der Aufgabe wird alsdann erörtert, und die Bemer-
kung ist beigefügt, es gebe noch neuere Auflösungen, welche er
(Prätorius) aber nicht kenne. Endlich geht Prätorius dazu über, die
Ausdrücke für die Diagonalen zu bestimmen und zu zeigen, wie als-
dann der Durchmesser des Umkreises berechnet werde. Sein Bestreben
geht dahin, alle sieben auftretenden Maasszahlen rational werden zu
lassen, und dieses gelingt ihm in dreifacher Möglichkeit: erstens durch
die Seiten 25, 39, 52, 60; zweitens durch 33, 39, 52, 56; drittens
durch 16, 25, 33, 60, welche letzteren Zahlen Jacob schon ^angegeben
hatte. Prätorius hat auch 1599 ein in der Münchner Bibliothek auf-
bewahrtes Manuscript niedergeschrieben, welches Bemerkens werth es
enthält. In ihm findet sich eine angenäherte Würfelverdoppelung,
welche auf der Gleichsetzung von y 2 mit sec 37^ 30' beruht, und bei
welcher angegeben ist, der in der Zeichnung benutzte Winkel sei
') Allgemeine deutsche Biographie XXVI, 519 — 520. Artikel von Günther.
*) Chasles, Apergu hist. 444—445 (deutsch 498—499).
ö90 68. Kapitel.
kaum um 2' unrichtig. Da |/2 = 1,2599210, sec 37« 30' = 1,2004724,
sec 37" 28' = 1,2599101, so erkennt man, wie genau Prätorius ge-
rechnet hat^).
Wir kehren nach dieser Einschaltung zu Yieta's geometrischen
Schriften zurück, deren wichtigste, der ApoUonius Gallus^) von 1600,
noch aussteht. Adriaen van Roomen hatte 1593 öffentlich allen
Mathematikern eine Aufgabe gestellt, auf welche wir noch zu reden
kommen. Vieta löste dieselbe und Hess seine gegen den Urheber der
Aufgabe einigermassen höhnisch gefasste Auflösung drucken. Zugleich
stellte er die Gegenaufgabe, die verlorene Schrift des ApoUonius von
Pergä von den Berührungen, tc^qI STtacpäv, so weit wiederherzustellen,
dass man einen Kreis zeichne, der drei gegebene Kreise berühre;
bringe Belgien keinen ApoUonius hervor, so werde ein gallischer auf-
treten. Van Roomen, ein geborener Belgier, gab nach nicht langer
Zeit eine Auflösung mit Hilfe einer Hyperbel. Darauf erschien der
schon genannte ApoUonius Gallus. Eine Auflösung mit Hilfe der
Hyperbel sei nicht verlangt worden; eine solche sei nicht eigentlich
geometrisch; vielmehr müsse sie, um diesen Namen zu verdienen, sich
auf die Anwendung von Zirkel und Lineal beschränken, und eine
derartige Auflösung gab nun Vieta in der That. Sie beruht auf der
Kenntniss der beiden Aehnlichkeitspunkte zweier Kreise^), welche
Vieta in Lemmeu zum 8. Probleme als solche Punkte auf der Central-
linie zweier Kreise, m jungente ipsorum centra, definirt, welche die
Eigenschaft besitzen, dass jede durch sie hindurchgehende Secante
der beiden Ki-eise ähnliche Kreisabschnitte beider hervorbringt. Wahr-
scheinlich gelangte Vieta durch das Studium des 7. Buches von
Pappus zur Entdeckung dieser Punkte, da dort, gerade in den Lemmen
zu den Berührungen des ApoUonius, derselben soweit vorgearbeitet
ist (Bd. I, S. 423), als wenigstens gelehrt wird, dass die Verbinduugs-
gerade der entgegengesetzten Endpunkte paralleler Halbmesser zweier
sich äusserlich berührender Ki-eise durch den Berührungspunkt gehe,
und als auch der äussere Aehnlichkeitspunkt einer Figur entnommen
werden kann. Aber habe Vieta dort auch die Anregung zur Stellung
der Aufgabe, habe er dort einen Gedanken gefunden, der fruchtbar
sich erwies, immerhin ist das bei Pappus Vorhandene durch Vieta
'; Curtze in Zeitschr. Math. Phys. XL, Histor.-literar. Abthlg. S. 11 — 12.
-) Vieta pag. 325 — 346. Mit Wiederherstellungsversuclien der Apollonischen Be-
i-ührungen haben sich beschäftigt: J. Wilh. Camerer, ApoUonii de tactionibus
quae supersunt, 1795. C. G. Haumann, Versuch einer Wiederherstellung der
Bücher des Apöllonius von. Pergä von den Berührungen, 1817. W. L. Christ-
mann, ApoUonius Suevus sive tactionum prohlema nunc demtim restitutum, 1821.
=>) Ebenda pag. 334:— 335.
Fortsetzung der Geometrie u. Mechanik. Cyclometrie u. Trigonometrie. 591
weitaus überholt, so dass ihm mit vollem Rechte die eigentliche
Entdeckung der Aehnlichkeitspunkte zugeschrieben wird. Anhänge
zum Apollonius Gallus beschäftigen sich dann weiter mit der Auf-
lösung mittels Zirkel und Lineal von anderen Aufgaben, welche von
Vieta's Vorgängern immer nur algebraisch behandelt worden waren.
Dreiecke werden gezeichnet, deren Grundlinie und Höhe gegeben ist
und als drittes Stück das Product der beiden anderen Seiten oder
deren Quotient, deren Summe, deren Differenz, oder auch der Winkel
an der Spitze des Dreiecks. Ferner wird ein rechtwinkliges Dreieck
hergestellt, dessen Seiten eine stetige geometrische Proportion bilden.
Bei der letzteren Aufgabe ist ganz beiläufig ausgesprochen, der Kreis-
durchmesser verhalte sich zum Quadranten sehr nahezu, proxime, wie
100000 : 78540, d. h. Vieta setzt hier n = 3,14160. Eigenthümlich
genug erscheint es, dass im Apollonius Gallus Vieta die rein geome-
trischen Auflösungen den algebraisch-geometrischen vorzieht, er, der
wie wir gesehen haben, die algebraische Geometrie als zusammen-
hängendes Ganzes gelehrt hat, der, wie wir noch sehen werden, der
Algebra selbst zu wesentlichsten Fortschritten verhalf
Einen geometrischen Gegenstand haben wir seither nur ganz
gelegentlich und dadurch recht stiefmütterlich in Betracht zu ziehen
gehabt, welcher von nun an aufmerksamere Beachtung in so hohem
Grade verlangt, dass er einen selbständigen Abschnitt geometrischer
Untersuchung bildet: die Cyclometrie oder Ausmessung des
Kreises^).
Zu denen, welche im XVI. Jahrhunderte glaubten, den Kreis
genau in ein Quadrat verwandeln zu können, gehörten Orontius
Finaeus (S. 378), Bouvelles (S. 383). In Nonius (S. 389) und
Buteo (S. 563) nannten wir Widerleger ihrer Irrthümer. Auch
Clavius hätten wir diesen beigesellen dürfen, welcher in seiner
Geometriae practica gegen Finaeus auftrat. Ein neuer der Natur der
Sache nach gleichfalls unglücklicher Verfasser von für genau gehal-
tenen Kreisquadraturen war Simon Duchesne. Man kennt seinen
Geburtso-rt, Döles in Frankreich. Er muss aber frühzeitig nach
Holland gekommen sein, wo sein Name sich in Van der Eycke,
') Hervorragende Untersuchungen über die Geschichte der Cyclometrie bei
Montucla, Histoire des recherches sur la quadrature du cercle. 2^ edition
(Paris 1831). — Vorsterman van Oijen im Bulletino Boncotnpagni I, 141— '156
(Rom 1868). — J. W. L. Glaisher im Messenger of Mathematics, Neiv Series
No. 20 (1872) und 26 (1873). — Bierens de Haan im Bullet. Boneo7np. VH,
90 — 140 (1874) und Bouivstoffen voor de Geschiedenis der wis- en natuurkundige
ivetemchappen in de Nederlanden (1878). — Rudio, Das Problem von der Qua-
dratur des Zirkels (Zürich 1890^
592 68. Kapitel.
lateinisch a Quercu umwaudelte, und wo er seine Muttersprache so
gründlich verlernte, dass seine französisch geschriebenen Bücher
schlechten wörtlichen Uebersetzungen aus dem Holländischen gleichen ^).
Er wohnte 1584 in Delft und lebte noch 1603. Er hat 1583 einen
ersten, 1586 einen zweiten Versuch zur Kreismessung gemacht. Er
wusste, dass Archimed dem Verhältnisse des Kreisumfanges zum Durch-
messer, also derjenigen Zahl, welche seit der Mitte des XVIII. Jahr-
hunderts etwa durch it bezeichnet wird^), zwei Grenzen gesetzt hat,
indem er 3— < ;r < 3^ nachwies, und er erkannte zunächst die Rich-
tigkeit dieser archimedischen Grenzen an. Zwischen ihnen lag auch
69
die erste von Duchesne gegebene Verhältnisszahl n = 3-^ , denn in
Decimalbrüche umgesetzt ist
3^ = 3,14084507 • • , ^~ = 3,14256198 • • , 3y = 3,14285714 • • .
69 ' .
Die Duchesne'sche Zahl 3-—- besitzt überdies die Eigenschaft, ein
(39\ -
^1 ZU sein, "und dadurch ist die Auffindung
des dem Kreise flächengleichen Quadrates wesentlich erleichtert, da
39 .
dessen Seite tt d wird, unter (/ den Kreisdurchmesser verstehend. Die
44 '
Q
von den Aegyptern benutzte Verhältnisszahl führte zu - d als
Quadratseite (Bd. I, S. 57), Inder fanden sie als- d (Bd. I, S. 602),
Franco von Lüttich^) benutzte — fZ. Diese drei Werthe scheinen
die einzigen zu sein, welche neben dem von Duchesne n als quadra-
tisch auftreten lassen. Wahrscheinlich 1585 erschien eine Gegen-
schrift von Ludolph van Ceulen, dessen hervorragende eigene
Leistungen in ein sj^äteres Jahr fallen und uns dort Gelegenheit geben
werden, von ihnen zu reden. Wider diese Gegenschrift wandte sich
Duchesne in einer Veröffentlichung von 1586, welcher im gleichen
Jahre eine abermalige Entgegnung von Ludolph van Ceulen folgte"^).
So viel hatte die Gegenschrift gefruchtet, dass Duchesne nicht bei
seinem ersten Werthe bl
unvollkommneren, durch
^ = ]/]/320 — 8 = 3,1446055 • • • ,
d. h. durch eine Zahl, welche grösser war als die von Archimed auf-
*) Bomcstoffen etc. pag. 100. ^) Eneström in der Bibliotheca matliemaUca
1889, pag. 28. ^) Zeitschr. Math. Phys. XXVII, Supplementheft S. 187.
*) Bomcstoffen etc. pag. 112—113.
Fortsetzung der Geometrie u. Moeliaiiik. Cyclometrie u. Trigonometrie. 593
(Testeilte obere Grenze 3y, iiiul Duchesue bandelte bierbei keineswegs
unbewnsst. Er erklärt vielmehr ruhig: demzufolge komme die richtige
Verhältnisszahl zwischen Durchmesser und Kreisumfang ausserhalb
der archimedischen Grenzen zu liegen und sei grösser als 3y •
Trotz dieser Eigenschaft des neuen Werthes, welche jeden ernst-
liaften Mathematiker auch der damaligen Zeit kopfscheu machen
musste, fand derselbe einen Bewunderer in Kaimarus Ursus^).
Dieser Landmesser aus dem Dithmarschen, welcher durch eigenes
Studium vopi Schweinehirten zum kaiserlichen Mathematiker auf-
gestiegen war, widmete in seinem Fundament um astronomicum von
1588 ein besonderes Blatt Simoni a Queren in-
ventori divini artificn. Die Erfindung selbst wird
folgendermassen geschildert (Fig. 123). Sei AB
ein Kreisdurchmesser und BD Berührungslinie
an den Kreis, femer AD so gezogen, dass das
innerhalb des Kreises fallende Stück AC dem von
der Berührungslinie abgeschnittenen Stücke BD
gleich wird, so ist AC zugleich auch die Länge
des Kreisquadranten. Zieht man die Hilfslinie
BC, so sind die beiden rechtwinkligen Dreiecke
ABB, BGB einander ähnlich, mithin AD : BD ^ BD : CD. Ni
heisse BD = AC = x, CD = y, AB = d, so ist
{x + yy = x' + d% y = y./;^ + d' -
und jene Proportion geht über in
Yx' -\- d'-^ : X = X : (]/;r- -f- fi' — x),
woraus x = j l/]/320 — 8 folgt. Ist nun x wirklich die Länge des
Quadranten oder—-, so erscheint in der That jr = |/]/320 — 8,
aber für jene Gleichsetzung, welche doch erst bewiesen werden müsste,
scheint eine Begründung nicht versucht zu sein.
Vieta gab, wie wir schon gesagt haben, 1593 das 8. Buch der
vermischten Aufgaben heraus, und dort sind der Zahl 7t mehrere An-
näherungen gegeben, welche aber immer nur als Annäherungen be-
zeichnet Vieta's wissenschaftlichen Standpunkt wahren^). Zunächst
erklärt Vieta, er sei den Spuren Archimed's folgend weit über das
von diesem erreichte Ziel hinausgekommen. Er habe nämlich ge-
funden :
1) Kästner I, 632. — Allgem. deutsche Biographie XXVII, 179—180. —
Rud. ¥/olf. Astronomische Mittheilungen Nr. LXVIII. -) Vieta pag. 39'2— 393.
Cantor, Gescliiehte der Mathem. IT. 2. Aufl. 38
51)4
68. Kapitel.
31415926535 31415926537
lOUOOOOOOOO ^^ "^ 10000000000 '
Nächst dieser auf 9 Dezimalstellen genauen Ermittelung schlägt Vieta
folgende vor: das kleinere Stück einer im goldenen Schnitt getheilten
Strecke verhalte sich zur ganzen Strecke wie der Kreisdurchmesser
Peripherie. Dieser Annahme entspricht
18 4- l/l8Ö o 1 <ip<n-'
7C = ^-—^ = 3,141640 <o ....
zu — der
d. h. ein Werth, welcher von dem des Ptolemäns (Bd. I, S. 394) sich
erst von der 5. Decimalstelle an unterscheidet. Eine Konstruktion
desselben ist folgende (Figur 124 j: BC
und DE sind zwei ina Mittelpunkte Ä sich
senkrecht durchkreuzende Durchmesser. Ä D
ist in F halbirt und durch B und F
K die B G bis zum Durchschnitte mit der
Kreislinie gezogen, dann von G aus
die GH\\BE. Man macht F Z = F A,
EI = BZ, zieht IH und mit ihr parallel
EK, so ist AK die angenäherte Länge
Wegen AB=2AF ist BH=2GH, und da
des Kreisquadranten.
GIP = BHHC, so ist auch GH
AH=^d — ^d = Oßd. Ferner
FB = YAB'+AF' = |t^
AI=AE — EI =
Aber AI : AE = AH: AK, mithin
2 HC, BH= 4HC =
BZ
1(3
EI =
Y5)
(|/5
AK
AE AH
AI
3^
10
1(3-1/5)
= 1^^^(3 + 1/5),
und da AK der Kreisquadrant oder
A
dn
sein soll, so wird n
i8 + yl8Ö
4 ' — 10
wie oben. Auch eine Zeichnung des flächen-
gleichen Quadi-ates wird unter Voraussetzung
des gleichen Werthes von tc gelehrt.
Wissenschaftlich weit merkwürdiger ist eine
zweite von Vieta eingeschlagene Gedankenfolge ^),
von welcher er selbst aussagt, sie sei das in
Rechnung umgesetzte Verfahren des Antiphon
(Bd. I, S. 190). Sei (Figur 125) AB = a„ die
') Vieta pag.
Fortsetzung der Geometrie u. Mechanik. Cjclometrie u. Trigonometrie. 595
Seite des regelmässigen Sehnen-w-ecks, dessen Fläche F^ beisse, sei
ferner AG = a^n die Seite des regelmässigen Sehnen- 2 /j-ecks und
Fin dessen Fläche. OC = r ist der Halbmesser, BF ^ a,, ist die
Snpplementarsebne von AB, für welche Vieta des Namens Apotome
sich bediente. Offenbar ist
AABFc\jADO,
mithin BE:AE=OD:OA oder — = ^. Ferner ist
r 2 r
F„:F,n = A OAB:A OAC = OB: 0C=a„:2r.
Genau ebenso beweist sich F^n '• F^n = «2« : 2>-, F^,, : -Fs« = «4» : 2r
u. s. w. Multiplicationen von k solcher aufeinander folgenden Pro-
portionen giebt
Fn : F,,_^ = a„.a2n.-. a^k-i . , : (2^)^- .
Ist n = 4, so ist F^ = 2)- und 2^ •«. = 2*+^^ 2^-i • w = 2^+i, also
F^
2r 2r
Bei unendlich werdendem k fällt -F^^i+o mit der Kreisfläche r^n zu-
sammen und durch leichte Umformung ist
- = _*• — — •••• m lufin.
TT 2r 2r 2)*
Nun ist aber -^ = cos AEB = cos ^ — oder die unendliche Factoren-
2 r 2 n
folge rechter Hand würde sich heute in der Form
90'^ 90" 90"
cos — — • cos — — ■ cos -^ • • •
2 4 8
darstellen. Die Werthe dieser einzelnen Factoren sind aber
V^' y\+\Vh /l+iViTTl/?
id so kommt
wie Vieta gefunden hat. Es war das die erste unendliche Fac-
toren folge, welche aufgestellt worden ist, und ein glücklicher Zu-
fall wollte, dass es eine convergente Factorenfolge war, welche ent-
stand ^).
Eine praktische Folge hatten die vollständig aus dem gewohnten
Gedankenbereiche sich entfernenden Untersuchungen Vieta's nicht. Sie
') Den Beweis der Convergenz hat H. Rudio in der Zeitschr. Math. Phys.
XXXVI, Histor.-liter. Abtheilung S. 1.30—140 geführt.
38*
596 68. Kapitel.
verhinderten nicht einmal, dass ein auf anderen Gebieten hervor-
ragender Gelehrter schon im folgenden Jahre mit neuen Verkehrt-
heiten an die Oeffentlichkeit trat. Joseph Scaliger^) (1540 — 1609),
geboren in Agen in der französischen Provinz Guienne, kam als be-
reits weit und breit berühmter Mann 1593 an die Leidener Hoch-
schule, welcher er bis zu seinem Lebensende angehörte. Sein Opus
de emendatione temporum von 1583 war ein bahnbrechendes Lehr-
buch der Chronologie und erwarb ihm den keineswegs unver-
dienten Namen, der Vater dieser Wissenschaft gewesen zu sein.
Begreiflicherweise sah man daher mit zum voraus hochgespannter
Erwartung seinen Cyclometrica elementa entgegen, welche 1594 bei
einem der ersten damaligen Drucker, Raphelengius (Franz von Rave-
lingen) in Leiden in glänzender Ausstattung erschienen (S. 586), und
welchen noch im gleichen Jahre das Mesolahium sowie ein Appendix
ad cyclometrica nachfolgten. Wie verkehrt Scaliger's Meinungen waren,
zeigt gleich die Thatsache, dass im ersten Buche der Cyclometrica
der Satz ausgesprochen ist, das Quadrat des Kreisumfanges sei das
Zehnfache des Quadrates des Durchmessers {pt = ]/IÖ) , während im
zweiten Buche behauptet wird, die Kreisfläche sei gleich einem Recht-
ecke, dessen Grundlinie die Seite des dem Kreise eingeschriebenen
9 .
gleichseitigen Dreiecks und dessen Höhe ~ des Kreisdurchmessers sei
in = 1/0,72) . Einen Widerspruch sah Scaliger in diesen beiden Be-
hauptungen deshalb nicht, weil er die Wahrheit des archimedischen
Satzes leugnete, die Flächen des Kreises und eines rechtwinkligen
Dreiecks mit Kreisumfang und Halbmesser als Katheten seien gleich.
Ja es kam ihm auch darauf nicht an, herauszurechnen, die Seiten
des regelmässigen Sehnenzwölfecks besässen eine grössere Summe als
der Kreisumfang u. s. w. Ein französischer Schriftsteller über Be-
festigungskunst, Jean Errard de Barleduc^), Ludolph van
Ceulen, Clavius, Van Roomen, Vieta, ein Italiener Pietro An-
tonio Cataldi erhoben ihre Stimmen gegen Scaliger, aber ohne
ihn eines Besseren zu belehren. Sein Appendix giebt zwar einige
Fehler der Cyclometrica zu, aber es seien nur nebensächliche Irrthümer,
während die archimedische Lehre in allen Hauptj)unkten falsch sei.
Vieta hatte sich nicht nur in dem schon von uns genannten Pseudomeso-
labiiim gegen Scaliger ausgesprochen, sondern auch in einer zweiten
Schrift Munimen adversus nova cyclometrica. Aus dieser erwähnen
1) Kästner I, 487—497. — Bouwstoffen etc. pag. 280—314. — Wolf, Ge-
schichte der Astronomie pag. 337. *) Diese Schreibweise entnehmen wir dem in
den Bouwstoffen etc. pag. 293 abgedruckten Titel der Beftitation. Poggen-
dorff I, 672 schreibt Erard.
Fortsetzung der Cioometric u. Mechanik. Cyclometrie u. Trigonometrie. 597
wir nur die Bemerkung, Scaliger's n = ]/lO sei nicht einmal neu,
sondern von Arabern längst in Anwendung gebracht \).
Auch Jacob Christmann ^) (1554—1630), Orientalist und
Astronom in Heidelberg, schrieb 1595 eine vornehmlich gegen Scaliger
gerichtete Tractaüo geometrica de quadratura circuli, welche den Satz
vertheidigte, es sei überhaupt nicht möglich, den Kreis irgend einer
geradlinig begrenzten Figur genau gleich zu setzen, nur eine an-
näherungsweise Quadratur sei ausführbar. An Christmann's Persön-
lichkeit knüpfen sich zwei bemerkenswerthe Dinge, erstens, dass
für ihn in Heidelberg 1609 die erste Professur der arabischen Sprache
gegründet wurde, welche es überhaupt in Europa gab, und zweitens,
dass er eine Zeit lang der Besitzer der Originalhandschrift des Werkes
des Koppernicus über die Weltsysteme war. Eine 1611 von ihm in
Heidelberg zum Druck gegebene Theoria lunac enthält eine Stelle aus
Johannes Werner 's Trigonometrie, in welcher man die erste abend-
ländische Anwendung der Prosthaphaeresis (S. 454) erkannt hat.
Die Zeitfolge führt uns zu einem weiteren Bearbeiter der Kreis-
messung, dessen Namen wir schon einigemal zu nennen hatten:
Adriaen van Roomen^), latinisirt Adrianus llomanus (1561 bis
1615). Er ist in Löwen geboren und hat sich dort, dann in Köln,
zuletzt in Italien medicinischen und mathematischen Studien gewidmet.
Im Jahre 1586 war er bereits verehelicht und wohnte in Berlin, bis
er als Professor an seine heimathliche Hochschule berufen wurde.
Die mitunter auftretende Behauptung, Van Roomen sei an Stelle des
verstorbenen Gamma Frisius berufen worden, beruht auf Irrthum,
da jener 1555, also sechs Jahre vor Van Roomen's Geburt starb. Eben-
sowenig kann aber die Berufung an Stelle des Sohnes Cornelis
Gemma Frisius (1535 — 1577) stattgefunden haben, bei dessen Tode
Van Roomen erst 16 Jahre alt war. In Löwen veröffentlichte er
1593 seine Ideae mathemaücae. Den Inhalt bildeten wesentlich Unter-
suchungen über regelmässige Vielecke und über den Werth ihrer
Seiten in Bruch theilen des Durchmessers des einbeschriebenen, aber
auch desjenigen des umschriebenen Kreises. In dieser Weise fand
er n auf 17 Decimalstellen genau und damit näher, als man
diese Zahl bisher kannte. Auch eine Aufgabe stellte er gleichzeitig
den Mathematikern aller Orten: FroUema Mathematicum omnihus
totius orbis mathematicis ad construendiim propositmn. Das war jene
') Vieta pag. 439. -) Kästner I, 497—498. — Allgem. deutsche Bio-
graphie IV, 222. — Urkundenbuch der Universität Heidelberg (1886) Bd. II, S. 180,
Nr. 1488 und 1489. ») Kästner I, 457— 4C8 und 504—511. — Bouwstoffen etc.
pag. 315—326.
598 68. Kapitel.
Aufgabe, welche Vieta löste und mit der Gegenfrage nach dem drei
gegebene Kreise berührenden Kreise beantwortete (S. 590). Van Roo-
men erledigte sie, wie wir wissen, unter Anwendung von Kegel-
schnitten, was Vieta wieder die Gelegenheit zur Veröifentlichung
seines Äpolloniiis Gallus bot. Van Roomen hatte inzwischen seinen
Aufenthalt verändert. Er war nach Würzburg berufen worden und
1594 etwa dorthin übergesiedelt. Dort gab er jedenfalls 1597 eine
Streitschrift heraus. Sie begann mit der Uebersetzung und Er-
läuterung von Archimed's Kreismessung, dann folgte Äpologia pro
Archlmede gegen Scaliger, den Schluss bildeten Exercitationcs cydicae
gegen Orontius Finaeus und gegen Raimarus ürsus, also eigentlich
gegen Simon Duchesne. In dieser Streitschrift, welche einer von
Ludolph van Ceulen verfassten Schrift ganz ähnlichen Inhaltes ziem-
lich rasch nachfolgte, vielleicht hervorgerufen durch einen hoch-
trabenden Brief Scaliger's ^), der dessen Missachtung Aller, welche ihm
zu widersprechen gewagt hatten, Ausdruck gab. Van Roomen zeigte
dabei, dass Duchesne's n^ = ')/320 — 8 einer der Werthe war, welche
Nicolaus von Cusa beiläufig einmal angegeben, Regiomontanus wider-
legt hatte. Dieselbe Bemerkung war auch von Ludolph van Ceulen
gemacht worden, und sie ist insofern nicht unwichtig, als sie zeigt,
dass man damals unter den niederländischen Kreisberechnern jener
älteren Literatur volle Aufmerksamkeit widmete. Nun folgte IGOO
Vieta's Apollonius Gallus und die im Anschlüsse daran unternommene
Reise nach Frankreich. Der Aufenthalt in Würzburg wurde Van Roo-
men durch den dort eintretenden Tod seiner Gattin verleidet. Er
gab seine Professur ab und beabsichtigte sich in ein Kloster zurück-
zuziehen. Er muss damals nach Löwen zurückgekehrt sein, von wo
er 1606 neuerdings nach Würzburg übersiedelte. Ein 1606 gedrucktes
Speculum astronomicum Van Roomen's nennt den Verfasser auch aus-
drücklich Kanonikus der Johanneskirche in Würzburg. Im Jahre
1610 folgte Van Roomen einer Berufung nach Polen. Nach fünf-
jährigem Aufenthalte daselbst wollte er seiner zerrütteten Gesundheit
durch Gebrauch der Bäder in Spaa wieder aufhelfen. Unterwegs starb
er in Mainz.
Ludolph van Ceulen^) (1540 — 1610) haben wir schon wieder-
holt genannt. Der Name kommt auch in der Form van Keulen und
van Collen vor, vielleicht einen kölnischen Ursprung der Familie
bezeugend. Ludolph ist in Hildesheim geboren, in Leiden gestorben,
wo er die von Prinz Moritz von Oranien gegründete Professur der
■) Kästner I, 506—508. 2) Kästner III, 50— 51. — Bomvstoffen etc.
pag. 123—170. — AUgem. deutsche Biographie IV, 93.
Fortsetzung der Geometrie ii. Mechanik. Cyclouietrie u. Trigonometrie. 599
Kriegsbaukuust inne hatte. Er wurde in der Peterskirche zu Leiden
begraben, woselbst 1840 die inzwischen nicht wieder aufgefundene
Inschrift noch vorhanden war, welche 7t auf 35 Decimalstellen
genau bestimmte, eine alle früheren Berechnungen so weit über-
treifende Annäherung, dass es nicht unverdient erscheint, wenn man
jene Verhältnisszahl häufig die Ludolphische Zahl genannt hat.
Die genaue Berechnung von % bildet den Hauptgegenstand der
Schriften Ludolph's van Ceulen, sowohl der Streitschriften, welche er
gegen Simon Duchesne und gegen Scaliger verfasste, als auch eines
selbständigen Werkes Van den Circld, welches erstmalig 1596 im
Drucke erschien und nochmals 1615 nach dem Tode des Verfassers,
sowie zum dritten Male 1619 in lateinischer Sprache. Die lateinische
Ausgabe rührt von Willebrord Snellius her, die zweite holländische
von der Wittwe Ludolph's van Ceulen, Adriana Symonsz, welche
ihrem Gatten auch schon bei der mühsamen Rechnung geholfen hatte.
Die Berechnung selbst ging den seit Archimed altbekannten Weg,
dass unter Anwendung fortwährender Quadratwurzelausziehungen die
Länge der Seiten eingeschriebener und umschriebener regelmässiger
Vielecke zu der des Kreisdurchmessers in Verhältniss gesetzt wurde,
indem man von dem jeweil betrachteten Vielecke zu dem mit dop-
pelter Seitenzahl überging. Die Tangentenvielecke verfolgte Ludolph
van Ceulen mit dem Sechsecke beginnend bis zu dem mit 192 Ecken,
die Sehnenvielecke wurden berechnet bis zu dem mit 96 Ecken. Li
den gedruckten Werken ist dieser Genauigkeit entsprechend tc erst
auf 20, später auf 32 Decimalstellen bekannt gemacht. Die in der
Grabschrift angegebenen drei weiteren Stellen rühren aber gleichfalls
von Ludolph van Ceulen her, wie durch ein 1621 erschienenes Werk
von Snellius bestätigt wird^). Ludolph van Ceulen hat eine andere
Schrift noch hinterlassen De arithmetische en geometrische Fondamenten.
Diese wurde 1615 in holländischer Sprache gedruckt, später abermals
in einer lateinischen Bearbeitung von Snellius.
Der letzte hier zu erwähnende Schriftsteller ist Adriaen An-
thonisz^) (1527 — 1607), welcher in Metz geboren in den Niederlanden
als Kriegsbaumeister thätig war. Er war in Alcmaer ansässig und
wurde sogar 1573 zum Bürgermeister dieser Stadt ernannt. Von dem
Geburtsorte Metz ist der Beiname Metius abgeleitet, welcher den
beiden Söhnen von Anthonisz, Adriaen und Jacob, geradezu als
Familienname diente. Von diesen beiden Söhnen war Jacob Glas-
^) Bouwstoffen etc. pag. 147 die 32 Decimalstellen Ludolph's van Ceulen;
ebenda pag. 151 die 35 Stellen abgedruckt aus dem Cyclometricus von Wille-
brord Snellius. *) Bouwstoff'en etc. pag. 219 — 253.
600 68. Kapitel.
Schleifer, Adriaen Metius (1571 — 1635) aber Mathematiker. Aus
einer 1625 gedruckten Arithmetica et Geometria nova dieses Adriaen
Metius ist ersichtlich, dass dessen Vater ^) eine Gegenschrift gegen
Duchesne verfasst hat und in dieser zwei Grenzwerthe aufstellte,
15 17
zwischen welchen jr enthalten sein müsse: Stttt < :r < 3.^, • Später
lüfa 120 '-
ging dann Anthonisz einen Schritt weiter, indem er diesen Grenz-
werthen einen Mittelwerth dadurch entnahm, dass er, wie es einst
Chuquet gemacht hatte (S. 352), die Zähler und die Nenner zu
einander addirte:
o 15 + 17 o32 „16 355 Qi)i-noo
^ = Vg-T^ = ^226 = ^ITi = 113 = %141n929 • ■ •,
also 6 richtige Decimalstellen. Die Entstehungsweise des Werthes
von Anthonisz wird man nicht füglich anders als eine zufällige
nennen können; aber da die Ludolphische Annäherung bereits bekannt
war, als Anthonisz die seinige fand, so ist es unglaublich, dass nicht
durch ihn selbst eine Vergleichung sollte angestellt (worden sein,
welche das vortreffliche Uebereiustimmen von v^ nachwies, und welche
dadurch die grossen Vorzüge dieses in verhältnissmässig sehr kleinen
Zahlen ausgedrückten Verhältnisses enthüllte. Jedenfalls hat der Sohn
diese Thatsache hervorgehoben.
Bei allen cyclometrischen Versuchen wirklicher Mathematiker,
die wir aufzuzählen hatten, spielten Wurzelausziehungen ganz regel-
mässig eine wesentliche Rolle. Man wird kaum etwas Auffallendes
darin finden, dass nicht häufiger trigonometrische Functionen dabei
genannt wurden, welche doch die Beziehungen zwischen Vielecks-
seiten und Kreisdurchmesser so bequem erkennen lassen, denn im
Grunde genommen handelt es sich dabei nur um andere Namen für
die gleiche Sache. Die trigonometrischen Functionen selbst entstam-
men Wurzelausziehungen, und dieser Zusammenhang mag äusserlich
darin sich spiegeln, dass wir im Anschlüsse an die Kreismessung jetzt
von der Anfertigung trigonometrischer Tafeln handeln.
Als ein hervorragender Tabellenberechner ist uns schon (S. 474)
Rhäticus bekannt geworden. Wir müssen der unterbrochenen Lebens-
geschichte dieses Gelehrten uns wieder zuwenden, den wir zuletzt
1542 von Wittenberg nach Leipzig übersiedeln sahen. Dort begann
er die Berechnung eines grossartigen Tafel werkes der Sinus, Tan-
genten und Secanten für Winkel, welche um je 10" zunehmen, und
^) Parens mens P. M. Die beiden Buchstaben P. M. sind eine oft ge-
brauchte Abkürzung von piae memoriae. Man bat daraus früher irr-
thümlich einen Peter Metius gemacht. Vergl. Bierens de Haan im Bullet.
Boncomp. VII, 124.
Fortsetzung der Geometrie u. Mechanik. Cyclometrie u. Trigonometrie. 601
unter Benutzung eines Kreishalbmessers 10000000000, d. h. also auf
10 Decimalstellen. Das Wort Sinus vermied Rhäticus dabei, es sei
barbarisch, und er bediente sich statt dessen des Wortes x:)erpendi-
cidiim; für den Sinus complementi sagte er hasis^). Wenn wir von
der Berechnung durch Rhäticus sprechen, so wäre es fast richtiger
gewesen, von einer Berechnung unter seiner Aufsicht zu reden, denn
er benutzte zwölf Jahre lang mehrere Rechner zur Beihilfe, was ihn
nmlki florenomm millia, Tausende von Gulden kostete-). Gegen 1575
meldete sich bei Rhäticus ein gewisser Valentin us Otho, von dem
lange Zeit bekannt war, was er selbst über sich berichtet, dass er in
Wittenberg von des Rhäticus Arbeiten gehört und sich ihm darauf
als Gehilfen angeboten habe. Er nennt sich ParthenopoUtamis , muss
also wohl in Magdeburg geboren sein und zwar um 1550, denn
Rhäticus verglich sein Alter mit dem, in welchem er selbst 25-jährig
zu Koppernikus gereist sei^). Johann Prätorius hat in einem in der
Münchner Bibliothek aufbewahrten Schriftstücke"*) (S. 589) diese Mit-
theilungen ergänzt. Prätorius war es, der 1575 in Wittenberg den
Otho auf Rhäticus hinwies. Er selbst hatte den jungen Mann im
Monat August des erwähnten Jahres dadurch kennen gelernt, dass
dieser ihm zwei Näherungswerthe von :r vorlegte. Einmal sei
^ 4247779609 ^ „ ^ ,, 4247779611
< 2ä < b-
15000000000 ^ ^ 15000000000
(in Decimalen geschrieben 3,14159265365 < Jt < 3,1415926537) und
zweitens sei annähernd n = -— . Der letztere Werth sei ein Mittel-
22 . 377
werth zwischen dem archimedischen ~ und dem ptolemäischen ——
und dadurch aus beiden erhalten, dass Zähler von Zähler und zu-
gleich Nenner von Nenner abgezogen wurde. Prätorius macht die
Zusatzbemerkung, jene erste Angabe habe er später bei Vieta ge-
funden, aus dessen Schule sie vermuthlich stamme. So wahr es ist,
dass Vieta die Zahlen kannte (S. 594), so hat er sie doch erst 1593
in Druck gegeben, und der Nachweis ist nicht gebracht, dass Vieta
schon 20 Jahre früher in deren Besitz war. Was den anderen Werth
-7^ betrifft, so haben wir (S. 600) gesehen, dass Adriaen Anthonisz
ihn durch Addition zweier Zähler und zweier Nenner sich verschaffte,
als er ihn in einer Streitschrift gegen Duchesne veröffentlichte. Du.
^) Kästner I, 601. -) Kästner, Geometrische Abhandlungen I. Samm-
lung S. 576. ^) Frofecto in eadem aetate ad me venis, qua ego ad Copernicum
veni. *) Curtze, Zur Biographie des Rheticus in der Altpreussischen Monats-
schrift XXXI, 491—496.
602 68. Kapitel.
chesne selbst schrieb (S, 592) nicht vor 1583. Die Gegenschrift ist
mithin mindestens zehn Jahre später verfasst, als Valentin Otlio seinen
Besuch bei Prätorius machte, und somit muss Otho als Erfinder jenes
Werthes gelten, womit die Selbständigkeit von Anthonisz in keiner
Weise in Abrede gestellt werden will. Rhäticus nahm Otho's Aner-
bieten an und begann ihn zu unterweisen. Dazu bedurfte er schon
fertig berechneter Theile der Tafeln, welche, es ist nicht gesagt wieso,
in Krakau sich befanden, und Otho wurde abgesandt, sie von dort zu
holen, während Rhäticus einer Einladung auf ein Schloss folgte, wo
er ein neu getünchtes Zimmer beziehen musste und daran erkrankte.
Drei Tage nach Otho's Rückkehr reisten beide nach Kaschau in
Ungarn zu Johannes Ruber, einem hohen Beamten. Dort verschlim-
merte sich der Zustand des Rhäticus von Tag zu Tag, und kaum
eine Woche nach der Ankunft starb Rhäticus in den Armen seines
jungen Freundes, welchen er als Erben seiner Arbeit und der schon
vollendeten Abschnitte derselben eingesetzt hatte; Otho solle die letzte
Hand daran legen und den Druck überwachen. Kaiser Maximilian IL
bestätigte diese Verfügung und sagte zu, für die Kosten aufzukom-
men. Allein 1576 starb der Kaiser, und sein Nachfolger hatte für
derartige Zwecke kein Geld übrig. Ruber deckte einige Zeit die
Kosten, bis Otho zur Wittenberger Professur der Mathematik berufen
wurde und der Kurfürst August von Sachsen sich der Sache an-
nahm. Aber da brachen die kryptocalvinistischen Händel aus, in
deren Folge der Kurfürst seine Hand von der Universität abzog,
und Otho musste wiederholt einen neuen Gönner aufsuchen. Er fand
ihn in Kurfürst Friedrich IV. von der Pfalz, und mit dessen Unter-
stützung wurde das Werk vollendet und 1596 in Neustadt als Opus
Palatinum de Triangulis^) gedruckt. Ausser den Tafeln und der
Lehre von ihrer Berechnung ist auch eine vollständige ebene und
sphärische Trigonometrie darin enthalten, aus welcher letzteren ins-
besondere die Unterscheidung der zweideutigen Fälle hervor-
zuheben ist"). Unter den Formeln, deren Rhäticus zur Berechnung
der Tafeln sich bediente, in welchen, wie naturgemäss, die meisten
Zahlen mittelbar aus anderen wenigen, die unmittelbar ausgerechnet
waren, abgeleitet wurden, hat man
sin na = 2 sin (w — 1) a ■ cos a — sin (n — 2) a ,
cos na = 2 cos (n — 1) a • cos cc — cos {n — 2) a
hervorgehoben^), deren Richtigkeit am Einfachsten aus
0 Die Betjchreibung bei Kästner I, 590—611. ^) Kästner I, 60.3.
3) Rud. Wolf, Handbuch der Astronomie, ihre Geschichte und Literaturl, 170
(Zürich 1890).
Fortsetzung der Geometrie u. Mechanik. Cyclometrie u. Trigonometrie. G03
sm a -f- sin b = 2 sin — ^ cos — ^ —
und
I 7 o « + ö a — b
cos a -\- cos 0 = Zcos — 7, — • cos — r, —
sich ergiebt.
Rhäticus liatte ausser den im Opus Palatinum abgedruckten Tafeln
noch grössere berechnet, bei welchen der Halbmesser zu 1 mit
15 Nullen angenommen war. Die Winkel wuchsen in denselben um
je 10", für den ersten und letzten Grad des Quadranten aber waren
die Winkel gar von Secunde zu Secunde unterschieden, allerdings
nur unter Angabe des Sinus. Diese grossen Tafeln waren, wie Otho
sich erinnerte, vorhanden, aber er wusste nicht mehr wo. Diese Ge-
dächtnissschwäche, der als Grund sein Alter beigefügt wird, während
er 1596 doch noch nicht einmal 50 Jahre zählte, ist einigermassen
auffallend, aber an ihrem Vorhandensein ist nicht zu zweifeln, da
ein eigener Bote nach Wittenberg geschickt wurde, um die, wie Otho
meinte, dort vielleicht von ihm zurückgelassenen Tafeln zu ermitteln.
Natürlich war die Sendung fruchtlos, denn als Otho starb und der
gesammte Nachlass des Rhäticus, den Otho besessen hatte, mit
Einschluss der Originalhandschrift des Werkes des Koppernikus, in
Christmann's Hände kam (S. 597), fand sich darunter jene grosse
Tafel, der sogen, grosse Canon. Dessen Bearbeitung wurde einer für
uns neuen Persönlichkeit anvertraut.
Bartholomäus Pitiscus^) (1501 — 1613), aus Grüneberg in
Schlesien, war Hofprediger des Kurfürsten Friedrich IV. von der Pfalz,
doch waren mathematische Neigungen ihm angeboren, für die er
neben der Theologie manche Zeit verwandte. Als Abraham Scul-
tetus^) (1566 — 1625), gleich Pitiscus in Grüneberg geboren und in
Heidelberg ansässig, wo er zuerst als Professor der Theologie, später
als Hofprediger Friedrich V. wirkte, im Jahre 1595 Sphaericorum
libri tres in Heidelberg erscheinen Hess, gab Pitiscus dazu einen
57 Seiten starken Anhang unter dem Titel Trigonometria, sive de solu-
tione triangulorum tradatus hrevis et perspicuus, dessen acht letzte
Seiten von ebenen Dreiecken handelten. Aus diesem Anhange ent-
stand ein Werk, welches gleichfalls Trigonometria genannt im Jahre
1600 in Augsburg gedruckt wurde. In einem Antiquariatskataloge
finden wir eine ebenfalls 1600 in London gedruckte von einem ge-
wissen Ha ms 011 herrührende englische IJebersetzung angezeigt. Wir
1) Kästner I, 564—565, 581—590, 612—626; II, 743—745. — Allgem.
deutsche Biographie XXVI, 204—205. — N. L. W. A. Gravelaar, Pitiscus Tri-
gonometria in dem Meuw Archief ,voor Wiskunde, 2. Reihe, III. Theil (auch als
Sonderabdruck 1898). *) Poggendorff II, 883.
604 68. Kapitel.
wissen nicht, ob sie nach dem Anhange von 1595 oder schon nach
der Augsburger Ausgabe hergestellt war. Eine abermals erweiterte
Ausgabe erschien 1612 in Frankfurt und ist auf dem Titelblatte als
dritte Ausgabe bezeichnet, wodurch die Abhandlung von 1595 doch
wohl mit Wissen des 1612 noch lebenden Pitiscus zum Range einer
ersten Ausgabe des umfangreichen Werkes heraufrückte. Der Titel
Trigonometrie ist, wie es scheint, von Pitiscus erfunden,
wenigstens lässt er sich früher nicht nachweisen. Dieser Trigono-
metrie sind Tabellen beigegeben, welche die trigonometrischen Linien,
Sinus u. s. w., liefern, und zwar in der Auflage von 1612 mit Deci-
malstellen, welche durch einen Punkt von den übrigen
Stellen getrennt sind, vielleicht in Nachahmung Vieta's (S. 584).
Das eigentliche TabeUenwerk aber, um dessen Vollendung Pitiscus
sich Verdienste erwarb, der grosse Canon des Rhäticus, erschien 1613
unter dem Titel Thesaurus mathematicus. Bei denjenigen Rechnungen,
welche Pitiscus selbst zur Ergänzung der vorhandenen Lücken vor-
nahm, bediente er sich vorzugsweise der Regula falsi, welche
allmälig zu wahren Näherungsmethoden für Auflösung von Zahlen-
gleichungen sich ausgebildet hatte, und mittels deren man die trigo-
nometrische Dreitheilung und Fünftheilung des Bogens vollzog, d. h.
eigentlich Gleichungen dritten und fünften Grades löste. Bei Pitiscus
finden sich fortwährend die Namen Tangente und Secante in Ge-
brauch, doch rühren diese nicht von ihm her. Sie sind etwas älteren
Ursprunges. Ihr erstes Vorkommen ist in der 1583 in Basel ge-
druckten Geometria rotiimU. Deren Verfasser, Thomas Finck')
(1561 — 1656) aus Flensburg, war Mediciner und Mathematiker und
bald in der einen, bald in der anderen Eigenschaft thätig, bald 1587
Leibarzt des Herzogs von Schleswig-Holstein in Gottorp, bald 1591
Professor der Mathematik in Kopenhagen, dann wieder seit 1603
ebenda Professor der Medicin. Noch ein Name entstand um den
Anfang des XVII. Jahrhunderts, der Name Cosinus statt des bei
Pitiscus z. B. noch üblichen Sinus Complementi. Diese Umstellung
(complementi sinus, co, sinus, cosinus) rührt von dem Engländer Ed-
mund Gunter (1581 — 1626) her, von welchem wir später noch zu
reden haben, während wir hier nur im Zusamm.enhange die Männer
nennen wollen, welche verschiedene Namen zuerst benutzten, die dann
rasch sich einbürgerten.
Zu den trigonometrischen Schriftstellern gehört auch der nament-
lich als vorzüglicher Beobachter berühmte Astronom Tycho Brahe
(^1540 — inoi). In einem Hefte^), welches auf der Aussenseite die
*) Allgem. deutsche Biographie VII, 13—14 -) Als Photographotypie
durch H. Studnicka 1886 in Prag herausgegeben.
Fortsetzung der Geometrie u. Mechanik. Cyclometrie u. Trigonometrie. 605
Jahreszahlen 1591 und 1595 trägt, hat er die wichtigsten Sätze der
ebenen und der sphärischen Trigonometrie zusammengestellt.
Ganz anderer Natur waren die Fortschritte, welche die Lehre
von den trigonometrischen Functionen und welche die Trigonometrie
in den Händen Vieta's und Van Roomen's machten. Das 8. Buch
von Vieta's vermischten Aufgaben von 1593 hat (S. 58(3) schon ein-
mal unsere Aufmerksamkeit beansprucht. In ihm ist auf S. 402 der
sogenannte Cosinussatz der ebenen Trigonometrie in der Form
2 ah : (fr -\- h'^ — c^) = sin 90" : sin (90" — C) ausgesprochen. In dem-
selben ist auch eine ziemlich vollständige Sammlung von Aufgaben
der sphärischen Trigonometrie enthalten, z. B. der beiden Aufgaben,
aus den drei Seiten einen Winkel, aus den drei Winkeln eine Seite zu
finden^), mit welchen seit Regiomontan (S. 271) kein Mathematiker
mehr sich beschäftigt hatte, und Vieta giebt die jenen Aufgaben ent-
sprechenden Lösungen seiner Gewohnheit gemäss in fast unverständ-
lichen Worten-), welche aber in die Proportionen
sin rt ■ sin 6 : (cos c ^ cos a • cos h) = 1 : cosC
sin Ä ■ sinB : (cos Ä • cos B ^cosC) = 1 : cos c
haben umgesetzt werden können. Insbesondere aber ist zum ersten
Male das reciproke Dreieck eines sphärischen Dreiecks er-
wähnt, welches entsteht, wenn aus den Eckpunkten des gegebenen
Dreiecks als Mittelpunkten grösste Kreise beschrieben werden, die
alsdann bei ihrem gegenseitigen Durchschneiden eben jenes reciproke
Dreieck bilden^). In demselben Jahre 1593 stellte Van Roomeu, wie wir
wiederholt erzählt haben, eine öffentliche Aufgabe. Es handelte sich
um eine Gleichung 45. Grades, welche gelöst werden sollte. Vieta
war im Stande, schon 1594 die richtige Auflösung im Drucke erschei-
nen zu lassen. Besponsnm ad prohlema qiiod onmibus mathemaücis
toi'ms orbis construcndum lyroitosuit Adrianus Bomanus'^) nannte Vieta
seine Abhandlung. Es handelte sich um Folgendes, wenn wir durch
Anwendung unserer heutigen Bezeichnung den Gedankengang leichter
verständlich machen, als er es in der Sprache Vieta's ist. Gegeben
war also eine Gleichung 45. Grades, in welcher sämmtliche Potenzen
der Unbekannten mit ungeraden Exponenten jeweils abwechselnd mit
positiven und negativen Zahlencoefficienten versehen vorkamen. Man
sollte daraus den Werth der Unbekannten ermitteln. Die Potenzen
^) Vieta pag. 407. *) A. von Braunmühl, Zur Geschichte des sphäri-
schen Polardreiecks in Bihlioth. math. 1898, S. G5— 72. ^) Vieta pag. 418:
Si si(b apicibus singuUs jyropositi tripleuri spJiaerici describantur maximi circuli,
tripleurum ita descriptum tripleuri primum propositi lateribus et angulis est reci-
prociim; vergl. A. von Braunmühl 1. c. ') Vieta pag. .305 — 324.
GOß C8. Kapitel.
der Unbekannten waren nach dem Vorgange Stevin's, wie wir noch
sehen werden, durch die eingeringelten Exponenten dargestellt, also
X durch 0, x^ durch (^, . . . x^^ durch © . Die ganze Gleichung war:
45a:— ?>l^bx^-\-'dbQMx^ — 1138500^;^ + 78113753-3—345120750;"
+ 105306075a;i3 — 232676280a;i5 _|_ 384942375a:i^ — 488494125^:19
+ 483841800.^21 _ 37 8658800 a;^^^ + 23G030652a:2-^ — 117679100a;-''
+ 46955700 a,-^»— 14945040 a:3i + 3764565a;='3— 740259 ä:=^^+ 1 lllöOrr^^
— 12300a;39 + Ubx^^ — 4bx'' + x^'' = B.
Van Roomen hatte hinzugesetzt, dass, wenn
B=y2 + V2 -\-V2 + y2
sei, der Werth sich ergebe
V
2 _ 1/2 + 1/2 + -1/2 + ]/3 ,
sich B= 2 sin 9) und a; = 2sin^ darstellte, oder, nach geometrischer
Aussprache, dass B eine Sehne und x die Sehne des 45. Theiles ihres
Bogens war. Vieta fügte auch, in der Erkenntniss, dass 45 ^3 -3 -5
ist, hinzu, die Aufgabe lasse in drei andere sich spalten, nämlich in
die Auflösung von 3^ — s^ = B mit s = C, dann 3^ — if = C mit
y = B, endlich von bx — bx^ -\- x^ = B mit x = dem gesuchten
Werthe. So weit mag man die Verdienste der beiden Nebenbuhler
um die Erweiterung der Kenntnisse von den trigonometrischen Linien
etwa als gleiche betrachten. Wenn Vieta das scheinbar alle mensch-
liche Kunst Ueberschreitende geleistet hat, dass er den Ursprung der
vorgelegten Gleichung sofort erkannte, so war dieses schlechterdings
nur dadurch möglich, dass er die Bildung der Sehne des w-fachen
Bogens aus der Sehne des einfachen bereits kannte. Genau
das Gleiche müssen wir aber auch für Van Roomen in Anspruch
nehmen. War sein Wissen von den erwähnten Beziehungen nur
irgend geringer als das Vieta's, so wäre es ihm nie gelungen, die
Gleichung aufzustellen, welche er der Oeffentlichkeit übergab, so wäre
30"
es ihm nie eingefallen, für x die Sehne von ^tt = 1° 52' 30" zu setzen,
45 • 30"
um B als die Sehne von — -- — =^ 84*^ 22' 30" zu finden und dann
Ib
rückwärts zu sagen, aus jenem B ergebe sich dieses x.
Nun ging aber Vieta noch einen gewaltigen Schritt über
Van Roomen hinaus. Letzterer war mit Vieta an der Spitze aller
Mathematiker, die mit dem Zusammenhange triofcnometrischer Linien
Fortsetzung der Geometrie u. Mechanik. Cyclometrie u. Trigonometrie. 007
einfacher und vielfacher Bogen sich beschäftigten, aber Vieta war
überdies, was Van Roomen nicht war, der grösste Algebraiker seiner
Zeit. Er wusste, das wird im folgenden Kapitel sich zeigen, von der
Anzahl der Wurzeln einer Gleichung. Wenn also für Van Roomen
die Umkehrung, dass er x aus B abzuleiten verlangte, während er B
aus X hergestellt hatte, lediglich eine solche Bedeutung hatte, wie
wenn man etwa einem geometrischen Satze, den man gefunden hat,
eine Aufgabe entnimmt, zu deren Auflösung er sich eignet, so war
für Vieta die Umkehrung von ganz anderem Inhalte erfüllt. Ausser
dem Werthe von x, welcher zur Auffindung von B geführt hat, kann
es, sagte er sich, noch andere geben, und diese anderen Werthe von
X hat Vieta fast sämmtlich zu finden gewusst, nachdem er mit grosser
Wahrscheinlichkeit der Aufgabe diese neue Fassung gegeben hatte.
p
Denselben Werth — , welchen sing? besitzt, besitzen auch die Sinus-
linien anderer Winkel, nämlich sin (360° -f- 9'); sin (2 • 300° -}- 9) ;
sin (3 • 300° -j- cp) u. s. w. und nicht minder auch sin (180° — 9?),
sin (300° + 180° — cp), sin (2 ■ 300° + 180° — (p) u. s. w. Somit ist
für Y als dem Sinus des 45. Theiles des vorgenannten Bogen s auch
eine viele Möglichkeiten enthaltende Auffindung vorhanden. Dasselbe
kann sein sin J^, sin (8° + ^j , sin M0° + ~^j u. s. w., beziehungs-
weise sin (4° - ^) , sin (12° - ^) , sin (20° — g) u. s. w. Wie weit
konnte, durfte dieses u. s. w. sich erstrecken? Noch immer war man
an die Schranke positiver Gleichuugswurzeln gebunden, noch immer
gab es Sinuslinien nur für Bögen zwischen 0 und 180°. Demzufolge
musste tp < 180°, ^7 < 4° sein, und als weitere Folge konnten nur
die Werthe
als Gleichuugswurzeln gelten oder
«m(4"-^), sin (4° +1-8°-^), ...sin(4° + 22.8°-^),
welche in umgekehrter Reihenfolge genau dieselben Wurzelwerthe
sind, wie vorher. Es gab deren 23. Das ist, was Vieta gefunden
hat, wenn auch weitaus nicht in der scharfen, leicht durchsichtigen
Ausdrucksweise, welche die heutige Sprache seinen Gedanken zu leihen
weiss. Wer es versucht , Vieta's Abhandlung durchzulesen , wird
sicherlich der Ueberzeugung sich anschliessen , dass es ein wenn
auch nur nachträgliches, doch keineswegs geringfügiges Verdienst
608 69. Kapitel.
Van Roomen's bildet^ Vieta's Hesponsum verstanden und gewürdigt
zu haben.
Vieta schrieb über verwandte Untersuchungen, welche, wie wir
zu zeigen gesucht haben, bei Anfertigung des Responsum schon ab-
geschlossen gewesen sein müssen, wenn wir auch nicht wissen, wie
weit sie zu Papier gebracht waren, Theoremata ad angulares sedionefi^).
Erst gegen 1615 hat Anderson, ein Mathematiklehrer in Paris,
diese Sätze mit Beweisen versehen. Von Van Roomen ist noch ein
Canon triangulorum sphacricorum^) von 1609 anzuführen, welcher die
Weitschweifigkeit des Opus Palatinum eindämmend statt 28 Sonder-
fälle der sphärischen Trigonometrie deren nur 6 aner-
kannte. Aehnliches hatte Vieta in seinen vermischten Aufgaben
von 1593 geliefert.
Eine gewisse Berechtigung hat es wohl, wenn wir im Anschlüsse
an die Schriftsteller, welche mit Trigonometrie sich beschäftigten,
ganz im Vorbeigehen bemerken, dass die Niederlande von der zweiten
Hälfte des XVI. Jahrhunderts an auch Wohnsitz von solchen Ge-
lehrten waren, welche die Entwerfung von Landkarten zu ihrer
Aufgabe wählten^). Gerhard Mercator (1512—1594) von Rupel-
monde an der Scheide diene als Vertreter dieser Richtung. Die aus-
führlichere Darstellung seiner Projectionsmethode und dessen, was
seine Schüler aus ihr gemacht haben, gehört allerdings der Geschichte
der Geographie oder der Kartographie an.
69. Kapitel.
Recliftiikuiist und Algebra. .
Wir gehen zur Rechenkunst und zur Algebra über. Die Rechen-
bücher, mit denen wir es in den früheren Abschnitten zu thun hatten,
waren fast durchgängig beiden gewidmet. Sie lehrten das gewöhn-
liche Rechnen oftmals gar in doppelter Art, so dass das Rechnen
auf den Linien und das auf der Feder neben einander hergingen, sie
lehrten auch Gleichungen ersten und zweiten Grades auflösen, sie
enthielten überdies einen rechnend geometrischen Abschnitt. Gegen
Ende der ersten Hälfte des XVI. Jahrhunderts gewann die Algebra
an Ausdehnung. Rudolf und Stifel in Deutschland, Recorde in
England, Cardano und Tartaglia in Italien schrieben Bücher, die
*) Vieta pag. 237— .S04. ') Montucla I, 579. ^) Quetelet pag. 110
-126. — Breuf?ing, Gerhard Mercator, der 'deutsche Geograph (1869).
Reclienkunst und Algebra. 609
fast lediglich der Lehre von den Gleichungen gewidmet waren. Dieser
Umschwung vollzieht sich in der zweiten Hälfte des XVI. Jahrhun-
derts immer mehr. Wohl erschienen noch Rechenbücher, welche
man ebensogut Lehrbücher der gesammten Mathematik nennen könnte,
weil sie neben dem Zahlenrechnen die Lehre von den Gleichungen
und Feldmesserisches in sich schliessen, aber eine Theilung der Ziele
bringt mehr und mehr gesonderte Bearbeitungen hervor. Geometrie
als solche haben wir weiter oben Besprochen und haben dabei zum
Voraus des Simon Jacob als Rechenmeisters gedacht (Ö. 581). Einige
Jahre vor seinem Rechenbuche erschienen 155G zwei allenfalls er-
wähnenswerthe Schriften, ein Hilfsbuch zur Berechnung des Silber-
gehaltes und des Silberwerthes von Johann Marheld^) in deutscher
und ein ganz kurzgefasster Lehrgang des Rechnens mit Sexagesimal-
brüchen nebst Anweisung zur Auflösung quadratischer Gleichungen
von Kaspar Peucer-) (1525 — 1602) in lateinischer Sprache. Das
erstere ist ein mit Tabellen versehenes um nicht zu sagen aus Ta-
bellen bestehendes Buch von einer Art, wie uns vorher noch keins
begegnete. An dem zweiten ist nichts interessant als der Verfasser,
ein Schwiegersohn Melanchthon's, der von 1554 — 1559 eine mathe-
matische Professur in Wittenberg inne hatte und dann zur medicini-
schen Facultät überging. Er musste schwer unter dem Verdachte des
Kryptocalvinismus leiden und brachte zwölf Jahre in harter Gefangen-
schaft auf der Pleissenburg in Leipzig zu. Er hatte vermuthlich
Valentin Otho den Rath ertheilt (S. 602), Wittenberg noch recht-
zeitig zu verlassen und an den Pfälzer Hof nach Heidelberg sich zu
begeben.
Von SimonJacob's Rechenbuch ist uns nur die vervollständigte
Ausgabe von 1565 bekannt. So weit wie der Verfasser eines latei-
nischen Lobliedes, welches der Vorrede zum Neiv und wolgegr'dndt
Rechenhuch unmittelbar folgt, möchten wir freilich nicht gehen. Er
behauptet schlankweg, Koburg sei durch den dort geborenen Jacob
zu gleicher Berühihtheit gelangt, wie die beiden anderen fränkischen
Städte: Königsberg und Karlstadt durch Regiomontanus und Johannes
Schoner und versündigt sich dadurch an Regiomontanus, aber immer-
hin ist Jacob's Rechenbuch besser als viele, vielleicht als die meisten
ähnlichen Werke der gleichen Zeit. Jacob lehrt der Uebung folgend
am Anfange auch das Linienrechnen, aber er ist sich der Umständ-
lichkeit desselben wohl bewusst und weiss ferner, wo es passende
Anwendung findet, wo nicht. Wahr ist's, dass sie m Hatissrech-
1) Kästner I, 131. -) Ebenda I, 131—132. Allgem. deutsche Biographie
XXV, 552 — 556, Artikel von Wagenmann.
Cantoe, Geschichte der Mathem. n. 2. Aufl. 39
610 69. Kapitel.
nungen, da man viel Siitnmierens , Aussgebens und Eynnemens hedarff,
etivan förderlich erscheinen, aber in Kunstrechnungen, die ein ivenig
eticas tvichtig, zum offtenmal verhinderlich. Nicht sag ich, dass man
auff den Linien dieselben Rechnungen nicht auch machen höndte, son-
dern so viel vortheils ein Fussgänger , der leichtfertig und mit heiner
Last beladen ist, gegen einen, der unter einer schwären Last stecket,
hat, so viel vortlieils hat auch ein Kunstrechner auf oder mit den
Ziphern für einem mit den Linien'^). Damit entschuldigt es Jacob,
dass er nunmehr vom Dividiren ab das Linienrechnen ganz bei Seite
lasse. Er kennt") die Summe der Quadratzahlen in Gestalt der Formel
l'i _^2- -\ h w- = 1^^^ (l + '2 -\ h -^^X' sowie die der
Kubikzahlen l^ + 2^ -\ \- n^ = {1 + 2 ^ \- nf und beruft
sich für den Beweis auf das 8. Buch der Arithmetik des Jordanus,
welche mithin damals in Deutschland noch gelesen wurde. Die Be-
rufung ist hier allerdings nicht glücklich gewählt, oder mindestens
nicht hinreichend begründet, denn im 8. Buche der genannten Arith-
metik kommt weder die Summenformel der Quadratzahlen noch die
der Kubikzahlen vor. Jacob musste desshalb sagen, auf welche Sätze
jener Beweis sich stützen solle. Im 2. Theile ist das Dreieck der
Binomialcoefficienten ^ ) bis zu denen der 11. Potenz nicht in der
Form wie bei Stiefel, dagegen ganz ähnlich wie in Tartaglia's General
Trattato von 1556 abgedruckt mit dem einzigen Unterschiede, dass
bei Tartaglia die Coefficienten bis zu denen der 12. Potenz sich
erstrecken. Jacob beruft sich auf Vorgänger — und icirt diese Tafel
von etlichen also gemacht — wo er die Enstehungsweise
g)+g;.)-(:j;)-
mittheilt. Einige unbestimmte quadratische Aufgaben*) sind so ge-
löst, dass die an bestimmt gegebenen Zahlen gelehrte Vorschrift zu-
gleich als allgemein giltig bezeichnet ist. (— j -f" 1 ^^i ßi^e Zahl,
welche um die gegebene Zahl a vergrössert oder verkleinert zur
Quadratzahl werde; ( .^ j — a werde zur Quadratzahl, wenn
man entweder die gegebene Zahl a addire, oder die gleichfalls ge-
gebene Zahl b subtrahire; ("-|— ) und (-^ — \ seien zwei Quadrat-
zahlen von der gegebenen Differenz d u. s. w. Auf diese wenigen
von uns besonders hervorgehobenen Dinge beschränkt sich keineswegs
das Interesse von Jacob's Rechenbuch. Ungemein viele kaufmänni-
*) New und wolgegründt Rechenbuch fol. 10 Terso. -) Ebenda f'ol. 15
,'erso bis 16 recto. ") Ebenda fol. 104 verso. *) Ebenda fol. Ü39 recto.
Reclienkunst und Algebra. 611
sehe Aufgaben, Gesellsehaftsrechnungen, Mischungsrechnungen, zusam-
mengesetzte Proportionen und dergleichen sind behandelt, wobei die
welsche Praktik nicht zu kurz kommt. Der dritte Theil gehört der
Geometrie an, und von ihm war im 68. Kapitel die Rede.
Rechenmeister, wenn auch nicht alle Jacob ebenbürtig, gab es
damals in Deutschland, wo man hinblickte. Eine Stadt dürfte aber
noch besonders namhaft gemacht werden, in welcher eine voll-
ständige Rechenschule entstanden war: Ulm^). Diese Reichs-
stadt wetteiferte hierin wie in Vielem mit Nürnberg. Die Ulmer
Schule ist begründet durch Conrad Marchtaler, der sich 1545
von Wittenberg, wo er studirte, wo ihm aber die Mittel zum längeren
Verweilen ausgingen, dem Ulmer Rathe zur Errichtung einer Rechen -
schule anbot, ein gern und rasch angenommener Vorschlag. March-
taler's Nachfolger hiess Gallus Spänlein. Dann war Johannes
Kraft 1597 Modist und Rechenmeister. Er verfasste mehrere Lehr-
bücher, die sehr verbreitet waren. Gleichzeitig war auch ein gewisser
David Selzlin Rechenmeister, der Lehrer eines bekannteren Schü-
lers, von dem wir im XV. Abschnitte reden: Johann Faulhaber.
In Frankreich sind Schriften von Pierre ForcadeP) (S. 549)
nennenswerth. Eine 1556 — 1557 erschienene dreibändige AritJimcfique
enthält manches Eigenthümliche. Zahlentheoretische Aufgaben, wie
z.B. die Auflösung von x^ -\- x"^ = y'^ mittels x = 2^ — 1, y^^^ziz^ — 1)
stehen schon im ersten Bande. Ebendort wird die 5. Potenz der Un-
bekannten bald quatriesme guantite, bald cinquiesme produit genannt.
Die Binomialcoefficienten sind im dritten Bande als die Ziffern der
auf einander folgenden Potenzen von 11 erkannt. Das ist sofort er-
sichtlich bei 11^= 11, IP = 121, IV = 1331, 11* = 14641. Bei
der 5. Potenz hilft sich Forcadel dadurch, dass er gewissermassen
zweiziffrige Ziffern einführt und
14 ß 4 1
14 6 4 1
1 5 (10) (10) 5 1
als das Product von 11 • 14641 betrachtet. Eine Arithmetique par
Ics gects von 1558 ist ein Lehrbuch des Linienrechnens.
Das Linienrechnen lehrte auch Jean Trenchant in seinem 1566
in Lyon gedruckten Buche L' arithmetique departie en trois livres.
Ensemble un petit discours des cJianges avec l'art de calculer mix
') Ofterdinger, Beiträge zur Geschichte der Mathematik in Ulm bis zur
Mitte des XVII. Jahrhunderts (Ulm 1867). ^) Fontes in den Memoires de
FAcademie des Sciences, Inscriptions et Belles-lettres de Toulouse, Serie 9,
T. VI (1894), VII (1895), VIU (1896).
39*
Gl 2 Ü9. Kapitel.
jetons^), von dessen Beliebtheit Ausgaben von 1571, 1588, 1G02, 1632
zeugen. Jean Trenchant hat auch Zinstafeln herausgegeben^).
Petrus Ramus mit seinen ScJiolae matliematicae von 1569 ver-
dient hier gleichfalls einen kleinen Platz. Bei den Gesprächen des
Verfassers mit Kaufleuten, welche er bei seinen Spaziergängen be-
suchte (S. 565), lernte er mancherlei unbedeutende Rechenvortheile,
welche er schildert. Wir brauchen ihm darin nicht zu folgen. Das
Einzige, was wir dem Buche entnehmen möchten, ist die lakonische
Art, in welcher das Multiplikationsergebniss: Minus mal Minus giebt
Plus, gerechtfertigt wird: E duahus negatis fit affirmatus, quia mulüpli-
cator non est integer''^), aus zwei Negativen wird ein Positives, weil
der Multiplicator nicht vollständig ist. Als Beispiel dient
(8 — 9) • (8 — 9) = — 72 4- 81 -f 64 — 72 = 1 .
Hier ist uns im Drucke zuerst ein Anklang an das Wort negativ
begegnet, und dem Dialectiker, welcher den Satz kannte, dass zwei
Negationen bejahen , lag die Benutzung gerade dieses Ausdruckes
nahe. Handschriftlich können wir das Wort etwas weiter zurück-
verfolgen.
Eine Handschrift der Göttinger Bibliothek, welche in den Jahren
1545 — 1548 geschrieben ist und einst dem 1574 verstorbenen Mathe-
matiker und Schreibkünstler Stephan BrechteH) gehörte, enthält
eine muthmasslich auf eine viel ältere Quelle zurückweisende Algebra,
die der Namen numcri affirmatui und negativi sich bedient.
Ein Schüler des Ramus war Salignac"), ein zweiter Ursti-
sius^), deutsch Wursteisen (1544 — 1588), von welchen jener 1575,
dieser 1579 ein lateinisches Rechenbuch herausgab, an welchen nichts
bemerkenswerth erscheint, als die grosse Verehrung ihres Lehrers,
welchem übrigens Salignac doch Fehler nachweist.
Eine herzlich unbedeutende Arithmetik und eine Algebra, der
man kein besseres Zeugniss auszustellej] vermag, hat Lazarus
Schoner^), ein Sohn von Andreas und Enkel von Johannes Schoner,
1592 herausgegeben. Als Verfasser ist Petrus Ramus genannt, als eine
eigene Zugabe des Herausgebers ist aber ein Buch über figurirte
Zahlen und ein anderes über das Rechneu mit Sexagesimalbrüchen
bezeichnet^). Unter iigurirten Zahlen versteht Schoner solche, welche
^) B. Boncompagni im BnUetino Boyicompcujni I, 150 Note. ^) Bierens
de Haan, Bouwstoffen etc. II, 186. ^) Scholae mathematicae pag. 2G9.
0 Doppelmayr S. 203. ^) Kästner I, 1.56—139. ^) Ebenda I, 139—143.
') Doppelmayr S. 81 Note g. ") Petri Bami Arithmetiees lihri duo et Algebrae
totidem a Lazaro Schonero emendati et explicati. Eiusdem Schoneri lihri duo:
alter, de Numeris figuratls ; alter de Logist ica sexagenaria (Frankfurt 1592).
Rechenkunst und Algebra. 613
durch Multiplicatioii entstanden sind, die Factorou werilsn Seiten ge-
nannt^). Eine einzige Bemerkung des Buches lohnt die Mühe des
Durchlesens. Schoner beruft sich nämlich einmal auf den 33. Satz
des Algorithmus demonstratus des Jordanus^). Damit ist fest-
gestellt, dass der Enkel dessen, welcher 1543 den Algorithmus demon-
stratus herausgab, die Ueberzeugung besass, jene Schrift stamme von
Jordanus, nnd dass er ohne weiteren Zusatz, gleichsam als seinen
Lesern hiulänglich bekannt, jener Ueberzeugung Worte lieh. Be-
dürfte es äusserer Bestätigung für die gegenwärtige Annahme, wer
den Algorithmus demonstratus verfasste, so wäre sie, scheint es, hier
schwerwiegend gegeben.
Von Tartaglia's General Trattato (S. 517) scheint der erste
Band wiederholt besonders herausgegeben worden zu sein. Eine Aus-
gabe^) führt z. B. den Titel: Tutte l'Opere d'Arithmetica del Famo-
sissimo Nicolo Tartaglia (Venedig 1592 — 1593). Ein ähnlicher, aber
natürlich älterer erste Band wurde vielleicht 1577 in Frankreich
unter dem Namen der Arithmetik des Tartaglia von einem Guillaume
Gosselin'*) ins Französische übersetzt und mit Erläuterungen ver-
sehen. Welcher Art diese sind, mag an einem Beispiele klar werden,
welches überdies sehr an dasjenige erinnert, was wir erst aus den
Scholae mathematicae des Ramus vorführten. Es sei
6 = 8 — 2 = 10 — 4,
also müssen (8 — 2) • (10 — 4) = 36 sein, und es komme nur
heraus, wenn Minus mal Plus Minus und Minus mal Minus Plus
gebe. Ob es ein anderer Gosselin'mit dem Vornamen Pierre war,
der 1577 in Paris ein Werk De arte D/acjiia herausgab, und ob dieses
Werk in seinem Titel eine Abhängigkeit von Cardano verrathen sollte,
wissen wir nicht.
Franciscus Maurolycus (S. 558) hat 1575 in Venedig eine
Arithmetik in zwei Büchern herausgegeben, welche wir wegen eines
darin vorkommenden neuen Untersuchungsgegenstandes nebst zuge-
hörigem Kunstausdrucke erwähnen. Sei p{n) eine w*" Vieleokszahl,
so nennt Maurolycus deren Product in n eine columna, Säule, und
leitet eine ganze Reihe von Sätzen über solche Säulen von Polygonal-
zahlen her'').
Kaum mit solchen minderwerthigen Leistungen vergleichbar,
jedenfalls einen ganz anderen wissenschaftlichen Standpunkt einneh-
^) Figaratus dieitur numerus multipUcatione factus: eiusque factores dicun-
tur latera (pag. 217). ^) pag. -2.34 lin. 16—17. ^) G. Wertheim brieflich.
*) Kästner I, 197—200. — Poggendorff I, 929—930. ^) G. Wertheim
in der Zeitschr. Math. Phys. XLIII, Histor.-literar. Abthlg. S. 42.
614 G»- Kapitel.
mend, sind die arithmetischen Schriften von Simon Stevin. Bereits
15''^4 hat er Zinstafeln dem Drucke übergeben^), welche mit vlä-
mischem Texte in Leiden angefertigt und dem Bürgermeister dieser
Stadt gewidmet waren, wenn auch der Druck in Antwerpen in der
berühmten Plantin'schen Druckerei erfolgte. In der Leidner Werk-
stätte des gleichen Hauses erschien alsdann 1585 ein stärkerer Band,
vier Schriften in französischer Sprache enthaltend^): eine Aritlmietique,
die vier ersten Bücher des Diophaut, eine Practique d'Ärithmetique
und eine Abhandlung, welche den Titel La Disme führte, und welche
laut einer Vorbemerkung ursprünglich vlämisch niedergeschrieben
war. Hier haben wir es mit den beiden letzten Schriften des Bandes
zu thun, da die Ärithmeticßie, eigentlich eine Algebra, erst nachher
zur Rede kommt, die Diophantbearbeitung schon fS. 552) erwähnt
wurde.
Die Practique d'Ärithmetique lehrt alle Rechnungen ausführen,
welche die Regeldetri zur Gnmdlage haben, und die nicht im kauf-
männischen Leben vorkommen. Als Schriftsteller, welche Derartiges
erfolgreich gelehrt haben , nennt Stevin Namen aus verschiedenen
Ländern^), abermals ein Zeugniss dafür, wie völkergemeinsam damals
bereits mathematische Schriften waren. Cardano, Stifel, Tar-
taglia, Gemma Frisius, Cuthbert Tonstall sind die Erwähnten,
und wenn ausserdem Juan Peris de Moya auftritt, so ist das in
den damals noch fast spanischen Niederlanden begreiflich. Ueberdies
hat die Äritmetica practica y cspecnlatira dieses Schriftstellers nur inner-
halb der Zeit von l(j09 bis 1761 dreizehn Auflagen erlebt^). In
einer noch älteren Ausgabe von 1590 findet sich auf fol. 227 die
Ausziehung der Quadratwurzel unter Anwendung der von Chuquet
erfundenen Regel der mittleren Zahlen (S. 352), welche De Moya aus
dem vielverbreiteten Lehrbuche des De la Roche (S. 371 — 374) kennen
gelernt haben dürfte^). Stevin bezog sich auf den früher erschiene-
nen Tratado di matcmäticas (Alcala 1573). In letzterem ist auch über
die Darstellung der Zahlen mittels Fingerbiegung bei den Arabern
gehandelt ^j. De Moya ist, wie wir hier einschaltend erwähnen^), in
der Sierra Morena in St. Stefano geboren und war Canonicus in
Granada. Das Hauptgewicht legt Stevin in der Practique d'Ärithmetique
auf Zinstafeln, welche hier in neuem Abdrucke und mit sachlich,
») Quetelet pag. 147. *-) Ebenda pag. 159 Note 1. ') Stevin I, 181.
■•) G. Vicui a in der Bibliotheca mathematica, 1890, pag. 35. ^) G. Wertheim,
Die Bereclinung der ii-rationalen Quadratwurzeln und die Erfindung der Ketten-
brüche in Zeitschr. Math. Phjs. XLII, Supplementheft S. 150. ^) Bulleimo
Boncompagni I, 312 — 313. '') Vergl. Bibliotheca Hispana nova attctore D. Ni-
coiao Antonio Hispaknsi I. C. (Madrid 1783) I, 757.
Rechenkunst und Algebra. 615
nicht bloss sprachlich verändertem Texte erscheinen'). Es sind, ge-
naner gesagt, Kahattirungstafeln, welche den Baarwerth einer Forde-
rung von 10000000 erkennen lassen, welche erst in 1, 2 bis 33 Jahren
fällig zu Zinseszins auf die Gegenwart zurückzuführen ist. Der Zins-
fuss ist zunächst in ganzen Procenten als 1, 2 bis löproceutig an-
genommen, dann in Stammbrüchen des Kapitals als — , jg bis herab
zu --, wofür die Ausdrücke dienen au denier 15, au denier IG bis
zu au denier 22, d. h. 1 A Zins für 15, 16, ... 22 a Kapital. Wird
umgekehrt nach der Summe gefragt, zu welcher ein Kapital in einer
gegebenen Zeit bei Zinseszins zu einem gegebenen Procentsatze an-
wächst, so soll man mittelbaren Gebrauch von den Tafeln machen.
Ist z. B. vermöge derselben 6005739 der Baarwerth von nach 13 Jahren
fälhgen 10000000 bei 47^, so wächst das Kapital K zu 4% in
13 Jahren zu ^^^ü^-^^rK an. Auch Zeitfragen werden beantwortet 2).
In welcher Zeit Avird 800 zu ^^ Zins zu 2500 V Wir verändern 2500
in 10000000, mithin 800 in 3200000 und suchen diese Zahl in der Tafel
von ~ Zins. Bei 19 Jahren steht dort 3375605, also ist die gesuchte
Zeit länger als 19 Jahre. Den überschüssigen Bruchtheil eines
Jahres soll man folgendermassen suchen. Es fand sich eine um
3375605 — 3200000 = 175605 zu grosse Zahl; 3200000 giebt zu
1 . Ti 3 200000 „. -.--..A- V i 4. 1 1 • 17 175605
p im Jahre — — — Zins; l<obOo /ins entstehen also in 32'QQooo^
2 985 28.
Jahren. Allerdings kleidet Stevin seine Regel etwas anders
ein. Statt den Ueberschuss so zu suchen, wie wir es thaten, verviel-
facht er das ganze 3375605 mit 17 und dividirt dieses Product durch
3 200000, wobei als Quotient' 17^^^ -— erscheint, und von diesem
Quotient müsse man immer die ganze Zahl, hier also 17, weglassen^).
Ist die Frage nach dem Zinsfusse gestellt, mittels dessen etwa 1000
in 7 Jahren zu 2000 geworden sind, so sollen die Tafeln folgendermassen
benutzt werden^). Statt 2000 muss 10000000, also statt 1000 die
Zahl 5000000 gesetzt werden, und nun suche man, in welcher Ta-
belle beim 7. Jahre 5000000 stehe. Bei lOy^ findet sich 5131582,
bei 11% steht 4816585, also ist der Zinsfuss zwischen 10 und 1V%,
etwas näher bei 10 als bei 11.
Nach der Practique d'Arithmetique kommt auf nur sieben Seiten
eine Abhandlung^), welche den vielsagenden Titel führt: La JJisine
^) Stevin I, l'Jl — 197. -) Ebenda I, 199. ^) lesquels 17 on delaissera
ponr ra'gJe generale. ^) Stevin I, 201. ^ Ebenda I, 200—213.
616 69. Kapitel.
enseignant facilement expedier par nonihres oiticrs saus rompuz foiis
comptes se rencontrans uux affaires des Honimes. Ohne Brüche, nur
mittels ganzer Zahlen sollen alle Rechnungen, welche im mensch-
lichen Geschäftsleben vorkommen, ausgeführt werden! Wir wissen
heute, dass dieser Ausspruch wirklich gewagt werden durfte, dass
Decimalbrüche in der That das leisten, was Stevin versprach. Er
war von der grossen Bedeutung des in der Bisme Gelehrten durch
und durch erfüllt. Am Schlüsse macht er es den Regierungen zur
Pflicht, das Ihrige zu thun, um das neue Rechnen zu einem in allen
Fällen unmittelbar anwendbaren zu machen; er verlangt mit dürren
Worten Decimaltheilung der Münzen, der Maasse, der Gewichte.
Möge, fährt er fort, die Einführung der Decimalbrüche vielleicht nicht
so bald in Aussicht stehen, als er es wünsche; das sei sicher, dass
ein künftiges Geschlecht, wenn nur die Menschennatur die gleiche
bleibe, nicht immer einen so grossen Vortheil ausser Acht lassen
werde ^). Er ahnte nicht, dass es noch zwei Jahrhunderte dauern
sollte, bis man anfing, seinen Plan zu verwirklichen, trotzdem mög-
licherweise ein hervorragender Kirchenfürst, Bischof Ernst von
Baiern ^) zu Köln ähnliche Gedanken hegte, zum Mindesten wie
Adrian van Roomen in einer Vorrede von 1600 erzählt hat, alle
Maasse und Gewichte auf eine einzige geometrische Reihe gründen
wollte^). Wir greifen mit diesem Zwischensatze in eine damals weit
entlegene Zukunft vor, wir thun es, um das ganze Gewicht der Stevin-
schen Leistung auf uns wirken zu lassen. Der Gedanke decimaler
Theilung und decimaler Rechnung, könnte man einwerfen, sei nicht
neu gewesen. Gewiss, seit Jahrhunderten hatte das eine Verfahren
zur Auffindung angenäherter Wurzelwerthe, hatte die Einrichtung
von Sinustafeln, in welchen die Länge des Halbmessers durch eine
mit Nullen versehene Einheit dargestellt wurde, darauf vorbereitet.
Aber decimal leicht aussprechbare Längen und sogar die Benutzung
von Brüchen, deren Nenner aus Einheiten mit Nullen bestehen, sind
noch keine Decimalbrüche. Dazu gehört ein Weiteres: die Anwendung
der Stellung zur Bezeichnung des verminderten Werthes der einzelnen
Zahlzeichen, das darauf beruhende Weglassen der Nenner, und will
man daran erinnern, dass auch dieser Gedanke nichts weniger als
neu war, dass er bei der fortgesetzten Sexagesimaltheilung der Winkel-
grade seit Jahrtausenden bereits in Uebung war, so mag Stevin
*) II est certain que si les hommes futurs sont de teile nature comme ont este
les precedens qu'ils ne seront jms iousiours negligens en leiir si grand avantage.
*) Allgemeine Deutsche Biographie VI, 250—257. Artikel von Ennen. ^) Le
Paige, Notes pour servir ä Vhistoire des mathematiques dans l'ancien pays de
Liege in dem Bulletin de l'institut archeologiques Liegeois XXI, 490 — 491.
Rechenkunst und Algebra. 617
vielleicht an diese Anregung gedacht haben-, aber seiner Erfindung
ist dadurch, möchten wir sagen, nur höherer Wert beigelegt; denn
warum haben jene Jahrtausende nicht geleistet, was Stevin als noth-
wendig ei'kannte? So ganz vollständig ist allerdings das Wegbleiben
der Nenner bei Stevin noch nicht. Er benutzt noch nicht ein Pünkt-
chen oder Komma, um die Einer von den Decimalbruchstellen zu
trennen. Er schreibt vielmehr von der Einheitsstelle an jeder Stelle
zur Rechten ein Rangzeichen bei, welches in einer eingeringelten
Zahl besteht. Eine eingeringelte 0, 1, 2, 3 bezeichnet die links
davon befindliche Stelle als Einer, Zehntel, Hundertstel, Tausendstel,
z. B. 237® 5® 7@ 8® bedeutet ihm 237^- Aber er sieht
doch bereits die Möglichkeit einer kürzeren Schreibweise, denn 54 OD
bedeutet ihm schon -^ und in der Practique de Geometrie, welche
in einzelnen Theilen vielleicht auch bis 1585 zurückgeht (S. 572),
findet sich ^) 707 C-D für 7— • Bei der Ausführung der Rechnungen,
der Additionen, Subtractionen, Multiplicationen, Divisionen, werden
die eingeringelten Stellenzeiger über die betrefi'enden Ziffern gesetzt
und gelten beispielsweise bei der Addition für sämmtliche Posten,
sowie für die aus ihnen gebildete Summe, wodurch die Vereinfachung
der Schreibweise sich noch erhöht:
® CO @ C3)
2 7 8 4 7
3 7 G 7 5
8 7 5 7 8 2
9 4 1 ö 0 4
Was für Stevin die eigentliche Bedeutung der eingeringelten Stellen-
zeiger war, werden wir bei Besprechung seiner algebraischen Lei-
stungen sehen.
Ein Pünktchen oder eine den Einern ihre Wölbung zukehrende
Halbklammer zur Abgrenzung von Decimalstellen scheint
zuerst Joost Bürgi -) (1552 — 1G32 oder 1633) benutzt zu haben. Er
war Schweizer von Geburt, brachte aber den grössten Theil seines
Lebens in Kassel und Prag zu. In Kassel war Bürgi Hofuhrmacher
des um die Sternkunde hoch verdienten Landgrafen Wilhelm IV.,
in Prag kaiserlicher Kammeruhrmacher. Dort stand er in persönlichen
*) Stevin II, 390 letzte Zeile. -) Rud. Wolf, Biographien zur Kultur-
geschichte der Schweiz (Zürich 1858) I, 57 — 80. Derselbe, Astronom. Mitthei-
lungen Nr. LXXn und LXXXI. Derselbe, Bibliotheca mathematica 1889 p. 33.
Derselbe, Handbuch der Astronomie, ihrer Geschichte und Litteratur (Zürich
1890) I, 86—88 und 173—175.
618 <30. Kapitel.
Beziehungen zu Kepler. Im Jahre 1022 kehrte Bürgi nach Kassel
zurück, wo er den Abend seines Lebens verbrachte. Von den Schreib-
weisen des Namens Bürgi, Burgi, Bj^rgi ist durch Funde im St. Galler
Archive die erste als die richtige gesichert, wenigstens hat seit dem
X\T!. Jahrhunderte die Familie stets nur Bürgi geheissen. Die lange
Lebenszeit Bürgi's und noch mehr die verschiedenartigen Verdienste,
um derenwillen die Geschichte der Mathematik sich mit ihm zu be-
schäftigen hat, macht es nothwendig, ihn ausser im XIY. auch noch
im XV. Abschnitte zu behandeln. Hier haben wir es zunächst nur
mit dem Rechner Bürgi zu thun. Was wir von seiner Bekanntschaft
mit Decimalbrüchen oben angedeutet haben, beruht znva. Theil auf
einer nur handschriftlich vorhandenen Ärithmetica^) , welche wahr-
scheinlich kurz nach dem im August 1592 erfolgten Tode des Land-
grafen Wilhelm IV., von dem in der Vorrede mit dem Beiworte
„hochselicher Gedächtniss" die Sprache ist, verfasst wurde, und welche
mit dem Kepler sehen Nachlasse auf die Bibliothek von Pulkowa kam,
der sie noch angehört, zum wesentlicheren Theile auf der Aussage
von Keplei-. Letzterer sagt in seinem 1616 veröifentlichten Auszwj
aus der uralten Messe-Kunst Ärchiniedis^), wo er jene Halbklammer
den Lesern erklärt: „diese Art von Bruchrechnung ist von Jost Bürgen
zu der sinusrechnung erdacht". Darnach müsste man auch Bürgi's
Unabhängigkeit von Stevin annehmen, was bei einem ohne wesent-
lichen Unterricht Aufgewachsenen •'') glaubhaft ist. In der hand-
schriftlichen Arithmetik dient eine unter der Einerstelle befindliche Ö
bisweilen als Abtheilungszeichen = 141—- Am gleichen Orte
wird die abgekürzte Multiplication gelehrt, wofür das Beispiel
sich findet
Ol 234
12358
01234
0246
8
037
0
06
1
0
9
01525 I
Hier ist allerdings kein Abtheilungszeichen, und man muss aus dem
Ergebnisse folgern, dass eigentlich 0,1234 und 1,2358 die P^actoren
^) Ein Auszug von R u d. Wolf in dessen Astronom. Mittheilungen
Nr. XXXI. *) Oper« Kepleri (ed. Frisch) V, 547. ^) In der Vorrede zur
handschriftlichen Arithmetik sagt Bflrgi von sich: „der ich doch Griechischer
und lateinischer Sprach unerfahren und derohalben die Jenige, wöUiche hiervon
geschrieben in Irer rechten Sprach nit vernehmen khönde." Wolf, Astron.
Mittheil. Nr. XXXI S. 9.
Rechenkunst und Algebra. 619
sind, welche das Product 0,1525 lieferu. In Uebereinstimmung mit
Keplers Aussage ist die (S. 604) angeführte Thatsache, dass Pitiscus
im Tabellenanhange seiner Trigonometrie von 1608 sowie von 1612
(nicht in den früheren Auflagen) das Decimalstellen abtrennende Pünkt-
chen benutzt hat. In derselben Ausgabe seiner Trigonometrie S. 44
nennt aber Pitiscus den Bürgi in einer Weise, als ob er dessen Unter-
richt genossen hätte, wenn wir auch nicht anzugeben wissen, wo das
stattgefunden haben sollte. Es mag für die Einführung jenes Deci-
malpünktchens nicht unerinnert bleiben, dass längst bevor man Deci-
malbrüche schrieb, Pünktchen benutzt wurden, um in sehr grossen
Zahlen Gruppen von bald je drei, bald je vier Stellen abzugrenzen.
Prätorius hat in seiner Handschrift von 1599 (S. 589) unzweifel-
haft selbständig unter der Ueberschrift Compendiosa muUiplicatio duorum
inter se sinuum quando (actus per 1000 etc. dividendus est die abge-
kürzte Multiplication deutlicher und genauer als Bürgi gelehrt^).
Neben Vieta, Stevin, Bürgi, Prätorius ist ein fünfter Bewerber um die
selbständige Erfindung der Decimalbrüche vorhanden: Johann Hart-
mann Beyer 2) (1563—1625) aus Frankfurt am Main. Dieser ver-
öffentlichte 1603 eine mehrfach neu aufgelegte Logistica decimalis,
das ist die Knnstreclmung mit den zehntheiligen Brüchen. Beyer nimmt
deren Erfindung ausdrücklich für sich in Anspruch. Er bemerkt, es
habe ihn, indem er sich zuweilen in den mathematischen Künsten
erlustiret, die Praxis der Astronomen, geringere Theile als Grade mit
60theiligen Scrupeln zu messen, auf den Gedanken gebracht, dass
statt der sechzigtheiligen Brüche, welche einen mühsamen Calculum
erfordern, wohl auch eine andere Denomination anwendbar, und dass
hierzu die 10 eine sonderlich bequeme und gleichsam privilegirte Zahl
sei, welche im Addiren, Subtrahiren, vornehmlich aber im Multipli-
ciren und Dividiren grosse, bei keiner andern Zahl zu findende Vor-
theile gewähre. Beyer nennt die Bmchtheile : erste, zweite, dritte
. . . Zehnder, oder erste, zweite, dritte . . . Scrupel, oder Primen,
Secunden, Terzen . . . und bezeichnet sie durch überschriebene Indices,
V
nach den Ganzen setzt er einen Punkt: 8.798 bedeutet bei ihm also
8,^^,,, • Darüber, dass Beyer die Stevin'schen Schriften gekannt hat,
■ 100000 J J o 7
ist Zweifel nicht möglich. Die Ausdrücke Prime, Secunde u. s. w.
zeigen eine auffallende Aehnlichkeit mit der Practique d'Arithmetique^j.
») Curtze in Zeitschr. Math. Phys. XL, Histor.-liter. Abthlg. S. 7—11.
^) Poggenclorff I, 18.S. — Ungar S. 10.5, dem wir die Beschreibung der
Logistica decimalis wörtlich entnehmen. ^) Stevin I, 208 Definition 3: Et
chasque dixiesme partie de l'unite de commeneement nous la )iommoiis Prime; et
chascßie dixiesme partie de l'unite de Prime nous la )iommons Seconde, et ainsi
620 69. Kapitel.
Ueberdies ist auf S. 113 von Beyer's Logistica decimalis sogar von
Johann Semsen^) Deeimalreclinuug (auss Anweisung Simon Stevins)
im 3., 4., 5. und 6. cap. lib. Geodaes. ausdrücklich die Rede"-).
Von Stevin's Schriften sei gegenwärtig noch eine erwähnt, De
Apologistka Princijnim Eatiocinio Italico , welche 1605 in dem
II. Bande der Hypomnemata mathematica erschien^). Rechnung der
Fürsten nach italienischer Weise hat man den Titel übersetzt. Es
ist die Anwendung der doppelten Buchführung auf den
Staatshaushalt. Stevin hatte für die Hofhaltung des Prinzen
Moritz von Nassau italienische Buchführung eingerichtet, welche ihm
entweder aus den Schriften italienischer oder niederländischer und
deutscher Gelehrten, oder wahrscheinlicher durch eigene Uebung wäh-
rend der Zeit, in welcher er kaufmännisch sich bethätigte, bekannt
war. Waren doch in Nachahmung der Italiener Anleitungen zur
doppelten Buchführung von Jan Ympyn 1543, von Valentin
Mennher aus Kempten 1550 und 1565 in vlämischer und in fran-
zösischer Sprache in Antwerpen im Drucke herausgekommen, und
waren doch bei Mennher die unpersönlichen Conti neben den persön-
lichen in fortwährendem Gebrauche^). Jetzt wünschte Stevin die An-
wendung des in kleineren Verhältnissen Erprobten in einem grossen
Staatswesen einzuführen und wandte sich desshalb an den französi-
schen Staatsmann Sully, der ja gerade dem Finanzwesen die grösste
Aufmerksamkeit schenkte. Ihm widmete er die Schrift, welche zur
Empfehlung jener Buchführung dienen sollte. Wesentlich ist derselben
nicht nur das doppelte Eintragen jedes einzelnen Postens,
der einmal in einem Soll, das andere Mal in einem Haben vorkom-
men muss, sondern auch die Einführung der vorerwähnten unper-
sönlichen Conti. Gerade diese letzteren — z. B. in einem Ge-
schäfte, welches überseeische Producte führt, die Anlegung eines
Kaffeeconto, Theeconto, Pfefferconto u. s. w. — erleichtert ungemein
des autres chasqxe dixiesme partie de Vunitc de son signc precedent tousiours en
Vordre un d'avantage.
^) Johann Sems, ein Niederländer, verfasste gemeinsam mit Job.
Pietersen Dou eine später auc]i ins Deutsche übersetzte Geodäsie. Käst-
ner III, 291 — 293. ') Hunrath in Neue philologische Rundschau (heraus-
gegeben von Wagner und Ludwig) 1892, S. 235. ^) Der 11. Band der
Hypomnemata erschien 1605, der I. erste erst drei Jahre später 1608. Der
Grund lag darin, dass die Schriften des I. Bandes noch ins Lateinische zu über-
setzen waren, während die des IL Bandes ursprünglich lateinisch verfasst waren,
lieber die Apologistica vergl. Kästner III, 408 — 410 und Jäger, Lucas Pac-
cioli und Simon Stevin (Stuttgart 1876), S. 109—137. *) Kheil, Ueber einige
ältere Bearbeitungen des Buchhaltungs-Tractates von Luca Paccioli (1896) und
Kheil, Valentin Mennher und Antich Rocha (1896).
Rechenkunst und Algebra. G21
die Uebersichtlichkeit, und diesen Vortlieil beabsichtigte Steviu auch
in der Staatsbuchführimg hervortreten zu lassen, was ihm vollständig
und weit rascher gelang, als die Durchsetzung seiner Wünsche nach
decimalen Theilungen. Die unpersönlichen Conti, welche Stevin hier
einführte, waren die der fürstlichen Küche, der Wohnung, des Mar-
stalls, der Rechnungskammer, ferner solche über das Seewesen, Straf-
gelder u. s. w.
Wir gelangen zur letzten Gruppe mathematischen Wissens, deren
Entwickelung in der zweiten Hälfte des XVI. Jahrhunderts wir zu
suchen haben, zur Algebra.
Einige Schriften, welche ihrem Inhalte wie ihrer Entstehungszeit
nach fast besser hierher gehören würden, sind vorgreifend im XIII.
Abschnitte geschildert worden. Um den Einblick in den Zusammen-
hang der Erfindungen nicht einzubüssen, rufen wir die Ueberschriften
jener Werke, welche uns statt der Inhaltsangabe dienen müssen, und
deren Druckjahre ins Gedächtuiss zurück. Wir nennen Cardano's
Practica arithmeticae generalis von 1539, Stifel's Arithmetica integra
von 1544, Cardano's Ars magna von 1545, die von Stifel besorgte
II. Auflage der Rudolf'schen Coss von 1553, Recorde's Whetstone of
witte von 1556, Cardano's Regula Aliza von 1579, desselben Sermo
de plus et minus zwischen 1572 und 1576. Für die letztgenannte
ganz kurze Abhandlung war die Zeitbestimmung dadurch gegeben,
dass Cardano 1576 starb, während die Abhandlung ein 1572 erstmalig
gedrucktes Werk voraussetzt: Bombelli's Algebra. Von diesem Buche
und seinem Verfasser haben wir jetzt zu reden.
Was wir freilich von Rafaele Bombelli^) aus Bologna wissen,
ist kaum mehr, als in diesen Worten bereits gesagt ist. Sein Vor-
name, seine Heimath sind bekannt. Der Titel seines berühmten
Werkes heisst VÄlgebra. Er schrieb dasselbe auf Aufforderung des
ihm geneigten Bischofs von Malfi, und es ist zuerst 1572 in Venedig,
dann abermals 1579 in Bologna gedruckt. Damit sind die Notizen
über seine Persönlichkeit im Wesentlichen erschöpft.
Der Inhalt der Algebra gliedert sich in drei Bücher. Das
1. Buch besteht aus einer Lehre von den Wurzelgrössen, so Aveit
solche bei der Auflösung von Gleichungen Anwendung findet; ins-
besondere ist Gewicht auf die Ausziehung der Kubikwurzel aus einem
Binomium gelegt, von dessen beiden Theilen der eine eine Quadrat-
wurzel ist. Das 2. Buch ist die eigentliche Algebra, die Lehre von
den Gleichungen der vier ersten Grade mit einer Unbekannten. Das
3. Buch ist eine Sammlung von ungefähr 300 Aufgaben, welche zur
Einübung des in den beiden ersten Büchern Gelehrten dienen.
■) Libri III, ISl— 184.
622 CD. Kapitel.
Eine wichtige Stelle des ersten Buches ist lange Zeit so gut
wie unheachtet geblieben. In ihr ist die A u s z i e h u n g der
Quadratwurzel mittels der Kettenbrüche gelehrt^), also die
Formel ,
2a + •
Freilich hat sich Bombelli mit dem Zahlenbeispiele y'l3 begnügt.
4 2
Er findet a = 3, & = 4 und -als ersten Niihernngswerth 3 4- — = 34-;
dann lässt er — zu dem im Nenner befindlichen 6 hinzufügen, so
entsteht als weiterer Näherungswerth 3 -1- — , . = 3— • Dass
Bombelli über die Sache klarer dachte als er sie auszudrücken wusste,
geht aus seiner weiteren Behandlung hervor, welche wir in unserem
Berichte nur so weit abändern, dass wir die Unbekannte und deren
Quadrat durch x und x' ersetzen. Ist ]/l3 = ^ -\- x, so folgt
13 :=: 9 -|- Ca; -|- x-, 4 = 6a; -|- x'. Gewöhnlich vernachlässigt man x- und
' 2
schreibt nur 4 = Oa', woraus x = " folgt. Will jetzt das vernach-
2
lässigte x^ auch in Rechnung gezogen werden, so muss x' = ~x
2 20
oben eingesetzt werden. Mau erhält also 4:^=^Qx-\--j^^^\^ ^^^
X = — ■ Dieser neue Werth nöthigt zu x'^ = - x d. h. zu A=^Qx -\- '.- x
= — 1' nebst X = ^^ u. s. w.
Da die Gleichungen dritten und vierten Grades den Schwerpunkt
des Werkes bilden, so ist natürlich, dass Bombelli auch in der damals
noch in ganz frischem Angedenken stehenden, kaum erst durch-
gefochtenen Streitsache zwischen Tartaglia auf der einen, Cardano
und Ferrari auf der anderen Seite Partei ergreifen musste. Er that
es zu Gunsten der beiden Letztgenannten, sei es dass die Gerechtig-
keit ihrer Sache ihn überzeugte, sei es dass für ihn auch ins Gewicht
fiel, dass Ferrari von Bologna seine eigene Heimath theilte. Tar-
taglia, so drückt Bombelli sich aus -), sei von Natur so gewöhnt
gewesen, Böses zu sagen, dass er dachte, ein ehrenvolles Zeugniss
^) Wertheim, Die Berechnung der irrationalen Quadratwurzeln und die
Erfindung der Kettenbrüche. Zeitschr. Math. Phjs. XLII, Supplementheft S. 149
— IGO mit Berufung auf Bombelli, Algebra S. 35. -) Di sua natura era
cosi assiiefatto a dir male, che aW Jiora egli -pensava di haver dato honorato
saggio di se, quando clie di aleuno havesse sparlato (S. 5 des Vorwortes Agli
Lettori).
Rochenlcniist und Alofebra. 623
für sich abgelegt zu haben ^ weun er von einem Anderen Uebles ge-
redet hatte. Auffallen muss dabei, dass Bombelli in dem ganzen
Buche nicht ein einziges Mal des Scipione Del Ferro gedenkt,
der doch auch Bologneser war, und dem nach übereinstimmender
Aussage der Gegner die erste Auflösung der kubischen Gleichung
geglückt war.
Die rasche Aufeinanderfolge der beiden Ausgaben, in welchen
1572 und 1579 die Algebra erschien, ist Zeugniss dafür, dass sie
Käufer fand, eine für diese Käufer selbst schmeichelhafte Thatsache,
da Bombelli's Schreibart durch ungewohnte Namen und Bezeichnungen
zuerst fast abschreckend wirken musste. Die Unbekannte nannte
Bombelli tanto oder quantita, ihr Quadrat potenza, und das dürfte
das erste Vorkommen dieses Wortes sein, welches später die all-
gemeine Bedeutung erhielt, welche ihm heute noch anhaftet, während
Bombelli für den weiteren Begriff mit Tartaglia des Wortes dignita
sich bedient. Die Quadratwurzel aus einer negativen Zahl heisst
piu di meno oder mmo di meno, je nachdem sie selbst positiv oder
negativ genommen werden soll. Auch in den Bezeichnungen schlug
Bombelli andere als die gewohnten Bahnen ein. Es war gewiss ein
glücklicher Gedanke von ihm, die aufeinanderfolgenden Potenzen der
Unbekannten durch Zahlen anzudeuten, unter welchen ein kleiner
12 3 4
Bogen sich befand, also ^, , ^, ^ zu schreiben, eine Bezeichnung,
welche wenig später von Pietro Antonio Cataldi in seinem
Trattato del modo hrevissimo di frovare Ja radice qiiadra delli numeri
von 1G13, von welchem im 75. Kapitel zu reden sein wird, aber
auch schon in seinem Tuittaü) dcJV Algebra proportionale von 1610
dahin verändert wurde, dass die kleinen Bögen unter den Zahlzeichen
wegfielen und letztere durchstrichen wurden. Bei Cataldi war also
3 die dritte, 7 die siebente und sogar 1 die erste Potenz der Unbe-
kannten ^). Glücklich war auch Bombelli's Gedanke, die Wurzeln aus
zusammengesetzten Ausdrücken durch eine besondere Bezeichnung
deutlich hervortreten zu lassen. Paciuolo (S. 320) besass bereits
das Wort Radix universalis mit der Bezeichnung ß:V, um Wurzeln
aus vereinigten Grössen zu ziehen, z.B. ;^V7j5^14 = ^7 -j- Vl^.
Cardano in seiner Practica Arithmeticae generalis von 1539 unter-
schied von der Radix universalis die Radix ligata -), bei welcher das
erste Wurzelzeichen nur der unmittelbar folgenden Zahl gilt, also
zwei Quadratwurzeln addirt werden. Als eigentlich ganz überflüssiges
1) G. Wertheim iu der Zeitschr. Math. Phys. XLIV, Histor. - liter. Ab
S. 48. -) Cardano IV, 14.
624 G9- Kapitel.
Zeichen selirieb Cardano ein L vor die erste Wurzel, z. B. LR 7^)1^14
= ]/7 -f- ]/l4. Bombelli war der Meinung, man solle für Radix
universalis beide Namen, Radix universalis oder Radix legata, unter-
schiedlos gebrauchen^); er selbst bediente sieb später fast ausschliess-
lich des Ausdruckes Radix legata. Dabei schrieb er ein L hinter
das erste I^, und eine Umkehrung desselben in der Form J schloss
am Ende den ganzen der Wurzelausziehung unterworfenen Ausdruck
ab, z. B.
^LipKUÄ^Vi +yi4.
Solche Vereinigungen unter ein gemeinsames Wurzelzeichen wandte
er auch bei Wurzeln höheren Grades und auch in Wiederholung an
ft^LRcLR^ 68jj2 J m R c L R g 68 w 2 J J
= V[|/(y68 + 2) - 1/(1/68-2)]'),
R c L 4jj di w R g 1 IJ j) R c L 4 m di m R g 1 IJ
=f(4+y-iij + ii4-]/-ii).^)
Wir benutzen dieses letztere Beispiel, um zu zeigen, wie Bombelli
an demselben die Wurzelausziehung vollzieht. Sei zunächst allge-
3,
mein angenommen, man habe es mit Krt-j-y' — h -{- Va — ]/-
thun, und es sei Y a +"/ — ^ =i^+ V — l- Die Erhebung zum
Kubus und Gleichsetzung der reellen wie der imaginären Theile zeigt,
dass a ■=- p^ — ?>pq, ]/ — h ^ (87)^ — g)l/ — q^ und dadurch ergiebt
3 y—
sich die zweite Kubikwurzel als Ka— . |/ — h = p — V—^i^ die
Summe beider also als
3/ 3 ,
Va + Y^> -f Vu — y=:^ = jj + |/^ +i)— V—ci = 2p.
Es kommt also ausschliesslich auf die Auffindung von 2p an. Mul-
tiplicirt man die beiden Kubikwurzeln miteinander, so entsteht
"/«^ -f- h ^ p' -\- q und, wenn \/ci^ -\- h = c rational ist,
)^-\-q = c, q = c—p-, — 3j;g = 3j/ — 3cj>, ^j^ — 3j3g==4^^ — 3c;j.
Wir hatten aber als ein erstes Ergebniss ci ^ p^ — ^^pq, mithin ist
p) eine Wurzel der kubischen Gleichung 4^^ — ^cp = a.
In dem gegebenen Zahlenbeispiele ist
rt = 4, ?; = 11, c = -^4^+11 = 3
und Af — 9j> = 4, 8i/ — \^p = 8, {2p f — ^{2p) = 8
») Bombelli, Algebra S. 99. -) Ebenda pag. 356. =*) Ebenda pag. 294
•295.
Recbenlvimst und Algebra. 625
aiifzulüseu. Kauii man, was in diesem Beispiele nicht zutrifft, hieraus
mit Leichtigkeit 2p ermitteln, so ist die Aufgabe gelöst.
Dagegen bilde ein anderes MaP) z^ = 15^ -j- 4 den Ausgangs-
punkt der ganzen Untersuchung. Die Formel des Del Ferro lehrt
^ = y (2 + Y^HM) + ]/(2 — y^^^HI) . Hier ist
a = 2, 6 = 121, c=|/22+121 = 5, 4^)3—15^ = 2, (2i))^— 15 (2^)) = 4,
welches bei 2}) = 4 erfüllt wird. Das hier vorhandene Rationalsein
von c tritt immer ein, so oft eine kubische Gleichung den Ausgangs-
punkt bildete. Aus x^ = mx -{- n folgt nämlich
- = Hl + i/(f )^ - (ff) + y(f - v^i) - {f}-
mit« = |-, h={^-{^,
also a- -{-})= ( - j und c = )/«- -(- h = —•
Die Bedeutung der Bombelli'schen Untersuchung liegt offenbar
nicht etwa darin, dass sie die kubische Gleichung leichter auflösen
lehrte. Wir haben ja gerade an dem zuletzt von uns besprochenen
Beispiele gesehen, dass die Umwege nur dahin führten, dass man
schliesslich zu derselben Gleichung zurückkehrte, von welcher mau
ausgegangen war, und deren Wurzel 4 somit unmittelbar hätte ge-
funden werden können. Aber durch die geführte Untersuchung wurde
einleuchtend gemacht, dass jene beiden Kubikwurzeln der Del Ferro-
schen Formel der Auswerthung fähig waren, und dass in Folge der-
selben die imaginären Theile sich weghoben. „Ein ausschweifender
Gedanke", sagt Bombelli^j „nach der Meinung Vieler. Ich selbst
war eine Zeit lang der gleichen Ansicht. Die Sache schien mir auf
Sophismen mehr als auf Wahrheit zu beruhen, aber ich suchte so
lange, bis ich den Beweis fand."
Die Gleichung vierten Grades behandelt Bombelli^) nach Ferrari,
und da wir dessen Methode schon früher (S. 509 — 510) aus Carda-
no's Ars magna erörtert haben, so dürfen wir uns hier an der Be-
merkung genügen lassen, dass alle Einzelfälle in grosser Ausführlich-
keit durchgesprochen werden.
Der Auflösung von Gleichungen durch allgemeine Formeln steht
die durch Rechnung mit bestimmten Zahlen gegenüber. Auch mit
einer solchen Methode hat, wie wir wissen, Cardano es versucht.
^) Born belli, Algebra pag. 293. ^) Ebenda die drei letzten Zeilen von
pag. 293. 2) Ebenda pag. 353 sqq.
Cantor, Geschichte der Mathem. II. 2. Aufl. 40
G26 69- Kapitel.
Ein eigenthümliches Verfahren ersann Johannes Junge ^) aus
Sehweidnitz, Rechenmeister zu Lübeck. Er soll es 1577 veröffent-
licht haben, aber in welcher Weise ist unbekannt. Die Gleichung
wird in zwei Glieder getheilt, so dass die höchste Potenz der Unbe-
kannten für sich allein das eine Glied bildet. Alsdann muss die Ge-
sammtheit aller anderen wieder zu einem Gliede vereinigten Bestand-
theile wiederholt durch einen angenommenen Werth der Unbekannten
sich theilbar erweisen, wenn die Annahme richtig war. Ein Beispiel,
welches Raimarus Ursus (S. 593) in einem nachgelassenen, 1601
gedruckten Werke Arithneüca analytica vulgo Cosa aufbewahrt hat,
lautet in der verlangten Fonn: x^ = 480 — -90a; — 21aj-. Ist nun
x = ^ richtig gewählt, so kann 486 = 3-162 mit — 90a: zu
3(162 — 90) = 3 • 72 vereinigt werden; 3 • 72 aber =32-24 vereinigt
sich sodann mit — 21a;- zu 3-(24 — 21) = 3^, welches mit x^ über-
einstimmt. Freilich gilt von diesem Verfahren in vollem Maasse, was
Raimarus darüber sagt, dass es „etwan Conjectural vnd durch etzliche,
biszweilen auch wol durch viele mutmassungen vnd gleichsam vorat-
tungsweiss verrichtet wird"'.
Simon Stevin's im Jahre 1585 gedruckter Band begann mit
einer Schrift, die den Titel führte: Laritlimetique contenant les com-
putations des nomhres arithmetiques ou vulgaires: aussi VAlgebre avec
les eguations des cinq quanütez. Die letzten Worte geben die Grenze
an, bis zu welcher das Buch sich erstreckt, bis zu Gleichungen vierten
Grades, da diese aus fünf Einzelgliedern bestehen können. Darüber
hinaus oder, wie Stevin sagt^), über Lois de Ferrare, d. h. Ludovico
Ferrari, sich zu erheben, sei ihm nicht gelungen. Er kannte dessen
Leistungen offenbar aus Bombelli, welchen er anführt. An Bombelli
schliesst Stevin sich im Gebrauche des Wortes potence wie in dem
von dignites an. In ersterer Beziehung geht aber Stevin weiter, da
ausser potence für das Quadrat der Unbekannten auch potence cubique^)
für deren dritte Potenz bei ihm vorkommt. Die Bezeichnung der
Potenzen stammt bei Stevin ausgesprochenermassen "*) aus der gleichen
Quelle. Er benutzt dazu die eingeringelten Zahlen ©, @, @ u. s. w.
Der ® habe Bombelli sich nicht bedient, sie entspreche der Zahl.
Auch der Begriff eines eingeringelten Bruches fehlt nicht,
wenngleich Stevin ihn nicht anwendet. Er sagt ausdrücklich ^), ein
2
eingeringeltes -f^ würde das Symbol für die Kubikwurzel aus dem
Quadrate der Unbekannten sein. Kommen mehrere Unbekannte in
>) Gerhardt, Math. Deutschi. S. 84—87. — Treutlein, Deutsche Coss,
Zeitschr. Math. Phys. XXIV, Supplem. S. 99—102. — Allgem. Deutsche Biographie
XIV, 705. -; Stevin I, 6. ^) Ebenda I, 58. ') Ebenda I, 8. =) Ebenda I, 64,
Rechenkunst und Algebra. 627
einer Aufgabe vor, so neimt Steviu^) die zweite, dritte derselben
Quant ite posposee seconde, tierce und schreibt 1 see CO, 1 ter ® u. s. w.
Auch für Producte solcher Unbekannten sieht Stevin eine Bezeichnung
mittels des Multiplicationsbuchstabens M vor, z, B.
3xtj2- = 3 CO 31 sec CO M ter CO .
Dividiren soll man durch den Divisionsbuchstaben D, z. B.
i^' = 5CV D sec CO M ter (^ .
y
Wir kommen hier auf die Anwendung solcher eingeringelter
Zahlen zurück, welche die Rangordnung der Decimalbrüche in Stevin's
Dis))ie andeuten. Es kann bei dem gleichzeitigen Erscheinen der
Disme mit der Algebra kaum einem Zweifel unterworfen sein, dass
Stevin, wenn er es auch nirgend ausdrücklich sagt, jene Stellenzeiger
als die aufeinander folgenden Potenzen von — sich dachte.
Hatte Bombelli ein Zeichen der Zusammengehörigkeit L J ein-
geführt, so führte Stevin eine aus zwei mit den gekrümmten Seiten
aneinanderstossenden Klammern gebildetes Trennungszeichen-) ein.
Für die Quadratwurzel schrieb er mit Stifel ]/, und nun bedeutet
)/ 9 )( C2), dass das Wurzelzeichen zwar auf 9, aber nicht auf (2) sich
beziehen solle, dass also 3a:- gemeint sei. Neben diesen für die
Weiterbildung algebraischer Form nicht ganz unwichtigen Dingen,
zu welchen noch der Name Miüünomie algebrique^) zu zählen wäre,
finden wir bei Stevin auch sachlich Bemerkenswerthes.
Da erwähnt er'^), die Summe zweier Quadratwurzeln könne der
zweier anderen Quadratwurzeln nicht gleich sein, wenn die beiden
ersten Radicanden theilerfremd seien, d. h. ]/« -\- Yb = Yc -f- ^d
erfordere a = m^ f und h = n^ f.
Da sagt er^), man könne den grössten Gemeintheiler
zweier algebraischer Multinomien finden. Nonius freilich habe
es nicht fertig gebracht (S. 389), aber man brauche nur das Ver-
fahren einzuschlagen, welches bei ganzen Zahlen zum Ziele führe.
Soll z. B. der grösste Gemeintheiler von x^ -f- x^ und o? -\-'lx -\- ^
gesucht werden, so muss man ersteren Ausdruck durch* letzteren
dividieren. Der Quotient ist x und — 6a;^ — ^x bleibt als Rest.
Mit diesem Reste dividiert man in x^ ■\- 1 x -\- ^i. Der Quotient ist
— — und 6ä; -f- 6 bleibt als Rest. Letzterer ist in — 6^^ — 6 a;
ohne Rest enthalten, giebt also den gesuchten Gemeintheiler. Die
Frage ist, wenn auch leicht zu beantworten, keine müssige, wodurch
1) Stevin I, 7. «) Ebenda I, 10. '"■) Ebenda I, 7. ") Ebenda I, 51.
^) Ebenda I, 56.
4U*
628 69. Kapitel.
Stevin, wodurch vor ihm Nonins sich veranlasst fühlte, überhaupt
diese Aufgabe sich zu stellen? Es handelte sich dabei oifenbar um
die Auflösung von Gleichungen höherer Grade. Die ersten Versuche
zu deren Bewältigung liefen bis zu Cardano's Buch von 1539 und
Stifel's Arithmetica integra einschliesslich darauf hinaus, durch glück-
liches Errathen gewisser hinzuzuaddirender Ergänzungen solche
Formen einander gleichwerthiger Ausdrücke hervorzubringen, welche
ein Weglassen von gemeinschaftlichen Factoren gestatteten. War
man nun im Stande, einen solchen gemeinschaftlichen Factor leicht
aufzufinden, so mochte man wähnen, damit um einen wesentlichen
Schritt in der Lehre von den höheren Gleichungen weiter gekommen
zu sein.
Die Auflösung quadratischer Gleichungen beruht schliesslich auf
einer auf beiden Seiten der Gleichung vorzunehmenden Ergänzung,
und Stevin hat sie von diesem Gesichtspunkte aus gelehrt^), wenn
er auch hinzusetzte, insgemein begnüge man sich damit, die schon
abgeleitete Regel anzuwenden.
Bei den kubischen Gleichungen machte Stevin auf die Schwierig-
keit aufmerksam, welche das Auftreten negativer Zahlen unter dem
Quadrat Wurzelzeichen verursache -|. Cardano habe in seiner Regula
Aliza, Andere anderwärts gesucht, der Schwierigkeit Herr zu werden.
Er finde es unnöthig darauf einzugehen, weil eine allgemeine Regel
noch nicht gefunden sei — in unserem Berichte über die Algebra
Bombelli's haben wir das Zutreffende dieser Behauptung erkannt — ,
Zufallerfolge verdienten aber nicht, dass man sich lange mit ihnen
aufhalte.
Bei manchen Aufgaben, heisst es anderwärts^), gebe es auch
Auflösungen durch Minus {solutions par — ), x^ = Ax -\- 2\ werde
z. B. durch x = — 3 erfüllt.
Endlich heben wir eine näherungsweise Gleichungsauf-
lösung hervor*), deren Stevin sich als seiner Erfindung rühmt, und
welche jedenfalls den theoretischen Vorzug besitzt, den gesuchten
Wurzelwerth allmälig in seinen einzelnen Stellen von der höchsten
zur niedersten absteigend entdecken zu lassen. Sei etwa
x^ = 30r).r + 33915024
aufzulösen. Setzt man nach einander x = \, x = 10, x = 100, so
wird jedesmal x^ kleiner und erst bei x = 1000 grösser ausfallen als
der Werth von 300a; -f- 33915024. Folglich weiss man schon, dass
x zwischen 100 und 1000 liegt, mithin dreiziffrig ist. Man sucht die
Ziffer der Hunderter, welche einen der Werthe 1, 2, ... 9 haben
1) Stevin I, 69. -) Ebenda I, 71—72. =; Ebenda I, 77. ^) Ebenda I, 88.
ßechenkunst iiud Algebra. (329
niuss. Die 1 hat sich schon als zu klein gezeigt, man macht also
den Versuch mit 2, 3, 4 und erkennt, dass 2, 3 zu wenig, 4 zu viel
giebt, also liegt die Unbekannte zwischen 300 und 400. Die Zehner
von 1 an durchprobierend ermittelt man 310, 320 als zu klein, 330
als zu gross, sodass man berechtigt ist, 32 als richtigen Anfang an-
zunehmen und die Einer von 1 an in Angriff zu nehmen. 321, 322,
323 geben zu wenig, 324 stimmt ganz genau und ist daher der Werth
der Unbekannten. Stevin macht zwei wichtige Zusatzbemerkungen.
Erstens sei es möglich, dass die Unbekannte einen ganzzahligeu
Werth überhaupt nicht besitze, dann solle man die folgenden Decimal-
stellen sich verschaffen, was genau nach dem gleichen Verfahren
geschehe, welches man zur Ermittelung der höheren Stellen einschlug,
und das gleiche Verfahren führe auch zum Ziele, wenn die Unbe-
kannte kleiner als 1 sei. Zweitens komme es vor, dass man sich
begnügen müsse, dem Werthe der Unbekannten unendlich nahe zu
kommen, ohne ihn zu erreichen^), und das sei in zwei Fällen möglich,
entweder bei Brüchen wie — , die in einen genau gleichen Decimal-
bruch sich nicht verwandeln lassen, oder bei Wurzelgrössen, welche
irrational sind.
Stevin's Bearbeitung des Diophant haben wir hier nur so weit
zu erwähnen, als wir bemerken, dass die gleichen Zeichen dort an-
gewandt sind, welche der Algebra dienen, dass ein Gleichheitszeichen
da wie dort fehlt, wiewohl Stevii^ bei Xylander, dessen lateinische
Uebersetzung er nur weiter ins Französische übertrugt), ein solches
hatte kennen lernen müssen.
Der grösste Algebraiker der Zeit war Vieta. Seine erste alge-
l)raische Schrift In artem anahjticam isagoge^), Einleitung in die
analytische Kunst, erschien 1591. Sie wollte nur einen Theil eines
grösseren Werkes, unter dem Namen der wiederhergestellten mathe-
matischen Analysis oder der neuen Algebra bilden. Die Titel sämmt-
licher Theile sind der Widmung vorausgeschickt, welche in schwül-
stigem Tone an die aus dem Geschlechte Melusinens stammende
Fürstin Katharina von Rohan gerichtet ist. Wir bemerken dabei,
dass überhaupt die Sitte der Zeit in Frankreich und Deutschland
einer einfachen, klaren Sprache abhold war. Je mehr- dem Griechi-
schen entlehnte Neubildungen, je mehr Floskeln, je farbenreichere
*) II peut avenir qu'on ijourra appivcher infiniment au requis sans toutesfois
par ceste maniere pouvoir parvenir a la parfaicte Solution. ^) Stevin I, 102.
■■') Vieta pag. 1—12. — F. Ritter hat eine mit Anmerkungen bereicherte
Uebersetzung im Bullet. Boncompagni I, 225 — 244 erscheinen lassen, welcher
der Originaldruck von 1.591 zu Grunde liegt.
630 69. Kapitel.
mythologische Bilder vorkamen, für um so vollendeter galt eine Ab-
handlung. Man muss dies wissen, um Stevin's unübertreffliche Klar-
heit würdigen, um Vieta's und Anderer Unverständlichkeit verzeihen
zu können. Ob jene 1591 dem Titel nach vorhandenen Schriften auch
thatsächlich alle bereits druckreif waren, wissen wir nicht, wahrschein-
lich ist es wohl. Dann stammen aus jener frühen Zeit die 1593 ge-
druckten Effectionum yeometricarum canonica recensio (S. 584) und das
Siqjplementum gcotnetriae, ebenso die gar erst 1615 mit Beweisen ver-
sehenen Theoremata ad angulares sectiones (S. 608), welche selbst nur
ein Auszug aus einer dreitheiligen Schrift waren ^), von der das Meiste
verloren ging. Verloren sind auch die 1591 genannten 7 ersten
Bücher der Antworten auf verschiedene Fragen ^), zu welchen offenbar
als Fortsetzung das 1593 gedruckte 8. Buch (S. 586) gehörte, jeden-
falls ein ungemein zu beklagender Verlust, wenn die ersten Bücher
dem letzten nur halbwegs ebenbürtig waren. Die Isagoge ist, wie
ihr Name es aussprechen soll, wirklich nur eine Einleitung. Nach-
dem die Analysis oder Zetetik als diejenige Kunst des Auffindens
geschildert worden, welche von dem als bekannt angenommenen Ge-
suchten ausgeht, nachdem eine Reihe von beweislos einleuchtenden
Sätzen (Gleiches und Gleiches durch Addition, Subtraction, Multipli-
cation, Division, verbunden giebt Gleiches. Vier Grössen, von denen
zwei zu einem Producte vereinigt das gleiche Product wie die beiden
anderen geben, stehen in Proportion u. s. w.) zusammengestellt ist,
spricht Vieta im HL Kapitel da« erste und allbezügliche Gesetz
der Homogeneität aus ^). Den Griechen war dieses Gesetz
ursprünglich ein selbstverständliches. Nur Längen können Längen,
nur Flächen Flächen, nur Körper Körpern, nur Verhältnisse Ver-
hältnissen verglichen werden. Später wich man von diesem Gesetze,
das eine unbeabsichtigte aber zuverlässige Beglaubigung ausge-
sprochener Sätze mit sich führte, ab. Heron vereinigte Längen und
Flächen zu einer Summe (Bd. I, S. 376), Diophant gestattete sich
das Gleiche (Bd. I, S. 454). Mag sein, dass Vieta gerade beim
Studium des Diophant, den er in der Isagoge selbst anführt*), auf
das Unstatthafte aufmerksam wurde. Jedenfalls hat er zuerst als
^) Analyse des sedions angulaires distribuee en trois parties nach Ritter's
Uebersetzung. ^) Sept livres de differentes reponses siir ßes siijets mathematiques.
^) Prima et perpetua lex . . . qiiae dicitur lex homogeneorum. Ueber dieses Gesetz
vergl. Marie, Histoire des scienees mathematiques et physiques III, 9 — 19, wo
allerdings viel mehr hinein- als herausgelesen wird. *) Vieta pag. 5: Haec
est Islipi^ Dioplianto, ut adfectio adiunctionis vnaQ^t-s. Die hier vorkommenden
griechischen Ausdrücke beweisen, dass Vieta den Diophant aus einem griechi-
schen Texte kannte.
Rechenkunst und Algebra. 631
Gesetz erkannt und ausgesprochen, was meistens nur in dunklem
Gefühle der Richtigkeit geübt worden war, und dieses Verdienst ist
weit grösser als Mancher denken mag. Nachdem das Gesetz der
Homogeueität einmal aufgestellt war, hat Vieta im IV. Kapitel seine
Folgerungen daraus gezogen. Dieses Kapitel ist den Vorschriften
der Logistica speciosa. De praeceptis Logistices speciosae, ge-
widmet, und damit war ein Kunstausdruck geschaffen, der fast allein
von den zahllosen Neuerungen Vieta's ihn überlebte. Logistik war
von Alters her Rechenkunst. Vieta unterschied zwei Gattungen der-
selben. Sie war nunierosa, wenn mit Zahlen, speciosa, wenn mit
versinnlichenden Zeichen von Raumgebilden ^), z. B. mit Buchstaben
gerechnet AvuMe. Die Buchstaben, lauter Initialen des lateinischen
Alphabets, stellen demnach Gebilde vor, welche dem Homogeneitäts-
gesetze unterworfen sind. Es sind Grössen, nicht Zahlen. Auch
Tartaglia hob den Unterschied zwischen Zahlen und Quantitäten
hervor (S. 519). Für jene bediente er sich der Wörter multiplicare
und partire, für diese gebrauchte er ducere und niisurare. Aehnlich
unterscheidet Vieta. Die Grundsätze von Kapitel II enthalten die Aus-
drücke multiplicare und dividere, im Kapitel IV heisst es ducere und
adplicarc vielleicht mit Anlehnung an Tartaglia, wahrscheinlicher der
Euklidausgabe des Campanus II, 2 beziehungsweise I, 44 entnommen.
Das Homogeneitätsprincip hat freilich, und auch dafür liefert Kapitel IV
die Belege, den rein geometrischen Untergrund längst aufgegeben.
Nicht auf Mannigfaltigkeiten von 1, 2 oder 3 Abmessungen be-
schränkt sich die Algebra. Fast beliebig hoher Dimension können
die in einer Gleichung auftretenden Glieder sein, wenn nur alle
gleich hoher. Die von Vieta gelieferten Beispiele erstrecken sich
bis zum solido-soUdo-solidum, d. h. bis zur 9. Potenz der behandelten
Grösse, da die einzelnen Bestandtheile addirt werden, wie es
von Diophant geübt wurde, und nicht multiplicirt, wie es bei
den Italienern und deren Nachahmern, z. B. Stifel geschah. Die
Vervielfachung wird durch das Wort in, die Theilung durch den
Bruchstrich angedeutet. Das Produkt von — ^ in — — ^-^-
ist P/^""™ jj^ 2r quadratum u. s. w. Als Zeichen der Addition und
Subtraction sind -|- und — benutzt, ausserdem giebt es noch = als
Zeichen der Differenz zweier Grössen^), ohne dass man anzugeben
braucht, welche von beiden die grössere sei. Im V. Kapitel kommt
Vieta auf die eigentlichen Gleichungen zu reden. Die gesuchten
Grössen, magnitudines quaesititiae, werden durch die Vocale A, E, I,
*) 25er species seu rerum formas. ^) Vieta pag. 5.
632 69. Kapitel.
0, V, Y dargestellt, die gegebenen, datae, durch Consonanten B, G,
D u. s. w.^). Vielleicht suchte Vieta durch diese Anwendung der
Vocale sich mit der Uebuug von Ramus, dem damals in Frank-
reich hochgeschätzten Schriftsteller, in Einklang zu setzen, der die
gleichen Buchstaben (S. 564) bei der Figurenbezeiehnung bevorzugte.
Von den Gesetzen, welche Vieta ausspricht, sei nur eines erwähnt^):
Antithesi aeqiialitatem non immutari. Antithesis heisst nichts Anderes
als das Hinüberschaffen eines Gliedes mit entgegengesetztem Vor-
zeichen auf die andere Seite, welches also als ein die Richtigkeit der
Gleichung nicht Beeinträchtigendes gestattet wird. Das VI., VII.,
VIII. Kapitel geben zu besonderen Bemerkungen wenig Anlass.
Höchstens dass aus dem letztgenannten anzuführen -vfäre, dass die
Gleichung dazu führe, das Geheimniss der Winkeltheilung zu ent-
hüllen, ohne desshalb Gerades mit Krummem zu vergleichen, wogegen
das Homogeneitätsgesetz sich zu sträuben scheine^).
Unter die 1591 gleichfalls angeführten Schriften gehören Ad
Logisticm speciosam notae priores und posteriores. Es ist nicht wahr-
scheinlich, dass eine Veröffentlichung zu Lebzeiten Vieta's stattfand,
und der zweite Theil ist dann überhaupt nie bekannt geworden*),
nur der erste ist in der Gesammtausgabe von 1646 vorhanden^). Man
kann diese Anmerkungen zur Logistica speciosa füglich in zwei Ab-
theilungen trennen. Die erste Abtheilung lehrt Multiplicationen von
Summen in Differenzen und Potenzerhebungen von Binomien, dann
vom 25. Satze an auch Berechnung von Ausdrücken von der Gestalt
(.4 + j5)'" -}- D" (^ -f- i?)"'-". Die letztgenannten geben zur Ein-
führung eines Wortes Gelegenheit. Im einfachsten Falle
{A-\-Bf-^D{A-{-B)
handelt es sich geometrisch gesprochen (Figur
126) um das Quadrat einer zweitheiligen
Gr()sse, welche durch Anfügimg eines Recht-
eckes vei'grössert ist, dessen eine Seite in Ge-
stalt jener zweitheiligen Quadratseite gegeben
ist, während die andere gleichfalls gegebene
Seite mit an der Bildung der Figur betheiligt
j^ig 126. ist. Vieta nennt^) sie offenbar aus dem hier
erörterten, wenn auch bei ihm nicht ausge-
sprochenen Grunde longitudo coefficiens, und damit war das Wort
Coefficient in die Wissenschaft eingeführt. Die zweite Abtheilung
^) Vieta pag, 8 No. 5. -) Ebenda pag. 9 Propositio I. ^) Ebenda
l>ag. 12 No. 27 und 28. •*) Kitt er im Bullet. Boncompagni I, 245. ^) Vieta
pag. 13 — 41. Die französische Uebersetzung von Ritter 1. c. pag. 24G— 276.
'^) Vieta pag. 23 und öfter.
A B
Rechenkunst und Algebra. f)3o
beginnt mit dem 45. Satze und handelt von der Entstehung ratio-
naler rechtwinkliger Dreiecke aus einander. Damit aus zwei
Zahlen A, B, welche die Wurzeln des rechtwinkligen Dreiecks
heissen^), ein solches gebildet werde, benutzt man sie als Anfangs-
glieder einer geometrischen Reihe, deren drittes Glied folglich -j-
heisst. Summe und Differenz der beiden äusseren Glieder und das
doppelte mittlere Glied (in Vieta's Schreibweise : Ä -\ ^—^ — — ,
Ä = — - — , B 2, indem der Zahlenfactor 2 dem B nachgesetzt
wird) sind alsdann die drei Seiten des rationalen Di-eiecks. Verviel-
fache mau Alles mit ui, damit sämmtliche Seiten auf dieselbe Be-
nennung gebracht seien, tit ad idem genus adplicationis lafera quacquc
revocentur. so heissen die Seiten: Ä quadr. -f- B quadr., Ä quadr.
^ B quadr., Ä in B 2. Nun seien zwei rechtwinklige Dreiecke
Z, B, D und X, F, G gegeben, d. h. es sei, um von jetzt an die heute
gewöhnliche Schreibweise anzuwenden, Z'^ = B- -\- D'^, X^ = F^ -\- G^.
Dann ist auch {ZXf = (BG + DFY -f (BF - BGf = (BF
-\- BGy -\- (BG — DFf mit zweifacher Zerlegung des Productes
zweier Quadratsummen in eine neue Quadratsumme, wie sie seit
Diophant (Bd. I, S. 451) bekannt war, oder es ist aus zwei Dreiecken
in doppelter Art ein drittes gebildet. Statt zweier verschiedener
Dreiecke kann man dasselbe Dreieck, etwa A, B, B, zweimal neh-
men^). Das eine neue Dreieck heisst dann A'^ , 2BB, B^ — D-,
und es hat die Eigenschaft, dass sein einer spitzer Winkel
doppelt so gross ist, als ein spitzer Winkel des ursprüng-
lichen Dreiecks. Vieta beweist diese Winkeleigenschaft nicht, er
spricht sie nur aus; bei seiner uns aus der Auflösung der Aufgabe
Van Roomen's bekannten Gewandtheit, mit trigonometrischen Func-
tionen zu rechnen, kann aber nicht gezweifelt werden, dass sein
Gedankengang etwa folgender war. Hiess im ursprünglichen Drei-
ecke der eine spitze Winkel u, so war sin « = ^ , cos a = -j- ,
2sin a • cosa = sin 2« = ., und also im neuen Dreiecke der
Winkel 2u nachgewiesen, als dessen Cosinus ,-^ — erscheint. An
diesem Gedankengange ist um so weniger zu zweifeln, als Vieta der
eben erörterten Aufgabe als nächste die der Bildung des Dreiecks
mit dreifachem Winkel^) anschliesst. Durch Vervielfachung von
A' = B'-\- D' mit (Ay^ = (2BDf -f (B^ — B^- erhält er
^) Vieta pag. 3S: Triangultim rectangulum a dudbiis radicibus effingerc.
-) Ebenda pag. 36: A duohus triangulis rectangulis aequalibus et aequiangulis
tertium triangiiJum rectangulum constitiiere. ^) Triangulum anguli tripli.
634 60. Kapitel.
(J.3)2 = (^3 _ 352)2)2 + i^B'-I) — 1)3)2
und
sin 3« = sin cc • cos 2« -|- cos a • sin 2«
n B'-—B-B 2BD 3B-D — D'
A A- ' A A- A^ '
was wirklich für den einen spitzen Winkel des neuen, dritten Dreiecks
zutrifft. Sogar zum allgemeinsten Falle erhebt sich Vieta^) und er-
kennt, dass die stets nach gleicher Vorschrift vorgenommene Bildung
des «-ten Dreiecks aus dem [n — l)-ten und dem ersten einen spitzen
Winkel na entstehen lässt. Mit anderen Worten: Vieta kannte
die Formeln, welche sin «a und cosna aus sincc und cos a
zusammensetzen, nur dass er D statt sin a und B statt cos a
schrieb und die Hypotenuse des ersten Dreiecks A, die des n-ten
Dreiecks A"- nannte. Die noch folgenden Sätze können, als von weit-
aus geringerer Wichtigkeit, übergangen werden.
Auch fünf Bücher Zetetica^), von welchen ein Abdruck von
1593 bekannt ist, müssen 1591 vorhanden gewesen sein. Man schil-
dert sie am Zutreffendsten als eine Sammlung von Aufgaben, welche
Diophant entlehnt oder nachgebildet sind. Als einzelnes Beispiel
erwähnen wir die 2. Aufgabe des Y. Buches 3), welche drei in arith-
metischer Progression stehende Quadratzahlen verlaugt. Als das erste
Quadrat setzt Vieta A\ als das zweite {A + Bf = A^ -\-2AB + B-,
das dritte muss folglich A~ -\- AlAB -\- 2B'^ heissen und möge
{B — Ay sein. Diese letzte Gleichung giebt, wie ohne weitere
Zwischenrechnung gesagt wird , A = ^ . ^j. • Dann heisst es
sofort weiter: die Seite des ersten Quadrates ist folglich proportional,
similis, D- — 2B^, die des zweiten proportional D^ -j- 2B^ -f" 2BDj
die des dritten proportional B- ~\- 2B- -\- ABB.
Immer wieder dem gleichen Jahre 1591 gehören nach dem
öfters von uns benutzten Inhaltsverzeichnisse die Abhandlungen De
aeqiiatioiiem reco(jnitionc et cmcndatione^) an, welche erst 1615 aus
Vieta's Nachlasse durch Anderson dem Drucke übergeben worden
sind. Die Bezeichnung wechselt in diesen Abhandlungen ebenso wie
der Druck. Während der eigentliche Text die Buchstabenbezeich-
nung in der Art durchführt, wie wir sie als Vieta's Eigenthum kennen
gelernt haben (also Vocale für Unbekannte, Consonanten für Bekann-
^) Vieta pag. 37: Consectarium generale in didiictionibus triangulorum
rectangulorum. ^) Ebenda pag. 42—81. ^) Ebenda pag. 76: Invenirc
numero tria quadrata aequo distantia intervaUo. *) Ebenda pag. 84 — 126
die erste Abhandlung: De recognitione und pag. 127— 158 die zweite: De emen-
datione. Ihre Zusammengehörigkeit tritt in den Benennungen als Tractatus
primus und Tractatus secundus hervor.
Rechenkunst und Algebra. 635
tes, den Buchstaben nachgesetzte Silben quad., cub. u. s. w. zur Be-
zeichnung der Potenzirung, diesen wieder nachgesetzt Zahlenfactoreu)
enthalten jedem Kapitelchen beigefügte Anmerkungen Zahlenbeispiele,
welche ausser durch die Verschiedenheit der Typen auch dadurch
sich unterscheiden, dass in ihnen die Unbekannte und ihre Potenzen
durch N (numerus), Q, C mit ihnen vorausgehenden Zahlenfactoreu
ausgedrückt werden. Im Texte steht z. B. Äq4:, während die An-
merkung 4^ enthält. Man könnte geneigt sein, diese Anmerkungen
als von Anderson hinzugefügt anzunehmen, dem Vieta's Notizbücher,
Adversaria, zur Herausgabe anvertraut worden waren, wenn nicht
gerade dieser selbst in einer Vorrede, welche in die Gesammtausgabe
von 1646 übergegangen ist, erklärte, sowohl die Gleichungen als die
nachträglichen Beispiele^) hätten sämmtlich von ihm nochmals nach-
gerechnet werden müssen. Uns gelten desshalb also auch die An-
merkungen als von Vieta herrührend, und darin machen uns die ein-
leitenden Worte des Herausgebers der Gesammtwerke nicht irre, „das
Folgende sei, was er über die Anmerkungen Anderson's hinaus zu
bemerken gefunden habe"^), denn wir verstehen unter diesen Anmer-
kungen Anderson's einen Zusatz am Schlüsse der Emendatio, der
ausdrücklich dessen Namen führt ^). Aus der Recognitio heben wir
nun Folgendes hervor. Vieta spricht die Aufgabe der eigentlichen
Gleichungsauflösung in anderer Form aus. Nicht um die Auffindung
einer Unbekannten handelt es sich, sondern um Herstellung einer
aus einer gegebenen Anzahl von Gliedern bestehenden geo-
metrischen Progression, Aehnlich war die Fragestellung schon
bei italienischen Schriftstellern gewesen (S. 487), Veranlassung konnte
jene mit einer arithmetischen Indexreihe verglichene Reihe der auf
einander folgenden Potenzen der Unbekannten gegeben haben, welche
uns wiederholt aufgefallen ist. Aber Vieta ging über seine Vorgänger
weit hinaus. Die quadratische Gleichung leitet sich für ihn aus
einer der drei stetigen Proportionen:
:{A + B)
Ä:Z = Z:{Ä — B)
:(B-Ä)
ab'^), welche Z- als Product zweier Factoren Ä(Ä^B), Ä{Ä — B),
Ä(B — Ä) darstellt. Im letzten der drei Fälle ist die gegebene
Zahl B in zwei Theile zerlegt, deren jeder als die Unbekannte be-
^) Vieta pag. 83: exemplorum notae epilogisticae. -) Ebenda pag. 549:
Praeter ea qiiae hie adnotavit Andersotius animadvertimus porro liaec quae seqmin-
tur. ^) Ebenda pag. 159—161: Appendix ab Älexandro Andersono operi sub-
nexa. *) Ebenda pag. 85 — 86.
636 69. Kapitel.
trachtet werden kann, und darin liegt der Grund der Zweideutigkeit
solcher Aufgaben. Die kubische Gleichung stammt aus einer geo-
metrischen Reihe von vier Gliedern^). Ist B das gegebene erste,
A^ . A^
Ä das unbekannte zweite Glied, so wird — das dritte, ^ das vierte
Glied, und kennt man uun noch Z als Summe des zweiten und
vierten Glieder, so entspricht die Aufgabe der kubischen Gleichung
A' = B'Z — B'-A. Aehnlich wird auch die Gleichung A^ — ?>B^A
= B^I) einer viergliedrigen Reihe entnommen. Heisst diese Reihe a, ae^
ae^, ae^ und ist gegeben die Summe D und das Product B^ der beiden
äussersten Glieder, so entspricht die Summe A der beiden inneren Glieder
der ebengenannten Gleichung. Hier ist die Uebereinstimmung mit den
erst in Erinnerung gebrachten Italienern so gross, dass zur Gewissheit
wird, Vieta habe deren Schriften gekannt, was ohnedies durch Zeit-
folge und Verkehrsverhältnisse schon fast ausser Zweifel gesetzt war.
Grade diese Form der kubischen Gleichung bietet aber Veranlassung,
einmal x^ — 300^ = 432 und dann 300^' — ä;^ = 432 ins Auge zu
fasssen"), deren erste durch a; = 18, die zweite durch ^ = 0 + "|/57
erfüllt wird. Vieta vereinigt nicht alle drei Auflösungen, indem er
der Gleichung 300ic — x^=4d2 auch die Wurzel x = — 18 zuspricht,
weil er hier wie anderwärts negative Wurzeln nicht anerkennt.
Im Uebrigen erscheint hier bei i> > — Z) der irreductible Fall,
und Vieta verweist für dessen Klarstellung ausdrücklich auf die Lehre
von der Winkeltheilung •^). Damit ist die aus der Schrift über die
Van Roomen'sche Aufgabe schon in hohem Grade wahrscheinliche
Annahme sicher gestellt, dass Vieta zur Lösung des genannten Falles
3 1
von dem trigonometrischen Satze cos a^ — - cos a = ~ cos 3 a aus-
ging, und zu dem gleichen Ergebnisse führte (S. 585) ein genaueres
Studium der 15!) 1 schon vorhandenen, 1593 gedruckten Schrift Supple-
mentum Geometricum. Nun folgen, immer noch in der Recognitio,
Umformungen, transfonnationcs. Zwischen zwei Unbekannten A, E
können die mannigfachsten Beziehungen obwalten. Die erstere A
kann ersetzt werden durch E — B, durch B — E, durch B -\- E,
E , , B
durch r^, durch -,, ; es kann zwischen E^ und AE die Diiferenz,
B' ^ E^
es
kann deren Summe gegeben sein und sonst jede beliebige für zweck-
mässig erachtete Verbindung"^), immer wird an Stelle der Gleichung
^) Vieta pag. 86. ^) Ebenda pag. 'Jl. ^) At elegantius et pracsiantins
ex analyticis angularium sectionum huiusmodi aequalitatum constitutio eruitur.
*) Vieta pag. 92: Postremo per viodos compositos et excogitanda ab artifice et
tentanda, quae suo fini magis inservire coniiciet, figmenta.
Rechenkunst imd Algebra. G37
in A eine solche in E treten, und kennt mtin die Wurzel der einen,
so ist die der anderen raitgefunden. Vieta kommt in höchst eigen-
thümlicher Fassung auf die Vielheit der Wurzeln einer Gleichung zu
reden \). Er fragt nämlich nach den Beziehungen zwischen solchen
Gleichungen, welche nur darin sich unterscheiden, dass die Unbekannte
das eine Mal Ä, das andere Mal E sei, während alle bekannten
Grössen unverändert auftreten. Alsdann könne man, sagt er, diese
bekannten Grössen durch die Ä und E darstellen, und er versteht
darunter die Abhängigkeit der Coefficienten einer Glei-
chung von ihren Wurzeln, i^ -f- G^ in ^ — Äq aequari jP in G
sei z. B. die Gleichung, deren Wurzeln F und G sind. Auch hier
sind aber nur positive Wurzeln gemeint, und einer Möglichkeit nega-
tiver Wurzeln geht Yieta bei quadratischen Gleichungen ebenso aus
dem Wege, wie er es bei kubischen Gleichungen that. Er sagt^),
wenn A^-\-BÄ = Z^ und E^—BE=- Z^, so müsse B=E—A,Z-
= EA sein. Die Abhängigkeit der Coefficienten von den positiven
Wurzeln bei Gleichungen höherer Grade ist Vieta gleichfalls nicht
entgangen, doch hat er diese erst in der Emendatio erörtert, deren
Besprechung wir uns jetzt zuwenden. Die Verbesserung einer Gleichung
besteht in der Anwendung von Mitteln, welche die Recognitio bereits
kennen lehrte. Vieta giebt diesen Mitteln einzelne Namen, welche hier
erwähnt werden mögen, um zu rechtfertigen, was früher von Vieta's
Benennungssucht bemerkt wurde. Expiirgatio per uncias'') ist die
Wegschaffung des zweithöchsten Gliedes in der Gleichung n-ten Grades
durch die Einsetzung von x == y '- , wie man in den Zeichen
neuerer Algebra, deren wir von hier an uns zu bedienen gedenken,
schreiben würde. Insbesondere bei quadratischen Gleichungen in ihren
sämmtlichen drei althergebrachten Formen wird die Anwendung ge-
lehrt und damit jede derselben in eine reinquadratische Gleichung
umgeformt, mithin gelöst. Auch bei der kubischen Gleichung ist die
Anwendung bei allen zahlreichen Einzelfällen, welche sich unter-
scheiden lassen, vorgenommen. Transnmtatio TtQürov — £(?;^aToi'*)
setzt rr = — und schafft dadurch ebensowohl Minuszeichen als irratio-
y
nale Gleichungsconstanten weg. Sei x'*- — 8x = t/^q vorgelegt.
Mittels X = gelangt man zu 1/ -\- Stf = 80. Anastrophe^) findet
ihre Anwendung bei Gleichungen ungeraden Grades und besteht in
Folgendem : ax — x^ == J: lässt die Folgerung x^ -\- if = ax -{- {1/ — Je)
')-V
132
i^ieta pag. lOGsiiq. ^) Ebenda pag. 123—124. ^) Ebenda pag. 127-
') Ebenda pag. 132—134. ^) Ebenda pag. 134—138.
638 'J9- Kapitel.
ZU. Wäre nun \j' — h = ay oder if — ay = 'k, so könnte jene
gefolgerte Gleichung durch x -^ y dividirt werden und gäbe den
Quotienten x^ — yx -f- 2/^ = «, d. h. eine nach x quadratische Glei-
chung, welche leicht gelöst ist, wenn man y kennt. Die Umwendung
bestand also in der Zurückführung von ax — x^ ^h auf y^ — «,'/ = ^'^•
Aehnlich verwandelt man ax:^ — x^ = h. Zunächst schreibt man
x^ -\- y^ = ax^ — (li — y'^)] dann nimmt man an, es sei h — y^ = ay'^,
also ^^ + a^^ = />■ der Lösung unterbreitet; zuletzt wird wieder mit
X -\- y in die dazu vorbereitete Gleichung dividirt, und es entsteht
neuerdings eine quadratische Gleichung x' — yx -\- y"^ =^ ax — ay.
Isomoeria^) heisst die Umwandlung in Folge von x =^ — oder von
X = ay, welche entweder Brüche fortschafft oder Gleichungscon-
stanten herabsetzt. ^^ + 12 ^ "^ I2 ^^^'^^^^^ßl*' ^i^h durch o; = ^ in
y^ + 132^ = 8208, während x^ + 12^- -\-Sx = 2280 durch x =^ 2y
in y^ -\- 6y^ -\- 2y = 285 übergeht. Dann kommt noch Climactica
Paraperosis^) , welche das Rationalmachen einzelner Coefficienten
durch Potenzirung bezweckt, woi-auf der Grad der neuen Gleichung
dadurch wieder herabgesetzt wird, dass man eine Potenz der Unbe-
kannten als neue Unbekannte wählt. Nach diesen fünf Verbesserungs-
verfahren wendet sich Vieta zur Gleichung 4. Grades, die er auf eine
solche 3. Grades zurückführt '^j. Schält man aus den behandelten
Einzelfällen den gemeinsamen Gedanken heraus, so zeigt sich eine
Verwandtschaft mit Ferrari's Verfahren (S. 509), insofern die vom
kubischen Gliede befreite Gleichung so umgewandelt wird, dass eine
Quadratwurzelausziehung thuulich ist, aber volle Uebereinstimmung
ist nicht vorhanden. Vieta schliesst nämlich von x'^ + ax^ -{- bx = c
auf x^ -\- x^ y^ -\- - y^ = x-y^ -{- -i/ -\- c — ax^ — hx oder
{x^ + 1-2/2)2 _ ^y. _ ,,) ^2 _ y.^ ^ (1^4 _|_ ,y
Die Quadratwurzelausziehung rechts ist möglich, wenn
4 Qy2 _ a) i^y' + c) = Iß oder y'' — ay^ -{- Acy- = 4ac -\- h";
beziehungsweise bei y^ = z, wenn z^ — az"- -|- 4c^ = 4«c + &l So
ist Vieta zu der Nothwendigkeit gelangt, die kubische Gleichung auf-
zulösen, und er schlägt dabei einen ihm eigenthümlichen Weg ein*),
welcher um so geistreicher erscheint, je gewisser wir (S. 63G) be-
haupten konnten, dass Vieta mit den Arbeiten seiner italienischen
Vorgänger bekannt gewesen sein muss. Sei a;^ -f- Sarc = 26, so ist
1) Vieta pag. 138— 139. *) Ebenda pag. 140. ^^ Ebenda pag. 140— 148.
< Ebenda pag. 149—156.
Rechenkunst und Algebra. 639
y- -j- Ay = n zu setzen, also x = —, wodurch die gegebene Glei-
chung in die nach if quadratische Form if -\- 2l)'iß == a^ übergeht.
Wie kam Vieta zu dieser Substitution? Er sagt es nicht, aber es ist,
glauben wir, gelungen^), seinen Gedankengang herzustellen. Er mag
x^ -\- 'dax = X (x^ -\- ?)d) gesetzt und an seine Anastrophe gedacht
haben, d. h. er wollte den einen Factor als Differenz z — Z:, den
anderen als z^ -\- 1: z -\- Ji?' herstellen, damit als Product die Differenz
z^ — If auftrete, auf welche Tartaglia's Verse schon hinwiesen (S. 488).
Ist aber x =^ z — /.-, so ist x^ -\- ^a =^ z^ — 21iZ -\- l^ + 3^; "^^^
dieses wird zu /- -j- JiZ -\- A", wenn ^ = y, d. h. a-' = -jr — k = — t —
Nun war bei dieser Annahme die Unbekannte ganz verloren ge-
gangen. Vieta versuchte, ob li = y gesetzt deren Stelle einnehmen
könne, und das Gelingen des Versuchs bildete die neue Auflösung.
Vieta giebt nun noch eine Anzahl von Betrachtungen, welche auf
besonders geformte Coefficienten, auf Rationalität oder Irrationalität
der Gleichungswurzel u. s. w. sich beziehen und schliesst die Ab-
handlung mit einem Collectio quarta überschriebenen KapiteP), welches
den Zusammenhang zwischen den positiven Wurzeln einer Gleichung
und deren Coefficienten vollständig enthüllt, welcher in der Recognitio
erst angedeutet war. Die Gleichungen 2., 3., 4., 5. Grades werden
vorgeführt: a; = a, x = b seien die zwei Wurzeln von
(a -\- h) X — x^ ^= ah-^
X = a, X = 1), X = c seien die drei Wurzeln von
x" — (rt -\- h -\- c) x^ -{- (ab -\- ac -\- hc) X ^= ahc-^
X = a, X = h, a; = c, x = d seien die vier Wurzeln von
{ahc -f- ahd -(- acd -\- hcd)x
— [ah -\- ac -{- ad -^ hc -\- hd -\- cd) x'-
+ (a + ?> + c -f d) x^ — x^ = ahcd-^
X = a, X = h, X = c, X =^ d, x = e sind die fünf Wurzeln von
a;^ — (a + 6 + c ■+ f7 -f e) ai*
-f- (ab -{- ac -{- ad -{- ae -{- bc -{- bd -j- be -j- cd -j- ce -{- de) x^
— (abc -\- abd -\- abe -]- acd -{- ace -\- ade -\-bcd -\-bce-\-bde-{- cde) x^
-\- (abcd -f- abce -\- abde -{- acde -f- bcde) x = abcde,
und damit wolle er die Abhandlung krönen; er habe anderwärts aus-
führlich davon gehandelt^). Wo diese ausführliche Behandlung statt-
fand, ist durchaus unbekannt; wir wagen es kaum, unsere Leser an
'■) Marie, Histoire des sciences mathematiques et physiques III, 59 — 60.
-) Vieta pag. 158. ^) Ätque haec elegante et perpuMwae speculationis sylloge,
tractavi alioquin effuso, finem aliqaem et Coromdem tandein imposito.
640 C9- Kapitel.
die verlorenen Nntae posteriores ad Logisticen speciosam denken zu
lassen. Auffallen könnte der Wechsel der Anordnung in den vier
Gleichungen. Beim 2. und 4. Grade beginnt das Gleichungspolynom
mit der ersten, beim 3. und 5. Grade mit der höchsten Potenz der
Unbekannten. Der Grund davon liegt auf der Hand. Vieta will die
Gleichungsconstante immer positiv und will auch das Gleichungs-
polynom immer mit einem positiven Gliede anfangen lassen.
Wir sind bei der letzten Abhandlung Vieta's angelangt: De mi-
merosa iiotestatum imraruni atqne adfectarum ad exegesin resolufione^).
Auch sie steht im Bande von 1591 als eine Abtheilung der Algebra
vorn aufgezeichnet, aber auch sie ist erst wesentlich später gedruckt.
Ghetaldi hat 1600 in Paris die Herausgabe besorgt"). Zuerst ist
die Auflösung von reinen Gleichungen vollzogen^), wozu es selbst-
verständlich nur Wurzelausziehungen bedarf. Vieta zieht solche
Wurzeln bis zur sechsten, wobei die Binomialcoefficienten der
betreffenden Potenz als bekannt vorausgesetzt sind; langwierige
Rechnungen, deren Unverlässlichkeit es geradezu zu einer Lebensfrage
der Rechenkunst machte, bald ein anderes sie ersetzendes Mittel zu
ersinnen. Der weit umfassendere zweite Abschnitt'^) handelt von den
unreinen Gleichungen, welche in näherungsweiser Auflösung
nach einem der Wurzelausziehung verwandten Verfahren behandelt
werden. Es ist ein Verfahren, welches zwar mit dem Grade der
Gleichung sich ändert, mithin als ein vollkommen einheitliches nicht
erachtet werden kann 5 als weiterer Mangel ist stets die Auffindung
nur einer, und zwar positiven Wurzel angestrebt, aber immerhin ist
der Grundgedanke ein bleibender und ein weit vollkommenerer als
der, dessen Erfinder Stevin wai-. Sei die quadratische Gleichung
X' -\- ex = a zu lösen, welche durch die Wurzel x = x^ -^ x.^ -^ x.^
erfüllt werde, deren einzelne Bestandtheile Ziffern von aufeinander-
folgendem Stellenrange bedeuten sollen. Die Gleichung nimmt durch
Einsetzung dieses Werthes die Gestalt an:
a = x^- -\- 2a\x.^ -j- ^2" + 2.17^.^3 + ^^'2^3 + ^3" + cx^ -\- cx.^ + cx^
= Xy- -f cx^ + (2x^ + c)x, + ,r,- + {2{Xi + x^) + c^x^ -f x^\
Man sucht zuerst x^, was verhältnissmässig leicht ist, bildet alsdann
a — x^^ — cx^ und sucht mittels Division durch 2xj^-{- c die nächste
Stelle x.^ zu ermitteln u. s. w. Wir wollen Vieta's Beispiel
x^ -\- Ix = 60750
prüfen^). Hier ist x^ = 200. Dann ist 60750 — 41400 = 19350
durch 2x^ -f- 7 = 407 zu dividiren, wodurch
') Vieta pag. 163—228. -) Ebenda pag. 550. ^) Ebenda pag. 163—
172. ") Ebenda pag. 173—228. ^) Ebenda pag. 174—175.
lleclienkuust und Algebra. 641
X, = 40, {2x, + c)x, + X,' = 17880
entsteht, und der nächste Rest ist 19350 — 17880 = 1470. Der wei-
tere Divisor ist 2{xi + ^'2) + ^ = 487, der Quotient also x^ = 3.
Nun lässt (2(^i\ -\- X.2) + f)-''3 + ^'s^ == 1470 den Rest 0 erscheinen,
folglich ist X = 243. Bei einer Gleichung dritten Grades x^ -j- ex = a,
deren Wurzel wieder als x ^= x^^ -{- x^ -j- x.^ gedacht ist, findet sich
durch Einsetzung dieses Werthes und leicbte Umformung
rt = a;\-\- ex, + (^x^ + c).-, + ißx, + x,)x^ + {^dQr, + xj'-^f)x,
und die Anwendung \) auf x^ -\~ i^Ox = 14356197 liefert abermals
X = 243. Zur Auflösung von x^ -\- ex' = a führt die Formel -)
a = x,^-\- ex,' + (3^,2 ^ 9cx,)x., + (3.r, + x, + c)x,'
+ (3(^, + a^,y + 2c(^, + x^x, + (3(.-, + .,) + .3 + c) ^,1
Wir begnügen uns mit dieser Angabe und mit der Bemerkung, dass
Vieta als so unerschrockener Rechner sieh bewährt, dass er an die
Gleichung x^ -f 6000.r = 191246976 sich wagt'"). Auch Fälle mit
negativem x werden dann untersucht, wie^) x^ — 240a; = 484 mit
der Wurzel x = 242 u. s. w.
Den Leistungen eines Vieta gegenüber, welche seit 1591 zur
Veröffentlichung vorbereitet, theilweise seit eben jener Zeit veröffent-
licht worden sind, erscheint doppelt dürftig, was im letzten Jahrzehnt
des XVI. Jahrhunderts in Deutschland unter dem Namen Algebra
gedruckt werden konnte. Wir müssen dahin die (S. 612) im Vorbei-
gehen erwähnte, 1592 gedruckte Algebra von Ramus zählen, für
welche vielleicht mit mehr Recht Lazarus Schoner verantwortlich
zu machen ist, dahin auch ein Rechenbuch von Andreas Helm-
reich^) von Eissfelde, Rechenmeister und Visirer zu Halle, welches
1595 die Presse verliess Wir bemerken, dass Ramus die unbekannte
Grösse durch l als Anfangsbuchstaben von latus bezeichnet. Helm-
reich und sein Buch würden wir der verdienten Vergessenheit über-
lassen, wenn es nicht eine eigenthümliche Uebereinstimmung mit der
(S. 612) gleichfalls erwähnten Göttinger Handschrift von 1545 — 1548
zeigte, welche einen immerhin beachtenswerthen Gegenstand betrifft.
Bei Helmreich findet sich eine geschichtlich sein sollende Notiz von
einem Algebras zu Ulem, dem grossen Geometer in Egypten zur
Zeit des Alexandri Magni, der da war ein Präceptor Euklid's des
^) Vieta pag. 177—178. ^) Ebenda pag. 180. Vieta's Beispiel ist
x^ -f 30a::* = 86220288. ^) Ebenda pag. 193. \) Ebenda pag. 197.
^) Kästner I, 147—149.
Cantor, Geschiclite der Mathom. U. 2. Aufl. 41
642 69. Kapitel.
Fürsten von Megarien und dergleichen tolles Zeug noch mehr. Genau
derselbe Wust eröffnet als Prolog jene Handschrift, nur noch etwas
ausführlicher. Auch eine noch ältere, auf das XIV. bis XV. Jahrhundert
geschätzte Handschrift in Dresden ^J enthält ähnlichen Wust. Da soll
das Buch arabisch verfasst sein zur Zeit Alexander des Grossen, von
diesem ins Indische, von Archimed ins Griechische, von Appulejus
ins Lateinische übersetzt sein. Die Anfangsworte der Göttinger
Handschrift lauten: Älgehme Ärahis Arithmeüci viri Clarisshni
liber ad Ylem Geometram praecejitorem suum, und das Sonderbarste
dabei ist, dass dieses Ylem, wie es bei dem Einen, Ulem,
wie es bei dem Anderen heisst, eine Verketzerung eines arabischen
Wortes, welches Lehren bedeutet, sehr ähneln soll, wie Sprachkun-
dige uns versichern. Hier könnte also die Erinnerung, wenn nicht
gar die mittelbare Erhaltung einer sonst nicht näher bekannten
arabischen Algebra vorhanden sein.
Dem gewiss gerechten Bedauern über die Drucklegung so un-
bedeutender Leistungen in Deutschland könnte ein mit der Literatur
geringen Gehaltes in anderen Ländern genauer bekannter Leser viel-
leicht ein Wort des Trostes entgegensetzen, es sei auch dort die
Druckerschwärze nicht selten missbraucht worden. Wir begnügen
uns mit dem jedenfalls angenehmeren Gefühle, zum Schlüsse des Ab-
schnittes auch noch Männer nennen zu können, welche in Deutsch-
land sich wirkliche Verdienste um die Algebra erworben haben: Joost
Bürgi, Pitiscus und Raimarus Ursus. Bürgi-j kam zu den algebrai-
schen Arbeiten bei Berechnung einer genauen Sinustabelle, die selbst
einen doppelten Zweck erfüllen sollte. Sie sollte einmal da dienen,
wo in Folge trigonometrisch behandelter Aufgaben Sinusse vorkamen,
sie sollte zweitens bei prosthaphäreti sehen Multiplicationeu
in Anwendung treten. Es ist (S. 454) gezeigt worden, worin dieses
Verfahren bestand, und (S. 597) dass es Werner zugeschrieben wor-
den ist. Damit fällt die Erzählung, welche Raimarus Ursus ent-
stammt^;. Der eigentliche Erfinder wäre darnach Paul Wittich
aus Breslau, der um 1582 bei Tjcho Brahe auf der Insel Hveen
war und dort, vielleicht mit Tycho gemeinsam, das Verfahren ersann
und übte. Als er etwa 1584 nach Kassel kam, habe er es ohne Be-
weis Bürgi mitgetheilt, der nun selbst einen Beweis fand, dabei die
Fruchtbarkeit des Satzes erkannte und ihn erweiterte. Wittich's Satz,
^) Codex Drestlensis C. 405. Curtze brieflich. ^ Vergl. einen Auszug
aus den in Pulkowa aufbewahrten Bürgi'schen Papieren von Rud. Wolf in
des.sen Astronomischen Mittheilungeu Nr. XXXI (Zürich 1872). ^) Rud. Wolf,
Astron. Mittheilungon Nr. XXXI S. 10—11 und Nr. XXXII S. 55—67.
Rechenkunst und Algebra. 643
den er sehr wohl selbständig nacherfunden haben kann, war vermuth-
lich der folgende:
sin tt-smß= ~ [sin (90" — a + ß) — sin (90» — a — ß)]
d. h.
sin a • sin /3 = ^ [cos (a — ß) — cos (u -j- ß)]
unter der Voraussetzung a -\- ß <. 90", und Bürgi's Erweiterung Hess
a -{- ß^ 90" zu , so dass alsdann
sin a • sin /3 = y [sin (90" — a -\- ß) -\- sin (a -{- ß — 90")].
Gegenwärtig ist dieses wegen sin J^ = — sin ( — Ä) sofort einleuchtend
und bedarf keines neuen Beweises. In den achtziger Jahren des
XVI. Jahrhunderts war das noch wesentlich anders, und jede Formel
musste besonders entdeckt werden. Wir erinnei-n nur an die noch
anderen , wenn auch prosthaphäretischen Formeln sehr nahe ver-
wandten Gleichungen des Rhäticus (S. 602). Um so überraschender
ist eine weitere Anwendung, welche Bürgi von dem Gedanken der
Prosthaphäresis machte, und die in wiederholter Benutzung desselben
unter wahrscheinlich erstmaliger Einführung eines Hilfswin-
kels besteht. Die Formel der sphärischen Trigonometrie
cos a = cos & • cos c -\- sin h • sin c • cos vi
verwandelte er durch sin & ■ sin c = — [cos (6 — c) — cos (h -{- c)] = cos x
in die nur Additionen erfordernde Gestalt
cos a = — [cos (b — c) -\- cos (h -\- c) -\- cos (x — ^) + cos {x -j- Ä)] .
Ein gewisser Jacob Curtius scheint dann Clavius von der prostha-
phäretischen Methode Kenntniss gegeben zu haben, der selbst wie-
derum an Tycho darüber schrieb. Andere erhoben gleichfalls An-
sprüche auf die Urheberschaft der damals wichtigen Methode, aber
ohne dass dieselben gerechtfertigt erscheinen. Jedenfalls war also
Bürgi's Augenmerk auf die Herstellung einer genauen Sinustafel ge-
richtet, und dazu musste er in geometrische Untersuchungen ein-
treten, welche ihm Gleichungen zwischen einer Sehne und der Sehne
des w-ten Theils ihres Bogens verschafften. Bei n==2 war das Quadrat
der Sehne Ax^ — a;*. Bei w = 3 war die Sehne 3a? — x^. Bei w = 4
war das Quadrat der Sehne 16a;- — 20a;* -|- 8x^ — a;^, wofür Bürgi
n IV VI VIII
16 — 20 -\- 8 - — 1 schrieb, und ähnliche Gleichungen leitete er ab
bis zu n = 20. Die Schreibweise, welche wir eben als die Bürgi's
bezeichneten^), und welche wiederholt in dessen Papieren älteren
') Rud. Wolf, Astronom. Mittheilungen Nr. XXXI S. 18.
41 =
644 69. Kapitel.
Datums vorkommt, aus einer Zeit, in welcher Bürgi noch nicht mit
Kepler bekannt war, ähnelt der von Bombelli sowie der von Stevin,
doch dürfen wir desshalb die Selbständigkeit Bürgi's hier so wenig
anzweifeln, als bei der Erfindung der Decimalbrüche (S. 617). Wir
haben das frühe Datum betont, zu welchem Bürgi seiner Bezeichnung
der Potenzen der Unbekannten sich bediente, weil damit ein Wider-
spruch, wenn nicht erklärt, doch unwirksam gemacht wird, der in
einem Ausspruche Kepler's enthalten ist. Im I. Buche der 1619 ge-
druckten Harmonice mundi setzt Kepler mit ausdrücklicher Berufung
auf Bürgi die Gleichung auseinander, welche die Seite des regel-
mässigen Sehnensiebenecks im Kreise vom Halbmesser 1 bestimmen
lasse. Bürgi, sagt er^), schreibe IjB, 1§, Ic, I55, l^c u. s. w, und
dann fährt er fort: quod nos commodius signabimus per apices sie, was
ich bequemer durch Gipfelzahlen bezeichnen will, nämlich so
1, 1^, 1", 1™, Pv, 1^; 1^1, 1^" etc .
Man wird darnach annehmen müssen, dass Bürgi in seiner Schreib-
weise wechselte, und dass er gerade an der hier von Kepler erwähnten
Stelle sich der althergebrachten Bezeichnungen bediente, welche dann
Kepler durch diejenigen ersetzte, von denen er wusste, dass Bürgi
sich ihrer meistens zu bedienen pflegte. Dass er letzteres nicht durch
eine besondei-e Bemerkung hervorhob, mag darin seinen Grund geha))t
haben, dass er der Sache keine übermässige Wichtigkeit beilegte und
sich keineswegs eine Erfindung zuschreiben, sondern eine getrofi"ene
Abänderung entschuldigen wollte. Die Stelle des Kepler'schen Werkes
lehrt in ihrer Fortsetzung noch zwei hochwichtige Dinge kennen,
welche als Bürgi's Eigenthum erscheinen. Die betreffende Gleichung
der Siebenecksseite, heisst es nämlich weiter, sei die folgende: figurae
nihUi aeqiie valent quantitates hae
71 _ 14111 _|_ 7v _ ivii ^el 7 — 14" + 71^' — VK
Prodit autcm Uli ex aeqmdione, quam iuvat mechanice, vnlor radlcis
non unus, sed in quinquangido dm, in srptangido Urs, in nonangulo
qucduor et sie eonsequenter. Bürgi hat darnach mit vollem Bewusst-
sein erstens die Gleichung auf Null gebracht, zweitens erkannt,
dass unter Benutzung derselben Theilpunkte der Kreisperipherie als
Eckpunkten 2 Fünfecke, 3 Siebenecke, 4 Neunecke u. s. w., allgemein
n Vielecke von 2n -\- 1 Seiten möglich seien, wenn man ausser dem
convexen Vielecke auch die Sternvielecke verschiedener Ordnung in
Betracht ziehe, und dass die Seiten der letzteren Vielecke die
weiteren Wurzelwerthe der gegebenen Gleichung seien. Wir
') Opera Kepleri (ed. Frisch) V, 104.
IJcclicnkunst und Algebra. ß45
haben gesagt, dass Bürgi Gleichungen zwischen den Sehneu des ein-
fachen und des w-fachen Bogens bis zu n = 20 abgeleitet habe. Er
hat sie auch in Form einer Tabelle zusammengestellt, deren beliebige
Ausdehnung möglich sei. Um die Sehne von 4 Winkelsecunden zu
erhalten, müsse man erwägen, dass
360« = 360 . 60 • 60 = 1296000"
das 324000-fache von 4" sei, und müsse die Tafel so weit verlängern.
„Ich will Dirs aber nit rathen diss zu besorgen. Du möchtest das
Nachtmahl darüber versäumen" meint er dabei und fährt fort, man
könne, wegen 324000 = 2^ . 3^ . 5^, sich etwas leichter die noth-
wendige Gleichung verschaffen, indem man 5 Verdoppelungen des
Bogens, 4 Verdreifachungen, 3 Verfünffachungen nach einander vor-
nehme. Bürgi war also , und zwar muthmasslich gleichfalls selb-
ständig, zu ganz ähnlichen Ergebnissen gelangt wie Van Roomen
und Vieta jeder für sich (S. 606). Die Frage, welche uns gegen-
wärtig die bedeutsamste ist, richtet sich darauf, wie Bürgi die einmal
aufgestellten Gleichungen von theilweise sehr hohem Grade zur
näherungsweisen Auflösung brachte. Bei der Dreitheilung kam es,
wenn x die Sehne des einfachen, 1 die Sehne des dreifachen Bogens
darstellte, auf die Gleichung 1 = 3a; — x^ an und dabei insbesondere
auf die Auffindung einer Verbesserung z/.t^ , nachdem ein Näherungs-
werth x^ einmal gefunden war. Die Einsetzung von x =^ x^ -{- Ax^
in 1 = 3;r — x^ liefei-t
?ix^ . Ax^ -\- ox^ . Ax{- + Ax^ — ?i/lX]^ = Zx^ — x^ — 1
= (3 — x^) x^ — \
?, — x^^)x^ — 1
gewiss nicht erst zu sagen, dass Bürgi keine auch nur ähnliche Ent-
wickelung vornimmt, Thatsache ist aber, dass er bei der wirklichen
Rechnung nur den im Nenner auftretenden Theil (3.^^ -j- Ax-^ <4x^
durch "ixy . 10" ersetzt, wo n die Stellung der gesuchten Verbesserung
bestimmt, beziehungsweise den Rang derjenigen decadischen Einheit
ergiebt, welche grösser ist als die Verbesserung. Er setzt nämlich
x^ =^ 1 and gleichzeitig u == 0, so wird Ax^ ^ .^ = 0,5 und
Xj^ -\- A x^ = X.2 ^ 1,5. Jetzt wird n ^= — 1 und
. (3 — 1,52)1,5 — 1 0,125
l,52 + 2.1,5.i-(8-l,5^) ^'^^
> 0,03.
Man wird daher Ax^ = 0,03, x.2 -j- AXq, = ^3 = 1,53, n = — 2
setzen müssen, und das ist es, was Bürgi thut! Bei höherem
Grade der Gleichung rechnet Bürgi nach einer verfeinerten Methode
646 69. Kapitel.
des doppelten falschen Ansatzes, auf welche auch Cardano's goldene
Regel sich gründete (S. 506). Der Auszug aus der Pulkowaer Hand-
schrift, welchem wir folgen, giebt als Beispiel Bürgi's Behandlung
der Neunecksgleichung 9 — 30a;- -\- 21 x^ — 9x^ -\- x^ =0. Durch
graphische Versuche wird gefunden, dass 0,68 < a: < 0,69, d. h. dass
eine Länge von 0,68 des Halbmessers eines Kreises in den Zirkel
genommen mehr als 9 Mal im Umkreise sich auftragen lässt, wäh-
rend 0,69 bei gleichem Versuche über den Ausgangspunkt hinaustrifft.
Jetzt beginnt für Bürgi die Rechnung und indem er für x die beiden
genannten Werthe in die Gleichung einsetzt, findet er selbstverständ-
lich als Summe des Gleichungspolvnoms nicht 0, sondern -j- 0,0569
bei x = 0,68 und — 0,0828 bei x = 0,69. Einer Zunahme von x um
0,01 entspricht eine Abnahme des Gleichungspolynoms von 0,1397.
Damit 0 entstände, müsste die Abnahme 0,0569 betragen, Bürgi setzt
desshalb in Proportion 0,1397 : 0,0569 = 0,01 :z/a; mit ^x = 0,0040.
Behufs einer zweiten Rechnung wird nun x = 0,6840 und x = 0,6841
eingesetzt. Die hier auftretenden Fehler sind -(- 0,00056410 bei
X = 0,6840 und — 0,00004029 bei x = 0,6841. Aus ihnen folgt die
Proportion
0,00140012 : 0,00056410 = 0,0001 : zJx mit zlx = 0,00004029,
und folglich ist in sehr bedeutender Annäherung a:== 0,68404029 zu setzen.
Die gleiche Aufgabe der Auffindung von Sehnen einfacher Bögen
aus denen der w-fachen Bögen mit Hilfe von zwischen diesen Strecken
obwaltenden Gleichungen höherer Grade hat Pitiscus im zweiten
Buche seiner Trigonometrie von 1612 erklärtermassen im Sinne
Bürgi's (S. 619j gelöst^). Die nach der Regel des doppelten falschen
Ansatzes geführten Rechnungen stimmen auch vollständig mit Bürgi's
Gedankengange überein. Pitiscus will z. B. aus der Sehne von 30",
welche 5176381 zur Länge hat, die von lO*' berechnen. Die Gleichung
heisst hier a = 3x — x^, wo a die bekannte Sehne bedeutet-). Aus
ihr folgt ^ = Y + Y oder a; > -^ • Nun ist — = 1725460, und
etwas grössere Zahlenwerthe wären 1730000, 1740000, 1750000.
Die Annahme a; = 1730000 giebt 3a; — a;^ = 5138223 oder 38158
zu wenig. Die Annahme x = 1740000 giebt dx — x^ = 5167320
oder 9061 zu wenig. Nun wird nach den Regeln des doppelten
falschen Ansatzes 1740000 • 38158 — 1730000 • 9061 = 50719390000
durch 38158 — 9061 = 29097 dividirt, wodurch der Quotient 1743114
^ Pitiscus, Trigonometria (1612) pag. 44: Adhuc aliter, per subtensas et
per Älgebram ex mente lusti Byrgii (Algehram qui nescit, Algehraica transüiat,
hie et per totum reliqiium Hbrvm. Non enim necessitati, sed tantuvi curiositati
haec data sunt). *) Ebenda pag. 51 — 53.
Eechenkunst und Algebra. 647
sich ergiebt, und dieser dient als neuer Näherungswertli. Setzt man
ihn in 3a; — x^ ein, so entsteht 5176378 oder 3 zu wenig. Richtig
muss demnach ein x sein, welches um ein Geringes grösser ist als
1743114. Der Versuch zeigt, dass 1743115 bereits zu gross ist,
dass also x zwischen den beiden angegebenen Zahlen liegt, welche
ganzzahlig geschrieben ebenso wie der Zahlenwerth von a als Theile
des zu 10000000 angesetzten Halbmessers verstanden werden müssen.
Die Zwischeurechnungen sind bei Pitiscus nicht ausführlicher als hier
in unserem Berichte mitgetheilt. Algebraisch nennt Pitiscus folgende
Behandlung z. B. der Gleichung (lOOOOOOO)^ = 4x^- — x^, welche x
als Sehne von d(f enthält, wenn die Sehne von 60° oder der Halb-
messer als 10000000 gegeben ist^). Die durch x^ = y umgeformte
Gleichung 4?/ = 10^* -|- tß lässt erkennen, dass man 4 als Divisor
des Ausdruckes rechts zu benutzen hat, dem man aber bei Fort-
setzung der Division immer die Verbesserung y^ wieder hinzufügen
muss. Ist etwa y = ?/i + 2/2 + 2/3 + • ••, wo y^, «/,,, ^3 • • . aufeinander-
folorende Stellen bedeuten, so kommen bei fortschreitender Division
regelmässig zwei Nullen vom Dividendus an den Theilrest herunter,
und überdies ist bei der ersten Division an der niedrigsten Stelle,
d. h. rechts, ?/^"- zu addieren, bei der zweiten Division ebenda
-^1^2 + V'ii ^®^ *^®^' dritten 2(3/^ + ^2) Vi + Vi' "• s- "^- 2^°^ ^i^"
desten geht solches aus dem Verfahren des Pitiscus hervor, das Ver-
fahren zu erläutern schien ihm entweder überflüssig oder unausführbar.
Er rechnet 1:4 = 0, 10 : 4 = 2, nimmt also y^ = 2, y^^ = 4 und
bildet 100 -f- 4 — 80 = 24 beziehungsweise unter Herabziehung von
zwei Nullen 2400. Nun heisst es weiter
24 : 4 = 6 = y„ 2y,y, + y^ = 2 • 20 • 6 + 36 = 276,
also 2400 + 276 — 2400 = 276 ist der neue Rest, 27600 der neue
Dividendus. 27 : 4 = beinahe 7 = 1/3. Nun folgt
2(^1 + y-2) 2/a + ^s' = 2 • 260 . 7 + 49 = 3689,
27600 + 3689 — 28000 = 3289 und 328900 als neuer Dividendus
u. s. w. Wir sahen, dass y^ etwas grösser gewählt wurde und ge-
wählt werden durfte, als 27 : 4 eigentlich zulässt, weil vor der Ab-
ziehung des Theilproductes der Theildividendus noch eine Ergänzung
erfuhr. Das Gleiche tritt jedesmal ein, und demgemäss wird man
stets den Versuch wagen müssen, den Theilquotienten eher etwas zu gross
als zu klein zu wählen. Pitiscus nennt bei dem soeben beschriebenen
Verfahren die unbekannte Grösse latus und bezeichnet sie, ihr Quadrat
und Biquadrat durch ?, q, hq. Daneben hat bei ihm l auch die Be-
deutung der Seite eines gegebenen Quadrates, d. h. einer Quadratwurzel.
') Pitiscus, Trigonometria (1612) pag. 47— 49.
648 69. Kapitel. Rechenkunst und Algebra.
Noch ein zweiter Scliüler Bürgi's hat auf Auflösung von Zahlen-
gleichungen sein Augenmerk gerichtet: Raimarus Ursus^), als Yer-
besserer des Junge'schen Verfahrens (S. 626). Raimarus schlägt
nämlich vor, statt eines beliebigen Versuchswerthes der unbekannten
Grösse einen derartigen zu vrählen, dass die Muthmassung „nicht
mehr so vnendlich circumvagiern vnd vmbschweiffen mag". Dazu
habe man ein Mittel „durch Erfindung aller Divisorum oder theiler".
Die Stelle lässt kaum eine andei-e Deutung zu, als dass Raimarus
verlangt, mau solle die einzelnen Theiler der Gleichungsconstanten
versuchsweise statt der Unbekannten einsetzen. Er wird wohl dabei
nicht das Bewusstsein gehabt haben, dass der Wurzelwerth ein Theiler
der Gleichungsconstanten sein müsse; diese Kenntniss war ihm fern.
Er dachte nur daran, dass, wenn etwa x^ = 486 — 90^:; — 21:r- zur
Auflösung vorlag, der Theiler 3 der Zahl 486 es möglich machte,
486 — 90a:; zu 3 (162 — 90) u. s. w. umzuwandeln, beziehungsweise
zu vereinigen.
Unsere in diesem Abschnitte getroffene Anordnung entbindet uns
der Aufgabe, nochmals zusammenfassend zu erörtern, was auf jedem
Gebiete geleistet worden ist, da diese Leistungen schon gebietweise
vereinigt auftreten. Zur Würdigung einzelner, besonders hervor-
ragender Geister müssen wir dagegen, Avie wir (S. 546) es in Aussicht
gestellt haben, deren Einzelleistungen zu einem Gesammtbilde ver-
einigen. Stevin, Vieta, Bürgi waren Männer so umfassender Thätig-
keit, dass bei ihnen geboten erscheint, was wir zusagten. Zur Schil-
derung Bürgi's besitzen wir noch nicht alle Züge. Eine gewaltige
Leistung wird erst der nächste Abschnitt uns vor die Augen führen.
Nur Stevin und Vieta bilden unsere augenblickliche Aufgabe.
Stevin war uns ein Mechaniker allerersten Ranges, war uns
der erste Erfinder des Rechnens mit Decimalbrüchen, der Empfehler
ihrer praktischen Einführung. Er war endlich der Urheber einer
ersten theoretisch richtig erdachten Auflösung von Zahlengleichungen.
Vieta ragt noch ungleich grösser aus seiner geistigen Um-
gebung hervor. Ein gewandter Geometer, ein geistreicher Zahlen-
theoretiker, ein geübter Rechner in cyclometrischen Untersuchungen
würde er schon um der Leistungen auf diesen Gebieten willen zu
den aussergewöhnlichen Schriftstellern gehören. Grösseres leistete
er in der Lehre von den trigonometrischen Functionen,' in der Lehre
von den Gleichungen, in der Verbindung beider Gebiete. Das Grösste
ist und bleibt seine Erfindung der Buchstabenrechnung, die Aus-
dehnung des Gedankens, unbekannte Grössen durch Symbole zu be-
ziehen auf bekannte, aber unbestimmt gelassene Grössen.
1) Gerhardt, Mathem. Deutschi. S. 85.
XV. Die Zeit von 1600—1668.
70. Kapitel.
Geschichte der Mathematik. Classikerausgaben.
Wir beginnen die Schildernng des Zeitraumes, dem der XV. Ab-
schnitt gewidmet ist, wieder mit denjenigen Schriftstellern, welche
die Geschichte unserer Wissenschaft selbst bearbeiteten.
Ein in Ungarn geborener Augsburger Arzt, zugleich Professor
der Logik und Mathematik am dortigen Gymnasium und Bibliothekar
ebendaselbst, Georg Henisch^) (1549 — 1618), veröffentlichte zwischen
1605 und 1609 mehrere Schriften, deren Erwähnung hier angemessen
erscheint: eine Schrift über Zahlzeichen {De numeratiom mulUplici,
vetere et recenti), eine solche über die röjaische Bruchrechnung (I)e
asse et partibus ejus), einen Commentar zu der Sphaera des Proklus.
Ebenfalls aus dem Jahre 1609 ist Henisch's Arithmetica perfecta et
demonstrata , ein damals beliebtes Lehrbuch, welches aber so gar
keinen Anlass zu Bemerkungen giebt, dass wir es hier schon nennen
und nicht erst im 74. Kapitel, wo wir von Rechenbüchern handeln.
Giuseppe Biancani^), latinisirt Blancanus, aus Bologna,
welcher dem Jesuitenorden angehörte und in Padua bis zu seinem
Tode (1624) Mathematik lehrte, hat 1615 eine Clarorum mathemati-
corum Chronohgia herau.ggegeben , welche in 26 Abschnitte von je
einem Jahrhundert eingetheilt ist. Das erste derselben beginnt mit
dem Jahre 852 vor Christus oder 100 vor der Gründung von Rom,
das zweite mit der Gründung von Rom, beziehungsweise dem Jahre
752; das neunte ist als ein Semisaculum bezeichnet, weil es nur von
52 bis zum Geburtsjahre Christi führt. Dann beginnt jedes Jahr-
hundert mit den chronologisch allgemein als Anfang eines Jahr-
hunderts bezeichneten Jahrgängen, das 26. und letzte also mit dem
Jahre 1601. Blancanus hält es für nothwendig, auf dem Titelblatte
zu erklären, er habe solche Persönlichkeiten wie Atlas, Zoroaster,
Endimion, Orpheus, Linus und Andere weggelassen, welche theils
^) Poggendorff I, 1064. — Allgem. Deutsche Biographie XI, 750 — 751.
Artikel von J. Franck. -) De Backer, Bibliotheqiie des ecrivains de la com-
pagnie de Jesus I, 91.
652 70. Kiipitel.
der Fabel angehören, theils in ein Ungewisses Altertlium zurückweisen.
Ueberdies sei Jubal, der Erfinder der Musik, weggeblieben, weil er
durch einen allzugrossen Zeitraum von den zunächst Behandelten
getrennt sei. Die Unzuverlässigkeit des Blancanus ist haarsträubend .
Ein Geminus lebt für ihn in dem 352 vor Christus beginnenden
Jahrhunderte, ein zweiter Geminus von Rhodos, Lehrer des
Proklus, in dem 301 nach Christus beginnenden. Theon von
S m y r n a gehörte dem XII. nachchristlichen Jahrhunderte an als
Zeitgenosse des Jordanus Nemo rar ins. Im XY. Jahrhunderte
hat Leonardo von Pisa gelebt. Diese wenigen 'Beispiele dürften
genügen. Eine Angabe dessen, wodurch die betreffenden Mathema-
tiker sich verdient gemacht haben, muss man vollends bei Biancani
nicht suchen. Im günstigsten Falle ist der Titel eines oder des
anderen Werkes jedes Verfassers angegeben.
Hugo Semple^), latinisirt Sempilius, 1594 in Schottland
geboren, 1654 in Madrid gestorben, gehörte ebenfalls dem Jesuiten-
orden an. Seinen 1635 in Antwerpen gedruckten 12 Büchern De
3Iatheniaticis disciplinis soll-j ein ausführliches, innerhalb der ein-
zelnen mathematischen Fächer alphabetisch geordnetes Verzeichniss
der Mathematiker als Anlfang dienen.
Gerhard Johann Voss, latinisirt Yossius, ist 1577 in einem
Dorfe bei Heidelberg geboren, doch war die Familie niederländischer
Abstammung. In den Niederlanden hat er auch frühzeitige Anerken-
nung gefunden. Schon 1600 wirkte er als Rector der Schule in
Dordrecht, 1614 siedelte er an die Universität Leiden, 1643 an das
neuerrichtete Gymnasium in Amsterdam über. Dort starb er 1649.
Seine Leistungen liegen vornehmlich auf dem Gebiete des classischen
Alterthums. Mythologie, Geschichte, Grammatik verdanken ihm Ar-
beiten, welche zu den bahnbrechenden gezählt werden. Mathematische
Studien kamen dem entsprechend für Vossius nur so weit in Be-
tracht, als sie sich mit seinen literärgeschichtlichen Forschungen
kreuzten, und man sollte dessen bei Beurtheilung des 1650 in Amster-
dam gedruckten umfangreichen Bandes De unkersae mathesios natura
et constitutione liher eingedenk sein. Als Aufschrift seines Manu-
scriptes hatte Vossius zudem die Worte hinzugefügt: JDiutius si
immorer, vereor, ne videar immori velle, und sie waren zur Wahrheit
geworden. Noch bevor der Druck vollendet war, war der Verfasser
gestorben, und der Herausgeber durfte um so mehr das Motto des-
^) De Backer, Bibliotheque des ecnvains de la compagnie de Jesus V, 690.
*) Joh. Nie. Frobesius, Historica et dogmatica ad mathesin introductio (Helm-
städt 1750) pag. G7.
Geschichte der Mathematik. Classikerausgaben. G53
selben auf dem Titeblatte erscheiueu lassen. Die einzelnen Theil-
gebiete der Mathematik: Arithmetik, Geometrie, Logistik, Musik u. s. w.
werden der Reihe nach geschichtlich behandelt und überall die haupt-
sächlichen Schriftsteller ihrer Zeitfolge nach genannt. Das ziemlich
genaue Register, ist leider nach den Vornamen geordnet, was das
Nachschlagen wesentlich erschwert. Es ist nicht zu leugnen, dass
Vossius aus Schriftstellern schöpfte, die nicht eigentlich Fachmänner
waren, dass er sogar die Mathematiker selbst zu lesen vermöge
seiner Vorbildung kaum im Stande war, dass er auch seine unmittel-
baren Gewährsmänner nur in den seltensten Fällen nennt. Diese
Bemängelungen sind richtig, und richtig ist auch, dass kein unbe-
dingtes Zutrauen allen bei Vossius gesammelten Angaben entgegen-
gebracht werden kann. Immerhin ist der 502 enggedruckte Quart-
seiten starke Band das erste Werk, das man, ohne allzusehr schön-
färberisch zu reden, eine Geschichte der Mathematik zu nennen hat.
Nach diesem Werke ist es fast ein Unrecht, eine neun Seiten
lange, wesentlich aus Petrus Ramus geschöpfte Einleitung besonders
zu nennen, welche Andreas Tacquet^) untel- der Ueberschrift Histo-
r'ica nar ratio de ortu et progressu matheseos seinen erstmalig 1G54,
später häufiger gedruckten Elementa geometriae planae ac solidae
quibus accedunt selecta ex Archimede theoremata vorausschickte.
Tacquet, von dem wiederholt die Rede sein wird, ist 1612 in Ant-
werpen geboren, 16G0 ebenda gestorben. Er war Jesuit und 15 Jahre
lang Lehrer der Mathematik an den Ordenscollegien zu Löwen und
Antwerpen.
Wie wir im vorigen Abschnitte als den geschichtlichen Forschungen
nahe verwandt Ausgaben alter Schriftsteller und Versuche
deren verloren gegangene Schriften wiederherzustellen be-
zeichnet haben, so wollen wir auch gegenwärtig verfahren.
Als erste auf diesem Gebiete nennenswerthe Persönlichkeit be-
gegnet uns Marino Ghetaldi-j. Er ist 15GG in Ragusa geboren,
1G27 ebenda gestorben. Auf wissenschaftlichen Reisen trat er be-
deutenden Gelehrten, wie Clavius in Rom, Vieta in Paris nahe
(S. 640). Von Vieta's Apollonius Gallus nahm Ghetaldi die Anregung
zu zwei Veröffentlichungen, welche beide dem Jahre 1G07 angehören.
In dem Apollonius redivivus seu restitida Äpollonii pergae de inclina-
nationibus Geometria wurde, wie der Titel es ausspricht, eine Wieder-
^) De Backer, 1. c. II, 615. *) E. Gelcich, Eine Studie über die Ent-
deckung der analytischen Geometrie mit Berücksichtigung eines Werkes des
Marino Ghetaldi, Patricier von Kagusa aus dem Jahre 1630, Zeitschr. Math
Phj'S. XXVII, Supplementheft S. 191—232. Yergl. zunächst besonders S. 195.
654 TO. Kapitel.
Herstellung der verlorenen Schrift tcsqI vsvöecdv versucht. In dem
Supplementum Apollonii Galli wurden sechs Berührungsaufgaben be-
handelt, bei welchen Vieta sich nicht aufgehalten hatte. „So wird",
sagt Ghetaldi in der Vorrede, „der Apollonius Galliens nicht ohne
den Illyriens den pergäischen erwecken, der durch die Schädigung
der Zeit vernichtet oder von der Rohheit unterdrückt dalag."
Auch das folgende Jahr 160H war Zeuge einer durch Willebrord
Snellius^) versuchten Wiederherstellung einer apollonischen Schrift.
Der Vater Rudolf Snellius, geboren 1546 in Oudewater, besuchte
bereits im 15. Lebensjahre die auswärtigen hohen Schulen : Jena,
Wittenberg, Heidelberg, Marburg, später Pisa und Florenz, dann
wieder Marburg waren seine Aufenthaltsorte. Nach 16jähriger Wan-
derung kehrt er 1577 in die Heimath zurück und liess sich zunächst
in Oudewater, dann aber 1578 in Leiden nieder, wo er in einem
Einwohnerverzeichnisse von 1581 als Professor der Mathematik be-
zeichnet ist, und wo neben ihm und seiner Frau beider Söhnchen
Willebrord genannt ist. Rudolf Snellius starb 1613 in Leiden.
L'gend hervorragende Leistungen desselben sind nicht aufgezeichnet.
Ganz anders verhält es sich mit dem Sohne Willebrord Snellius
van Roijen. Er muss, wie bemerkt, 1581 gelebt haben, und nimmt
man ausserdem als zuverlässig an, was er von sich selbst gesagt hat,
er sei im Jahre 1600 eben 19 Jahre alt geworden, als er öffentliche
Vorlesungen über den ptolemäischen Almagest hielt, so muss 1581
das Geburtsjahr gewesen sein. Bereits 1500 steht der Name des
damals demnach 9jährigen Knaben in dem Matrikelbuche der Leidner
Universität, was auf dessen frühe Reife gedeutet werden mag, wenn
auch bei Professorensöhnen der für sie kostenfreie Eintrag aus an-
deren Zweckmässigkeitsgründen viel früher zu erfolgen pflegte, als an
einen eigentlichen Universitätsbesuch zu denken ist. Von 1600 etwa
bis gegen 1613 war Willebrord Snellius, dem väterlichen Beispiele
folgend, auf Reisen. In Würzburg lernte er Adriaen van Roomen,
in Prag Tycho Brahe und Kepler kenneu. Beim .Tode des Vaters,
für den er schon während dessen letzter Krankheit Vorlesungen ab-
gehalten hatte, wurde er 1613 zum Professor der Mathematik ernannt
und blieb in dieser Stellung bis zu seinem 1626 erfolgenden Tode.
Seine erste wissenschaftliche Veröffentlichung, welche uns die Ver-
anlassung giebt, ihn an dieser Stelle zu nennen, ist sein Apollonius
Batavus^) von 1608, die Wiederherstellung der apollonischen Schrift
7C£qI 8LGiQL6[isvrig To^iig, über den bestimmten Schnitt. Allerdings,
^) P. van Geer, Notice sur la vie et les travaux de Willebrord Snellius
{ArcMves Neerlandaises Bd. 18 vom December 1883) und Rud. Wolf, Astrono-
mische Mittheilnngen Nr. LXXII. -) Kästner IIT, 187.
Geschichte der Mathematik. Classikerausgabeii. 655
hat Snellius, wie ein späterei- Wiederhersteller, Robert Simson,
rügte, sich von der Art der Griechen weit entfernt und überdies nur
vier Aufgaben besprochen, während ApoUonius deren neun behandelte.
Auf Ghetaldi's vorher genannte Wiederherstellung der Berührungen
kam Alexander Anderson 1612 mit seinem Supplementum Äpol-
lonii redivki zurück^). Es ist das derselbe in Schottland geborene,
aber in Paris lehrende Mathematiker, der um die Herausgabe Vieta-
scher Schriften sich verdient gemacht hat.
In Blancanus lernten wir (S. 051) einen traurigen Geschichts-
schreiber kennen. Das Machwerk, welches wir zu schildern hatten,
ist 1615 als Anhang zu einem Werke erschienen, welches eine be-
deutend günstigere Beurtheilung verdient: Anstoielis loca matliematica
ex universis ipsius Operihus colleda et explicata. Der Titel giebt
über den Inhalt genügende Auskunft. Es ist eine, wenn auch nicht
ganz vollständige, doch sehr reichhaltige Sammlung der bei Aristoteles
vorkommenden, auf Mathematik im weitesten Sinne des Wortes bezüg-
lichen Stellen, jeweils mit Erläuterungen versehen, die auch heute noch,
ebenso wie die Zusammenstellung selbst, des Nutzens nicht entbehren.
Im höchsten Grade verdienstlich war der 1621 in Paris heraus-
gegebene und mit Anmerkungen versehene Abdruck des griechischen
Textes des Diophant, welchen Claude Gaspard Bachet de
Meziriac^) einer pariser Handschrift entnahm, die er mit zwei anderen
und mit Xylander's Uebersetzung verglich. Bei dem schlechten Zu-
stande der sämmtlichen gebrauchten Handschriften war die Arbeit des
Herausgebers eine unsäglich mühevolle. Sie war überdies durch den
Umstand erschwert, dass Bachet während der Arbeit in einem lang-
wierigen Fieberzustande sich befand, dessen melancholische Ein-
wirkung er durch um so angestrengtere Thätigkeit zu bekämpfen
suchte. Bachet (1587 — 1638) war neben seiner mathematischen
Thätigkeit auch in den schönen Wissenschaften heimisch und seit
1635 Mitglied der französischen Akademie^).
Claude Hardy"^) (f 1678) war gleich Bachet nicht ausschliess-
lich Mathematiker. Er war richterlicher Beamter am Chatelet zu
Paris, und ausserdem rühmt man ihm nach, er habe die Kenntniss
von 36 verschiedenen orientalischen Dialecten besessen. Er war mit
Mydorge und Descartes, welche beide uns im 71. Kapitel zuerst
wiederbegegnen werden, befreundet. Hardy hat um 1625 die erste
griechische Ausgabe der euklidischen Data mit lateinischer Ueber-
setzung und Erläuterungen besorgt^).
1) Kästner III, 186. ^) Ebenda III, 152—162. — Nesselmann, Die
Algebra der Griechen S. 281—282. ") Nouvelle Biographie tmiverselle III,
62-63. ') Ebenda XXÜI, 370—371. ^j Kästner III, 182.
G5G 70. Kapitel.
Mancherlei Schriften griechischer Geometer hat Pierre Heri-
gone^) in einem Sammelwerke herausgegeben, welches zuerst 1634,
dann 1644 sowohl in französischer als in lateinischer Sprache ^ge-
druckt ist. Coiirs mat]iemati([ue ist der Titel des im Ganzen sechs-
bändigen Werkes, von welchem aber nur der erste Band jene alten
Schriften enthält: die Elemente und Daten Euklid's und solche Wieder-
herstellungen von Abhandlungen des Apollonius, welche Vieta,
Snellius, Ghetaldi geliefert hatten. Als eigene Zuthat Herigone's
ist eine Zeichensprache hervorzuheben, deren er sich, wenn auch nicht
ausnahmslos, bediente, und welche als Vorläuferin allgemeinerer später
durch Leibniz veranstalteter Versuche betrachtet worden ist-). Als
Gleichheitszeichen benutzt er 2 2. Ist dagegen eine 3 durch einen
Verticalstrich von einer 2 getrennt, so ist dadurch Ungleichheit
angezeigt, und zwar steht das Grössere auf Seiten der 3. Ist also
eine Strecke a grösser als eine solche &, so kann man entweder durch
a 3 2 & oder nach Belieben auch durch & 2 1 3 a dieses zur Anschauung
bringen. Ein Verhältniss wird durch % als Anfangsbuchstabe von
Proportion bezeichnet. Mithin hat 4;r6 2 2 IOtiIö bei Herigone die
Bedeutung: 4 verhalte sich zu 6 wie 10 zu 15.
Die euklidischen Porismen fanden einen Wiederhersteller in
Albert Girard^). Von seinen Lebensumständen ist nur Weniges
bekannt. Die durch ihn besorgte Gesammtausgabe der Werke von
Simon Stevin erschien 1634, und in dem Widmungsbriefe beklagt
Girard's Wittwe nebst 11 Kindern den nun ein Jahr alten Verlust
des Gatten und Vaters, der nichts hinterlassen habe als einen guten
Namen. Damit ist eine Tagebuchbemerkung von Constantin Huygeus
in Uebereinstimmung, welche den 9. December 1632 als Girard's
Todestag nennt^). Aus einigen Anmerkungen der Stevin - Ausgabe
geht ferner hervor, dass Girard in den Niederlanden fremd war und
in gehässiger Weise eines gewissen Cardinais, offenbar des Cardinais
von Richelieu, gedenkt. Nimmt man hinzu, dass Girard ausschliess-
lich französisch geschrieben hat, so gewinnt die Muthmassung au
Wahrscheinlichkeit, er sei französischer Protestant gewesen und seines
Glaubens wegen nach den Niederlanden ausgewandert. Die Wahr-
scheinlichkeit wird vollends zur Gewissheit durch den Ortsbeinamen
*) Kästner III, 46 — 50. *j La logique mathematique avant Leibniz par
Gino Loria im Bulletin Barhoux für 1894. ^) Terquem in den NouveUes
annales de mathematiques XU, 195 (1853). — G. A. Vorstermann van Oijen
im Bulletino Boncompmjni III, 359—362 (1870). — Paul Tannery im Bullet.
Darhoux 2e Serie T. VII (1883). — H. Dannreuther in den Memoires de la So-
ciäe des lettres, sciences et arts de Bar-le-Duc, 3e Serie T. III (1896). *) Korte-
weg im Intennediaire des matliematiciens II, 193 (Paris 1895).
Geschichte der Mathematik. Classikeraus<?aben. G57
Samielois, welchen Girard führte, und für welchen die UebersetzAing
aus Saint-Mihiel (in Lothringen) als richtig nachgewiesen worden ist.
In den Kirchenbüchern von Saint-Mihiel findet sich kein Albert
Girard, dagegen ein am 11. October 1595 geborener Humbert Girard.
Die Möglichkeit, dass Girard später seinen Vornamen geändert haben
sollte, erscheint sehr gering, wenn auch in den Matrikelbüchern der
Universität Leiden ein 1G17 immatriculirter 22jähriger Student der
Mathematik Albertus Gerardus Metensis (aus Metz) eingezeichnet ist,
der folglich 1595 geboren sein muss. Der dort genannte Heimathsort
Metz würde keine Schwierigkeit machen, da er bedeuten könnte.
Albert sei von einer Metzer Schule zur Universität abgegangen. In
einem Amsterdamer Kircheubuche endlich hat man Albert Girard's
Heirath unter dem 17. April 1614 eingetragen gefunden. Er wäre
also damals erst 19 Jahre alt gewesen, noch nicht einmal Student,
und wäre mit 37 Jahren gestorl)en. Von Girard rührt die franzö-
sische Uebersetzung der Stevin 'sehen Werke her, von ihm die Ueber-
setzung des 5. und 6. Buches des Diophant, welche im Anschlüsse au
Stevin's Bearbeitung der vier ersten Bücher gedruckt ist. Girard hat
aber, wiederholen wir, auch eine Wiederherstellung der euklidischen
Porismen versucht^). Er hai^ es selbst in einem 1G26 gedruckten
kleinen Abrisse der Trigonometrie gesagt, wo er jene Wiederherstellung
als schon mehrere Jahre alt bezeichnet, er hat es zum zweiten Male
in der Statik Stevin's gesagt, wo er sich als den Neuerfinder der drei
Bücher euklidischer Porismen rühmt und die Hofi'nung au.sspricht, sie,
wie er bereits 1626 in Aussicht gestellt habe, veröffentlichen zu
können. Allerdings sind diese fast mehr als kurzen Andeutungen
Alles, was wir von Girard's Versuche wissen.
Viel mehr wissen wir auch nicht von einem andern Wiederher-
stellungsversuche des gleichen Werkes etwa um die gleiche Zeit durch
Pierre de Fermat"). Dieser geniale Mann, der auf den verschie-
densten Gebieten der Mathematik neue Bahnen eröfi'nete, hnd den
man einen der bedeutendsten, vielleicht überhaupt den bedeutendsten
^) Chasles, Les trois livres de Porismes d'Euclide (Paris 1860) jjag. 3
Note 1. ^) Chasles 1. c. pag. .3 — 4. Biograi>hisches vergl. bei Libri im
Journal des savants 1839 pag. 539—561; 1841 pag. 267—279; 1845 pag. 682—
694, und in der Revue des deux mondes, Api-il bis Juni 1845 (Nouvelle Serie X,
679 — 707). — E. Brassine, Freds des Oeuvres mathematicßies de Fermat (Paris
1853). — Hoefer in der Nouv. Biogr. universelle XVII, 438 — 451 mit wesent-
licher Abhängigkeit von Libri und Brassine. — C. Henry, BecJierches sur
hs manuscrits de Pierre de Fermat im Bullet. Boncompagni T. XII und XIII.
— Paul Tanner y, Sur la date des prineipales decouvertes de Fermat im Bulletin
Barhoux 2e Serie T. VII (1883) und Les mamiscrits de Fermat in den Annales
de la Faculte des Lettres de Bordeaux.
Cantou, Geschichte der Mathem. II. 2. Aufl. 42
658 "^0- Kapitel.
Mathematiker zu nennen hat, den Frankreich hervorbrachte, verdient,
dass wir sein Leben in genaueren Linien schildern. Er ist im August
1601 in Beaumont de Lomagne bei Toulouse geboren. Dei*' Vater
war möglicherweise Lederhändler. Der Sohn widmete sich der Rechts-
gelehrsamkeit und wurde am 14. März 1631 Parlamentsrath in Tou-
louse. Bald darauf verheirathete er sich. Zwischen diesem Zeit-
punkte und 1638 muss er geadelt worden sein. Er starb den 12. Ja-
nuar 1665 in Castres. Wenig mehr als ein Jahr vor seinem Tode
wurde (im December 1663) ein geheimer Bericht über ihn an den
Minister Colbert erstattet. Fermat, heisst es darin, ist ein Mann von
grosser Gelehrsamkeit. Er hat einen allseitigen wissenschaftlichen
Verkehr, ist ziemlich geldgierig, kein sehr guter Berichterstatter,
confus, gehört auch nicht zu den Freunden des ersten Präsidenten.
Die letzten Worte dürften vielleicht den Schlüssel zu der sicherlich
übelwollenden Schilderung liefern, wenn auch nicht in Abrede gestellt
werden will, dass die staunenswerthe Erfindergabe des Mathematikers
der nüchternen Tagesarbeit des Parlamentrathes im Wege gestanden
haben mag, und dass der kühne Flug seines Geistes sich nur schwer
die Fesseln eines kein Zwischenglied übergehenden Berichtes in Rechts-
sachen anlegen liess. Die von ihm wiederhergestellten Porismen
Euklid's beabsichtigte Fermat mit Erweiterungen herauszugeben ^),
welche darauf zielten, statt des Kreises irgend Kegelschnitte und
andere Curven mit Geraden in Verbindung zu setzen. Man kennt
von dem allen nur fünf Sätze, welche Fermat als Porismen bezeichnet
hat. Nach der Meinung eines vorzugsweise sachkundigen Beurtheilers^)
zeigt die Forismatum Enclidaeorum reno-
vata doctrina et sub forma isagoges recen-
tioribus Geometris exhibita — so sollte die
Schrift heissen — dass Fermat die ganze
Tragweite jenes Euklidischen Werkes er-
\^ fasst hatte, wenn er auch über die Form
der Porismen irriger Meinung gewesen
sein mag und ihren Inhalt zu weit fasste,
indem er alle Ortstheoreme hinein bezog,
j,. ^2^ Das 3. Porisma (Figur 127) lässt die Sehne
mn parallel zum Durchmesser ad und von
m und n nach einem beliebigen Peripheriepunkte h die Sehnen mb, nb
ziehen, welche ad in v und o schneiden. Dann stehen die Producte ao-dv
^) Fermat, Varia opera mathematica pag. 119: Imo et Euclidem ipstim
pi'omovebimus et porismata in coni sectionibus et aliis quihuscunque curvis mira-
bilia sane et hactenus ignota detegemus. *) Chasles, Äpergu liist. G7 (deutsch
64) und Derselbe, Les trois Uvres de porismes d'Eudide, pag. 3 — 4.
Geschiclite der Mathematik. Classikerausgaben. G59
und av-do in einem constanten Verhältnisse, wo auch h angenommen
wird, l^ezeichnet man das constante Verhältnis als das zweier Strecken
af, dg, deren Endpunkte auf ad liegen, so ist der Satz auch als
Gleichung zwischen zwei Producten von je drei Strecken aufzufassen,
d. h. in ihm liegt im Grunde der Satz von der Involution der sechs
auf einer Geraden liegenden Punkte a, d,. f, g, o, v eingeschlossen,
deren beide letzten veränderlich, die vier ersten feste Punkte sind.
Auch dem Apollonius hat Fermat ähnliche Bemühungen gewidmet.
Er stellte dessen zwei Bücher über die ebenen Oerter iTtCnedoi, xonot
wieder her, welche im Drucke bekannt sind. Er will, nach einem
Briefe an Roberval, wieder eine Persönlichkeit, von der später die
Rede sein wird, auch bei dieser Untersuchung Schönes und Bemer-
kenswerthes gefunden haben, doch fehlt darüber jede nähere Andeu-
tung ^). Oder sollte Fermat unter jenen Erfindungen diejenigen
verstanden haben, welche er in einer Abhandlung De contactihus
sphaericis'^) veröffentlichte? Ihr Inhalt ist die räumliche Aufgabe, eine
Kugel zu finden, welche vier gegebene Kugeln berührt, also das
Seitenstück zu der Vieta'schen Auflösung der Aufgabe, einen Kreis
zu finden, der drei Kreise berührt.
Zu den Schriftstellern, welche griechischen Mathematikern ihr
besonderes Studium widmeten, gehörte ferner David Riva vi It de
Flurance^) (1571 — 1616), Lehrer der Mathematik am Hofe Lud-
wig XIII. Seine commentirte Archimedausgabe ist von 1615.
Jean Baptiste Duhamel*) gab 1643 in seinen Elementa astro-
nomica eine Bearbeitung der Bücher des Theodosius über die Kugel.
Ismael Boulliau lateinisch BuUialdus, (1605 — 1694), gab
1644 in Paris, wo er die längste Zeit seines Lebens in angesehener
Stellung verbrachte, den Theon von Smyrna heraus, wobei er dessen
Musik von der Arithmetik trennte und damit den Grund zu einem
Irrthume legte, der erst im XIX. Jahrhunderte als solcher erkannt
wurde ^).
Weiter nennen wir Claude Richard*^) (1589—1664). In
Omans in Burgund geboren, trat er schon 1606 dem Jesuitenorden
bei, lehrte in der Folge sieben Jahre lang in Lyon Mathematik, war
1624 gerade im Begriif, sich in Lissabon als Missionar nach China
einzuschiffen, als Philipp IV. ihn nach Madrid berief, wo er noch
40 Jahre hindurch Professor der Mathematik war. Von Madrid aus
^) Chasles, AperQK, hist. 65 (deutsch 61). ^) Fermat, Varia opera
mathematica pag. 74 — 88; Oeuvres de Fermat (Paris 1891) I, 52 — 69. ^) Poggen-
dorff II, 256. ") Ebenda I, 616. *) Th. H. Martin in seiner Theonaus-
gabe von 1849, besonders S. 15 — 17. — Poggendorff I, 258. ®) De Backer,
Bibliotheque des ecrivains de la compagnie de Jesus I, 627.
42*
660 70. Kapitel.
veranstaltete er folgende Ausgaben: Euclidis elementorum geometri-
corum libros XIII, Isidorum et Hyi3siclem et reeentiores de. coi-pori-
bus regularibiis et Prodi propositioues geometricas, 1645; Apollouii
Pergaei Conicorum libri IV cum commeutariis, 1655. Ob er auch
einen neuen abermals erläuterten Abdruck des Rivault'scben Arcliimed
veranstaltete, ist mindestens zweifelhaft.
An diese Namen schliesst sich Franciscus van Schooten
der Jüngere^). Es gab zwei Mathematiker dieses Namens, Vater
und Sohn. Beide waren Professoren an der Universität Leiden. Der
Vater lebte 1581 — 1646, der Sohn 1615—1660. Letzterer veröffent-
lichte 1657 ein aus fünf Büchern zusammengesetztes Werk Exerci-
tationes matliematicae und dessen drittes Buch ist eine Wiederherstel-
lung der ebenen Oerter des Apollonius.
Aus Italien haben wir von einer Wiederherstellung und von
einer Neuentdeckimg zu berichten^). Vincenzo Viviani (1622 —
1703), der letzte Schüler Galilei's, wie er sich selbst mit pietätsvollem
Stolze genannt hat, fällt zwar mit fast der Hälfte seiner Lebenszeit
und mit den meisten seiner Veröffentlichungen jenseits des Zeitrau-
mes, den wir in diesem Bande noch behandeln, aber mit einer Jugend-
arbeit desselben haben wir uns zu beschäftigen, mit der 1659 ge-
druckten Schrift: De maximis et minimis geometrica divinatio in
quintum lihrum Apollonü Pergaei adhuc desideratum. Es ist eine der
sehr wenigen Wiederherstellungen, von deren Werthe man nachträg-
lich durch Wiederauffindung des wahren Wortlautes sich überzeugen
konnte. Ein Mönch G o 1 i u s hatte nämlich um 1625 die arabische
Uebersetzung der sieben ersten Bücher der Kegelschnitte des Apol-
lonius aus dem Morgenlande mitgebracht und dem Grossherzoge von
Toscana verkauft. In einer Bibliothek in Florenz lag der literarische
Schatz halb verborgen, wenn auch Pater Mersenne (1588 — 1648),
ein französischer Minorit, welcher mit nahezu allen hervorragenden
Persönlichkeiten seiner Zeit in regem Briefwechsel stand und dadurch
eine Mittelperson für die üppig hervorschiessenden Entdeckungen
aller Art bildete, 1644 Kenntniss von demselben hatte. Auch zu
Viviani war die Kimde gedrungen, und ferner darf man nicht ver-
gessen, dass die Wiederherstellung der Kegelschnitte des Apollonius
durch Maurolycus (S. 558) jetzt 1654 im Drucke herauskam. Es
ist begreiflich, dass Viviani unter solchen Umständen sich die Selb-
ständigkeit seines Schaffens zu sichern bestrebt war, und dass er
vom Erzherzog Leopold, Bruder des Grossherzogs Ferdinand II. von
^) Allgem. deutsche Biographie XXXII, 628—629. -) Balsam, Des
Apollonius von Perga sieben Bücher über Kegelschnitte (Berlin 1861), S. 3 — 4.
Gescliiclite der Mathematik. Classikerausgaben. 661
Toscana, sich ausdrücklich bescheinigen liess, dass ihm die wieder-
aufgefimdene Handschrift des Apollonius noch nicht bekannt gewesen
sei, als er die Diviuatio verfasste. Es ist aber auch ein Zeichen von
kühner Zuversicht des Verfassers, dass er mit der Gewissheit, von
der Auffassung des Maurolycus abzuweichen, mit der weiteren Ge-
wissheit, durch die bevorstehende Veröffentlichung des wirklichen
Apollonius werde über unglückliche Wiederherstellungsversuche der
Stab gebrochen werden, zu rechnen hatte, und dass er gleichwohl
zur Veröffentlichung von 1659 sich entschloss. Der Herausgeber von
Maurolycus war Giacomo Alfonso Borelli (1608 — 1679), damals
1654 Professor der Philosophie und Mathematik in Messina. Im
Jahre 1656 kam er als Professor an die Universität Pisa und wurde
1657 eines der Mitglieder der Accademia dal Cimento, welche im Juni
dieses Jahres in Florenz gegründet wurde, aber nur eine zehnjährige
Dauer hatte. In der Stellung als Akademiker veröffentlichte Borelli
1658 seinen Eucliäes restihdüs, welcher wiederholt aufgelegt wurde
und von der dritten Auflage (Rom 1679) an um einen Auszug aus
den vier ersten Büchern der Kegelschnitte des Apollonius und aus
den Schriften Archimed's vermehrt erschien. Die Vorrede des Euclides
restitutus ist durch die in ihr enthaltene Besprechung der Lehre von
der Parallelen und der vom Contingenzwinkel nicht uninteressant.
Für die Lösung der Schwierigkeit der Parallelenlehre beruft sich
Borelli mit Clavius (S. 556j auf den Satz, dass wenn eine Senkrechte
von unveränderlicher Länge und gegen die gerade Grundlinie unver-
änderter Neigung längs derselben fortgeschoben wird, auch der obere
Endpunkt eine Gerade beschreibt^). In dem gleichen Jahre 1658
"entdeckte Borelli in der Florentiner Bibliothek den mehrerwähnten
arabischen Codex und erhielt die Erlaubniss, ihn nach Rom mitzu-
nehmen, um dort einen Uebersetzer zu suchen. Er fand ihn in der
Person von Abraham von Echelles, Professor der orientalischen
Sprachen, der aber, wie er selbst in der Vorrede der vollendeten
Uebersetzung erzählt, die grössten Schwierigkeiten dabei zu über-
winden hatte, welche theils in dem Fehlen diakritischer Punkte, theils
in der Dunkelheit des Inhaltes begründet waren. Der sachkundigen
Beihilfe Borelli's sei es vielfach gelungen, einen Sinn zu ermitteln,
den er als sprachkundig erst nachher in dem arabischen Wortlaute
wiedererkannte. Somit ist BoreUi als bei Anfertigung jener 1661
gedruckten Uebersetzung vollberechtigter Mitarbeiter zu betrachten.
Für Vi vi an i war die Veröff'entlichung ein wahrer Triumph, da sie
^) Stäckel und Engel, Die Theorie der Parallellinien von Euklid bis
auf Gauss, S. 33.
662 71. Kapitel.
zeigte, wie nahe er dem Gedankengange de.s Apollonius gekommen
war. Viviani hatte übrigens schon 1645 eine andere Wiederherstel-
lung unternommen, die der fünf Bücher körperlicher Oerter des
Aristäus des Aeltereu^). Auch sie ist im Drucke erschienen, aber
erst im Jahre 1701.
71. Kapitel.
Geometrie.
Wenn wir der Gewohnheit des vorigen Abschnittes treu bleibend
an die Forscher über die geschichtliche Entwickelung der Mathematik
die Herausgeber alter Mathematiker anreihten, so behalten wir nicht
minder den einmal eingeschlagenen Gedankengang bei, indem wir die
eigentlichen Geometer folgen lassen.
Wir dürfen hier im Vorübergehen einer Würfelverdoppelung
gedenken, welche, ohne als vollständig gelten zu wollen, für prak-
tische Zwecke durchaus ausreicht. Sie ist 1604 von Villalpandus
in einem Commentare zum Propheten Ezechiel veröffentlicht worden,
rührt aber von Christoph Grienberger her, der, ohne genannt zu
sein, mathematischer Mitarbeiter an jenem Commentare war. So meldet
wenigstens Claude Richard in seiner Euklidausgabe, und als Zeit-
und Ordensgenosse des Villalpandus sowie Grienberger's ist er hierin
durchaus glaubwürdig^). Grienberger (1561 — 1636) aus Tyrol ist
auch in der Geschichte der Kartogi'aphie rühmend zu nennen^).
Genauer verweilen werden wir bei einem Manne, der freilich auf-
anderen Gebieten viel Hervorragenderes geleistet hat: Johannes Kep-
ler^), geboren 1571 in Weil der Stadt in Württemberg, gestorben
1630 in Regensburg. Graz, Prag, Linz sind die Orte gewesen, wo
seine der Mathematik angehörenden Schriften verfasst wurden. In
Graz ist die Erstliugsschrift Mysterium cosmographicum (1596) ent-
standen, und ihr gehört eine erste hier zu erwähnende Stelle an^),
in welcher ein Sternvierzigeck gezeichnet ist. Wir haben wiederholt
von Sternvielecken zu reden gehabt, aber ein solches mit so viel
Ecken ist uns noch nirgend begegnet. Darin läge an sich indessen
kein neuer Gedanke, höchstens wäre die Kühnheit des Zeichners an-
1) Montucla 11, 93. ^) Ambr. Sturm, Das Delische Problem, S. 122
—124. ») S. Günther, Zeitschr. f. math. u. natunv. Untemcht XXIII, 523
(1892). *) Allgemeine deutsche Biographie XV, 603—624. Artikel von
Günther. ^) Günther, Vermischte Untersuchungen zur Geschichte der
mathematischen Wissenschaften, S. 25 — 39.
Geometrie. 663
zuerkennen; neu dem Gedanken nach ist es dagegen, dass Kepler die
Eckpunkte dieses Vielecks nicht so zählte, wie sie auf einer um-
schi-iebenen Kreislinie nebeneinander auftraten, sondern in der Reihen-
folge, in welcher sie auf den einander durchkreuzenden Seiten er-
reicht werden, denn damit war das Wesen des Sternvielecks richtig
erkannt. Das erwähnte Vierzigeck ist ein solches, bei welchem, nachdem
der Umkreis in 40 Theile getheilt war, der zweite Punkt zum ersten die
Lage einnimmt, dass zwölf Zwischenpunkte überschlagen werden, und
ebenso bei den folgenden Punkten. In der Harmonicc mimdi (1619)
ist Kepler wiederholt auf Sternvielecke aber auch auf Sternvielflächner
zurückgekommen. Wir haben (S. 644) der in jenem Werke enthal-
tenen Vielecksgleichung Bürgi's gedenken müssen, aber neu sind
in jeder Beziehung Keplers Sternvielflächner. Wenn auch
Jamitzer (S. 582) Zeichnungen von Stern vielflächnern geliefert hat,
so entstammten sie seiner künstlerischen Phantasie, Kepler dagegen
hat sie, und zwar solche, die bei Jamitzer nicht vorkommen, von
mathematisch -astronomischem Gedankengange aus entstehen lassen.
Im Jahre 1609 wurde in Frankfurt eine Schrift Kepler's unter dem
Titel Ad Vitellionem Faralipomena etc. gedruckt, Zusätze zu der Optik
des Witelo. In ihr ist das 3. Kapitel durch die üeberschrift als
Fundamente der Katoptrik bezeichnet. Darin kommt die Stelle^)
vor: Die richtige Ueberlegung befiehlt den Kreis aufzufinden, welcher
eben die Art der Krümmung besitzt, wie der Schnitt in ß, dem
Punkte des Zurückwerfens. (Solche gemischte Linien besitzen näm-
lich andere und immer wieder andere Krümmungen.) Damit hat
Kepler den Begriff des Krümmungskreises in die Geometrie ein-
geführt, wenn es auch noch geraume Zeit dauerte, bis derselbe sich
förmlich einbürgerte. Ferner ist das 4. Kapitel der Brechung des
Lichtes gewidmet. Der Gegenstand ist in verschiedenen Paragraphen
behandelt, deren vierter die Üeberschrift De coni sectionibiis'^), von
den Kegelschnitten, führt. Er enthält eine Benennung und zwei
wichtige Gedanken, welche wir hervorzuheben haben. Die Benennung
ist die der Brennpunkte als solcher, d. h. das Wort focus^). Bei
der Hyperbel und Ellipse gebe es zwei Brennpunkte, von welchen
aus gerade Linien an einen beliebigen Curvenpunkt gezogen mit der
Berührungslinie an die Curve in eben jenem Punkte gleiche Winkel
bilden. Bei der Parabel liege der eine Brennpunkt innerhalb der
^) 02)era Kepleri (ed. Frisch) 11, 175: At verior ratio jubet invenire cir-
culum qui contineat rationem curvitaiis quam habet Sectio in ß puncto repercussus
(habent autem aliam atque aliam hujusmodi mistae lineae). ^) Ebenda II, 185
— 188. ^) Nos lucis causa et oculis in mechanicam intentis ea puncta focos
apellabimus.
664 71. Kapitel.
Curve, der andere sei ein blinder d. h. unsichtbarer BrennpuDkt, focus
caeciis. Er befinde sich sei es ausserhalb, sei es innerhalb der Curve,
wie man sich vorstellen müsse, unendlich weit von dem ersten ent-
fernt auf der Axe, so dass die nach ihm hin gezogenen Geraden der
Axe parallel seien ^). Hierin liegt der eine Gedanke, den wir meinen.
Das Vorhandensein unendlich ferner Gebilde war durch Kepler
in die Geometrie eingeführt, wenn wir auch darüber zweifelhaft sein
mögen, ob er sich der Tragweite dieser Neuerung bewusst war, und
ob der Ausspruch, jener unsichtbare Brennpunkt könne ausserhalb
oder innerhalb der Parabel liegen, wirklich dahin zu verstehen ist,
dass die beiden unendlich fernen Endpunkte der der Axe parallelen
Geraden zusammenfallen. Deutlich war dagegen für Kepler ein zweiter
Gedanke vorhanden: der der Schlussfolgerung von Eigenschaften eines
Raumgebildes auf solche eines anderen. Die Analogie, sagt er,
muss uns geometrisch leiten; denn über Alles liebe ich Analogien,
meine getreusten Lehrmeister, welchen alle Geheimnisse der Natur
bekannt sind^).
Diesen geometrischen Erfindungen in astronomischen Schriften
stellen wir eine eigentlich geometrische Schrift gegenüber. Henry
Savile^) (1549—1622) hielt am Merton-College in Oxford, dessen
Vorsteher er war, Vorlesungen über griechische Geometrie, welche
1621 im Drucke erschienen. Er stiftete überdies zwei Professuren,
welche dazu dienen sollten, Oxfords Rang in Beziehung auf mathe-
matische Wissenschaften zu erhöhen, welche seither weit mehr in
Cambridge gepflegt worden waren. Trotz der Savile'schen Professuren
blieb indessen das Uebergewicht Cambridges erhalten. Savile selbst
kam in seinen Vorlesungen, welche streng den Gang von Euklid's
Elementen einhielten, nicht über den 8. Satz des I. Buches der Ele-
mente hinaus, und die gedruckten Vorlesungen entsprechen vollständig
den wirklich gehaltenen. Er waren volle 13 Vorlesungen, welche
jenen allerersten Anfangsgründen eingeräumt waren, ein deutlicher
Beweis dafür, dass in den Vorlesungen weit mehr Sprachliches, Phi-
losophisches, Geschichtliches als eigentliche Geometrie zur Sprache
kam. Eine Stelle darf vielleicht hervorgehoben werden, an welcher
von zwei Flecken an dem schönen Leibe der Geometrie die Rede ist.
') In parabole imiis D est intra sectionem, alter vel extra vel intra sec-
tionem in axe fingendus est infinito intervallo a priore remotus, adeo ut ediicta
HG vel IG ex illo caeco foco in quodcunque punctum sectionis G sit axi IJK
parallelos. *) Oportet enim nohis servire voces geometrieas analogiae: plurimum
namque amo analogias fidelissimos meos magistros, omnium naturae arcanorum
conscios. 3) Kästner I, 249 und III, 19—26. — Poggendorff II, 762. —
Ball, Uistory of mathematics at Cambridge^ pag. 29.
Geometrie.
6(35
Das erste und dritte,
auf deren Vertilguug alte und neue Mathematiker Mühe verwandten ^).
Savile meint die Lehre von den Parallellinien und von den Pro-
portionen.
Albert G i r a r d ist unter den geometrischen Schriftstellern
wegen einer Veröffentlichung von 1626 zu nennen^). In der Ein-
leitung zu einer für den Halbmesser 10000 berechneten Tafel trigo
nometrischer Functionen sind die Fälle auseinandergesetzt, welche man
zu unterscheiden habe, wenn aus Bestimmungsstücken einer gerad-
linigen Figur die noch fehlenden Stücke ermittelt werden sollen.
Dabei geht nämlich Girard über das Dreieck weit hinaus und sieht
sich so veranlasst, von Gattungen geradliniger ebener Vielecke
zu reden. Vierecke giebt es bereits dreierlei, la simple, la croisee et
Vautre ayant Vangle renverse'e (Figur 128).
d. h. das überall couvexe
Viereck und das mit einem
einspringenden Winkel, sind
auch früheren Mathemati
kern bekannt gewesen, aber
das zweite überschlagene
Viereck, eine Figur, welche
den Sternvielecken darin
ähnelt, dass einige Seiten einander kreuzen, darin von ihnen sich
unterscheidet, dass nicht alle Seiten diese Eigenschaft besitzen, ist
durchaus neu. Girard's Definition geht übrigens nicht von den
Seiten, sondern von den Diagonalen des Vierecks aus, unter welchen
die Verbindungsgeraden eines Eckpunktes mit demjenigen anderen
Eckpunkte des Vierecks verstanden werden, nach welchem keine
Vierecksseite führt. Bei dem einfachen Vierecke fallen beide Diago-
nalen in das Innere der Figur, bei dem überschlagenen beide ausser-
halb, bei dem mit einspringenden Winkel fällt eine Diagonale in
das Innere der Figur, eine ausserhalb. Girard geht weiter zu den
Fünf- und Sechsecken, fügt aber hier dem aus der Lage der Diago-
nale herstammenden Eintheilungsgrunde einen zweiten hinzu, der von
der Anzahl der Flächentheile herstammt, in welche die ohne Diago-
nalen gezeichnete Figur zerfällt. So gebe es 11 Fünfecksformen:
4 mit einer Fläche, 4 mit zwei Flächen und je 1 mit drei, vier,
sechs Flächen. Unsere Figur 129 (folg. Seite) stellt die vier einflächigen
Fig. 128.
^) Praelectiones tresdecim in principium elementorum Eudidis (Oxford 1621),
j)ag. 140. Wir entnehmen diese Bemerkung Stäckel und Engel, Die Theorie
der Parallellinien von Euklid bis auf Gauss, S. 18. ^) Kästner III, 108. —
Günther, Vemiisclite Untersuchungen zur Geschichte der mathematischen Wis-
senschaften, S. 18 — 21.
666
71. Kapitel.
Fünfecke mit 0, 1, 2, 3 äusseren Diagonalen dar\); die mehrflächigen
Formen sind leicht zu zeichnen. Beim Sechseck will Girard 69 Formen
Fig. 129.
unterschieden wissen: 7 einflächige, 19 zweiflächige, 12 dreiflächige,
17 vierflächige, 4 fünfflächige, 6 sechsflächige, 3 siebenflächige, 1 acht-
flächige, wobei angenommen ist, es gebe in der Figur keinen Punkt,
der mehr als zwei Seiten gemeinschaftlich wäre. Wie hier die Formen
gleicher Flächenzahl unterschieden werden sollen, ist nicht ermittelt.
Johann Wilhelm Lauremberg^) (1590 — 1658) von Rostock,
ein Satyriker in mecklenburger Mundart, der neben der Poesie Mathe-
matik trieb und dieselbe an der Ritterakademie zu Sora auf Seeland
lehrte, schrieb verschiedene seinem Unterrichte zu Grunde zu legende
Lehrbücher, auch ein solches über Gromatik, also Feldmesskunst.
Der Verfasser ist auf dem Gebiete der Dichtkunst zu gut bekannt,
als dass man ihn nicht auch in dieser Verirrung schonend nennen
müsste.
Daniel Schwenter^) (1585 — 1636) von Nürnberg war von den
orientalischen Sprachen ausgegangen, deren Vertreter an der Altdorfer
Hochschule er schon 1608 wurde. Mathematische Studien trieb er
daneben für sich allein unter Benutzung der selbst minderwerthigen
Werke von Wolfgang Schmid und Augustin Hirschvogel
(S. 449). Dann wurde Prätorius ihm Freund und Berather, und
endlich wurde ihm 1628 neben der Professur der orientalischen
Sprachen auch diejenige der Mathematik in Altdorf übertragen.
Schwenter selbst erzählt diesen seinen mathematischen Bildungsgang
in der Vorrede zur Geometria practica novo et aiicta,, welche erstmalig
1618, dann mehrfach wiederholt im Drucke erschien^). Schwenter's
^) Günther 1. c. S. 19 und briefliche Mittheilungen von A. N. Godefroy
in Amsterdam, dem es gelang die Form mit drei äusseren Diagonalen herzu-
stellen, ä) Kästner m, 308—312. — Poggendorff I, 1386. — Allgem.
deutsche Biographie XVin, 58 — 59. Artikel von Erich Schmidt. ^) Kästner
III, 299 — 302. — Günther, Beiträge zur Erfindungsgeschichte der Kettenbrüche
(Weissenburg 1872), S. 7 — 11 und: Die mathematischen und Naturwissenschaften
an der nürnbergischen Universität Altdorf (Separatabdruok aus dem III. Hefte
der Mittheilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg), S. 25—27.
'') Unsere Beschreibung stützt sich auf die 3. Auflage' von 1641.
Geometrie. (367
praktische Geometrie erfreute sich, wie aus den rasch aufeinander
folgenden Auflagen ersichtlich ist, einer Beliebtheit, welche ein Ein-
gehen auf ihren Inhalt empfehlen müsste, selbst wenn wir nichts von
Bedeutung ihr zu entnehmen hätten. Sie zerfällt in vier Tractate,
deren jeder mit besonderer Pagination versehen ist. Der „Tractatus I,
darinnen auss rechtem Fundament gewiesen wird; wie man in der
Geometria auff dem Papier und Lande, mit denen darzu gehörigen
Instrumenten, als Zirckel, Richtscheid, Winckelhaken, etc. Ja zur
noth ohne dieselben verfahren und practiciren solle" besteht aus
sieben Büchern. Schwenter lehrt darin die verschiedenartigsten theils
genaue, theils nur angenäherte Constructionen, wie sie bei Dürer,
bei Clavius u. s. w. sich finden, auch einige neue Verfahrungs weisen,
welche er für sich selbst in Anspruch nimmt. Da nirgend ein Be-
weis beigegeben ist, sondern einfach vorausgesetzt wird, der Schüler
werde blindlings nach den Vorschriften des Lehrers sich richten,
ohne die Frage nach dem Warum aufzuwerfen, so hält es schwer,
zu entscheiden, ob Schwenter seine Zeichnungen da, wo er nicht aus-
drücklich von blosser Annäherung redet, für genau hielt. Fast möchte
es bei einer Neuntheilung des Kreises, die er sein Eigenthum nennt ^),
einem offenbar bewussteu Abweichen von der Dürer'schen Vorschrift
(S. 462), so scheinen, (Figur 130). Das Neuneck soll in den Kreis,
der mit dem Halbmesser oa um den
Mittelpunkt o beschrieben ist, einge-
zeichnet werden. Schwenter lässt nun
zunächst den etwas grösseren concen-
trischen Kreis mit dem Halbmesser or
beschreiben und in diesen die drei Fisch-
blasen on, op, or. Die Gerade or theilt
er in l und / in drei gleiche Stücke
ol = li = ir und zieht vlm senkrecht
zu or bis zum Durchschnitte mit der
Fischblase. Die Verbindungsgeraden ov,
om des Mittelpunktes mit den solcher- Fig. i3o.
weise bestimmten Punkten der Fisch-
blase schneiden verlängert den gegebenen Kreis in a und h, alsdann
sei ah die gesuchte Neunecksseite. So recht will Schwenter seiner
Erfindung allerdings nicht trauen, denn er fügt hinzvi: „Weil aber
die Operation sehr misslich, ists am besten, du theilest einen Circkel
erstlich in drey theil auss, und jeden theil wider Mechanisch in drey
theil, so darffstu dich keines Irrthums befürchten." Von sprach-
^) Die XXX Auffgab des vierdten Buchss dess ersten Tractats S. 205.
668 71. Kapitel.
liclien Eigentliümlichkeiten mag auffallen, dass Schwenter eine Senk-
rechte bald ivinckelrecht bald tvagreclit nennt ^), und dass er Hypo-
thenusa^) schreibt! Das Griechische scheint ihm demnach weniger
geläufig gewesen zu sein als die orientalischen Sprachen. Von einer
Beschreibung des Proportionalzirkels ^) muss an späterer Stelle die
Rede sein. Dem „Tractatus II Ohne einig künstlich Geometrisch
Instrument, allein mit der Messrute und etlichen Stäben das Land
zu messen", welcher in fünf Bücher zerfällt, hat Schwenter eine Vor-
rede an den Leser vorausgeschickt, in welcher er in eigenartiger
Weise erörtert, wie er dazu gekommen sei, diesen Tractat zu ver-
fassen. Vielfach behaupte man, Thaies habe die Geometrie aus
Aegypten nach Griechenland gebracht. Das könne ja wahr sein,
schliesse aber nicht aus, dass auch anderwärts Geometrie geübt wor-
den sei, und insbesondere zeigten viele Stellen des alten Testamentes
solche Beschäftigungen an. Die Heiden seien daher nicht die Er-
finder, sondern Geometrie sei eine uralte Kunst. Wo aber in den
hebräischen Texten von Feldmessen und dergleichen die Rede sei,
werde niemals eine andere Vorrichtung erwähnt als die Messruthe,
Messtange oder Messschnur. Da habe er sich überlegt, wie weit man
unter dieser Beschränkung kommen könne, und er habe auch nicht
wenig von denjenigen erfahren, welche „wie man alsbald mit Ruten
das Land überschlagen und messen soll" schon lange lehrten. Aller-
dings sei er weit über diese hinausgegangen, und das sei die Ent-
stehung des vorliegenden Tractates. Er unterscheidet sich von dem
ersten vornehmlich dadurch, dass in diesem zweiten Theile überall
geometrische Beweise gegeben oder wenigstens in Erinnerung gebracht
werden. Mit dem Unterschiede dagegen, dass in dem I. Tractate der
Zirkel vielfach benutzt wird, der dem II. Tractate seiner Ueberschrift
gemäss fremd sein sollte, ist es nicht so weit her. Auch im IL Trac-
tate werden auf dem Felde Kreisbögen beschrieben, nur freilich nicht
mittels eines Zirkels, sondern mittels einer Kette, welche mit je einem
Ringe an zwei Stäben hängt, deren einer den Mittelpunkt bestimmt,
während der andere unter Anspannung der Kette den herumbewegten
Kreispunkt vorstellt. Zwei Dinge dürften besondere Erwähnung ver-
dienen. In der 13. Aufgabe des 1. Buches des II. Tractates kommen
Längen von 800, 900, 1500 Schritten vor. Zunächst werden in
einem ersten Zusätze, im „ersten Erinnerung" mit Schwenter zu reden,
diese Zahlen in 850, 750, 1500 abgeändert; eine zweite Erinnerung
lehrt kleinere Zahlen anwenden, wie etwa 85, 75, 150, oder 17, 15,
1) S. 18 und 43 des I. Tractats. ^) S. 17 des I. Tractats. ^) S. 79 des
I. Tractats.
Geometrie. 6G9
30, oder 8—, 7 , 15, damit man mit einer einzigen Messkettenlänge
beim Abstecken auskomme. Die dritte Erinnerung endlich wirft die
Frage auf ^), ob man auch kleinere Zahlen anzuwenden im Stande sei,
wenn theilerfremde Messzahlen wie 809, 704, 1301 von vorn herein
vorliegen, oder wenn bei nur zwei Messungen "die Zahlen 233, 177
auftreten? Schwenter bejaht die Frage unter Anwendung von
Kettenbrüchen, so dass wir auf diese Stelle zurückzukommen haben,
wenn wir von diesen Formen von Zahlenverbindungen reden. Unsere
zweite Bemerkung bezieht sich auf die 5. Aufgabe des 3. Buches, in
welcher die Dreiecksfläche aus den drei Seiten des Dreiecks her-
geleitet werden soll. Schwenter sagt hier höchst auffallenderweise ^),
die Formel, nach welcher gerechnet werde, und welche selbtsverständ-
lich die Heronische ist, stamme aus der Geometria Jordani und
sei erstmalig von Paciuolo bewiesen worden. Letztere Meinung ist
so weit richtig, als der erste gedruckte Beweis in der That bei Pa-
ciuolo (S. 330) zu finden ist; wie aber die Anführung des Jordanus
zu verstehen sein möchte, ist räthselhaft. In dessen Büchern iJe irian-
gulis kommt die Heronische Formel jedenfalls nicht vor. Der Inhalt
des III. Tractates ist durch dessen Titel „Mensula Praetoriana, Be-
schreibung des nutzlichen Geometrischen Tischleins, von dem für-
treiflichen und weitberühmten Mathematico M. Johanne Praetorio
S[eelig] erfunden" genugsam bezeichnet. Schwenter hat in demselben
den Messtisch, welchen sein Lehrer erfunden, und zu dessen Gebrauch
er während des Unterrichtes die nöthige Anweisung gegeben hatte,
ohne eine ausführliche Beschreibung desselben zu veröfi'entlichen,
nachträglich zur allgemeinen Kenntniss gebracht und dadurch eben-
sowohl dem Ruhme jenes verstorbenen Lehrers als dem allgemeinen
Nutzen einen wesentlichen Dienst erwiesen. Ausser dem Messtische
kommt in diesem Tractate nur ein Winkelinstrument in Anwendung,
welches bei Höhenmessungen nicht entbehrt werden kann, und welches
im Wesentlichen noch immer mit Peurbach's geometrischem
Quadrate übereinstimmt. Der III. Tractat besteht aus vier Büchern.
Endlich der IV. Tractat, den die erste Auflage von 1618 allerdings
noch nicht enthält^), handelt von einer Vorrichtung, welche in Italien
am Anfange des Jahrhunderts durch Camillo Raverta'*) von Mai-
land erfunden und 1G02 von Curtio Casati^), gleichfalls einem Mai-
länder, beschrieben worden ist. Dieselbe setzt voraus, dass man nach
1) S. 68 des II. Tractates. -) S. 112 des II. Tractates. ») q Wertheim
brieflich. '') Hallervord, Bibliotheca curiosa pag. 42 (Königsberg und Frank-
furt 1676). '^) Zedler's üniversallexicon beruft sich für ihn auf das uns
unbekannte Werk Argelati, Bihl. Mediol.
670 71. Kapitel.
dem Augenmaasse eine Gerade auf dem Papier in paralleler Lage zu
einer in der Entfernung auf dem Felde zwischen gegebenen End-
punkten gedachten Geraden zeichnen könne. Schon Casati hatte
gegen diese Erfindung, so hoch er sie preist, einige Bedenken, Schwen-
ter theilte dieselben in verstärktem Maasse, und die spätere Zeit ist
diesen Bedenken so sehr beigetreten, dass weder Raverta's noch
Casati's Namen in den vollständigsten neueren Schriften über Feld-
messung mehr vorkommen, während Muzio Oddi^) (1569 — 1638)
aus Urbino, der Verfasser eines im Gefängnisse geschriebeneu Werkes
über Feldmessung von 1625, in welchem nach den uns bekannten
Auszügen Neues sich nicht findet, erwähnt und wohl etwas über
Verdienst gerühmt wird.
Beiläufig nennen wir Johann Ardüser-) (1584 — 1665) aus
Davos, der als praktischer Meister in der Befestigungskunst berühmt
ist und Geometriae Thcoricae et pradicae XII Bücher (Zürich 1627)
herausgab, welches Werk in einer zweiten Bearbeitung von 1646 sich
zu XIV Bücher erweiterte.
Ungefähr innerhalb derselben Lebensgrenzen wie Schwenter ist
ein Schriftsteller in Ulm zu nennen, Johann Faulhab er^) (1580 —
1635). Er war der Sohn eines Webers und zum väterlichen Gewerbe
bestimmt. Der Unterricht des Rechenmeisters David Selzlin
(S. 611) führte ihn der Wissenschaft zu, und bald war er selbst
Rechenmeister in Ulm, jedenfalls vor 1610, denn seine erste Ver-
öffentlichung, welche diese Jahreszahl trägt, giebt ihm schon diesen
Titel. Ihm gleichzeitig lebten in Ulm ein Arzt, Johannes Rem-
melin; und zwei Schulmänner, Zimpertus Wehe und Johann
Baptista Hebenstreit, die beiden letzteren Gegner, der erste ein
Freund und Gönner Faulhaber's. Die Streitigkeiten Faulhaber's drehten
sich um Wortrechnungeu. Aehnlich wie einst Michael Stifel hat
auch Faulhaber in diese Spielereien sich verrannt, und er suchte die
prophetischen Zahlen der Bibel auszubeuten, indem er sie mit Buch-
staben, welchen Zahlenwerthe beigelegt waren, in Verbindung setzte.
So war er durch sonderbare Zahlenhandhabung dazu geführt worden,
in einem Kalender für 1618 auf den 1. September dieses Jahres einen
Kometen zu verkünden. Ein solcher erschien zufälligerweise wirklich
^) Kästner III, 373. — Poggendorff II, 206. — Rossi, Groma e squadro,
pag. 146—165 und 215 — 216. Poggendorff nennt 1631 als Todesjahr, Rossi
1638 mit Berufung auf die Ueberscbrift eines von ihm beschriebenen Gemäldes.
*) Rud. Wolf, Biographien zur Kulturgeschichte der Schweiz IV, 25 — 36.
^) Kästner III, 111—152 und IV, 510—511. — Ofteidinger, Beiträge zur
Geschichte der Mathematik in Ulm bis zur Mitte des XVII. Jahrhunderts (Ulm
1867). — AUgem. deutsche Biographie VI, 581—583. Artikel von Höchstetter.
Geometrie. 671
und gab Veranlassung zu einem tiefgehenden Zwiespalte in Ulni.
Faulhaber und seinen Freunden, zu welchen auch der Stadtpfarrer
Dieterich gehörte, welcher sogar über den Kometen predigte, standen
die erwähnten Schulmänner gegenüber, welche die Berechtigung zur
Wortrechnung überhaupt und insbesondere zu astronomischen Vor-
hersagungen mittels derselben bekämpften. Faulhaber antwortete in
heftigen Streitschriften, in welchen er seinen einen Gegner als
„Hebandenstreit" lächerlich zu machen suchte. Faulhaber's ausge-
sprochene Neigung zu überschwäuglichen Dingen erwies sich ihm
oftmals schädlich, eine Verbindung mit einem angeblichen Propheten
brachte ihn sogar 1606 ins Gefängniss. Später trat er den Rosen-
kreuzern nahe und war überzeugter Alchymist. Es ist eine merk-
würdige, wiederum an Michael Stifel erinnernde Erscheinung, dass
mit diesen Schrullen wirkliche mathematische Begabung Hand in
Hand ging, und dass die Wissenschaft gerade aus Faulhaber's Wort-
rechnungen Nutzen zog. Wir kommen in anderem Zusammenhange
darauf zurück; hier, wo wir mit Geometrischem uns beschäftigen, ist
nur eine FauLhaber'sche Schrift zu nennen, seine Ingenieurschule, die
1630 — 1633 in vier Theilen erschienen ist. Wie der Titel erkennen
lässt, hat Faulhaber hier Feldmesserisches und auf die Befestigungs-
kunst Bezüs'liches auseinandergesetzt. Bei einer Aufgabe mischen sich
O o o
Geometrie und Wortrechnung oder mindestens prophetische Zahlen. Fol-
gende sieben Zahlen nämlich können als weissagende betrachtet werden :
66^ (Apokalypse XIII, 18), 1000 (Apokalypse XX, 2), 1260 (Apokalypse
XI, 3 und Xn, 6), 1290 (Daniel XII, 11), 1335 (Daniel XII, 12), 1600
(Apokalypse XIV, 20j, 2300 (Daniel VHI, 14). Faulhaber verlangte
im ersten Theile seiner Ingenieurschule aus Strecken, welche durch
diese sieben Zahlen gemessen werden, ein Sehnen siebeneck her-
zustellen, dessen Winkel und den Halbmesser des Umkreises zu be-
rechnen; es sei dieses eine „Question, welche sich durch die Loga-
rithmos auflf eine besondere newe Manier gar schön resolvieren lässt".
Eine Auflösung, soweit die Winkel in Betracht kommen, hat Faul-
haber niemals veröffentlicht. Den betreffenden Kreishalbmesser gab
er im zweiten Theile der Ingenieurschule zu 1582,6323 an, ohne an-
zudeuten, welchen Weg er zur Erlangung dieses Werthes eingeschlagen
habe. Spätere Versuche, seinen Gedankengang zu ermitteln, schweben
allzusehr in der Luft, als dass man ihnen geschichtlichen Werth bei-
messen könnte^).
^) Günther, Sitzungsberichte der physikalisch-meclicinischen Gesellschaft
zu Erlangen 9. März 1874. — German, Das irreguläre Siebeneck des Ulmer
Mathematikers Johann Faulhaber (Ulm 1876). — Günther's Recension,
Zeitschr. Math. Phys. XXII, Histor. -litter. Abthlg. S. 34—36.
672
71. Kapitel.
Einen Nebenbuhler auf dem Gebiete der Anfertigung von Instru-
menten und der Baukunst fand Faulbaber in seinem Heimathsgenossen
Joseph Furtenbach^) (1591 — 1GG7), den wir hier nennen, weil
sein Name anderwärts nicht gut untergebracht werden kann und doch
nicht vollständig fehlen soll. Furtenbach's Haus in Ulm, der soge-
nannte Erbsenkasten, gehörte durch die aller Orten im Garten u. s. w.
angebrachten Grotten und dergleichen lauge Zeit zu den grössten
Sehenswürdigkeiten von Ulm.
Joachim Jungius^) (1587 — 1657) hat in der Geschichte der
atomistischen Lehre eine allzubedeutende Rolle gespielt, als dass wir
nicht gern erwähnten, dass er an den Universitäten zu Giessen und
Rostock die Lehrstellen der Mathematik inne hatte, und dass er an
letzterem Orte 1627 eine mehrfach neu aufgelegte Geometria cnqnrica
im Drucke herausgab.
Antoine de Ville, ein Schriftsteller über Befestigamgswesen,
verdankt seine Namensnennung an dieser Stelle einer in seinem Buche
Les fortifications (1628) enthaltenen Vorschrift zur Herstellung regel-
mässiger Vielecke von n Seiten, welche sich ziemlich weit verbreitet
hat. Abraham de Bosse, von welchem weiter unten die Rede ist,
hat sie in seinem Traite des pratiques geometrales et perspective (1665)
aufgenommen und Nicolas Bion^) (1653 —
1733), Landkarten- und Globenhändler in Paris,
beschreibt sie in seinem Tratte de la construc-
tion et des principaux usages des iiistruments de
mathematiques (1713). De Ville's Vorschrift
ist folgende"*). Sei (Figur 131) G die Spitze
^ eines über dem Kreisdurchmesser AB beschrie-
benen gleichseitigen Dreiecks, sei ferner AE
AB
n
= AQ genommen, so ist AP' annähernd — der
Kreisperipherie. De Bosse hat die Vorschrift dahin verbessert, man
solle CDP ziehen, wodurch AP noch näher mit — der Kreisperi-
pherie übereinstimme.
Fig. 131.
EB = ^- Wird CEQ gezogen und QP'
1
') Kästner III, 366—368. — Ofterdinger 1. c. — Allgem. deutsche Bio-
graphie VIII, 250 — 251. Artikel von Höchstetter. *) Wohlwill, Joachim
Jungius und die Erneuerung atomistischer Lehren im XVII. Jahrhundei't (Ham-
burg 1887) und ebenderselbe, Joachim Jungius, Festrede am 22. October 1887
(Hamburg und Leipzig 1888). =*) Poggendorff I, l'Jl— 195. *) H. A. J.
Pressland, On the history and clegree of certain geometrical approximations in
den Proeeedings of the Edinburgh Mathematical Society Vol. X.
Geometrie. 673
Wir gelangen nunmehr zu drei französischen Geometern ersten
Ranges, welche weit über Allen, welche ausserhalb Griechenlands
mit reiner, nicht rechnender Geometrie sich beschäftigt haben, stehen,
so dass man versucht sein möchte, sie unmittelbar an die grossen
Alexandriner anzuknüpfen. Wir meinen: Mydorge, Desargues, Pascal.
Claude Mydorge^) (1585 — 1647), ein genauer Freund von
Descartes, stammte aus einer reich begüterten Beamtenfamilie.
Auch er begann die gerichtliche Laufbahn, die er aber verliess, um
unter dem Arbeitsverpflichtungen nicht mit sicli führenden Titel eines
Schatzmeisters (Tresorier de France) sich der Wissenschaft widmen
zu können. Ein Werk von ihm über Kegelschnitte erschien 1G31 in
zwei Büchern, welchen zwei weitere Bücher 1639 folgten. Während
die vier Bücher alsdann vereinigt wiederholten Abdruck fanden, ist
eine selbst aus vier Büchern bestehende Fortsetzung verloren ge-
gangen. Es heisst, ein Lord Cavendish und ein Lord Southampton,
die als Freunde im Mydorge'schen Hause verkehrten, hätten sie mit
nach England genommen, wo sie verschollen sind. Mehr als 1000
geometrische Aufgaben haben sich in der Handschriftensammlung
der Pariser Akademie erhalten. Der Wortlaut der Aufgaben ist nach-
träglich auch im Drucke bekannt gegeben worden, der der zugehöri-
gen Auflösungen nur zu sehr geringem Theile, und fast scheinen die
interessantesten Auflösungen der Oeffentlichkeit vorenthalten geblieben
zu sein. Dass Mydorge beispielsweise zur Siebentheilung des Kreises
noch der alten Näherungsmethode sich bediente, die halbe Dreiecks-
seite als Siebenecksseite zu benutzen, kümmert uns weit weniger, als
wenn wir wüssten, welches das Näherungsverfahren Mydorge's bei
Auflösung seiner 363. Aufgabe war: ein Quadrat in ein regelmässiges
Vieleck von beliebiger Seitenzahl zu verwandeln. Unter den dort
vorkommenden Kunstausdrücken ist Parallaxe in der Bedeutung
eines von zwei concentrischen Kreisen begrenzten Kreisringes zu
nennen, und insbesondere das Wort Parameter eines Kegel-
schnittes, welches Mydorge einführte^). Das Kegelschnittwerk war
jedenfalls Mydorge's verdienstlichste Leistung und enthält neben schon
Bekanntem aber neu Dargestelltem wesentlich neue Sätze. Im 2. Buche
hat man den Satz bemerkt, dass, wenn von einem Punkte in der
Ebene eines Kegelschnittes Radien nach allen Punkten der Curve
gezogen und diese in einem gegebenen Verhältnisse verlängert wer-
den, ihre Endpunkte einen neuen, dem erstgegebenen ähnlichen Kegel-
') Kästner III, 19G. — Montucla II, 74. — Chasles, Apergu hist. 89
(deutsch 85). — C. Henry im Bulletino Boncompagyii XIV, 271—350; XVI, 514
— 527. *) Gino Loria, Nicola Fergola e la scuola cli matematici che lo ebbe
a duce (Genova 1892), pag. 11.
Cantoe, Geschichte der Mathem. II. 2. Aufl. 43
674 ^1- Kapitel.
schnitt bilden. Im 3. Buche ist in drei Sätzen (39, 40, 41) die Auf-
gabe gelöst, einen gegebenen Kegelschnitt auf einen gegebenen Kegel
zu legen.
Girard Desargues^) (1593 — 1662), aus Lyon, sjjielt innerhalb
der Geschichte der Mathematik eine höchst eigenthümliche Rolle.
Von den ersten Geistern seiner Zeit geschätzt, von neidischem Un-
verstände begeifert, ist er so gut wie vergessen gewesen, bis man
nicht etwa ein Exemplar seines 1639 in Paris gedruckten Haupt-
werkes, sondern eine vollständige Abschrift desselben auffand, welche
im Jahre 1679 durch Philippe De la Hire, einen hervorragenden
Geometer, der selbst schon 1671 ein bedeutendes Werk über Kegel-
schnitte im Drucke herausgegeben hatte, angefertigt worden ist^).
Wie Jemand in jener Zeit dazu kam, ein acht Druckbogen starkes
Buch ganz abzuschreiben, statt es buchhändlerisch sich anzueignen,
ist ein vollständiges Räthsel. Allenfalls wäre eine einzige Erklärung
möglich, dass nämlich damals bereits kein Exemplar mehr aufzutrei-
ben war, weil das zu schwer geschriebene und der grossen Leserwelt
durchaus unverständliche Werk auch unverkäuflich war und als
Maculatur vernichtet wurde ^). Auf die wenigen geistig Ebenbürtigen
machte es allerdings einen wesentlich anderen Eindruck, der aus den
Briefesworten Fermat's ersichtlich ist: „Ich schätze Herrn Desargues
sehr, und zwar um so höher, als er allein der Erfinder seiner Kegel-
schnitte ist. Sie sagen, das Büchelchen gelte für kauderwälsch
(Jargon). Mir erscheint es sehr verständlich und geistvoll"*). De-
sargues lebte seit 1626 etwa in Paris und wurde ein regelmässiger
Theilnehmer an den Zusammenkünften geistig hochstehender Männer,
welche es liebten, einander die Ergebnisse ihrer Forschungen mit-
zutheilen, während dieselben noch im Gange waren, welche zugleich
auf Reinheit und Schönheit des sprachlichen Ausdruckes hielten, und
welche so die Vorgänger der französischen Akademie wurden, von
welcher man beinahe sagen möchte, Richelieu habe sie 1635 nicht
sowohl gegründet als bestätigt. Wenigstens waren die ersten ernann-
^) Oeuvres de Desargues reunies et analysees par M. Poudra. Paris 1864.
Wir citiren diese Ausgabe unter dem Namen Desargues. — Montucla II, 74
—75. — Chasles, Apergu hist. 74—79, 331—334 (deutsch 71—75, 344—348).—
Marie, Histoire des sciences mathematiques III, 201 — 225. — Chrzaszczewski,
Desargues' Verdienste um die Begründung der projeeti vischen Geometrie. Grün.
Archiv 2. Reihe, XVI, 119—149. ^) Desargues I, 132. ^ Wer solches für
undenkbar hält, erinnere sich an das Schicksal der Ausdehnnngslehre von
Grassmann und der Statik von Möbius, dei'en erste Auflagen in der Mitte
des XIX. Jahrhunderts als unverkäuflich eingestampft wurden. ■•) Fermat,
Varia Opera mathematica pag. 173.
Greometrie. 675
ten Mitglieder lauter Persöulichkeiten, welche an jenen Zusammen-
künften theilgenommen hatten. Nachdem die französische Akademie
ins Leben gerufen war, dauerten ungezwungene, wenn auch regel-
mässige Vereinigungen von Mathematikern und Physikern weiter fort,
bis 1666 sich abermals eine förmliche Gründung vollzog, die der
Acaäemie des scimces durch C o 1 b e r t. In jener frühen Zeit, von
welcher wir gegenwärtig reden, bildete sich auf die erwähnte Weise
der Bekanntenkreis von Desargues. Pater Mersenne, Roberval,
der ältere Pascal, Carcavy, Bouillau, Gassendi gehörten
dazu, lauter Persönlichkeiten, die uns mehr als nur einmal begegnen
werden. Auch Descartes lernte Desargues hier kennen, und sie
wurden Freunde , als Desargues 1628 an der Belagerung von La
Rochelle als Kriegsbaumeister theilnahm und Descartes hinreiste, um
die grossartigen Arbeiten zu besehen. Zu seiner Lyoner Heimath
hat Desargues auch von Paris aus enge Beziehungen unterhalten.
So z. B. wurden, als 1646 das neue Rathhaus jener Stadt gebaut
wurde, die Risse an Desargues zur Begutachtung eingesandt und von
ihm nicht unwesentlich abgeändert. Um 1650 kehrte Desargues voll-
ständig nacTi Lyon zurück und war dort noch als Baumeister thätig.
Auch scheint er damals strebsame Handwerker an sich gezogen zu
haben, um ihnen Unterricht in denjenigen Abschnitten der Geometrie
zu ertheilen, welche beim Bauen sich als unerlässlich vordrängen.
Perspectivisches Zeichnen und der Steinschnitt gehören hier-
her, und auch schriftstellerisch hat Desargues sie bearbeitet. Sein
erstes Buch von 1636 ist die Perspedive^ 1640 erschien ein Buch
über Steinschnitt, Perspective und Herstellung von Sonnenuhren unter
dem Titel: BroniUmi jy)-oject cVexemple d'une maniere universelle du
S. G: D. L. ^) touchant la practiquc du trait ä preuves pour la coupe
des pierres en Varcliitecture; et de V esclaircisseinent d'une maniere de
re'duire au petit pied en perspective comme en geometral et de tracer
tous quadrans plats- d'heures egales au soleil. Dann gab Abraham
Bosse, ein geschickter Kupferstecher und der begabteste Schüler
von Desargues, 1648 ein grösseres Werk über Perspective heraus,
welches in bedeutsamen Abschnitten als von Desargues verfasst be-
trachtet werden muss und auch gleich damals betrachtet wurde, da
Gegenschriften, welche im Drucke erschienen, und welche die geo-
metrische Auffassung zu Gunsten der handwerksmässigen, wenn auch
nachweislich nicht selten irrigen Uebung bekämpften, sich ohne
Weiteres gegen Desargues richteten. Alle diese Bücher des Desargues
lassen sich als Vorläufer jener Wissenschaft bezeichnen, welche un-
*) Abkürzung für Sieur Girard Desargues Lyonais.
43*
(376 71. Kapitel.
gefälii- 150 Jahre später den Namen der descriptiveu Geometrie
erhielt. Noch ungleich wichtiger und an fruchtbaren neuen Gedanken
übei-reich war das, wie wir erzählt haben, in De la Hire's Abschrift
erhaltene Werk von 1639: BroniUon jyrojed d'une atteinte aux evene-
mens des rencontres d'iin cone avec im plan, gewöhnlich kurz als
BrouiUon projed des Desargues bezeichnet, ohne dass es mit dem die
gleichen Anfangsworte im Titel enthaltenden Buche von 1640 ver-
wechselt würde. Desargues nennt das Werk „Erste Niederschrift
des Entwurfes eines Versuches über die Thatsachen, zu welchen der
Schnitt eines Kegels durch eine Ebene Veranlassung giebt". Vor-
sichtiger, als es in den Anfangsworten dieses Titels geschah, hat sich
niemals ein Schriftsteller ausgesprochen, aber die Neuheit der Auf-
fassung machte Vorsicht nothweudig. Wir müssen einige wesent-
liche Dinge hervorheben und darunter zunächst die Anwendung
des Unendlichen in der Geometrie. Nicht als ob noch kein
Mathematiker mit dem Begriffe des Unendlichen als dem des Stetigen
nahe verwandt sich beschäftigt hätte. In jedem Jahrhunderte tauchten
solche Uneudlichkeitsbetrachtuugeu auf, zuletzt bei Vieta (S. 586),
wo er die krumme Linie als eine Zusammensetzung unen'dlich vieler
unendlich kleiner Strecken erklärte. Auch Kepler hat 1615, Ca-
valieri 1635 in Druckwei'keu, deren Besprechung uns obliegen wird,
wenn wir von den Anfängen der Infinitesimalrechnung reden, den
gleichen Gedanken zu nie geahnten Folgerungen ausgebeutet, aber
bei Desargues waren es ganz andere Unendlichkeitsbetrachtungen als
bei diesen Vorgängern. Zwei oder mehrere Gerade treffen in einem
Punkte zusammen, welcher das Ziel ihrer Anordnung, hut d'une
ordonnance de droites, heisst^). Dieser Zielpunkt kann in endlicher,
er kann auch in unendlicher Entfernung liegen, im letzteren FaUe
heissen die Geraden parallel. Der menschliche Geist sucht die Grösse
gegebener Linien zur Erkenntniss zu bringen und fasst sie als Ge-
sammtheiteu so kleiner Theile, dass deren beiderseitige Grenzen zu-
sammenfallen ^). Denkt man sich einen Kreis und einen Punkt
ausserhalb der Kreisebene, und lässt man eine durch den Punkt hin-
durchgehende Gerade längs der Kreislinie hingleiten, so beschreibt
^) Desargues I, 104. *) Ebenda I, 103: La raison essaye ä connaitre
des quantites infinies d'une pari, ensemble de si petites qiie letirs deux extremites
opposees sont unies entre elles. H. Poudra hat diese Stelle durchaus missver-
standen und gemeint, Desargues habe sagen wollen, es gebe nur einen ün-
endlichkeit-spunkt einer Geraden, woran er gewiss nicht dachte. Auch in I,
105: toutes ces droites sont entrelles d'une mesme ordonnance, dont le but est ä
distance infinie, et chaeune d'une pari et d'autre darf man jenen modernen Sinn
nicht hiueinlesen.
Geometrie. 677
sie dabei eine Kegeloberfläche; entfernt sich aber der Punkt auf un-
endliche Entfernung von der Kreisebene, so geht der Kegel, oder die
Rolle, roideau, wie Desargues sich gleichfalls ausdrückt, in eine solche
von überall gleicher Dicke über, so wird sie zur Säule, colomne, oder
zum Cylinder^). Nicht minder neu waren Sätze, welche auf Punkte
sich bezogen, die auf einer Geraden liegen. Es sei ein Punkt A
jener Geraden als Wurzel, souche, bezeichnet und auf ihn je ein Paar,
couple, von Entfernungen nach bestimmten Punkten bezogen^), z. B.
ein Punktepaar B und H, ein zweites C und G, ein drittes D und F.
Bildet man die Rechtecke aus den Entfernungen eines Punktepaares
von der Wurzel, welche durch die Producte jener Entfernungen ge-
messen werden, so können die drei Producte einander gleich sein:
ÄBÄH=ACäG= AD- ÄF. In diesem Falle bilden die
sechs Punkte eine Involution^). Die neuere Geometrie hat bekannt-
lich diesen Kunstausdruck sich angeeignet, aber mit einer anderen
Definition versehen, so dass der Satz der Involution mit demjenigen
übereinstimmt, den wir (S. 659) in einem der Porismen Fermat's
enthalten fanden. Man hat nachgewiesen*), dass eine innere Ueber-
einstimmung zwischen beiden Ausdrucksweisen vorhanden ist. Ob
Fermat dieses auch wusste, oder als er sein Porisma aufstellte, mit
dem Brouillon project bekannt war, dürfte kaum zu ermitteln sein.
Zieht man durch die sechs Punkte einer Involution ebensoviele Zweige,
rameaux, mit einem einzigen Zielpunkte, so entsteht ein Busch, ranice,
der die Eigenschaft besitzt, dass jede durch ihn hindurchgehende
Gerade in sechs Punkten geschnitten wird, die abermals eine Involu-
tion bilden^). Desargues erkennt auch, dass, wenn ein Punkt auf
die Wurzel fällt, der ihm entsprechende andere Punkt des Punkte-
paares in die Unendlichkeit fallen muss, weil nur Null mal Unendlich
ein endliches Product liefern kann''). Hierauf vereinigte Desargues
in seinen Untersuchungen die von ihm geschaffene Theorie der In-
volution mit der Kegelschnittlehre. Eine doppelte Neuerung führte
er hier ein. Erstens wurde von Eigenschaften der Kreislinie, welche
die Grundebene des Kegels begrenzte, auf die Eigenschaften des Kegel-
schnittes geschlossen, d. h. eine perspectiv! sehe Beweisführung
war entdeckt. Zweitens konnte dementsprechend jetzt von Kegel-
schnitten überhaupt die Rede sein, statt dass Eigenschaften aller
drei besonderen Kegelschnittarten in ebensovielen Sätzen ausgesprochen
und bewiesen werden mussten. Von den zahlreichen allgemeinen
^) Desargues I, 157—158. ^ Ebenda I, 112. ^) Ebenda I, 119.
*) Chasles, Apergu hist., Note X, pag. 308— 327 (deutsch 318—340). ^) Desar-
gues I, 147. «) Ebenda I, 127.
678 '1- Kapitel.
Sätzen erwähnen wir nur einen, der vielfach den Namen Satz von
Desargues enthalten hat, dass nämlich jedes in einem Kegelschnitte
einbeschriebene Vierseit nebst dem Kegelschnitte selbst eine beliebige
Transversale in den sechs Pimkten einer Involution schneiden \). Auch
die Polare eines Punktes mit Beziehung auf einen gegebenen Kegel-
schnitt war Desargues nicht unbekannt^), wenn auch dieser Name
erst späteren Ursprunges ist. Diese kurzen Auszüge mögen genügen,
das vorher über das Brouillon project des Desargues Gesagte näher
zu begründen. Bemerkenswerth dürfte noch sein, dass Desargues
hier den Kunstausdruck coadjuteur'^) einzubürgern versuchte für das,
was bei Anderen (ailleiirs) coste droit, parametre genannt werde. Der
letztere noch nicht lange (S. 673) vorhandene Name behielt das
Uebergewicht. Von den Verdiensten, welche Desargues als Baumeister
sich erwarb, haben wir nicht zu reden. Einen einzigen Punkt müssen
wir erwähnen. Nach der Aussage von De la Hire hat Desargues die
epicycloidale Gestalt der Zähne ineinandergreifender Räder als die-
jenige erkannt und in Anwendung gebracht, bei welcher die geringste
Reibung stattfindet'*), während die Erfindung der Epicycloide, wie
wir uns erinnern (S. 461), Dürer angehört.
In dem S. 675 erwähnten Werke von Abraham Bosse über
Perspective ist namentlich ein Satz bemerkenswerth, den der Verfasser
1636 von Desargues kennen gelernt haben will, und der darin be-
besteht, dass wenn zwei geradlinige Dreiecke in einer Ebene so liegen,
dass Verbindungsgerade ihrer gleichliegenden Ecken in einem und
demselben Punkte zusammentreffen, alsdann auch ihre gleichliegenden
Seiten sich in drei derselben Geraden angehörenden Punkten schnei-
den und umgekehrt'^). Derartige Dreiecke haben bekanntlich durch
Poncelet den Namen homologer Dreiecke erhalten.
Ein einziger Schriftsteller verstand Desargues' geometrische
Leistungen sofort so vollkommen, dass er den eröffneten Weg weiter
fortzugehen im Stande war: Blaise Pascal^) (1623—1662). Wenn
man der Erzählung seiner Schwester trauen darf, fand der frühreife
Knabe, ohne vorher mathematischen Unterricht genossen zu haben,
aus sich heraus den geometrischen Satz von der Gleichheit des
Aussenwinkels am Dreiecke mit der Summe der beiden gegenüber-
liegenden inneren Winkel, worauf ihm zur belohnenden Erholung in
1) Desargues I, 186. ^) Ebemla I, 164. ^) Ebenda 1, 203. ") Ebenda
I, 31. ^) Chasles, Ajyergii hist. pag. 82— 83 (deutsch 79—80). *=) Drey-
dorff, Pascal, sein Leben und seine Kämpfe (Leipzig 1870). — Cantor, Blaise
Pascal (Preussische Jahrbücher XXXII, 212—237). — Oeuvres de Pascal (Paris
1872 bei Hachette). Wir citii-en diese Ausgabe der Werke unter dem Namen
Pascal.
Geometrie. 679
seinen Spielstunden eine lateinische Uebersetzuug des Euklid in die
Hände gegeben wurde. Derselben Quelle entstammt die Erzählung,
Paseal's Vater, Etienne Pascal, welcher selbst ein ganz tüchtiger
Mathematiker war, und während seines Aufenthaltes in Paris (1631
— 1638) an den Zusammenkünften von Mathematikern sich bethei-
ligte, deren wir (S. 674) gedachten, habe nicht nur den Sohn zu
jenen Zusammenkünften mitgenommen, sondern dem Knaben sei es
gestattet gewesen, sich in die Besprechungen einzumischen. Sicher ist
durch Paseal's eigene Aussage^) von 1654, dass er im Alter von
erst 16 Jahren, mithin vor 1640, ein Werk über Kegelschnitte ver-
fasst hat, welches Leibniz, dem es später, längst nach Paseal's
Tode, zur Begutachtung vorlag, zum Gegenstande eines unter dem
30. August 1676 an Paseal's Neffen gerichteten Briefes machte. Leib-
nitz verlangte nachdrücklich eine baldige Drucklegung des Werkes,
welche um so dringender sei, als Lehrbücher erschienen, welche zu
einem Abschnitte des Pascal'schen Werkes in Beziehung stünden^).
Leider wurde Leibnizen's Wunsch nicht erfüllt. Nur ein ganz kurzes
Bruchstück Essai sur les cmiiques ist im Drucke bekannt geworden^),
das Meiste ging verloren. Man ist daher fast ausschliesslich auf den
Leibnizischen Brief für die Kenntniss des Lihaltes von Paseal's Jugend-
werk angewiesen. Ein von Leibniz abgeschriebenes und aus dessen
Nachlass veröffentlichtes Bruchstück^) handelt nur von der Ent-
stehung eines Kegelschnittes mittels Kegel und Ebene. Die Ellipse
wird darin Äntohüla genannt. Ueber den L^rsprung von Paseal's
Forschungen giebt dessen Essai eine willkommene Ergänzung. „Wir
beweisen, sagt Pascal^), auch die nachfolgende Eigenschaft, deren
erster Entdecker Herr Desargues aus Lyon ist, einer der grossen
Geister unserer Zeit, einer der besten Kenner der Mathematik und
unter Anderem der Kegelschnitte, wie seine Schriften über diesen
Gegenstand, so kurz sie gefasst sind, dem reichlich zeigen, welcher
in sie einzudringen sich bemüht. Ich gestehe es gern ein, dass ich
seinen Schriften das Wenige, was ich über diesen Gegenstand ge-
funden habe, schulde, dass ich, so weit es mir möglich war, gesucht
habe seine Methode nachzuahmen, welche darin besteht, dass er, ohne
des Axendreiecks sich zu bedienen, von allen Kegelschnitten im All-
gemeinen handelte." Darauf folgt der Desargues'sche Satz vom^Seh-
nenviereck des Kegelschnittes. Als erstes Lemma "^j nennt ferner
^) Pascal lU, 219 — 220: Conicorum opus completum et conica Apollonii
et alia innumera unica fere pti'opositione amplectens; quod quidem nondum sex-
deeimum aetatis annum assecutus excogitavi, et deinde in ordhiem congessi.
2) Ebenda IE, 468. ^) Ebenda HI, 182—185. ") C. J. Gerhardt, Berl.
Acad. Ber. 1892, S. 197—202. ^) Pascal III, 184 lin. 14—30. •^) Ebenda III, 182.
680 71. Kapitel.
Pascal aber ohne Beweis den Satz, welcher als Satz vom Pascal-
schen Sechseck bekannt geblieben ist: Jedes Sehnensechseck eines
Kegelschnittes hat die Eigenschaft, dass die drei Durchschnittspunkte
von je zwei einander gegenüberliegenden Seiten auf einer und der-
selben Geraden sich befinden. Pascal spricht den Satz zunächst aller-
dings in seiner Beschränkung auf den Kreis aus, indem er sich eines
Kunstausdruckes bedient, der einem Desargues'schen nachgebildet ist.
Ordonnance de droites heisst bei Jenem der gemeinsame Durchschnitts-
punkt mehrerer Geraden und Pascal sagt von Geraden, die einen ge-
meinsamen Durchschnittspunkt besitzen, sie seien gleicher Anordnung,
de meme ordre. Ist KNO VQP ein Kreissehnensechseck und PK, OV
schneiden sich in M, während VQ, KN sich in S schneiden, so
muss der Durchschnittspunkt von NO, QP mit M und S in gerader
Linie liegen, und das heisst bei Pascal: NO, QP, MS müssen gleicher
Anordnung sein. Kehren wir zum Leibnizischen Briefe, als der ein-
zigen Quelle, welche einige Auskunft ertheilt^), zurück und entnehmen
ihm die Inhaltsübersicht des verlorenen Werkes. An der Spitze stand
die perspectivische Betrachtung, welche jeden Kegelschnitt optisch
durch Durchschneidung des Strahlenkegels vom Auge nach dem Grund-
kreise erzeugt, indem der Kreis auf die Schnittebene sich projicirt^).
Dann folgten die Eigenschaften einer gewissen aus sechs Geraden
gebildeten Figur, des Hexagramma mysticiim, unzweifelhaft des Pas-
cal'schen Sechsecks unter Entfernung der oben erwähnten Beschrän-
kung auf den Kreis, nachdem einmal der perspectivische Zusammen-
hang zwischen Kreis und Kegelschnitt hergestellt war. Das Hexagramm
war in einem dritten Abschnitte benutzt, um die Eigenschaften von
Tangenten- und Sehnenvierecken von Kegelschnitten nebst dabei auf-
tretenden harmonischen Theilungen und Durchmessereigenschaften
abzuleiten^). Ein vierter Abschnitt von den Proportionen zwischen
den Abschnitten von Tangenten und Secanten scheint den gleichen
Gegenstand weiter ausgebeutet und conjugirte Durchmesser sowie
Brennpunkte besprochen zu haben '^). Was im fünften Abschnitte
stand, ist aus dessen Ueberschrift^) „von Punkten und Geraden, welche
ein Kegelschnitt berührt" schon einigermassen zu entnehmen. Deut-
licher sprach sich Pascal in einem Schreiben aus. Bei Pater Mer-
*) Pascal in, 466 — 468. *) projectio peripheriae, tangentium et secan-
tiiim circuli in quibuscunque oculi, plant ac tabellae positionibus und la pi-ojection
d'un cercle sur un plan qui coupe le cöne des rayons. ^) unde rectarum har-
monice sectarum et diametroriim proprietates oriuntur. *) De iwoportionibus
segmentorum secantium et tangentium; de correspondentibus diametrormn; de
summa et differentia laterum, seu de focis. **) De punctis et rectis quas Sectio
conica uttingit.
Geometrie. 681
senne Latten bis zu dessen Tode 1648 regelmässige wöchentliche Zu-
sammenkünfte von Mathematikern, eine Art freier Akademie, statt-
gefunden. An deren Stelle traten Zusammenkünfte ausschliesslicher
Anhänger von Descartes. Pascal hegte den Wunsch, wieder an jene
ältere Vereinigung von weniger ausgesprochenem Parteicharakter an-
zuknüpfen, und das war die allerdings unerreichte Absicht^) eines
Briefes von 1654, in welchem er die Arbeiten angab, welche damals
fertig bei ihm bereit lagen. Dort spricht er nämlich von der Her-
stellung von Kegelschnitten, welche fünf beliebigen Bedingungen ge-
genügen^), worunter das Hindurchgehen durch gegebene Punkte und
das Berühren gegebener Geraden inbegriffen sei. Eine sechste Ab-
theilung oder Abhandlung endlich war nach Leibnizens Urtheil dazu
bestimmt, für sich allein veröffentlicht zu werden, weil Mancherlei
aus dem zweiten Abschnitte, insbesondere die Definition des Hexa-
gramma mysticum, dort wortgetreu wiederkehrte. Wenn Leibniz der
Einzige war, welcher über die Untersuchungen des jungen Pascal
über Kegelschnitte einen auf uns gelangten Bericht verfasst hat, so
war er nicht der Einzige, der Kenntniss von ihnen nahm^). Descartes
zwar dürfte nur den schon zu Pascal's Lebzeiten gedruckten Essai
gesehen haben, und der von ihm berichtete Ausspruch, diese Schrift
sei unmöglich die Arbeit eines 16jährigen jungen Mannes, sondern
rühre, wenn nicht von Desargues, jedenfalls von Pascal dem Vater
her, dürfte niemals erfolgt sein*), aber Pater Mersenne muss doch
wohl das grössere Werk gekannt haben, um 1644 die Behauptung
drucken zu lassen, Pascal habe aus einem einzigen allgemeinen Lehr-
satze 400 Folgerungen abgeleitet, ja den ganzen Apollonius darin ein-
geschlossen gefunden. Wir haben hier noch eines Bruchstückes zu
gedenken, welches von Pascal vorhanden ist, dessen Entstehungszeit
sich aber nicht genauer bestimmen lässt, als durch die einzige That-
sache, dass das Descartes'sclie Co(jito ergo sunt darin angeführt ist,
womit eine obere Grenze etwa auf das Jahr 1637 als Druckjahr des
Discours de la methode gewonnen wird. Es ist eine Abhandlung
über die Methode der geometrischen Beweisführung^). Sie
allein, sagt Pascal, entspreche den Anforderungen, welche man an
1) Briefliche Mittheilung von P. Tannery. ^) Pascal ÜI, 219. =*) Mon-
tucla n, 62. — Chasles, Apergu hist. 73 und 330 (deutsch 70 und 343).
*) So schon Bayle im Dictionnaire historique s. v. Pascal. Die entgegen-
gesetzte Meinung stammt von einem Anonymus her, welcher sie in einer Vor-
rede aussprach, ohne eine Quelle dafür anz.ugeben, welche aber in einem Briefe
Descartes' vom April 1640 zu finden sein dürfte. Dann fand die Legende durch
Montucla unberechtigte Verbreitung. ^) Pascal III, 163 — 182. Die im
Texte hervorgehobene Stelle III, 178.
682 71. Kapitel.
Definitionen, an Axiome, an irgend welche Beweisführungen zu stellen be-
rechtigt sei, und welche zusammengefasst acht Vorschriften bilden. 1. Man
soll Nichts definiren wollen, was an sich so bekannt ist, dass es an
einfacheren Ausdrücken zu dessen Erklärung fehlt. 2. Man soll keinen
irgend dunkeln oder Zweifel gestattenden Ausdruck ohne Definition
lassen. 3. Man soll bei den Definitionen nur solcher Wörter sich
bedienen, welche entweder vollkommen bekannt sind, oder vorher ihre
Erklärung gefunden haben. 4. Man soll keinen uothwendigen Grund-
satz, so klar und einleuchtend er sei, weglassen, ohne die Frage zu
stellen, ob man denselben als Axiom gelten lasse. 5. Man soll als
Axiome nur Dinge aufstellen, die an sich vollkommen einleuchtend
sind. 6. Man soll Nichts zu beweisen suchen, was dergestalt ein-
leuchtend ist, dass es keine klareren Beweismittel giebt. 7. Man soll
jeden Satz beweisen, dem irgend Dunkelheit anhaftet, und als Be-
weismittel nur sehr einleuchtende Axiome oder vorher schon Be-
wiesenes, beziehungsweise Zugestandenes anwenden. 8. Man soll fort-
während in Gedanken das Definirte durch seine Definition ersetzen,
um nicbt vermöge des vielfachen Sinnes von Wörtern, die innerhalb
der Definition enger gefasst wurden, zu Irrthümern verleitet zu werden.
Die drei negativen Vorschriften (1., 4., 6.), fährt Pascal fort, könne
man vielleicht als minder nothwendig ohne Gefahr vernachlässigen,
die fünf anderen aber sind von absoluter Nothwendigkeit, und man
könne keine derselben erlassen, ohne in wesentliche Mängel, oftmals
sogar in P'ehler zu verfallen. Wir wollen nicht versäumen, darauf
aufmerksam zu machen, dass in diesem Pascal'schen Bruchstücke der
erste moderne Versuch einer Philosophie der Mathematik
gemacht ist. Auch eine neue Einleitung in die elementare Geometrie
scheint Pascal vorbereitet zu haben, von welcher sich Leibniz ein
Bruchstück abschrieb ^).
Mydorge, Desargues, Pascal standen insgesammt in Beziehung
zu Deseartes. Von ihm haben wir jetzt zu reden. Rene Descurtes
du Perron (1596 — 1650), latinisirt Cartesius, gehört zu den Per-
sönlichkeiten, deren vielbewegtes Leben die zahlreichsten Schilderungen
gefunden hat. Man weiss, dass er 1604 — 1610 ein Zögling des
Jesuitencollegiums La Fleche war. Im Jahre 1614 führte er in Paris
das ausschweifendste Leben, aus welchem er sich nach einem Jahre
plötzlich zurückzog, um in einem Verstecke ernsten Studien sich zu
widmen. 1617 — 1627 durchstreifte er Europa als Glücksritter, zu-
gleich überall auf die Erweiterung seiner Kenntnisse bestrebt. Hol-
land, Deutschland, Ungarn, dann wieder Holland, Italien durchstreifte
1) C. J. Gerhardt, Beii. Akad. Ber. 1892, S. 202—204.
Geometrie. 683
er nach allen Richtimgen. In Breda war er 1618 in Verkehr mit
dem vielseitig gelehrten Isaak Beeckman, der von Einfluss auf
sein damals geschriebenes, aber erst 1648 gedrucktes Compendinm
Musicae gewesen ist. Dann war er 1620 in Ulm bei J o h a ii n
Faulhaber, von dem er sich in algebraischen Dingen unterrichten
liess^). 1628 nahm er an der Belagerung von La Rochelle theil,
wo Desargues, wie wir sahen (S. 675), Ingenieurdienste leistete.
Dann war Descartes 1629 wieder in Holland, von wo er 1631 eine
Reise nach England, 1634 eine solche nach Dänemark unternahm.
Den Verkehr mit seiner Familie hatte er vollständig abgebrochen.
Den Tod des Vaters, Joachim Descartes, erfuhr er erst drei Monate
nach dem Ereignisse, als er 1640 brieflich die Absicht kundgab, ein
aussereheliches Töchterchen zur Erziehung nach Frankreich zu bringen.
Da auch das Kind damals starb, blieb Descartes in Holland, philo-
sophisch-religiöse Kämpfe dort bestehend, die zu einem geheimen, ge-
fahrdrohenden Anklageverfahreu gegen ihn führten, welches nur mit
Mühe unter Beihilfe des französischen Gesandten niedergeschlagen
wurde. Um 1643 trat Descartes in Briefwechsel mit der Prinzessin
Elisabeth von der Pfalz, zu deren Besuch er dreimal 1644, 1647,
1648 nach Frankreich zurückkehrte. Auf der ersten Reise knüpfte
er mit De Chanut, dem französischen Gesandten in Stockholm, per-
sönliche Beziehungen an, welche seit 1647 einen Briefwechsel mit
der Königin Christina von Schweden im Gefolge hatten. Ihrem Rufe
folgte Descartes 1649 nach Stockholm, um dort nach wenigen Mona-
ten zu sterben. Die für die Geschichte der Mathematik wichtigste
Schrift Descartes' ist seine 1637 im Drucke erschienene Geometrie.
Ausserdem ist sein Briefwechsel eine nicht zu vernachlässigende Quelle.
Claude Clersellier (1614 — 1684 oder 1686), Parlamentsadvocat in
Paris, der besonders nach dem Tode des Pater Mersenne in engster
Beziehung zu Descartes stand, hat diesen Briefwechsel 1667 in drei
Bänden herausgegeben. Beide kommen hier, wo wir nur Reingeome-
trisches besprechen, nicht in Betracht, sondern nur ein mathemati-
sches Bruchstück aus ganz unbekannter Zeit, welches selbst nur in
einer zwischen 1672 imd 1676 durch Leibniz genommenen Abschrift
lückenhafter Natur vorhanden ist ^). Es bezieht sich auf die Lehre
^) Doppelmayr S. 91 Note aa. *) Oeuvres inedites de Descartes par
M. le Comic Foucher de Careil II, 214 (Paris 1860). — Artikel von Prouhet
und Mallet in der Revue de Vinstruction publique., Nummern vom 22. December
1859, 5. Januar, 1. und 22. November, 6. December 1860. — Prouhet in den
Compt. Rend. de VAcadcmic des sciences vom 23. April 1860. — Baltzer in den
Monatsber. Berlin. Acad. 1861, S. 1043 — 1046. — De Jonquieres in der von
Eneström herausgegebenen Bibliotheca mathematica 1890, pag. 43—55.
684 '1- Kapitel.
von den Yielfläcbnern und enthält folgende Sätze: Das Product der
Eckenzahl e in 4 Rechte um 8 Rechte verringert ist gleich der Summe
IV aller Polygonwinkel auf der Oberfläche des Vielflächners. Für die
Summe iv gilt die Wahrheit, dass sie mit dem Vierfachen der Flächen-
zahl /■ vereinigt die doppelte Anzahl aller Polygonwinkel, beziehungs-
weise das Vierfache der Kantenzahl k liefert, indem die Winkelanzahl
desshalb der doppelten Kantenzahl gleichkommt, weil jede Kante zu
zwei Flächen gehört und in jeder derselben bei der Winkelbildung
mitwirkt. Die beiden Gleichungen «^• = 4e — 8, iv-\-4^f=^h führen
vereinigt zu der neuen Gleichung e -j~ /= ''^" + 2. Descartes kleidet
sie in die Worte: Numerus verorum angulorum planorum est 2(p-^2a — 4^),
indem die Zahl tv der ebenen Winkel, wie wir soeben bemerkt haben,
der doppelten Kantenzahl gleichkommt, (p die Flächenzahl (unser f\
a die Zahl der körperlichen Winkel {anguhrum solidorum) oder die
Eckenzahl (unser e) bedeutet. Wir haben die Descai-tes'schen Buch-
staben durch andere ersetzt, um die Form zu erhalten, in welcher
später Euler den Satz neu entdeckte, welcher von diesem den Namen
des Eul er 'sehen Polyedersatzes zu führen pflegt. Descartes hat
auch folgende Ungleichheiten noch behauptet: Die Zahl der Polygon-
winkel {2k) ist mindestens das Dreifache der Eckenzahl, d. h. 2k^ 3e;
das Doppelte der um 2 verminderten Eckenzahl ist die grösstmög-
liche Flächenzahl, d. h. 2e — 4 ^ /"; endlich e -\- 4 ^2f, welcher
letztere Satz so ausgedrückt ist: Die kleinstmögliche Flächenzahl sei
um 2 grösser als die Zahl, welche erhalten werde, wenn man die
Hälfte der Eckenzahl oder, falls diese ungerade ist, der um 1 ver-
mehrten Eckenzahl nehme.
Diese Sätze führen uns wieder zu den Vieleckswinkeln zurück
und zu den mannigfachen Arten von Vielecken, denen Kepler und
G i r a r d ihr Augenmerk zugewandt haben. Auch Athanasius
Kircher^) (1602—1680), ein Vielschreiber von berüchtigter Un-
zuverlässigkeit, hat wiederholt mit Sternvielecken zu thun gehabt. In
der Ars magna lucis et umhrae von 1646 dient ihm das Sternsieben-
eck zur Bestimmung der Sterne, welchen die einzelnen Wochentage
zugeeignet sind. Den Entfernungen von^ der Erde nach geordnet
heissen diese Sterne Saturn, Jupiter, Mars, Sonne, Venus, Merkur,
Mond. Werden die Namen in dieser Reihenfolge kreisförmig hin-
geschrieben und nun bei Saturn anfangend unter jedesmaliger Ueber-
springung von zwei Stellen geradlinige Verbindungen vollzogen, so
1) BibUoth. math. 1890, pag. 45 Z. 3 v. u. 2) Q^j^gles, Äpergu hist. 478
und 481 (deutsch 548 und 552). — AUgem. deut.sche Biographie XVI, 1—4. Ar-
tikel von Er man.
Geometrie. 685
erscheint das zweite Sterusiebeueck, dessen Spitzen die Reihenfolge
Saturn, Sonne, Mond, Mars, Merkur, Jupiter, Venus biklen. In der
Arithmologia von 1665 kam Kircher bei Besprechung mannigfacher
Amulette auf das Sternfünfeck insbesondere zu reden, und es ist mit
Recht hervorgehoben worden^), dass Kircher bei dieser Gelegenheit
ungleich seinem Vorgänger eines unregelmässigen Sternfünfecks sich
bedient.
Johannes Brozek") oder Broscius, ein Krakauer Gelehrter,
der Schüler des Adriaen van Roomen gewesen sein soll, und der unter
Anderem 1637 De muneris perfedis und De numeris amlcitiae schrieb,
hat die Sternvielecke in seiner Apologia p^v Aristotele et Euclide contra
Petrum Ramum et alios (Danzig 1652) von einem
ganz anderen Gesichtspunkte aus betrachtet. Er
leugnet sie. Er sieht z. B. in dem Sternfünfeck
(Figur 132), welches er unter Entfernung der im "x
Innern der Figur verlaufenden Strecken gezeichnet
wissen will, ein Zehneck mit fünf spitzen und fünf
überstumpfen Winkeln, und wenn er auch einsieht, ^jg ^^^
dass die Summe der fünf spitzen Winkel zwei Rechte
betrage, so sei doch die Winkelsumme des ganzen Zehnecks 16 Rechte.
Der überstumpfe Winkel heisst ihm dabei angulus reclinatus. Broscius
beruft sich in seiner Untersuchung auf das Werk des Bradwardinus
und kennt gleich diesem verschiedene Ord-
nungen von Sternvielecken, deren Eckenzahl 4^"^^^^^"""-^
er nur nach seiner Auffassung anders bestimmt. ^"^ -^^^^^^'^ \\^
Auch die Entstehung dieser Figuren ist bei />^^?v^/\^^<A^A
Broscius' eine wesentlich neue (Figur 133). Er A\ / \a / \ ^Ak
halbirt sämmtliche Seiten des ursprünglichen / \ J\^ i r~/\^ / \
w-ecks (etwa bei n = 7) und verbindet die \/ \/ \/ \//
Halbirungspunkte du)-ch punktirte Strecken. \' -\ /''/
Dreht man nun die sieben Dreiecke, welchen die
. . . Pig 133.
punktirten Strecken als Grundlinien dienen,
um diese herum, so dass sie mit ihren Spitzen nach innen fallen
(z. B. ABC nach ABC), so ist aus dem Siebeneck ein ihm iso-
perimetrisches, aber der Flüche nach kleineres Vierzehneck geworden.
^) Günther, Vermischte Untersuchungen zur Geschichte der mathemati-
schen Wissenschaften, S. 15 — 16, wo aber irrig Kircher's Arithmologia S. 537
citirt ist statt S. 217. *) Kästner III, 199—205. — Chasles, Apergti hist.
pag. 486—487 (deutsch S. 558 — 560. In der üebersetzung ist S. 559, Z. 21 v. u.
Seiten in Winkel zu verbessern). — Günther 1. c. S. 21—25. — J.N.Franke,
Jan Brozek (J. Broscius) akademik krakowski 1585—1652 (Krakau 1884). —
Briefliche Mittheilung von H. Studnicka.
686 71. Kapitel.
Die nach innen gekehrten Eckpunkte (z. B. C, D') verbindet Broscius
wieder durch punktirte Strecken, so entstehen abermals sieben Drei-
eckchen mit punktirten Grundlinien, welche neuerdings um diese nach
innen gedreht (z. B. AC'D' nach A"C'D') ein wiederum isoperi-
metrisches, aber der Fläche nach noch kleineres Vierzehneck hervor-
bringen. Aus dem Grewirre der gezeichneten Strecken treten neben
dem äusseren rings convexen Siebenecke deutlich ein Sternsiebeneck
erster und ein solches zweiter Ordnung hervor.
Eine andere Richtung geometrischer Schriftstellerei knüpft sich
am leichtesten an Schwenter's Praktische Geometrie an, wenn auch
keineswegs behauptet werden will, dieses Werk habe den Anstoss
gegeben. Schwenter's zweiter Tractat (S. 668) lehrte Feldmessen
unter alleiniger Anwendung der Messstange oder Messkette. Aehn-
liches hat ein polnischer Schriftsteller^) Namens Mathias
Gloskowski, von dem man aus vereinzelten Angaben in seinem
Buche weiss, dass er jener Nation angehörte und dem Prinzen Wil-
helm II. von Oranien (1626 — 1650) nahe stand, in einer Schrift ge-
lehrt, welcher er den Titel Geometria pere(jrinans beilegte. Diese
Angaben genügen auch, um der ohne jede Ort- und Zeitangabe ge-
druckten Schrift jedenfalls ein späteres Datum als das der Schwenter-
schen Geometrie (1625) zuzuweisen. Sie gelangte in den Besitz des
jüngeren Franciscus van Schooten (S. 660), und dieser druckte
einen Theil derselben nebst ähnlichen Aufgaben eigener Erfindung
als zweites Buch seiner Exercitationcs mathematkae mit der Sonder-
überschi-ift: I)'e constructione proUetnatum simplicmm geometricormn
seil quae solvi poi^sunt ducendo üintmn rectas l'meas. Ebensowenig wie
bei Schwenter hat man es hier mit ausschliesslicher Anwendung des
Lineals zu thun, da die Annahme festgehalten ist, man sei im
Stande, die Länge zugänglicher Strecken eben mit Hilfe der Mess-
stange zu bestimmen, beziehungsweise Strecken von bestimmter Länge
zu ziehen. Auch das erste Buch der Eocercitaüones mathematicae ist
zur Hälfte der Geometrie eingeräumt. Dort sind 50 arithmetische
und 50 geometrische Aufgaben vereinigt, sämmtlich so einfacher
Natur, dass, wenn auch bei einigen Auflösungen Scharfsinn nicht
zu verkennen ist, wir doch ruhig sagen können, den Druck hätten
sie nicht verdient.
Der Zeit der Veröffentlichung nach gehört hierher auch eine
Schrift von John Wallis-) (1616—1703), welcher mit theologischen
') Franciscus van Schooten, Exercitationesviathematicae, pag. 160—161.
— J. N. Franke und A. Jakubowski haben 1878 eine Einzeluntersuchung über
Gloskowski in polnischer Sprache veröifentlicht. Vergl. S. Dickstein, Bihlioth.
mathemat. 1889, S. 49. - Poggendorff II, 1253.
Geometrie. 687
Studien beginnend seit 1649 der Mathematik als Professor der Geo-
metrie an der Universität Oxford lehrend oblag. Er gab 1656 eine
Abhandlung De amjulo contadus et semicirculi tradatus^) heraus,
welche in der wiederholt erwähnten Streitfrage wegen des gemischt-
linigen Winkels zwischen einer Curve, insbesondere dem Kreise, und
seiner Berührungslinie für die Ansicht eintrat, jener Winkel sei über-
haupt nicht vorhanden, er sei positiv ausgedrückt ein non-anc/ulum,
ein non-quantum, und Clavius habe also Unrecht zu leugnen, dass
der Halbkreis mit seinem Durchmesser einen rechten Winkel bilde.
Abgethan war der Streit damit noch immer nicht. Eine Entgegnung
in der Cydomaihia des Leotaud von 1662 machte eine Defensio
Wallis' von 1685 noth wendig, welche aber die Grenzen der in diesem
Bande behandelten Zeit allzuweit überschreitet, um mehr als im Vor-
übercrehen genannt werden zu dürfen.
72. Kapitel.
Praktische und theoretische Mechanik.
Viel machte eine geometrisch -mechanische oder, wie man mit
fast gleichem Rechte sagen könnte, eine arithmetisch -mechanische
Erfindung von sich reden, die des Proportionalzirkels ^).
Die erste Erfindung wird einem Antwerpener Schriftsteller über
SchiflPfahrtskunde , Michel Coignet (1549 — 1623) zugeschrieben.
Neben Coignet sind auch zwei italienische Schrifteller, Comman-
dino und Del Monte, neben ihnen Christoph Schissler in Augs-
burg, von welchem ein Proportionalzirkel mit der Datirung 1574 sich
im Besitze der Sternwarte von Kremsmünster befindet^), und Daniel
Speckle, der deutsche Pestungsbaumeister, Mitbewerber, und ihre
Ansprüche gehen sämmtlich in das XVI. Jahrhundert zurück. Einiger-
massen genauer datirt ist auch die Erfindung Speckle's, welche in
dessen Ardiitedura von 1589 im Drucke veröif entlicht ist. Der
Zweck des Proportionalzirkels ist der einer graphischen Tabelle. Auf
zwei in Zirkelart mit einander verbundenen Linealen sind Längen der
1) Opera WaUisii III, 603—630. *) Kästner III, 336—352 und desselben
Anfangsgründe der Arithmetik, Geometrie, ebenen und sphärischen Trigonome-
trie und Perspective (6. Auflage, Göttingen 1800), S. 489—495. — Klügel, Ma-
thematisches Wörterbuch III, 909—917. — Quetelet pag. 123—125. — Favaro,
Galileo Galilei e lo studio ili Padova I, 212—248 und II, 353. *) Fellöcker,
Geschichte der Sternwarte von Kremsmünster (Programm des k. k. Gymnasiums
zu Kremsmünster 1864), S. 31.
688 72. Kapitel.
verschiedensten Art ein für alle Mal aufgezeichnet: arithmetische Linien,
deren Abtheilungeu alle einander gleich sind; quadratische Linien,
deren einzelne abgegrenzte Theile im Verhältnisse der Quadratwurzeln
der beigeschriebenen Zahlen zu einander stehen; kubische Linien für
die Kubikwurzeln der beigeschriebenen Zahlen u. s. w. So weit war
es nicht erforderlich, dass die Lineale, auf welche jene Maassstäbe
aufgetragen wurden, in zirkelartiger Verbindung standen, allein die
Eigenschaft der Vorrichtung als wirklicher Proportionalzirkel trat hin-
zu und verlangte jene Vereinigung. Es sollten, während die Zirkel-
weite einer beliebigen Entfernung entsprechend gespannt wurde, zwei
andere Punkte der Zirkelstangen von selbst eine Entfernung zeigen,
die zur ersten in einem gewünschten Verhältnisse stand. Diesem Ver-
Q langen konnte entsprochen werden
(Figur 134). In Deutschland gab
man jedem der beiden als Zirkel-
stangen dienenden Lineale oben und
unten eine Spitze und vereinigte
beide mittels eines beweglichen Zir-
kelkopfes, so dass die Länge jeder
Stange oberhalb und unterhalb des
Fig. 134. ö
Kopfes wechselte. Li Italien war
der verbindende Zirkelkopf fest, dagegen war an jeder Zirkelstange
eine zweite Spitze verschiebbar. Die meisten dieser Vorrichtungen
sind im XVII. Jahrhunderte veröffentlicht worden und haben , vor-
nehmlich in Italien, zu weit heftigeren Streitigkeiten Anlass gegeben,
als die ganze Sache verdiente, insbesondere da, wie eben bemerkt
wurde, von einer ganz neuen Erfindung überhaupt nicht gesprochen
werden konnte.
Innerhalb des XVII. Jahrhunderts fand die erste Veröffentlichung
in Deutschland statt. Jobst Bürgi hatte einen Proportionalzirkel
angefertigt und Philip Horcher^) beschrieb ihn 1605 in einer in
Mainz gedruckten Abhandlung in lateinischer Sprache. Eine deutsche
Beschreibung hatte Levinus Hulsius^) bereits 1603 verfasst, aber
sie ist erst 1607 gedruckt. Sie führt den Titel: Beschreibung und
Unterricht des Jobst Burgi Proportionalzirkels war in Verlegung der
Wittwe Levini Hulsii. Hulsius oder Lievin van Hülst war in Gent
geboren, brachte aber sein ganzes Mannesalter, etwa seit 1590, in
Deutschland zu. Nürnberg wurde dort zunächst sein Aufenthalt, und
er ernährte sich durch Ertheilung französischen Unterrichtes. Später
1) Kästner UI, 336. -) Ebenda III, 379— 3Sr,. — Quetelet pag. 179
— 180. — LePaigein dem Bullet, de Vinstitut archeologique Liegeois XXI,
485—487. V
rraktisclie uud theoretische Mechanik. G89
ging er zum Buchhandel über und zog, nachdem er fast anderthalb
Jahre auf Reisen zur Anknüpfung von Geschäftsverbindungen zuge-
bracht hatte, um 1603 nach Frankfurt, wo er jedenfalls vor 1607
gestorben ist. Die Abhandlung über den Proi3ortionalzirkel war die
dritte von 15, welche Hulsius herauszugeben dachte, und welche alle
damals irgend gebräuchlichen mechanischen Vorrichtungen in deutscher
Sprache zu beschreiben bestimmt waren. Des Verfassers Tod verhin
derte die Ausführung des Unternehmens. Den ersten Tractat gab er
selbst 1604, den zweiten schon ein Jahr früher 1603 heraus. Den
dritten verlegte, wie bemerkt, 1607 die Wittwe, der vierte Tractat
endlich ist 1605 erschienen, ob noch durch Hulsius selbst oder schon
durch seine Wittwe verlegt, ist auf dem Titel nicht angegeben.
Weiteres kam nicht heraus.
Zwischen das Erscheinen der beiden Beschreibungen des Bürgi-
schen Zirkels fällt die des Galilei'schen. Galileo Galilei (1564 —
1642) gehört mit seinen merkwürdigen Lebensschicksalen der Welt-
geschichte an. Das Verbot von 1616, die koppernikanische Lehre
irgendwie zu vertreten, die endgiltige Verurtheilung dieser Lehre
durch eine geistliche Prüfungscommission 1620, die Wirkung, welche
das Verbot von 1616 dann 1633 in dem Processe gegen Galilei übte,
seine Verurtheilung, sein Lebensende als blinder Halbgefangener auf
einer Villa bei Florenz bedürfen hier keiner genauen Erörterung, so
wenig wie die meisten wissenschaftlichen Streitigkeiten seines an
Kämpfen reichen Lebens, weil dieselben in der Hauptsache astrono-
mische waren. Nur sein erster Streit war ein mathematischer und
knüpft sich an die Erfindung des Proportionalzirkels. Galilei, in Pisa
geboren und Zögling der dortigen Hochschule, wurde bereits 1589
ebendaselbst Professor der Mathematik. Von 1592 — 1610 war er
sodann in gleicher Eigenschaft in Padua angestellt, und dort war es,
dass er mit dem Proportionalzirkel sich beschäftigte. In einem Ein-
nahmebuche Galilei's, welches sich erhalten hat, finden sich für das
Jahr 1599 wiederholte Einträge von Summen, welche für Instrumente,
von anderen, welche für Zirkel eingenommen wurden ^), Dann erschien
1606 in Padua Le operazioni del Compasso geonietrico e militare di
Galileo Galilei. In der Vorrede erklärte der Verfasser, er habe Er-
gebnisse erstrebt und q^uch erreicht, welche Anderen, die ähnliche
Instrumente schoji ausführten, nicht in den Sinn gekommen seien.
Im Frühjahre 1607 folgte der Druck einer Schrift Usus et fdbrica
circini cidusdam proportionis von Baldassare Capra und die Ueber-
reichung eines Exemplares derselben an Giacomo Aloise Cornaro.
') Favaro 1. c. T, 207.
Cantoe, Geschichte der Mathem. U. 2. Aufl. 44
690 "2. Kapitel.
Um die ganze Bedeutung dieses kurzen Satzes zu ermessen,
müssen wir um einige Jahre zurückgreifen. Ein Mailänder, Aurelio
Capra, war kurz nach Galilei's Berufung nach Padua mit seinem
Sohne Baldassare Capra ebendahin gekommen, und Vater und Sohn
waren dort mit Galilei bekannt geworden. Die Vermittelung hatte
Giacomo Aloise Cornaro übernommen , und in dessen Hause und
eigener Gegenwart weihte Galilei Vater und Sohn in den Gebrauch
des Proportionalzirkels ein. Von Cornaro entlieh dann Capra noch
einen solchen Zirkel, um ihn genauer zu studiren. Es gehört zu
den menschlichen Unbegreiflichkeiteu, dass Capra es nunmehr 1607
wagte, eben demselben Cornaro eine Schrift zu überreichen, die
nichts Anderes war, als eine von Missverständnissen wimmelnde
Üebersetzung der Galilei'schen Schrift, ohne dass Galilei's Name auch
nur ein einziges Mal darin erwähnt wurde.
Der entrüstete Cornaro sandte Capra das Buch zurück und machte
zugleich Mittheilung an Galilei, der eine Klage gegen Capra bei der
obersten Studienbehörde in Venedig einreichte. Es ist eine neue
Unbegi-eif lichkeit , dass Galilei den wahren Thatbestaud und seine
eigenen Worte in der Vorrede von 1606 jetzt so sehr ausser Acht
liess, dass er den Proportionalzirkel für seine ausschliessliche Erfin-
dung erklärte, die er 1597 gemacht habe, und in welcher Niemand,
wer es auch sei, ihm vorangegangen sei. Es ist aber noch unerklär-
licher, dass Capra, dem es keineswegs au Zeit fehlte, eine Verthei-
digung vorzubereiten, jene Uebertreibungen Galilei's nicht rügte, als
falsch nachwies und zu seinen Gunsten verwerthete. Das Urtheil
musste demnach vollständig gegen Capra ausfallen. Dessen Buch
wurde unterdrückt^), während eine Difesa coniro edle ealunme et im-
posture di Bcddassar Capra aus Galilei's Feder, eine Streitschrift
bissigster Natur, wie sie vielleicht seit den Cartelli Ferrari's und
Tartaglia's nicht wieder gedruckt worden war, die weiteste Verbreitung
fand. Wahrscheinlich durch den Wiederhall dieses Streites kam
Galilei's Proportionalzirkel auch ausserhalb Italiens zu mehr als ver-
dientem Ruhme und überflügelte den Bürgi's, welchen er allerdings
auch durch eine grössere Zahl von aufgezeichneten Linien etwas über-
treffen mochte.
Mathias Bernegger-) (1582 — 1640), ein Oesterreicher, welcher
als Professor der Geschichte und der Beredsamkeit der Universität
Strassburg angehörte, beschrieb 1612 den Galilei'schen Zirkel in
lateinischer Sprache. Verbesserungen, welche aber an dem Mangel,
^; Einzelne Exemplare müssen der Veniichtung entgangen sein, denn sonst
wäre der Wiederabdruck, der in den Werken Galilei's stattfand, nnmöglicli
gewesen. -) Kästner III, 337—339 und 340.
Praktische und theoretische Mechanik. 091
der allen Proportionalzirkeln anhaftet, in hohem Grade unhandlich
zu sein und bei der Vielheit angegebener Theilungen keine Zuver-
lässigkeit zu besitzen, in immer stärkerer Weise litten, veröffentlichte
der uns bekannte Johann Faulhaber \) von Ulm IG 12, dann Georg
Galgemayr-) von Donauwörth 1615 und 1626. Als besonders vor-
trefflich wird von Zeitgenossen gerühmt Georg Brendel ■'), Das
Schrägmess oder der Proportional Circkel (Ulm 1615).
Aus dem Jahre 1617 stammt ferner der Bericht und Gebrauch
eines Proportionallineals, nebst kurzem Unterrichte eines Parallel-
instrumentes von Benjamin Bramer*). Auch diese Persönlichkeit
ist des Yerweilens werth. Benjamin Bramer (1588 bis kurz nach 1648)
war der jüngere Bruder von Job st Bürgi's erster Frau und wurde
als dreijährige Waise von diesem angenommen. Er folgte Bürgi
1603 nach Prag und blieb daselbst bis 1611. Die zweite Heirath
seines inzwischen verwittweten Schwagers gab zur Trennung Anlass.
Bramer kam dann als Baumeister zuerst nach Marbui-g, später nach
Ziegenhayn. Er blieb übrigens trotz der Trennung von Bürgi dem-
selben stets dankbar ergeben und rechnete es sich zur Aufgabe,
Bürgi's Leistungen nicht in Vergessenheit gerathen zu lassen, noch
zu dulden, dass Anderen zum Ruhme gereichte, was er als Bürgi's
Verdienst betrachtete. Es ist kaum nothwendig hinzuzusetzen, dass
auch Bürgi's Proportionalzirkel zu den von Bramer beschriebenen
Vorrichtungen gehörte. In einer späteren Schrift''') Bramer's von
1648 ist auch ein Triangularinstrument Bürgi's beschrieben, d. h. eine
aus drei Linealen gebildete Vorrichtung, welche bei feldmesserischen
Arbeiten zu benutzen war.
Der Galilei'schen Richtung, wenn wir so sagen dürfen, näherte
sich wieder Adriaen Metius^) von Alkmaar (S. 600) mit seiner
Praxis nova geometrica i^er usiim cirdnis et reguhic ]yroportionalis von
1623, und eine ähnliche Vorrichtung bürgerte Edmund Gunter
(S. 604), dessen Description and use of the Sedor, Cross-sta/f, Quadrant
and ather instrumcnt, jedenfalls vor 1626, als dem Todesjahre des
Verfassers, fertig gestellt wurde, in England ein. Ueber die Art von
Proportionalzirkel, welche der pommersche Festungsbauer Wendel in
Schildkuecht 1652 in seiner Beschreibung Festungen zu bauen
erläutert^), sind wir nicht unterrichtet.
Zu den Arbeiten einer praktischen Mechanik, welche der Geo-
metrie sich nützlich erweisen, müssen wir auch solche zählen, die
1) D 0 p p e 1 m a y r S. 94 Note b. ^) Kästner III, 343 und 34G.
^) H. Rudel in der Festschrift des Pegnesischen Blumenordens (Nürnberg 1894),
S. 368. *) Kästner III, 344. Allg. deutsche Biographie Ilf, 234. ^) Ebenda
m, 368—371. 6) Ebenda III, 345. "•) Poggeudorff II, 797.
44*
G92 72. Kapitel.
geeignet sind, Messungen ganz kleiner Unterabtlieilungen von
Strecken oder Winkeln zu ermöglichen. Wir haben in Clavius
(S. 580) den Erfinder einer solchen Vorrichtung kennen gelernt,
wenig von derselben verschieden und namentlich darin mit ihr über-
einstimmend, dass zwei unabhängig von einander bestehende gerad-
linige oder kreisbogenförmige Maassstäbe an einander zur Verschiebung
kommen, waren die Vorschläge dreier Schriftsteller^), Peter Vernier
(1631), Benedict Hedraeus (1643), Gerhard von Gutschoven
(1674), deren Ersterer namentlich dazu ausersehen wurde, der be-
treffenden Erfindung seinen Namen aufzudrücken, unter welchem sie
neben dem des Nonius sich erhalten hat.
Des weiteren haben wir von mechanischen Verfahren zur Her-
stellung von Kegelschnitten zu reden. Früher sahen wir (S. 578),
dass Barozzi einen Kegelschnittzirkel erfunden hat. Aehnliches ist
aus dem Jahre 1614 von Christoph Scheiner^) (1573 — 1650) zu
berichten. Scheiner war Mitglied des Jesuitenordens und fand als
Lehrer erst in Freiburg im Breisgau, dann seit 1610 in Ingolstadt
Verwendung. Seine Lehrthätigkeit war beendigt, als er 1617 das
Rectorat des JesuitencoUegiums zu Neisse übernehmen musste. Am
bekanntesten neben Scheiner's 1612 beginnenden Streitigkeiten mit
Galilei wegen der Entdeckung der Sonnenflecken, auf welche beide
Anspruch erhoben, ist eine für praktische Zwecke der Zeichenkunst
sehr fruchtbare Erfindung, auf welche wir zurückkommen. Zunächst
berichten wir über eine Vorrichtung ^') , welche Scheiner durch einen
Schüler Johann Georg Schönberger in Form einer Dissertation
Exegcses fnndamentorum fjnomicorum 1614 in Ingolstadt veröfi'ent-
lichen liess. Ein um eine Axe gedrehter Stift von veränderbarer
Länge stellt die Erzeugende des Kegels vor, und giebt man zugleich
der Axe eine bestimmte Neigung gegen die Zeichnungsebene, so wird
diese zur Schnittebene des Kegels, auf welcher je nach der Neigung
die gewünschte Curve entsteht. Der Gedanke ist, wie man sieht,
dem Barozzi's verwandt. Ob Scheiner von jenem Kenntniss besass,
sei dahingestellt.
Wieder den gleichen Gedanken verwirklichte Benjamin Br am er
in zwei Ausführungen, welche vielleicht etwas richtigere Curven her-
vorbringen mochten, als Scheiner's für genaue Zeichnungen unge-
schickter Apparat, aber dafür so umständlicher Benutzung waren.
^) Kästner, III, 356—360. -) Allgem. deutsche Biographie XXX, 718—
720. Artikel von Günther. — A. von Braunmühl, Christoph Scheiner als
Mathematiker, Physiker und Astronom (Bamberg 1891). ^) A. von Braun-
mühl 1. c. und Zeitschr. Math. Phys. XXXV, Histor.-liter. Abthlg. S. 163—164.
Praktische und theoretische Mechanik. 693
dass sie wenig Beiftill fanden. Bramer beschrieb sie^) in seinem
Apollonius Cattiis oder Kern der ganzen Geometrie. Entstanden ist
dieses Buch 1634, die Vorrede führt die Jahreszahl 164G, gedruckt
wurde der Aj)ollonius Cattus erst 1684. Den Namen hat Bramer
dem Apollonius Gallus des Vieta und dem Apollonius Batavus des
Willebrord Snellius nachgebildet. Ausser der Beschreibung des
Werkzeuges zum Zeichnen von Kegelschnitten enthält das Buch aller-
lei Sätze über jene krummen Linien nebst deren Beweise.
Mit der Aufgabe, Kegelschnitte auf mechanischem Wege her-
zustellen, hat auch der jüngere Franciscus van Schooten in
seinen Exercitationcs mafhentaticae sich beschäftigt. Deren 4. Buch
führt geradezu die Ueberschrift De organica conicanim sediommi in
piano descriptione. Seine Methoden sind aber wesentlich andere als
die seither geschilderten. Die Kegelschnitte sind nicht als solche,
sondern als ebene Curven ins Auge gefasst, beziehungsweise van Schooten
bedient sich zu ihrer Zeichnung solcher Eigenschaften, die von der
Entstehung auf einem geschnittenen Kegel unabhängig sind. Er er-
klärt in der Vorrede, keine Schrift ähnlichen Inhaltes zu kennen.
Er wisse wohl, dass Aiguillon eine solche geplant habe, aber durch
dessen Tod sei die Vollendung verhindert worden. Auch von Otter
heisse es, dass er viel über den Gegenstand nachgedacht habe, heraus-
gegeben habe aber auch dieser nichts. Auf Aiguillon kommen wir
noch zurück. Otter ist zweifellos Christian Otter ^) (1598—1660)
aus Ragnit in Preussen, welcher zuerst Hofmathematicus des Kur-
fürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg, später Professor der
Mathematik in Nimwegen war, und der in der Geschichte des Festungs-
baues mit grossen Ehren genannt wird. Der Natur der Eigen-
schaften entsprechend, von welchen van Schooten Gebrauch machte,
und unter welchen die Eigenschaften der Brennstrahlen vorzugsweise
häufig in Wirksamkeit treten, bestehen die Vorrichtungen vielfach
aus drei, auch aus vier Linealen, welche an und in einander eine
gewisse immerhin durch Scharnierverbindungen behinderte, durch
Schlitze ermöglichte Beweglichkeit besitzen. Sie erinnern dadurch
im Allgemeinen wenigstens an jene erste Erfindung Scheiner's, von
welcher ankündigungsweise die Rede war.
Seh einer ^) hat 1631 seine Pantographlcc seil ars delineandi res
qiiasUbet per parallel ogrammum herausgegeben, will aber schon 1603,
mithin in seiner Freiburger Zeit, darauf gekommen sein. Damals
*) Kästner III, 195—196. — A. von Braunmühl in Zeitschr. Math.
Phys. XXXV, Histor.-liter. Abthlg. S. 164—165. '^) Poggendorff II, 338.
^) Klügel, Mathematisches Wörterbuch III, 710—712 s. v. Pantograph.
694
72. Kapitel.
will er die Bekanntschaft eines Malers gemacht haben, welcher ihm
die Eigenschaften einer in seinem Besitze befindlichen Vorrichtung
zur mechanischen Wiederholung eines beliebigen Originals in anderem
Maassstabe rühmte, den Anblick aber ihm verweigerte. Daraufhin
grübelte Scheiner so lange, bis er den Pantographen oder Storch-
schnabel ersann, über welchen der Maler nicht genug erstaunen
konnte (Figur 135). Vier Stangen
BF, BH, CI, DG sind in Ge-
lenken B, C, D, E mit einander
verbunden und bilden ein unter
Beibehaltung seiner Seitenlängen
verschiebbares Parallelogramm.
Wird der Apparat bei dem auf
BF befindlichen Punkte P mit
einem Stifte befestigt, und ist ein
Punkt Ä der BH mit irgend einem
Punkte des nachzubildenden Ori-
ginals zur Deckung gebracht, so giebt es einen Punkt a der CI,
welcher A so entspricht, dass die drei Punkte P, a, Ä in einer Ge-
raden liegen. Ein in a befindlicher Zeichenstift wird diesen Punkt
auf einer auf dem Originale aufliegenden Zeichenfläche bildlich dar-
stellen. Dreiecksähnlichkeiten lassen erkennen, dass dabei die Längen-
verhältnisse stattfinden Pa : PÄ = PC: PB= Ca : BÄ. Ist alsdann
das Parallelogramm unter Festhaltung von P verschoben, so dass
der Punkt Ä auf einen neuen Punkt Ä' des Originals fällt, so
schneidet die Gerade PA' jetzt die CI in einem Punkte a, und es
wird zugleich Pa : PA' = PC : PB = Ca : BA' sein müssen. Nun
ist angenommenermassen BA' = BA, also muss auch Ca' = Ca sein^
d. h. der Zeichenstift darf in dem Punkte a der CI befestigt werden
und durchläuft alsdann, während A auf den Umrissen des Originals
herumgeführt wird, lauter Lagen, die der Verbinduugsgeraden von P
nach A angehören und dieselbe in dem unveränderlichen Verhältnisse
PC : PB schneiden. Der Zeichenstift a entwirft also bei dieser Be-
wegung des Storchschnabels eine dem Originale ähnliche und ähnlich-
liegende verkleinerte Abbildung. Wird a auf den Umrissen des Ori-
ginals umhergeführt, und der Zeichenstift in A befestigt, so entsteht
eine entsprechend vergrösserte Abbildung.
Die Indienststellung mathematischen Wissens für Zwecke des
Künstlers ist uns, wenn auch in verschiedenartiger Ausführung, wie-
derholt begegnet. Eine richtige Perspective mathematisch herzustellen
hatte Dürer, wie wir uns erinnern, als lohnende Aufgabe erkannt,
mid Andere vor ihm. Ueber mathematische Abbildung hat schon
Praktische und theoretische Mechanik. 695
Ptolemiius (Bd. I, S. 394 — 395) gescliriebeu, und die Kartographen des
XVI. Jahrhunderts (S. 608) gehören wieder in dieselbe Gruppe von
Künstlergelehrten. Ein hierzu zu rechnendes Werk von grosser Be-
deutung fällt in die Zeit, welche uns gegenwärtig beschäftigt. Franz
von Aiguillon^) oder Aguillon oder Aquilonius (1566 — 161'?),
ein Mitglied des Jesuitenordens, geboren in Brüssel und seit 1596 in
Antwerpen als Lehrer thätig, scheint der Erste seines Ordens ge-
wesen zu sein, welcher in Belgien Mathematik lehrte. Er gab 1613
ein Werk über Optik in sechs Büchern heraus. Eine Katoptrik und
eine Dioptrik sollten folgen, blieben aber bei dem plötzlichen Tode
des Verfassers unvollendet. Die fünf ersten Bücher der Optik han-
deln vom Sehen, von optischen Täuschungen, von der Natur des
Lichtes u. s. w., sind also physiologischer und physikalischer Natur.
Das 6. Buch gehört der Projectionslehre an, und in ihm sind die
Namen der orthographischen, der stereographischen, der sceno-
graphi scheu Projection zuerst gebraucht. Orthographisch wird
ein Gegenstand auf die Entwerfungsebene projicirt, Avenn auf sie von
jedem abzubildenden Punkte senkrechte Entwerfungslinien gefällt
werden; das sehende Auge ist also in unendlicher Entfernung gedacht.
Bei der stereographischen Projection ist das Auge im Pole einer
Kugel befindlich, deren Aequatorialebene die Zeichnuugsfiäche ab-
giebt, während die abzubildenden Punkte der Kugeloberfläche selbst
angehören. Die scenographische Projection ist die ebene Durchschnei-
dung des von irgend einem Augenpunkte ausgehenden Sehkegels.
Haben wir hier eine Anzahl von Leistungen besprochen, welche wir
in der Kapitelüberschrift als praktisch-mechanische bezeichneten, weil
uns ein anderer zusammenfassender Name nicht gegenwärtig war und
es sich schliesslich um Dinge handelte, welche auf praktische An-
wendung zielten und mehr oder weniger mechanischer Ausführungen
bedurften, so ist das XVII. Jahrhundert ungleich wichtiger für die
theoretische Mechanik gewesen.
Zunächst wurde die Lehre vom Schwerpunkte, der Comman-
dinus und Maurolycus ihre Bemühungen gewidmet hatten, weiter
ausgebildet. Luca Valerio") (1552 — 1618j ist hier in erster Linie
zu nennen. Er war Neapolitaner, lehrte aber in Rom und war Mit-
glied der dortigen Accademia de' Lincei, bis er 1616 aus ihr ausge-
stossen wurde, weil er öffentlich Galilei für einen Koppernicaner
erklärt hatte. Schon 1604 gab er drei Bücher De centro gravitatis
') Kästner IV, 79—80. — Quetelet pag. 192—198. ^~) Kästner
IV, 30—32. — Poggendorff II, 1167 mit Berufung auf Colangelo, Storia
dei fUosofi e dei matematici Napolitani.
696 72. Kapitel.
solidorum heraus, von welchen 1661 eine neue Ausgabe veranstaltet
wurde. Als nachgelassene Schrift erschien auch 1660 eine Qiiadra-
tura paraholae des Valerio, welche die Schwerpunktsbestimmung zum
Ausgangspunkte nimmt.
Aehnliche Betrachtungen waren allerdings damals (1660) schon
längere Zeit veröffentlicht. Jean Charles de la Faille^), ein bel-
gischer Jesuit, hatte 1632 in Antwerpen Theoremata de centro gra-
vitatis partium circuli et ellypsis zum Drucke befördert und darin den
doppelten Nachweis zu führen gesucht, dass, wenn die Quadratur des
Kreises bekannt wäre, man den Schwerpmikt jedes Kreisabschnittes
zu finden im Stande sei, und dass umgekehrt die Kenntniss dieser
Schwerpunkte zu gebrauchen sei, um die Quadratur abzuleiten.
Valerio 's vorgenannte Schrift fand, wie wir gleich sehen werden,
1638 im vierten Gespräche Galilei's über Mechanik, zu welchem
wir uns wenden müssen, eine hohe Anerkeimung von berufener Seite,
lieber die Schwerpuuktsbestimmungen von Paul Guldin, von Fermat
u. s. w. können wir erst im Zusammenhange mit den von diesen
angewandten Betrachtungen des Unendlichkleinen berichten. Galilei's
Discorsi e demostrazioni matematiche intorno a diie nuove scienze^)
riefen eine ganz neue Wissenschaft, die Bewegungslehre oder Mechanik
im engeren Sinne ins Leben, während, was vorher von mechanischem
Wissen vorhanden war, sich fast ausschliesslich auf Statik bezog,
d. h. auf das Gleichgewicht der Kräfte, welches die Ruhelage durch
gegenseitig sich vernichtende Wirkung ungestört Hess. Galilei hatte
schon frühzeitig der Mechanik erfolgreiches Nachdenken gewidmet.
Er hatte 1583 als Student in Pisa durch Beobachtungen festgestellt,
dass ein Pendel die gleiche Schwingungsdauer besitze, möge es viel
oder wenig aus seiner Gleichgewichtslage entfernt worden sein, sofern
nur die Länge des Pendels unverändert bleibt. Er hatte auch Manches
über die Mechanik zu Papier gebracht, veröffentlicht aber hat er die
neuen Gesetze erst in den Discorsi von 1638. Gleich im ersten
Gespräche tritt die Erklärung des Rades des Aristoteles auf
(Figur 136); Galilei verbindet die Zeichnung von drei concentri-
schen Kreisen mit der von ebensovielen demselben einbeschriebenen
ähnlich liegenden regelmässigen Sechsecken und lässt die rollende
Bewegung des mittleren unter den drei Kreisen so vollziehen, dass
die sechs Sechsecksseiten dieses Kreises nach einander in horizontale
Lage kommen und eine fortlaufende gerade Linie bilden. Dabei
nehmen auch die entsprechenden Sechsecksseiten der beiden anderen
1) Kästner II, 211—215. — Quetelct pag. 203—205. ^) Kästner IV,
-27. — Montucla II, 183—191.
Praktische und theoretische Mechanik.
697
Kreise horizontale Lage an, aber die des äusseren Kreises sind über
einander weggeschoben, die des inneren Kreises weisen zwischen ein-
ander Lücken auf. Bei dem inneren wie bei dem äusseren Kreise
Fig. 136.
ist daher ein einfaches Rollen nicht vorhanden, und die Schwierigkeit
der scheinbar gleichen Länge dreier wesentlich verschiedener Kreis-
linien ist damit beseitigt. Der Uebergang vom Sechsecke zum Kreise
besteht nämlich einzig in dem Unendlichwerden der Seitenzahl der
einander ähnlich liegenden regelmässigen Vielecke. Bei dem äusseren
Kreise findet das Uebereinandergreifen dieser Seiten weiter statt, bei
dem inneren Kreise das Lückenhafte, nur sind es unendliche viele
unendlich kleine Lücken, welche auftreten und wegen dieser ihrer
Eigenschaft nicht bemerkt werden können. Dem ersten Gespräche
gehört auch der Beweis an, dass, entgegengesetzt der Aristotelischen
Behauptung, Körper verschiedenen Gewichtes darum doch nicht ver-
schiedene Fallzeit besitzen. Fiele ein Körper vom Gewichte 10, wie
Aristoteles glaubte, lOmal so schnell als ein Körper vom Gewichte 1,
und vereinigte man beide Körper, so müsste der langsamere etwas
von der Geschwindigkeit des schnelleren aufheben, d. h. der Körper
vom Gewichte 11 müsste langsamer fallen als der vom Gewichte 10,
und das widerspräche der anfänglichen Annahme. Auch Pendelver-
suche mit Kugeln von Blei und von Zucker, also bei einem Gewichts-
verhältnisse von 1 : 100 etwa angestellt, ergaben bei gleicher Faden-
länge, dass in gleicher Zeit gleich viele Schwingungen durch gleiche
Bögen gemacht wurden, mochte man die Zahl der beobachteten
Schwingungen auch 1000 übersteigen lassen. Das zweite Gespräch
beschäftigt sich der Hauptsache nach mit dem inneren Zusammen-
hange fester Körper und mit der Kraft, welche erforderlich ist, den-
selben zu lösen, beziehungsweise mit der Frage, wie gross das Ge-
wicht eines an einem Ende gestützten Körpers sein müsse, damit
derselbe breche. Dabei ist auch von an beiden Endpunkten aufgehängten
698 72. Kapitel.
Ketten und von der Gestalt der so entstehenden Curve die Rede.
Galilei hält dieselbe für eine Parabel, und dies ist der einzige
wesentliche Irrthum, den man ihm vorwerfen kann. Das dritte Ge-
spräch bringt die eigentlichen Bewegungsgesetze, die der gleich-
förmigen sowie der natürlich beschleunigten Bewegung. Letz-
tere werden in zwei Lehrsätzen zusammengefasst. Erstens : die Zeit,
in welcher ein gleichförmig beschleunigter Körper einen Weg durch-
läuft, ist genau so gross wie diejenige, in welcher er den gleichen
Weg mit gleichförmiger Geschwindigkeit durchlaufen würde, sofern
diese gleichförmige Geschwindigkeit halb so gross wäre als diejenige,
welche der Körper am Ende seiner beschleunigten Bewegung erzielt.
Zweitens: bei gleichförmig beschleunigter Geschwindigkeit verhalten
sich die durchlaufenen Räume wie die Quadrate der Zeiten. Im vier-
ten Gespräche endlich wird die parabolische Wurfbewegung
von den verschiedensten Gesichtspunkten aus erörtert. Ein Anhang
beschäftigt sich mit Schwerpunktsbestimmungen. Galilei hatte, von
Del Monte aufgefordert, diesem von Commandinus noch nicht
erschöpften Gegenstande seine Aufmerksamkeit zugewandt. Später
fand er in einem Werke des Lucas Valerius eine methodisch von
seinen eigenen Untersuchungen abweichende, aber sie inhaltlich über-
ragende Darstellung und setzte desshalb seine Arbeit nicht weiter
fort, damit die höchste Anerkennung jenes Werkes aussprechend.
Gleichzeitig mit Galilei's Discorsi erschien 1638 eine Schrift De
motu naturali gravhim fhiidorum et solidorum von Giovanni Bat-
tista Baliani^), einem Geuueser Edelmanne, welcher die beschleu-
nigte Bewegung in ähnlicher Weise auffasste, wie es bei Galilei der
Fall war. Zum besonderen Ruhme darf mau aber Baliani dieses
Zusammentreffen um so weniger anrechnen, als er in einer zweiten
Auflage von 1646 die richtige Meinung zu Gunsten einer falschen
wieder aufgab. Damit nach Galilei's Behauptung die unter Beschleu-
nigung durchlaufenen Räume im Verhältnisse der Quadrate der Zeiten
stehen, ist es nothwendig, dass die in den aufeinanderfolgenden Zeit-
einheiten durchlaufenen Einzelräume nach den ungeraden Zahlen der
Zahlenreihe sich bemessen, weil 1 -|- 3 -j- •• -|- (2« — 1) ==«^. Galilei
sah dieses ein und gab auch seinem zweiten Lehrsatze der beschleu-
nigten Bewegung die hier ausgesprochene Form. Baliani dagegen
behauptete in seiner zweiten Auflage, jene Einzelräume seien freilich
durch eine steigende Reihe zu bemessen, aber nicht durch die der
ungeraden Zahlen, sondern durch die der natürlichen Zahlen, also
durch 1, 2, 3, 4 . . . Die Verwunderung; über diesen Rückschritt
1) Montucla II, 194—196.
Praktische und theoretische Mechanik. 699
Baliani's nimmt noch zu, wenn mau weiss, dass er in ebenderselben
Ausgabe von 164r) andere in der Ausgabe von 1638 unbewiesen ge-
lassene Gesetze mit Begründungen versehen hat, welche denen Galilei's
von 1638 nachgebildet sind, und welche daher Galilei's Meinung als
Grundlage besitzen.
Schon zehn Jahre vor den Discorsi erschien ein mechanisch be-
deutendes Werk eines hervorragenden Schülers von Galilei. Bene-
detto Castelli^) (1577 — 1644j, ein Benedictinermönch und Professor
der Mathematik am Collegio di Sapienza in Rom, schuf mit seinem
Werke Bdla misura ddV acque correnti von 1628 eine wissenschaft-
liche Hydraulik, deren wesentliche Gedanken allerdings auch wieder
Galilei entlehnt waren.
Evangelista Torricelli") (1608 — 1647) empfing seinen ersten
Unterricht durch einen Onkel von mütterlicher Seite, welcher dem
Camaldulenserordeu angehörte. Gegen 1628 kam er nach Rom, wo er
der Schüler CasteUi's wurde. Nach dem Erscheinen von Galilei's
mechanischen Gesprächen von 1638 verfasste Torricelli 1641 einen
Trattato del moto, der als eine Weiterführung der Galilei'schen Ge-
danken bezeichnet werden dai-f. Dieses Buch, Galilei durch Castelli
vorgelegt, gab die Veranlassung zu dem Vorschlage, Torricelli solle
in der Eigenschaft eines mehr oder weniger selbständigen Mitarbeiters
seine noch junge Kraft dem erblindeten Greise zur Verfügung stellen.
Im October 1641 kam Torricelli bei Galilei an, drei Monate später
war dieser eine Leiche. Torricelli wollte nach Rom zurückkehren,
wurde aber in Florenz in der Stellung, welche Galilei einst inne ge-
habt hatte, als grossherzoglicher Mathematiker zurückgehalten. Dort
wurde 1643 durch Viviani der von Torricelli angegebene Versuch
veranstaltet, zuzusehen, wieviel Quecksilber durch den Luftdruck ge-
hoben würde, ein Versuch, der als Erfindung des Quecksilberbaro-
meters gefeiert wird. Der Trattato del moto von 1641 enthält den
wichtigen Satz, dass zwei mit einander verbundene Körper im Gleich-
gewichte sich befinden, wenn ihr gemeinschaftlicher Schwerpunkt
durch irgend welche Lag^nänderung weder gehoben noch gesenkt
wird. Im Jahre 1644 gab dann Torricelli einen Sammelband unter
dem Titel Opera geomctrica heraus. Darin befand sich eine Abhand-
lung De motu gravium naturaliter desccndentium, welche für die Lehre
von den ausströmenden Flüssigkeiten bahnbrechend geworden ist.
Torricelli sprach darin bereits die sechs wichtigsten Sätze aus^):
1. Das Wasser, welches aus einer Oefihung in der Seitenwand eines
1) Helfer, Geschichte der Physik II, 111. ^) Ebenda II, 102—110.
^) Wir entnehmen die Fassung dieser Sätze wörtlich aus Heller I.e. II, 106.
700 ''3. Kapitel.
Gefässes fliesst, bildet den Gesetzen der Wurfbewegung zufolge einen
parabolischen Strahl; 2. der Parameter der Parabel ist am grössten,
wenn sich die Oefinung in der Mitte der Wasserhöhe befindet; 3. die
Oeffnungeu, welche sich in gleicher Entfernung über oder unter der
mittleren Oeffnuug befinden, geben Flüssigkeitsstrahlen von kleinerer,
aber gleicher Bogenweite; 4. für gleiche Oeffnungen verhalten sich
die in gleichen Zeiten ausfliessenden Wassermengen wie die Quadrat-
wurzeln aus den entsprechenden Flüssigkeitshöhen; 5. die Zeiten, in
welchen sich gleiche Gefässe durch gleiche Oeffnungen entleeren, ver-
halten sich ebenfalls wie die Quadratwurzeln aus den Flüssigkeits-
höhen; 6. wenn man für den Fall einer im horizontalen Boden des
Gefässes befindlichen AusÜussöffnung sich die Zeit, welche zur gänz-
lichen Entleeining des Gefässes nothwendig ist, in gleiche Zeiträume
zerlegt denkt, so bilden die denselben entsprechenden Ausflnssmengen
eine bis zur Einheit abnehmende Reihe von ungeraden Zahlen.
73. Kapitel.
Trigonometrie und Cyclometrie.
Noch weit mehr als die Mechanik schliessen Trigonometrie und
Cyclometrie sich den geometrischen Forschungen an. Als ältesten
Schriftsteller auf diesem Gebiete, mit einem Fusse noch im XVI. Jahr-
hunderte stehend, nennen wir Philipp van Lansberge^) (1561 —
1632) aus Gent. Er war Theologe und hatte die noth wendigen Stu-
dien in England gemacht. Aus Antwerpen, wo er zuerst die Stellung
eines Predigers der reformirten Lehre einnahm, musste er 1585 fliehen,
als die Spanier sich der Stadt neuerdings bemächtigten. Er fand in
Goes in Zeeland einen neuen ähnlichen Wirkungskreis, dem er bis
1615 vorstand, dann siedelte er nach Middelburg über, wo er nur
noch mit Mathematik sich beschäftigte. Die älteste Schrift Trian-
gulorum geomdykorum libri quaiuor scheint indessen schon in Goes
entstanden zu sein, wenigstens ist ein als Vorrede dienender AVid-
mungsbrief mit der Jahreszahl 1591 versehen^). Späterer Entstehung
(entweder 1616 oder 1628) ist die Cydometria nova, welche die Be-
rechnung der Zahl ^ mit einer bis zur 30. Decimalstelle sich er-
streckenden Genauigkeit lehrt.
Praetorius^) hat in seiner wiederholt (S. 589 und 619) genann-
*) Quetelet pag. 168—179. — Delambre, Histoire de l'astronomie mo-
derne. T. IV passim. ^) Delambre 1. c. II, 40. ^) CurtzS in Zeitschr.
Math. Phys. XL, Hist.-litcr. Abtblg. S. 11.
Trigonometrie und Cyclomotrie. 701
ten HandscLrift von 1599 die vollständige Auflösung des rechtwink-
ligen und des schiefwinkligen sphärischen Dreiecks sehr übersichtlich
in Tabellenform gebracht.
Gleich zu Beginn des Jahrhunderts finden wir dann einen engli-
schen Schriftsteller zu erwähnen : Nathaniel Torporley^) mit
seinem Werke Dididcs caelometrica sive Valvac astronomicae univer-
sales etc. von 1602. Er war, nachdem er in Oxford studirt hatte,
einige Jahre hindurch Schreiber bei Vieta. Später kehrte er nach
England zurück, wo er der Gunst eines Grafen von Northumberland
sich erfreute. In Vieta's Umgange mag Torporley sich die Gewohn-
heit angeeignet haben, neue Wörter zu erfinden und solche so un-
zweckmässig als denkbar auszuwählen. Die Aufgabe, welche Torj)orley
in dem zweiten Theile seines Buches (der erste Theil ist astrologi-
schen Inhaltes) sich stellte, ist die Auflösung sämmtlicher Fälle des
rechtwinklig sphärischen Dreiecks. Die Fälle selbst nennt er Tripli-
ci täten, weil jedesmal ausser dem rechten Winkel noch drei Stücke
vorkommen, deren eines durch die beiden anderen bestimmt ist. Eine
Triplicität heisst solilateralis, weil nur Seiten, d, h. die Hypotenuse
und beide Katheten vorkommen. Die anderen Triplicitäten heissen
mixtae und sind der Anzahl nach 5, nämlich 3 plurüaterales mit
2 Seiten und 1 Winkel (Hypotenuse, Kathete und der letzteren
anliegender Winkel; Hypotenuse, Kathete und der letzteren gegen-
überliegender Winkel; beide Katheten und ein Winkel) und 2 ^j/wr-
angulares mit 3 Winkeln und 1 Seite (Hypotenuse oder eine Ka-
thete). Diesen im Ganzen sechs Fällen hat aber Torporley auch noch
besondere Namen beigelegt. In der Reihenfolge, in welcher wir sie
hier erwähnt haben, heissen sie bei ihm: carccr (Gefängniss), forfex
(Schneiderscheere), si2}ho (Heber), corviis (Enterhaken), hasta (Spiess),
fimda (Schleuder), weil er in den betreifeudeu Figuren, bei welchen
die jeder Triplicität zugehörigen
Stücke stärker gezogen sind, jene
Gestaltungen zu erkennen glaubte.
Alle Triplicitäten vereinigt ^ findet
er in einer Figur, welche er mitra
(Bischofsmütze) nennt (Figur 137).
FR und IR sind unter einander
gleiche, zu einander senkrechte Bögen
grösster Kreise, und zwar jeder
von ihnen kleiner als ein Quadrant. FO, RO, RE, IE sind
») Kästner III, 101—107. — Montucla II, 120. — v. Zach in Bode's
Jahrbuch u. s. w. Suppl. I, 2.3. — De Morgan im Philosophical Magazine
(1843) XXII, 351.
702 "3. Kapitel.
Quadranten ,. welche auf FR, beziehungsweise auf B,I senkrecht
stehen. Auch FM = IT sind Quadranten, und durch M und T ist
der gi-össte Kreisbogen PMTC gelegt. Torporley nennt dsLunFOREI
die Mitra und PMTC eine an ihr befestigte Binde. Mit der mehr-
fach wiederholten Figur ist ein bald von rechts, bald von links ge-
zeichneter Kopf in Verbindung und hilft die einzelnen Triplicitäten
zur Anschauung zu bringen, und in gleicher Absicht sind noch andere
nicht minder eigenthümliche Abbildungen vorhanden, welche vielleicht
den entgegengesetzten Erfolg hatten, den sie haben sollten, und der
Verbreitung des Buches mehr schadeten als nützten.
Um so mehr Anklang fand eine andere Zusammenstellung der
gleichen sechs Fälle des rechtwinkligen sphärischen Dreiecks, welche
1614 in Edinburg die Fresse verliess. Der Name des Verfassers ist
in den verschiedensten Formen bekannt: John Neper^), oder Na-
pier, oder Napeir, oder Napair u. s. w. Er ist 1550 unweit
Edinburg in Merchiston, welches der Familie den Namen der Barone
von Merchiston verlieh, geboren, 1617 gestorben. Der Name Nepair
soll einer Legende nach daher rühren, dass der Erste, welcher ihn
führen durfte, im XIV. Jahrhunderte in einer Schlacht sich so aus-
zeichnete, dass Niemand ihm gleichkam. Neper's erste geistige Nei-
gung war der Erklärung der Apokalypse zugewandt, über welche er
eine 1593 gedruckte Schrift in englischer Sprache mit einem John
Napeir unterzeichneten Widmungsbriefe au König Jacolj VI. verfasste.
Die späteren Schriften sind mathematischen Inhaltes, in lateinischer
Sprache abgefasst und tragen den Namen Joannes Neperus. Wir
werden allerdings der Hauptsache nach erst später von ihnen zu
reden haben, da die Bildung und Benutzung von Logarithmentafeln
in ihnen gelehrt wird. Eine Druckschrift von 1614, die Descriptio
mirißci logarithmorum canonis (kürzer Neper's Descriptio genannt)
verlangt schon jetzt unsere Aufmerksamkeit. Desshalb vereinigen
wir auch hier die Mittheilung dessen, was wir von Neper's Bildungs-
gange wissen, dass er nämlich als ganz junger Mann eine Reise durch
Deutschland, Frankreich und Italien machte, von der er 1571 wieder
nach Schottland zurückkehrte, welches er nie wieder verliess. Von
dieser Reise wird der als Einundzwanzigjähriger Zurückkehrende kaum
Nutzen gezogen haben können, und was Neper erlernte, muss ihm
^) Biot's Bericht über die 1834 verötfentlicliten Denkwürdigkeiten von
Neper im Journal des Savants von 1835, pag. 151 — 162. lieber Neiier's mathe-
matische Verdienste ebenda pag. 257 — 270. — TJie construction of tlie wonderful
canon of logarithmes hy John Napier Baron of Merchiston translated hy W. B.
Macdonald (1889). Introduction und die Anmerkung auf S. 84. Diese Ausgabe
citiren wir- als Neper, Constriictio.
Trigonometrie und Cyclomotrie. 703
in Scliottland ■ zugänglich gewesen sein. Dieses war entschieden,
ausser mit den älteren Schriften eines Regiomontau, eines Kop-
pernicus, auch der Fall mit Van Lansberge's Büchern über die
Dreiecke, mit Torporley's Diclides caelometricae und mit der 1600
in London gedruckten englischen Uebersetzung der Trigonometrie
des Pitiscus von Hamson. Möglicherweise hat Neper den Pitiscus
auch in dem lateinischen Originale gelesen. Die Benutzung aller
dieser Bücher durch Neper steht fest. Regiomontan, Eoppernicus,
Van Lansberge und Pitiscus sind in der Descriptio ausdrücklich an-
geführt^), an einer späteren Stelle -J auch Adriaen Metius. Die Be-
nutzung des Torporley folgern wir aus der Anwendung des nur von
jenem Schriftsteller gebrauchten Wortes Triplicitüt bei Neper ^), und
wenn, wie wir überzeugt sind, aus solchen Wortbenutzungen sichere
Schlüsse gezogen werden können, so muss Neper, der fortwährend
tangens sagt^), auch die Geometria rotundi des Thomas Finck ge-
kannt haben. Wahrscheinlich ist uns endlich auch, dass Neper die
Arithmetica integra Michael Stifel's kannte, weil er die negativen
Zahlen minores nihilo nennt ^), wie es dort der Fall ist (S. 442).
Nach diesen allgemeinen Bemerkungen, an welche wir gelegentlich
uns zu erinnern haben werden, nennen wir die trigonometrischen
Leistungen Neper s, welche ihn gerade in diesem Kapitel unserer Be-
achtung empfahlen. Die erste ist die sicherlich an Torporley an-
knüpfende, aber glücklicher ersonuene Zusammenfassung sämmtlicher
Fälle des rechtwinkligen sphärischen Dreiecks in zwei Sätze '^): Der
Cosinus eines mittleren Stückes ist gleich dem Producte
der Cotangenten der anliegenden Stücke, beziehungsweise
der Sinusse der getrennten Stücke, sofern man dabei die
Katheten jeweil durch ihre Complemente zu 90° ersetzt.
Mittleres Stück hiess dabei pars intermedia, die äusseren Stücke
heissen partes extremae, und zwar extremae vicinae aut circumpositae
und extremae remotae aut oppositae, je nachdem sie dem mittleren
Stücke anliegen oder von ihm getrennt sind, während der rechte Winkel
bei Feststellung dieser Unterscheidung bekanntlich als nicht vorhan-
den gilt. Eine zweite Leistung ist von grösserer Wichtigkeit und
grösserer Selbständigkeit der Erfindung. Ausgebend von dem 2. Satze
^) Neper, Descriptio, pag. 34: qiiod fiisius a Regiomontano , Copernico,
Lansbergio, Pitisco .et aliis demonstrattir. ") Ebenda pag. 56. ^) Ebenda
pag. 34: Verum quia in omnibus Ms triplicitatibus Tangens alterius extremae
est ad sinumrectum intermediae ut sinus totns ad tangentem reliquae extremae etc.
*) Ausser in der eben angeführten Stelle der Descriptio pag. 34 kommt tangens
noch vor ebenda pag. 26, 49 u. s. w. ^) Ebenda pag. 4 und ö. ®) Ebenda
pag. 33 — 3o.
704 "3- Kapitel.
im V. Buche von Regiomontan's Trigonometrie (S. 272), dass unter
Bezeichnung der Winkel und der denselben gegenüberliegenden Bögen
im sphärischen Dreiecke durch Ä, JB, G, a, h, c die Gleichung
. , siu vers. c — sin vers. (a — h) , , , c t t ^
Sin a ■ sm b = -. j-, — ^ stattnnde , welche wegen
sm vers. C ' °
sin vers. 0=1 — cos C u. s. w. überführbar ist in die Form cos c
= cosrt • cos 6 4" sin« • sin 6 • cos C, gelangt Neper zu Gleichungen^),
welche in moderner Schreibweise
. C
sm-—
/ _
siu -
-a
-1- ! — • sm —
-
b
T
+_
c
sm a
• sin b
/ . a
sin-
j+
& + c
2
. a +
b
2
—
- c
2 sm a ■ sm &
heissen. Schon in der vor der Descriptio verfassten, aber, wie wir
im 74. Kapitel sehen werden, erst 1619 gedruckten sogenannten Con-
structio hatte Neper seine dritte und wichtigste trigonometrische Erfin-
dung niedergelegt, diejenigen Gleichungen-), welche man gegenwärtig
die Neper'schen Analogien nennt, und welche man in moderner
Schreibweise
, a-\-b A — B ^ a—b . A — B
tng — — cos tnff ■ sin
° 2 2 ° 2 2
, c A-\-B , c = . A + B'
tngy cos ^ ^«^^Y ^'" 2
a—b .a—b
, A + B , C ^"'^- , A-B ^ C ''""-^
^"^ ^2— • ^"g -2 = -^rp; ' ^"g —2— • *"^ Y = T-a-^b
cos— ^ — sm — ^ —
schreibt.
Hatte Torporley, hatte insbesondere Neper die sphärische Trigo-
nometrie wesentlich gefördert, so wandte sich Willebrord Snellius
beiden Trigonometrieen, der der geradlinigen Gebilde und der der
Kugel, erfolgreich zu. Die hier in Betracht kommenden Schriften
sind der Eratosthenes JBatavus von 1G17, die Cyclometria von 1621
und die Doctrina trianguloruni canonica, welche kurz nach dem Tode
des Verfassers 1627 im Drucke erschien. Der Eratosthenes Batavus
ist in erster Linie von geodätischer Bedeutung^). Es kam Snellius
darauf an, eine riclitige Bestimmung des Umfanges der Erde, be-
ziehungsweise eine richtige Gradmessung zu liefern, und zu diesem
Zwecke stellte er zunächst zusammen, was über ältere Gradmessungen
^) Neper, Descriptio pag. 48 sqq. -) Ebenda pag. 68 sqq. ^) Kästner
IV, 108 sqq.
Trigonometrie und Cjclometrie. 705
ihm bekannt war. Schon dieser Abschnitt des Werkes ist höchst
lesenswerth und zeigt Snellius als gelehrten Kenner der gesammten
Litteratur, so weit sie damals vorhanden war. Vorzugsweise eine Auf-
gabe der Feldmesskunst, welche Snellius als der Erste behandelt hat,
verdient hervorgehoben zu werden: das sogenannte Rückwärtsein-
schneiden, welches als 11. Aufgabe des 10. Kapitels des IL Buches
gelehrt wird^). Diese Aufgabe besteht in der Auffindung der Ent-
fernung eines Punktes der Erdoberfläche von den drei Eckpunkten
eines schon bekannten terrestrischen Dreiecks mit Hilfe der Winkel,
welche in dem zu bestimmenden Punkte durch die Sehstrahlen nach
jenen drei Eckpunkten gebildet werden. So wichtig diese Aufgabe
für die Herstellung genauer Karten ist, entging sie in der Bearbei-
tung des Snellius so sehr der allgemeinen Beachtung, dass sie wieder-
holt den Gegenstand von einander unabhängiger Untersuchungen bil-
dete. Wilhelm Schickard^) (1592—1635) hatte 1624 eine Karte
von Württemberg zu entwerfen und löste, wie aus seinen an Kepler
gerichteten Briefen hervorgeht, damals selbständiger Weise die ge-
nannte Aufgabe. Ja noch 1730 wurde eine Auflösung derselben
durch Pothenot^) als wichtige Entdeckung angesehen, welche den
Namen des Bearbeiters zu tragen verdiente und desshalb als Pothe-
not'sche Aufgabe bezeichnet wurde. Erwies sich die Nachwelt
hier ungerecht gegen Snellius, so übte sie eine ähnliche Ungerech-
tigkeit zu seinen Gunsten in Bezug auf die Cyclometria. Dort ist die
Gleichung x = ^-^ benutzt, um den Bogen aus seinen trigo-
lu — j— cos iC
nometrischen Functionen zu berechnen, und von dort ist das Ver-
fahren, welches Nicolaus von Cusa einst erfunden hatte (S. 201),
als Eigenthum des Snellius in viele Werke übergegangen*). Das
wird man allerdings zugestehen müssen, dass, wenn Snellius die
Schriften des Cusanus kannte, er das Verdienst hatte, unter dessen
vielen ungeordneten Versuchen denjenigen herauszufinden , welcher
wenigstens bei kleinen Winkeln sich vortheilhaft anwenden lässt,
und dass unzweifelhaft die Ableitung jener Formel bei Snellius mit
der bei Cusanus nicht die geringste Aehnlichkeit besitzt (Figur 138,
folg. Seite). Der Durchmesser AJ^ eines um C als Mittelpunkt be-
schriebenen Halbkreises wird über A hinaus um
^) P. van Geer, Notice sur la vie et les travaux de WiUehrorä Snellius
{Archives Neerlandaises Bd. 18 vom December 1883), pag. 12. -) Allgemeine
Deutsche Biographie XXXI, 174 — 175. Artikel von S. Günther. ^) Memoires
de l'Academie royale des sciences de Paris. Tome X, 1730. *) Kästner, Geo-
metrische Abhandlungen, 1. Sammlung (Göttingen 1790), S. 158—163. — Mon-
tucla II, 7. — Le Paige in der Zeitschrift Mathesis X, 34—36 (1890).
Caktob, Greschiclite der Mathem. 11. 2. Aufl. 45
706
73. Kapitel
verlängert und EGH geradlinig bis zum Durchschnitte mit der in
B errichteten Berührungslinie an den Kreis gezogen. Ist alsdann
^GCB=a und zieht
man ausser dem Halb-
messer CG noch die
Senkrechte GL zum
T Durchmesser, so zeigt
sich sofort
EL:GL = EB: HB
H
E F
Fig. 138.
indem r den Kreishalbmesser bedeutet, d. b.
oder
ß (2r -[- r • cos«) :'r • sin a
= 3r : RB,
HB^
sm a
2 -f- cos a
und nach Snellius ist BH<,qxcBG. Andererseits ist nach seiner
Behauptung IB^ arc BG, sofern 7 Durchschnittspunkt der Kreis-
tangente in B mit der Geraden FDG ist, welche so gezogen wurde,
dass I)F = r. Da endlich / und H sehr nahe bei einander liegen,
wenn a klein ist, so könne man _ , als Näherungswerth des
' 2 -j- cos a *
Bogens ra benutzen. Der Beweis der beiden dieser Folgerung zu
Grunde liegenden Ungleichheiten (IB ^ aic BG ^ HB) scheint die
wunde Stelle der Entwickelung zu sein und jedenfalls der Klarheit
zu entbehren. Einer der Schriftsteller, welcher sehr bald (schon 1626)
die Formel als die des Snellius mittheilte, war Albert Girard^).
In dem an dritter Stelle erwähnten Buche Doctrina triangulorum ist
Buch II Satz 4 ein Beweis des Sinussatzes gegeben, welcher heute
noch in den holländischen Lehrbüchern den
Namen des Beweises von Snellius führt ^)
(Figur 139). 0 ist der Mittelpunkt des
dem Dreiecke ABC umschriebenen Kreises
und des diesem concentrischen Einlieits-
kreises, in welchen das kleinere Dreieck
aßy dem ABC ähnlich und ähnlichliegend
eingezeichnet ist. Od steht senkrecht auf
aß. Nun ist ^aOß = 2C, aOd = C,
1
also sin C = sin aOö ^= a
Fig. 139.
— ccß, mit-
*) Le Paige 1. c. pag. 35. ^) Van Geer 1. c. pag. 6.
Trigonometrie und Cyclomctrie. 707
hin ft/3 = 2sinC. Ganz ebenso findet man ßy ^^=2smÄ, 'ya = '2aiuB.
Ausserdem ist AB : BC : CA =^ aß : ßy : ya, mithin auch
^ 5 : 5 C : 0 J. = sin (7 : sin ^ : sin J5 .
Buch III, Satz 8 wird von Snellius selbst als für die sphärische Tri-
gonometrie sehr nutzbar erklärt^). Hier ist nämlich das sphärische
Polar dreieck deutlicher als bei Vieta (S. 605) gezeichnet, welches
zu einem gegebenen sphärischen Dreiecke in der wechselseitigen Be-
ziehung steht, dass die Winkel des einen mit den ihnen gegenüber-
liegenden Seiten des anderen sich zu 180° ergänzen. Da wir von
Snellius nicht weiter zu reden haben, so sei wenigstens der Titel
eines Werkes Tiphys Batavus von ihm genannt-), welches 1624 die
Presse verliess, und in welchem ein wirkliches Lehrbuch der Schiff-
fahrtskunde zu erkennen ist. Der Name der Loxodromen trat hier
zum ersten Male auf, welcher seitdem unbeschränktes Bürgerrecht
sich erwarb. Aus dem Commentare zu den ins Lateinische über-
setzten Schriften des Ludolph van Genien, welche Snellius 1619
herausgab, ist die Formel für den Flächeninhalt des Sehnen Vier-
ecks zu erwähnen, von der Snellius als von seiner Erfindung spricht^).
Es ist der gleiche Ausdruck
■)/(s — a){s —h){s — c){s — d) mit g_» + & + ^+_j,
welchen die Inder kannten (Bd. I, S. 005), welcher aber in Europa
vor Snellius nicht mit Bestimmtheit nachgewiesen werden kann. Wir
wollen Snellius nicht verlassen, ohne ihn als das zu bezeichnen, was
er in der Geschichte der Mathematik uns ist: ein geistvoller, kennt-
nissreicher, vorzugsweise auf praktische Anwendungen bedachter Schrift-
steller, welcher desshalb am meisten in denjenigen Abschnitten leistete,
welche dem Schifffahrer und dem Kartenzeichner unentbehrlich sind.
Von dem Brechungsgesetze des Snellius hat die Geschichte der Physik
Kenutniss zu nehmen.
Snellius hat in Anwendung der Formel x = -^— , das Beispiel
^ 2 -)- cos rK ^
einer Gleichung gegeben, in welcher ebensowohl ein Kreisbogen als
trigonometrische Functionen desselben vorkamen. Eine noch weit
schwierigere Aufgabe war es, den Bogen zu finden, welcher einer in
dem erläuterten Sinne gemischten Gleichung genügen kann, und eine
^) Chasles, Apercu hist. pag. 55_(deutsch S. 52). — A. von B raun-
müh 1, Zur Geschichte des sphärischen Polardreiecks in der Biblioth. mathem.
1898, S. 6.5—72. -) Kästner IV, 111. — Günther, Studien zur Geschichte
der mathematischen und physikalischen Geographie, S. 354—362. ^) Chasles,
Ä2}ergu hist. pag. 292 und 432 (deutsch S. 297 und 481).
45*
708
73. Kapitel.
solche Aufgabe stellte Kepler^) schon in der Astronomia nova von
1609. Es handelt sich darum
(Figur 140) von einem Punkte D
des Durehmessers eines Halbkreises
eine Gerade D3I zu ziehen, welche
die Halbkreisfläche in zwei Fläch en-
theile AD 31 und BDM zerlege,
deren Verhältniss m : n gegeben ist.
Mau ziehe DE senkrecht zu C3I,
ferner sei
CD = e, CM=r, ^BCM = x,
Alsdann ist
ADC3I
Sector ACM ='^ (ISO'' ~x),
= 1 • DE ^ ^ • sina?, Fläche
ADM = y [r(180«— a;)— esina-], Fläche BDM=~ [rx + e • sin x]
Folglich
— [r(180° — x) — e • sina-] : -^[rx -f- «" sin x] = m : n
und di
rx -\- e • sin x =
180» = h.
VI -\- n
Kepler stellte die Frage, welche den Namen der Kepler'schen Auf-
gabe behalten hat, aber er glaubte, eine directe Auflösung sei wegen
der Heterogeneität von Winkel und Sinus unmöglich.
In der Untersuchung des Sehnenvierecks, mit welcher, wie wir
oben sahen, Snellius sich erfolgreich beschäftigt hat, ging Albert
Girard noch einen wesentlichen Schritt weiter. Girard hat 1626 im
Haag Tahles de simis, tanyentcs et secantes sehn Je raid de 10000 par-
ties-) veröffentlicht, von welchen 1629 auch eine holländische Ueber-
setzung erschien. In der Einleitung zu diesen Tafeln findet sich das
hier Gemeinte. Wenn a, h, c, d als Seiten eines Sehnenvierecks im
Kreise vom Halbmesser r benutzt werden können, so ist einleuchtend,
dass die Reihenfolge der Seiten keinen Einfluss auf diese Eigenschaft
besitzt, dass es vielmehr drei verschieden aussehende Sehnenvierecke
ahcd, ahdc, achd geben wird. Deren Flächeninhalt i^ ist aber einer
und derselbe, nämlich der des Kreises vermindert um die vier Kreis-
abschnitte über «, h, c, d. Diagonalen kommen in allen diesen Sehnen-
0 Opera Kepleri (ed. Frisch) III, 401. -) Kästner III, 101
Cbasles, Ajyer^u liist. pag. 440, Note 1 (deutsch S. 492, Note 120).
-110. —
Trigonometrie und Cyclometrie. 709
Vierecken drei vor, d^, d^j ^3; welche als Seimen die Bögen «-(-&,
a -\- c, a -\- d bespannen, wenn wir diese leicht verständliche Ab-
kürzung uns gestatten dürfen. Girard's Formel lautet in dieser Be-
zeichnung F = ' ^, ^ • Eine sehr wichtige Neuerung besteht in einer
allerdings nicht folgerichtigen Bezeichnung, deren Girard bei recht-
winkligen sphärischen Dreiecken sich bedient hat. Die Hypotenuse
nannte er H, die perpendicular gezeichnete Kathete F, die als Basis
dienende B, den Winkel an der Spitze A, den zwischen Basis und
Hypotenuse V. Die Ergänzungen aller dieser Grössen zu 90'' stellte
er durch die entsprechenden kleinen Buchstaben dar: a = 90^ — Ä,
& =: 90" — B u. s. w. Alle diese Buchstaben werden von ihm
aber auch ohne jeden Zusatz gebraucht, wenn ein Sinus ge-
meint ist, also B statt sini?, h statt sin & beziehungsweise statt
cos 5. Tangente und Secante sind durch die Silben tan und
sec ausgedrückt: ianH, secyl, tana u. s.w.
Der sphärischen Trigonometrie brachte Girard auch in einer
späteren Schrift, in welcher man der Ueberschrift nach kaum Tri-
gonometrisches erwarten sollte, einen wesentlichen Zuwachs. In der
1629 gedruckten Invention nouvelle en Valgebre ist nämlich die sphä-
rische Flächen formel erstmalig gegeben. Ein ebenes «-eck hat
die Winkelsumme {2n — 4)90", ein sphärisches n-eok eine um e
grössere Winkelsumme. Dieser Ueberschuss c verhält sich nach Girard
zu acht Rechten, wie die sphärische Vielecksflächc zur ganzen Kugel-
oberfläche.
Trigonometrische Tafeln erschienen in grosser Anzahl.
Mathias Bernegger^) (S. 690) gab sowohl 1612 als 1619 in Strass-
burg Tafeln der Sinus, Tangenten und Secanten heraus. Girard's
Tafelöl von 1626 haben wir erst erwähnt. Ein Jahr später gab
Franciscus van Schooten der Vater eben solche heraus: Ta-
hiilae sinuuni, tangentium, secantnmi, ad Radium 10000000 avecq l'usage
d'iceUes en trkmgles plans (Amsterdam 1627j. Die in französischer
Sprache verfasste ebene Trigonometrie giebt zu Bemerkungen keinen
Anlass. Das Format der Tafeln ist aber vermuthlich das kleinste,
welches für trigonometrische Tafeln benutzt worden ist. Es ist ein
wah res Westentaschenbüchelchen .
Nunmehr haben wir einen italienischen Schriftsteller zu nennen:
Bonaventura Cavalieri^). Sein Geburtsjahr wird zu 1598, sein
Todesjahr zu 1647 angegeben, doch scheint die erstere Angabe durch
1591 ersetzt werden zu müssen. Auch der Name ist Zweifeln unter-
') Kästner III, 310. ^) Piola, Elogio di Bonaventura Cuvalieri (1844).
Favaro, Bonaventura Cavalieri neUo studio dt Bologna (1888).
710 73. Kapitel.
werfen, da die Formen Cavalieri, Cavallieri, Cavaglieri, Ca-
valerius, de Cavalleriis sich sämmtlich actenmässig nachweisen
lassen. Die hier festgehaltene Schreibweise Cavalieri entspricht der
Unterschrift zahlreicher Briefe. Ein Schüler Cavalieri's, Urbano
Daviso, ist der Urheber der Erzählung, Cavalieri habe als 23 jähriger
Jüngling in Pisa zuerst einen Euklid in die Hand bekommen, habe
ihn in wenigen Tagen studiert und sich dann weiter mit Mathematik
beschäftigt. Mit welchem Erfolge geht daraus hervor, dass er schon
im Mai 1619 Castelli in Pisa als Lehrer der Mathematik vertreten
durfte und kurz darauf sich um eine in Bologna seit zwei Jahren
offene Professur der Mathematik bewarb, die ihm allerdings nicht zu
Theil ward, weil schrifstellerische Leistungen unerlässliche Bedingung
der Anstellung waren, und Cavalieri verfügte noch nicht über solche.
Gedruckt war von ihm ebenso 1629 noch nichts, als er neuerdings
um die Stelle zu Bologna sich bewarb, deren Besetzung jetzt um so
dringlicher erschien, als auch der Inhaber der zweiten Professur der
Mathematik 1626 gestorben war, mithin seit zwei Jahren keinerlei
mathematischer Lehrstuhl mehr besetzt war. Cavalieri konnte sich
diesesmal auf handschriftlich vorgelegte Arbeiten und auf eindring-
liche Empfehlungen so einflussreicher Gelehrten wie Castelli und Ga-
lilei stützen. La Galileis damaligem Briefe ist ausdrücklich von den
glänzenden Fortschritten die Rede, welche Cavalieri gemacht habe,
als er vor etwa 15 Jahren durch Castelli in Pisa auf die Mathematik
hingewiesen wurde. Das muss also 1614 gewesen sein, und 23 Jahre
früher schrieb man 1591. An Daviso's Angabe von dem 23. Lebens-
jahre, zu welchem Cavalieri erstmalig mit Mathematik sieh beschäftigte,
halten wir aus folgendem Grunde fest: wäre Cavalieri 1598 geboren,
1614 erst 16 Jahre alt gewesen, so hätte in so viel ji,mgeren Jahren
ein unerhört rasches Fortschreiten in der Mathematik ihm nur «noch
grössere Ehre gemacht, und Daviso hätte sich mit Vergnügen dieses
weiteren Grundes den von ihm verehrten Lehrer hoch zu preisen be-
dient. Die Anstellung in Bologna erfolgte 1629 auf 3 Jahre, wurde
dann 1632 auf weitere 4, 1636 auf weitere 7 Jahre erneuert, 1643
auf 3 Jahre, 1646 auf 12 Jahre, von welchen Cavalieri aber nur
eines noch erlebte. Neben seiner Universitätsstellung gehörte Cava-
lieri dem Orden der Jesuaten an. Das Erscheinen seiner Schriften
trifft ziemlich genau mit dem Ablaufe der Zeiten zusammen, auf
welche seine jedesmalige Anstellung in Bologna lautete. Man geht
also kaum fehl, wenn man dasselbe mit seinem Wunsche nach einer
Erneuerung der Anstellung in Zusammenhang bringt. Er gab 1632
zwei Werke gleichzeitig heraus: Lo specchio ustorio, ovvero Trattato
delle settioni coniche und Directorium generale uranomeiricum , in quo
Trigonometrie und Cyclometrie. 711
Trigonometriae logar'dhmicae fimdamenta ac rajula dcmonstrantur. Dem
Jalire 1G43 gehört die Trigonomdria plana et spliaerka linearis et
logarithniica an.
Den Specchio ustorio hätten wir im 72. Kapitel bei der Be-
sprechung der Mechanik erwähnen können, weil in ihm Cavalieri die
Parabel als Falllinie bezeichnete, allerdings unter Nennung Ga-
lilei's als Entdecker dieser Eigenschaft, aber ohne dessen Erlaubuiss
dazu einzuholen, eine gerade in jenem Augenblicke, wo die Angriffe
auf den Verfasser der Gespräche über die beiden Weltsysteme schon
anfingen , fast unverzeihliche Tactlosigkeit.
Das Directorium von 1632, welches zur Trigonomclria von 1643
beinahe im Verhältnisse einer ersten zu einer zweiten Auflage des
gleichen Werkes steht, enthält unter Anderem die Formel für die
sphärische Dreiecks fläche mit einem Cavalieri angehörenden Be-
weise des Satzes, Zu ganz allgemein verbreiteter Kenntniss gelangte
der Satz aber 1643 so wenig wie 1632, so wenig wie 1629, als Girard
ihn aussprach, denn noch am Ende des Jahres 1655 machte Rober-
vaP) die Flächenformel Huygens gegenüber als seine Entdeckung
geltend und gab ihm zu Ende des Jahres 1656 brieflich seinen Be-
weis, wenn auch eine gedruckte Veröffentlichung durch Roberval
nicht bekannt ist. Mit dem Verhältnisse von Kugelvielecken zur
Kugeloberfläche beschäftigte sich auch Broscius^) einigermassen in
seinem gegen Ramus gerichteten Werke von 1652, das uns (S. 685)
bei Gelegenheit der Untersuchungen über Sternvielecke beschäftigt hat.
Emanuel Porto ■'), ein italienischer Jude, der in der ersten
Hälfte des XVII. Jahrhunderts in Triest und Padua als Talmudlehrer
gewirkt hat, verfasste auch einige mathematische Schriften und zwar
in italienischer Sprache. Es sind diese der Porto astronomico von
1636 und eine Brevc e facil introduzione alla geografia e trigono-
metria von 1640. Das erstere Werk ist eine Goniometrie und sphä-
rische Trigonometrie nebst einer Tafel der Sinus, Tangenten und
Secanten der Winkel unter v90*^ von Minute zu Minute für den
Halbmesser 100000; das letztere ist eine mathematische Geographie,
an welche eine ebene Trigonometrie sich anschliesst. Im Porto astro-
nomico wird auch von der Prostaphaeresis umfassender Gebrauch ge-
macht, welche durch Josteglio erweitert und allgemein gemacht
worden sei. Es kann kaum bezweifelt werden, dass unter Josteglio
^) Oeuvres completes de Christiaan Hmjgens, T. I (Haag 1888), pag. 370 u.
518. *) Kästner III, 203 und Derselbe in den Geometrischen Abhandlungen,
II. Sammlung, Abhandlung 31, S. 416—420. ^) G. Wertheim in der Monats-
schrift für Geschichte und Wissenschaft des Judenthums. Jahrgang 41, S. 616 —
622 und 42, S. 375— 3f5U.
712
73. Kapitel.
der Wittenberger Mathematiker Melchior Jöstel gemeint ist, der
in Briefwechsel mit Tycho Brahe stand, von welchem eine Lofjistica
7tQoö&ag)cciQa6ig astronomica vom Jahre 1619 noch in der zweiten
Hälfte des XVIII. Jahrhunderts handschriftlich vorhanden war, aber
vermuthlich niemals gedruckt worden ist^).
Johannes Tonski ^) veröffentlichte 1640 in erster, 1645 in
zweiter bedeutend vermehrter Ausgabe eine Arithmetica vulgaris et
trigonometria rectüineoriün , in welcher die allerdings von Rhäticus
(S. 602) bemerkte, aber noch immer nicht allgemein bekannte Un-
bestimmtheit des Dreiecks durch zwei Seiten und den der einen Seite
gegenüberstehenden Winkel hervorgehoben ist.
Einige Männer wandten ihr Augenmerk der Aufgabe zu, das
Verhältniss zwischen Kreisumfang und Kreisdurchmesser zu bestimmen,
doch sind diese cyclo metrischen Arbeiten gleichwie die in dem
früheren Abschnitte von sehr verschiedenem schriftstellerischen Werthe.
Christian Loiigomontanus"'), ein dänischer Astronom, welcher
als Gehilfe Tycho Brahe's mit Ehren genannt wird, glaubte einen
vollständig genauen Werth von tc
ermittelt zu haben und veröffent-
lichte seine vermeintliche Ent-
deckung in Schriften von 1638 und
1644. Seine Construction ist fol-
gende (Figur 141): AC ist der
Kreisdurchmesser, AB gleich dem
Halbmesser r von 43 Einheiten.
r,^F=^r=27.
Fig. 141.
Ferner ist CE-
Dann schneidet FG senkrecht zu
BC gezogen das dem Halbkreise
gleiche Stück BG ab. Warum diese Gleichheit stattfinde, ist nicht
ausgeführt. Die Rechnung aber ergiebt folgenden Werth:
Ci^=43 + 27 = 70, 0^ = 86, BC = y862 — 43^ = y5547 .
Wegen der Aehnlichkeit der Dreiecke CFG und CAB ist ferner
sehr nahezu und
BG = BC+ CG^ = ^y5547 = 1/18252 fxj 135,1
3 141 86 j2^
135,:
~43"
100000
^) A. V. Braunmühl in der Biblioth. mathem. 1898, S. 94—95. ^) Dick-
stein in der Biblioth. mathem. 1894, S. 24. ^) Kästner III, 58. — Mon-
tucla, Histoire des recherches sur la quadrature da cerclc (2. edition 1831),
pag. 207—208.
Trigonometrie und C^'clometrie. 713
Das ist aber der von Longomontaiius für richtig erachtete Werth. An
denselben knüj)fte sich ein heftiger htterarischer Streit mit dem eng-
lischen Mathematiker John Pell (1610 — 1685), welcher 1646 seine
Controversy ivith Longomontanus concerning the quadrature of the circle
und 1647 eine lateinische Uebersetzung der gleichen Schrift heraus-
gab. Andere Mathematiker, wie Roberval, Descartes, Cava-
lieri u. s, w. wurden als Schiedsrichter in den Streit hereingezogen,
der zu einem eigentlichen Ergebnisse nicht führte^).
Gleich unfruchtbar waren Streitschriften, welche zwischen einigen
holländischen Schriftstellern gewechselt wurden^). Corneli.s van
Leeuwen, Abraham de Graaf, Claas Gietermaker, Christiaan
Martini Anhaltin erschöpften den Reichthum ihrer Muttersprache
an Schimpfwörtern in Veröffentlichungen von 1663 und 1664, welche
von trigonometrischen und Schifffahrtsaufgaben ihren bald verlassenen
Ausgangspunkt nahmen, um in ein wüstes Geschimpfe ohne wissen-
schaftlichen Werth auszuarten.
Philipp Uffenbach^), ein Maler in Frankfurt am Main, lehrte
1653 geometrische Constructionen, welche geeignet waren, die Länge
des Kreisumfanges nahezu richtig herzustellen.
Ein Schriftsteller ganz anderer Bedeutung war Gregorius von
Sanct Vincentius'^) (1584 — 1667), wenn wir ihn auch in diesem
Kapitel von seiner wenigst vortheilhaften Seite kennen lernen. Er
ist in Brügge geboren, in Gent gestorben, hat aber eine Anzahl von
Jahren ausserhalb seines belgischen Vaterlandes verlebt. Seine Studien-
zeit brachte er in Rom zu, wo Clavius sein Lehrer war. Von 1629
bis 1631 weilte er als Professor der Mathematik in Prag, wo er alle
Schrecknisse des Krieges durchmachte, und wo ein schon druckreifes
Werk in den Flammen zu Grunde ging. Es waren drei stattliche
Bände über Statik und Geometrie, welche so vernichtet wurden. An-
dere Papiere, deren Niederschrift bis auf 1625 zurückgeht, wurden
gerettet, fuhren aber zehn Jahre in der Welt herum, bis sie in Gent
wieder in den Besitz ihres Verfassers gelangten. Sie bildeten dann
kaum verändert das grosse Werk, w^elches Gregorius 1647 als einen
Folioband von 1225 Seiten in 10 Bücher eingetheilt zum Drucke
beförderte: Oj/hs geomdrkiim cßiadraturae circuli et sectionimi com.
Die Methode, welche Gregorius hier zur Erzielung einer genauen
Quadratur des Kreises und ebenso auch der Kegelschnitte vorschlug,
soll uns später beschäftigen. Hier muss genügen zu berichten, dass
*) E. Jacoli im. Biilktino Bo)icompa(ini II, 299—312. ^) Bierens de Haan
im BuUetino Boncomixujni XI, 383 — 452, sowie Bouwstoff'en etc. II, 53—111 und
137—172. ^) Kästner III, 54. ^) Allgemeine deutsche Biographie IX, 631
—633.
714 ''3. Kapitel.
Gregorius nicht weniger als vier Verfahrungsarten schilderte, ver-
mittels deren man zur Quadratur des Kreises gelangen könne.
Kaum war das umfang- und inhaltreiche Werk erschienen, als es
die verschiedensten Urtheile hervorrief. Neben solchen, die es be-
wunderten, waren Verkleinerer desselben auf dem Platze, deren Stimme
sehr viel galt. Descartes^) fand in einem Briefe an den jüngeren
Franciscus van Schooten vom Frühjahre 1649 nichts Gutes darin;
er habe die Schlüsse, so weit sie überhaupt verständlich seien, rück-
wärts verfolgt, und er sei auf offenkundige Fehler gestossen. Rober-
val und Mersenne traten noch früher öffentlich auf, und Letzterer
insbesondere sprach auf S. 72 seines 1647 gedruckten Buches: No-
vamm ohservationum pliysico-mathematicarum tomiis terüus, quihiis
accessit Aristarchiis Saniius de mundi systemate^) in verächtlichster
Weise von dem Werke, ohne dessen Verfasser zu nennen. Gegen
diese Angriffe waudte sich ein Anhänger des Gregorius, wie er Belgier,
wie er Mitglied des Jesuitenordens, Alfons Anton de Sarasa''')
(1618 — 1667). Seine Solutio FrobJematis a. R. P. Marino Mersenno
propositi von 1649 war indessen weniger eine Erläuterung des Opus
geometricum des Gregorius — eine solche stellte Sarasa für später in
Aussicht, ohne alsdann sein Versprechen einzulösen — als ein Gegen-
angriff gegen Mersenne. Letzterer hatte die erwähnte Kritik mit den
Worten beschlossen, dass die Mathematiker gegen jenes Werk Tadel
erhöben , weil der Verfasser den in die Augen fallenden Titel der
Zirkelquadratur ihm beigelegt, jedoch nichts zur Sache Gehöriges
vorgebracht habe, als was schon vorher gefunden gewesen sei. Die
Sache komme nämlich auf folgende Aufgabe hinaus, deren Lösung
vielleicht noch viel schwieriger als die Quadratur des Kreises sei: mit
Hilfe von Geometrie den Logarithmen einer dritten Grösse zu finden,
sofern die Logarithmen zweier anderer gegeben seien, mögen jene
drei Grössen beliebig rational oder irrational gewählt werden. An
diese Schlusssätze klammerte sich Sarasa, d. h. an die Beantwortung
der Frage, ob drei Grössen Ä, C, L immer einer und derselben geo-
metrischen Reihe angehören, und ob man, wenn die Stellung von Ä
und C innerhalb der Reihe gegeben ist, stets die Stellung von L er-
kennen könne, indem man geometrischer Hilfsmittel sich bediene.
Sarasa stützt sich dabei auf das VL Buch des Opus geometricum^
welches von der Hyperbel handelt. Gregorius hatte dort nachgewiesen
dass Flächenräume, welche durch eine Hyberbel, deren eine Asymptote
^) Oeuvres de Descartes (edit. Cousin) X, 319. ^) Die betreffende Stelle
ist abgedruckt bei Kästner III, 251. Vergl. auch Montucla, Histoire des
reclierches sur la quadrature da cercle (1831), pag. 8'.». ^) Kästner III^ 251—254.
Trigonometrie und Cjclometrie. 715
und Parallele zur anderen Asymptote begrenzt seien, in einem Ver-
hältnisse stehen, welches gleich sei dem Exponenten der Potenzen,
als welche die abschliessenden Ordiuaten sich kundgeben. Mit anderen
Worten, Gregorius hatte das Auftreten von Logarithmen bei
den erwähnten Flächenräumen erkannt, wenn auch nicht mit
Namen genannt. Letzteres that Sarasa, und darin liegt das wirkliche
Verdienst seiner Streitschrift.
Nun trat 1()51 ein neuer, damals noch ganz unbekannter junger
Schriftsteller in die Kampfbahn ein, der eben 22jährige Christian
Hujgens^) (1629 — 1690). Zweiter Sohn des Constantin Iluygens-),
eines als Dichter und Staatsmann bekannten, aber auch die Natur-
wissenschaften pflegenden, Descartes eifrig bewundernden und nicht
minder selbst in hohem Ansehen stehenden Vaters sollte Huygens
gleichfalls einer diplomatischen Laufbahn sich widmen und studirte
deshalb die Rechtsgelehrsamkeit,, bis er 1655 den Doctorgrad beider
Rechte sich erwerben konnte. Schon vorher trat er aber als Schrift-
steller auf dem Gebiete auf, auf welches seine Begabung ihn vorzugs-
weise hinwies. Es war das mathematische, das physikalische, das
astronomische Gebiet, und der jüngere Franciscus van Schooten
war auf demselben seit 1645 sein Lehrer, später sein Freund und Be-
wunderer. Zunächst haben wir es mit Schriften von Huygens über
die Kreisquadratur zu thun. Wir werden ihm dann im 75. Kapitel
als Schriftsteller über Wahrscheinlichkeitsrechnung zuerst wieder be-
gegnen. 1651 veröffentlichte Huygens Theorcnuda de quadratura
hyperholes, eJJqysis d circidi ex dato portionum gravitaiis ccntro, in
Avelchem er sich auf De la Faille's Standpunkt stellte, wonach aus
dem Schwerpunkte einer Figur deren Flächeninhalt abgeleitet werden
könne (S. 696). Zugleich versprach er eine Widerlegung von Gregorius,
und diese fand ihren Platz in der kleinen Abhandlung 'Eh,tra6is Cyclo-
metriac clarissimi Grcgorii a. S. Vinccutio. Sie war gegen die erste
im Opus geometricum empfohlerie Methode gerichtet und wies deren
Hinfälligkeit nach. Schon diese Abhandlung erwarb ihrem jungen
Verfasser laute Anerkennung, noch lauter durch den Wiederhall des
immer lebhafter werdenden Streites.
Neue Schriften für und gegen Gregorius wechselten anhaltend.
*) Allgem. deutsche Biographie XIII, 480 — 48G. — Vergl. auch den Brief-
wechsel von Huygens in den acht ersten Bänden der grossen Ausgabe :
Oeuvres completes de CJiristiaan Huygens x>iüjlices par la soeiete Hollandaise des
Sciences 1888 ügg. Die Schreibweise Huygens dürfte vor der gleichfalls vor-
kommenden Huyghens den Vorzug verdienen. ^) D. J. Korteweg, Notes sur
Constantijn Huygens conside're comme amateur des sciences exactes et sur ses
relations avec Descartes in den Archives Neerlandaises. T. XXII.
716 73. Kapitel.
Für ihn trat 1653 Aloysius Kinner von Löwenthurm^) aus
Prag mit seiner Elucidatio geometrica problcmatis austriaci, sive qiia-
draturae circuli feliciter tandem detedae per R. P. Gregormm a. Sto.
Vincentio ein, gegen ihn 1654 ein Ordensgenosse des Gregorius, wo-
durch die Bekämpfung schon äusserlich an Kraft gewann. Vincent
Leotaud (1595 — 1672), der Lehrer am Jesuitencollegium in Lyon,
hob überdies in seinem Etymon quadraturae ciradi hactenus editoriim
ccleberrmiae et examen ciradi quadraturae Gregor a St. Vincentio einen
wunden Punkt hervor, welcher von nun an den Gegnern stets als
Zielpunkt diente. Gregorius hatte, wie früher erwähnt, ganze vier
Methoden vorgeschlagen, welche zur Quadratur des Kreises, mithin
zur Berechnung der Verhältnisszahl 7t führen mussten. Warum brachte
er keine dieser angeblich sicheren Methoden in Anwendung? Hielt
er das eigentliche Auffinden von 7t für nebensächlich, oder hatte er
erkannt und nur verschwiegen, dass seine Vorschläge sich in Rech-
nung nicht umsetzen Hessen, mithin ihre eigene Widerlegung in sich
trugen?
In dem gleichen Jahre 1654 erschien Huygens' De circidi
tnagnittidine invcnta^), in welcher nicht bloss die von Snellius unbe-
wiesen gelassenen Sätze (S. 706) mittels Schwerpunktbetrachtungen,
also auf Grundlage von Huygens' Schrift von 1651, gesichert wurden,
sondern auch zahlreiche andere Sätze mit ebenso strengen als elemen-
taren Beweisen versehen wurden. Als die wichtigsten Sätze gelten:
Satz 5. Jeder Kreis ist grösser als ein gleichseitiges Sehnen-
vieleck vermehrt um --- des Ueberschusses, um welchen es das gleich-
seitige Sehnenvieleck von halb so vielen Seiten übertrifft.
2
Satz 6. Jeder Kreis ist kleiner als -^ eines gleichseitigen Tan-
gentenvielecks vermehrt um -,- des ihm ähnlichen Sehneuvielecks.
Satz 7. Jeder Kreisumfang ist grösser als der Umfang eines
gleichseitigen Sehnenvielecks vermehrt um -— des Ueberschusses, um
welchen dieser den Umfang des gleichseitigen Sehnenvielecks von halb
so vielen Seiten übertrifft.
Satz 11. Der Umfang jedes Kreises ist kleiner als die kleinere
der beiden mittleren Proportionalen zwischen den Umfangen einander
ähnlicher gleichseitiger Sehnen- und Tangentenvielecke. Die Kreis-
fläche aber ist kleiner als das zu jenen ähnliche Vieleck, dessen Um-
fang die grössere jener beiden mittleren Proportionalen ist.
^) Quetelet pag. 218. *) ßudio, Archimedes , Huygens, Lambert,
Legendre. Vier Abhandlungen über die Kreismessung 1892. Der Bericht über
die Abhandlung von Huygens S. 39 — 41, die Abhandlung selbst S. 85—131.
Trigonometrie vmd Cyclometrie. 717
Satz 10. Bezeichnet a die Länge eines Bogens, welcher kleiner
als der Halbkreis ist, s dessen Sinus, s' dessen Sehne, so ist stets
' , s' — s ^ ^ , , s' — s 4s' 4- s
^ +^-<^*<^'^ +-^-27-^s-
Die Fassung von Satz 16 entspricht dem Sinne, aber nicht dem Wort-
laute bei Huygens, in welchem Formeln durchweg vermieden sind.
Huygeus gewinnt mittels seiner Sätze schon durch Anwendung regel-
mässiger 60 -ecke die Grenzen:
3,1415926533 < tt < 3,1415926538.
Franciscus Xaverius Aynscom^) (1624 — 1600) veröffeut-
lichtete 1()56 seine ExposUio ac dedudio (/eomefrica quadraturarum dr-
cidi R. P. Gregor ii a S. Vinccntio, ohne auf den soeben erörterten
Einwand sich einzulassen. Huygens antwortete noch im gleichen
Jahre 1656 in einem Briefe an Aynscom, und endlich gab auch
Leotaud 1663 noch eine Schrift Cydomatkia heraus, welche als die
letzte derer betrachtet werden kann, die in diesem wissenschaftlichen
Streite gewechselt wurden, an welchem — und das verdient bemerkt
zu werden ■ — Gregor ins selbst sich nie betheiligt hat. Er erhielt,
wie aus dem Briefwechsel von Huygens zu ersehen ist, alle gegen
wie für ihn verfassten Schriften, er beantwortete die Zusendungen in
liebenswürdiger Weise durch Dankbriefe, auf den sachlichen Inhalt
ginor er nicht ein.
Von ganz anderer Seite fasste ein ojiglisC&er Schriftsteller,
James Gregory") (1638 — 1675), die Aufgabe der Quadratur in seiner
1667 gedruckten Vera circuli et Jiyperholae qnadratura. Gregory zeigte
in einer für Kreis, Ellipse und Hyperbel gemeinschaftlichen Beweis-
führung, dass, sofern Vielecke, deren Seitenzahl fortwährend zunimmt,
der Curve einbesehrieben und umschrieben werden, die Vielecke höherer
Seitenzahl einen immer weniger von einander verschiedenen Flächen-
inhalt besitzen. Er zeigt ferner, dass, wenn
A das erste Sehnenvieleck, B das" erste Tan-
gentenvieleck, 6', D das zweite Sehnen- be-
ziehungsweise Tangentenvieleck ist, alsdann
C = yAB, D = j^ , fi sein muss, d. h. ersteres
das geometrische Mittel zwischen den den Aus-
gangspunkt bildenden Vielecken, letzteres das
harmonische Mittel zwischen dem ersten Tan-
gentenvieleck und dem zweiten Sehuenvieleck-
Sei (Figur 142) der Halbmesser 0 G des Kreises
^) Kästner III, 2G1 — 265. -) Montucla, Histoire des recherches stir la
quadrature du cercle (18;J1), pag. 95 — 101.
718 Ti Kapitel.
als Einheit gedacht und ^HOG = 2(p der Centriwinkel, welchen
die Seite GH des regelmässigen Sehnenvielecks von oi Seiten be-
spannt. Man sieht sofort, dass alsdann
A = 71 sin (p • cos q)
B = n tng (p
C = n sin (p
B = 2ntng^
ist, und diese Werthe entsprechen den obigen Zusammenhängen.
Ebenso entstehen natürlich weitere Sehneu- und Tangentenvielecke
E, F aus C, D u. s. w. Es bildet sich, wie Gregory schon in seiner
'Vorrede sagt, eine Scrics polygonorum convcrgens, mjus tcrminaüo est
circulus, und dieses Wort der Convergenz kehrt im Verlaufe der
Schrift immer und immer wieder und ist von da an der W^issenschaft
erhalten geblieben. Der Kreis ist also die Grenze, welcher beide
Vielecksreihen zustreben, und zwar unter Anwendung eines Namens
unserer Neuzeit als harmonisch-geometrisches Mittel. Der Grenzwerth,
um dessen Auffindung es sich handelt^), wird erst nach unend-
licher Glieder zahl der Reihe angetroffen, ist also von A, B eben-
soweit entfernt als z. B. von E, F oder einem anderen Gliederpaare
endlicher Rangordnung. Der Grenzwerth muss also in ganz gleicher
Weise aus E, F wie aus A, B sich bilden, Ist ein endliches Ver-
fahren dazu nicht vorhanden, so ist die Grenze nicht zu finden. Wir
sagen statt dessen heute, der Grenzwerth sei eine Transcendente, aber
wir verbinden damit den gleichen Sinn, der in Gregory 's Ausdrucks-
weise sich verbarg. Für die damalige Zeit war diese Auffassung
allerdings so überraschend neu, dass Huygens sie nicht verstand und
ihr im Journal des Savans vom Juli 1668 entgegentrat, worauf Gre-
gory in den Philosophical Transactions noch des gleichen Jahres
widersprach. Die weitere wissenschaftliche Thätigkeit Gregory's, ins-
besondere auf dem Gebiete der Reihenlehre, fällt jenseits 1668, mit-
hin jenseits der Zeitgrenze, welche wir diesem Bande gesteckt haben.
74. Kapitel.
Rechnen. Logarithmen.
Gehen wir nun zu dem zweiten grossen Gebiete der Mathematik
über, das von den Zahlengrössen ausgehend die zuletzt besprochenen
Untersuchungen, bei welchen gleichfalls ein Rechnen hilfeleistend
(^ Proposiiio VII: Oportet pruedictue seriei terminationem invenire.
Rechnen. Logarithmen. 719
stattfaud, als grenzbenachbarte besitzt, von wo der Uebergang um so
leichter erfolgt, und beginnen wir mit den ersten Anfangsgründen,
dem einfachen Rechnen.
Dasselbe war aUmälig auch über die dem alltäglichen Gebrauche
dienenden Rechnungsarten mit ganzen, und zwar kleinen ganzen
Zahlen hinaus Volkseigenthum geworden, und dem entsprechend hatte
die wissenschaftliche Berechtigung sowohl als die Behandlung der
Lehre vom Rechnen sich geändert. Umfassende Handbücher der Ge-
sammtmathematik, die es auch im XVII. Jahrhunderte gab, konnten
nicht umhin, das Rechnen zu lehren, ohne jedoch mehr das Haupt-
gewicht gerade darauf zu legen. Besondere Schriften suchten dann
das Rechnen auch mit grossen und sehr grossen Zahlen zu erleichtern
theils dadurch, dass sie instrumentale Hilfsmittel erfanden, theils
durch Einführung neuer Kunstgriffe, unter welchen die Erfindung der
Logarithmen unsere Aufmerksamkeit besonders in Anspruch nehmen
muss. Dann treten neu hinzu gewisse Betrachtungen, welche etwa
den Uebergang von der allgemeinen Arithmetik zu denjenigen Unter-
suchungen bilden, die später den Namen der algebraischen Analysis
erhalten haben. Endlich werden wir von gewissen Aufgabensamm-
lungen sprechen müssen, welche alle Theilgebiete der Mathematik
zusammenfassen und uns überleiten werden zur Geschichte der zahlen-
theoretischen Untersuchungen und der Algebra.
Von den zuerst zu erwähnenden grösseren Handbüchern
neuneu wir die Encjclopädie von Johann Heinrich Alsted^)
(1588 — 1638) von Herborn, ein 1620 in vier Foliobänden heraus-
gegebenes encyclopädisches Werk, dem man nicht viel mehr nach-
rühmen kann, als dass es das erste derai-tige Druckwerk war, welches
in Deutschland erschien. Leibniz-) nannte es ein dem Fassungsver-
mögen jener Zeit entsprechend lobenswerthes Werk, und ein späterer
Schriftsteller^) erzählt, man habe die Buchstaben des Namens des
Verfassers Alstedius versetzt, um das Wort sedulitas zu erhalten.
Wir nennen die Disciplinae mathematicae des Pater Johann
Gier maus'*) von 1640. Der in Herzogenbusch geborene Verfasser
gehörte dem Jesuitenorden an, lehrte in Löwen und Antwerpen und
starb 1648, als er im Begriffe stand, von Portugal aus eine Missions-
reise nach China anzutreten. Das Werk ist in zwölf Monate getheilt.
') Kästner III, 434—438. — Poggendorff I, 34. *) Leibniz, Phi-
losophische Schriften (herau.sgegeben von C. J. Gerhardt) VII, 67: DiligenUssi-
mus Joh. Henr. Alstedius cuius Encyclopaedia mihi pro captu illoriim temponim
certe Imidanda videtur. ^) Joh. Friedr. Stockhausen, Historische An-
fangsgründe der Mathematik, Berlin 1752, S. 30. ^ Kästner III, 438—442.
— Quetelet pag. 202— 203.
720 74. Kapitel.
in welchen die betreifenden Gegenstände nach dem Berichte des Ver-
fassers thatsächlich gelehrt zu werdei? pflegten. Das Schuljahr be-
ginnt mit October, endigt mit September. Jeder Monat zerfällt
sonderbarer Weise in drei Wochen, der September hat deren gar
nur zwei; vielleicht sind die noth wendigen Feier- und Erholuugstage
auf diese Weise in Rechnung gebracht. Im October wurde Geometrie
vorgetragen, im November Arithmetik, im December Optik u. s. w.;
zuletzt im September Chronologie. In der zweiten Novemberwoche
ist von einer mit Rädern versehenen Vorrichtung die Rede, welche
Ciermans erfunden haben will, und welche jede Multiplication und Divi-
sion fehlerlos vollziehen lasse, also von einer Rechenmaschine;
eine Beschreibung ist nicht beigegeben.
Wir nennen den Cursus mathematicus von Pierre Herigone
aus dem Jahre 1644, den wir schon (S. G56) zu erwähnen hatten, als
wir die Ausgaben alter Geometer besprachen.
Wir nennen das Directorium mathematicum von Abdias Trew^)
von 1651, ein grosses Lehrbuch der gesammten reinen und ange-
wandten Mathematik, welches durch Breite zu ei-setzen suchte, was
ihm an Tiefe abging.
Wir nennen den Cursus mathematicus des Kaspar Schott")
(1608 — 1666), eines in Königshofen bei Würzburg geborenen, in
Würzburg selbst als Professor der Mathematik gestorbenen Mitgliedes
des Jesuitenordens. Schott war übrigens nicht ausschliesslich in seiner
Heimath thätig, sondern fand zeitweise auch in Palermo Verwendung
als Lehrer der Mathematik und Moral. Der Cursus mathematicus
wurde erstmals 1661, später wiederholt als starker Folioband gedruckt.
Wir nennen den uns gleichfalls schon bekannt gewordenen Pater
Andreas Tacquet, von welchem zwar nicht innerhalb seiner Opera
mathematica, aber als besonderes Bäudchen von 1664 eine Arithmetik^)
erschien.
Damit ist zugleich der Uebergang zu einem anderen Einzelwerke
gewonnen, welches einen bedeutenden Einfluss ausübte: die Clavis
mathematica von 1631, welche 1652 in neuem Abdrucke erschien.
Ihr Verfasser William Oughtred'^) (1574—1660) ist in Eton ge-
boren, war Zögling der Universität Cambridge, seit 1603 Pfarrer in
einem Landorte und konnte seiner Lieblingswisseuschaft, der Mathe-
matik, nur spärliche freie Stunden widmen, obendrein nur, wenn sie
*) Günther, Die mathematischen und Naturwissenschaften an der nüm-
bergischen Universität Altdorf, S. 27 (Separatabdruck aus dem .3. Hefte der Mit-
theilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 1881). *) Poggen-
dorff 11, 838. ^) Kästner lU. 449. ") Ebenda IE, 39—42. — Rouse
Ball, A history of the study of mathematics at Cambridge, pag. 30—31.
Rechnen. Logarithmen. 721
in die Tageszeit fielen, denn am Abend entzog ihm seine haushälterisch
gesinnte Frau das Licht, so dass er sieh schmerzlich beklagt, dadurch
sei manche Aufgabe nicht zur Lösung gelangt. Oughtred's Tod er-
folgte aus Freude über die ihm unerwartete Nachricht von der Wieder-
herstellung des englischen Königthums. Zwei Neuerungen sind vor-
nehmlich in der Clavis mathematica enthalten, welche rasch sich ein-
bürgerten, das Multip licationskreuz X und ein aus vier Punkten
gebildetes Zeichen gleicher Proportionen ::, dessen man wenig
stens in England sich noch bedient, a -J) '.'. c ■ d bedeutet also bei
Oughtred, a verhalte sich zu h wie c zu d. Der einfache Punkt zwischen
den beiden in Verhältniss gestellten Grössen musste allerdings später
einem Doppelpunkte weichen, nachdem im XVIIL Jahrhunderte durch
Christian von Wolf der einfache Punkt das häufigste Multipli-
cationszeichen geworden war. Als Gleichheitszeichen bediente sich
Oughtred des Recorde'schen = . Ausserdem benutzte er die Zeichen ~Ij
für grösser als und _Zi für kleiner als, sowie noch eine ganze Menge
anderer Zeichen ^). Bei dieser grossen Zahl neuer Abkürzungen
dürfte es vergebliche Mühe sein , Gründe ausfindig machen zu
wollen, warum Oughtred gei-ade dieses oder jenes Zeichen, also bei-
spielsweise das Multiplicationskreuz, wählte. Vielleicht kann es von
Interesse sein, dass Lord Brouncker 1668 dieses Zeichen gar nicht
als Kreuz auffasste, sondern den Buchstaben x darin sah^). Auch
neue Namen kommen bei Oughtred vor, so der Name ünciae, Klam-
mergrössen, für die Binomialcoefficienten, denen er lange geblieben ist.
Wir sagten oben, es sei in der Richtung der Zeit .gelegen, das
Rechnen mit grossen Zahlen zu erleichtern. Wir fanden eine
Veranlassung dazu in dem Umstände, dass das Rechnen überhaupt
mehr und mehr in alle Volksschichten eindrang, und dass den ge-
bildeten Classen ein gewisses üebergewicht bewahrt werden wollte.
Wir hätten auch auf die Verbreitung trigonometrischer Betrachtungen
hinweisen können, welche ein Rechnen mit trigonometrischen Func-
tionen nöthig machte, und diese waren in Gestalt grosser Zahlen be-
kannt, da nur ein sehr grosser Kreishalbmesser eine genügende An-
nähemng in den Schlussergebnissen der Rechnung versprach. Der
Rechnung mit den trigonometrischen Functionen zu lieb war ja auch
die Prosthaphaeresis erfunden worden.
Den Namen dieses Kunstgriffes, aber in ganz anderer Bedeutung
als ihm ursprünglich inne wohnte, legte ein bayerischer Gelehrter,
Hans Georg Herwarth (oder Hoerwarth) von Hohen-
^) Elügel, Mathematisches Wörterbuch V, 1179 und 1181. —Briefliche
Mittheilung von Herrn N. L. W. A. Gravelaar in Deventer. ^) PhilosopJiical
rmnsocho»is 11,466: And note ihat the letter x everytvhere Stands for Multiplication.
Caxtor, Geschichte der Mathem. II. 2. Aufl. 46
722 "*• Kapitel.
burg^) (1553 — 1622), einem 1610 herausgegebenen Bande bei. Er
war in erster Linie Staatsmann und leistete als bayerischer Kanzler
seinem Fürsteuhause namhafte Dienste, aber auch sein wissenschaft-
licher Ruhm ist fest begründet. Von ihm stammt die erste Beschrei-
bung der griechischen Handschriften der herzoglichen Bibliothek, er
war in nicht unwichtigem fortgesetzten brieflichen Verkehre mit
Mathematikern wie Praetorius und Kepler, von ihm wurde das
Tabellen werk berechnet, welches uns Veranlassung bot, von ihm zu
reden, und dessen genauer Titel Tahidae ArUhneücae UPOZ&A-
^AIPEEESIZ universales lautet. Eine Blattgrösse von 52 auf 27 cm,
eine Dicke von lO-r- cm machen den Band unhandlich, aber wie wäre
auf viel geringerem Räume auszukommen gewesen zu einer Zeit,
welche auf die Handlichkeit noch kein so grosses Gewicht zu legen
ofewohnt war. dass sie auf besondere Abkürzungen sann, welche ge-
eignet wären, Raumersparniss zu ermöglichen? Herwarth's Tabellen
gestatten die Auffindung des Productes zweier Factoren, deren jeder
innerhalb der Zahlen 1 bis 999 eingeschlossen ist, durch einmaliges
Aufschlagen, und so konnten auch Producte noch grösserer Factoren
durch Addition der Ergebnisse wiederholten Aufschiagens, mindestens
ohne eigentliche Multiplicationsfehler befürchten zu müssen, erhalten
werden. Sollte 789654 mal 461235987 gefunden werden, so verfuhr
man wie folgt. Jede Seite enthielt die Producte der Zahlen 1 bis 999
in einen und denselben Factor, so dass die 1. Seite dem Producte iu 2,
die 2. dem in 3, die 653. dem in 654, die 788. dem in 789 u. s. w. ge-
widmet war. Auf der 653. und auf der 788. Seite, mithin unter zwei-
maligem Aufschlagen des Bandes, fand man also die zu addirenden
Theilproducte
654
987 =
645498
654
235 =
153690
654
461 =
301494
789
987 =
778743
789
235 =
185415
789
461 =
363729
364216842078498
deren Summe:
Ob damit ein wesentlicher Zeitgewinn gegenüber von dem un-
tabeUarischen Multipliciren , oder eine grössere Sicherheit verbunden
war, sei dahingestellt.
Jedenfalls kamen andere Hilfsmittel häufiger als Herwarth's Tafeln
zur Verwendung. Bis zu einem gewissen Grade müssen wir hier an
die Proportionalzirkel erinnern, deren Name sie der Geometrie,
*) Allgem. deutsche Biographie XEI, 169—175. Artikel von Eisenhart.
— Unger S. 126—130.
Reclinen. Logarithmen. 723
deren Anfertigung sie der praktischen Mechanik, deren Anwendung sie
dem Rechenunterrichte zuweist. Wir meinen aber noch bestimmter ein
Hilfsmittel, welches etwas später, als die Proportionalzirkel in Deutsch-
land beziehungsweise den Niederlanden und Italien entstanden, von
England ausging und eine sehr rasche Verbreitung auch auf dem euro-
päischen Festlande erwarb: die Rechenstäbe von John Neper, welche
von ihrem Erfinder mit lateinischem Namen virgidae numeratrices ge-
nannt wurden, wofür englisch das Wort NepersBones Aufnahme fand.
Die erste Beschreibung gab Neper in seiner Bhabdologia (Edin-
burgh 1617), welche in lateinischer Sprache in Leiden wiederholt
nachgedruckt, aber auch ins Holländische und in das Italienische
übersetzt worden ist. Zehn Stäbchen besitzen die Gestalt vierseitiger
Parallelopipeda. Die vier Längsflächen jedes Stäbchens sind in je
neun kleine Quadrate abgetheilt, deren jedes durch eine von rechts
oben nach links unten verlaufende Diagonale in zwei Dreiecke zerfällt.
Die Quadratchen einer Fläche sind mit den 9 ersten Vielfachen einer
der 9 Zahlen 1 bis 9 beschrieben; ist ein solches Vielfache zweiziffrig,
so trennt die erwähnte Diagonale die Stelle der Einer von der der
Zehner. Eine solche Fläche, z. B. die der Vielfachen von 3, sieht also
so aus: Auf demselben Stäbchen stellen die drei anderen Flächen
etwa die Vielfachen von 2, von 6, und von 7 dar. Will man
nun multipliciren , so hat man eine Multiplicatorziffer mit
jeder der Multiplicandusziffern zu vervielfachen, und dieses er-
reicht man, indem man die Stäbchen so nebeneinander legt,
dass deren oberste Zahlen die aufeinanderfolgenden Ziffern des
Multiplicandus sind. Kommen im Multiplicandus Nullen vor,
so müssen auch ganz leere Stäbchen zu Gebote stehen, welche
hier einzuschalten sind. Die in gleicher Höhe befindlichen
Quadratchen sämmtlicher neben einander liegender Stäbchen
lassen alsdann die einzelnen Theilproducte ablesen, indem
man durch diagonale Addition jeden Zehner mit dem folgen-
den Einer vereinigt. Will man z. B. 7632 mal 49375 rechnen,
so sieht die erste Multiplicationszeile so aus:
i
X'
/ei
/i
X
H
1/
/8
2 /
A
2/
2/t
A
A A
//6
1/
A
1 /
/o
oder 98750 u. s. w. Wollte man die Rechenstäbe zur Division
benutzen, so schrieb man den Dividenden hin, setzte den Divisor
aus den obersten Zahlen von Rechenstäbchen zusammen und über-
zeugte sich dann, welches Vielfache des Divisors jedesmal als Theih
product des Divisors in eine Quotientenstelle vom Dividenden abge-
zogen werden konnte.
46*
724 74. Kapitel.
Es ist fast unbegreiflich, dass dieses unbehilfliche Verfahren
sich lautesten Beifall erringen konnte, dass Lobverse in lateinischer
Sprache auf die Erfindung und den Erfinder angefertigt wurden, dass
noch in unserem Jahrhunderte Neper's Büchelchen von einem so
tüchtigen Gelehrten, wie Georg Simon Klügel es war, als ein
kunstreiches hat bezeichnet werden können^). Der gleiche Gedanke
der Rechenstäbchen scheint auch einem Lütticher Schriftsteller Jean
Galle gekommen zu sein, der ihn in einem 1616 gedruckten Buche
äusserte und sich ungemein viel darauf zu gute that. Eine eigent-
liche Beschreibung seiner dix petits hastons scheint er aber nicht ge-
geben zu haben ^).
Eine Verbesserung der Rechenstäbe machte Kaspar Schott
(S. 720) in dem 1668 nach dem Tode des Verfassers gedruckten
Organum mathematimm bekannt^). Er brachte nämlich das Einmal-
eins auf drehbare Cylinder und vereinigte diese in einem „Rechen-
kasten". Andere wirkliche oder vermeintliche Verbesserungen folgten
bis zum Ende des Jahrhunderts.
Noch instrumentaler, wenn dieser Ausdruck gestattet ist, ge-
staltete sich das Rechnen durch die Erfindung wirklicher Rechen-
maschinen. Eine solche scheint, wie wir (S. 720) gesagt haben,
Ciermans seit 1640 besessen zu haben. Der Oejffentlichkeit wurde
aber erst einige Jahre später eine solche Vorrichtung übergeben*),
welche Blaise Pascal mit 19 Jahren, also etwa 1642, herstellte,
und für welche er 1649 ein königliches Privilegium erwarb. Kurbel-
umdrehungen setzten ein Räderwerk in Bewegung, welches nach
wenigen vorhergegangenen Einstellungen ohne weitere Ueberlegung
von Seiten des Rechnenden die vier einfachen Rechnungsarten voll-
zog. So vollkommen indessen die Einrichtung in der Theorie war,
die Mechaniker der damaligen Zeit waren noch nicht im Stande, die
Wünsche des Erfinders so genau zu erfüllen, dass die Vorrichtung
wirklich leistungsfähig wurde, dass Irrthümer, sobald einmal richtig
eingestellt war, der Benutzer also seine Schuldigkeit gethan hatte,
nicht mehr vorkommen konnten. Pascal selbst hielt an • der Hoff-
nung fest, man werde eine derartige Vollkommenheit erreichen, aber
das noch in Paris vorhandene Exemplar seiner Rechenmaschine hat
trotz mancherlei mit demselben angestellten Versuchen immer erkennen
lassen, wie voreilig noch jene Hoffnung war. Die Kühnheit von Pas-
cal's Gedanken bleibt selbstverständlich von der mangelnden Geschick-
') Klügel, Mathematisches Wörterbuch II, 738—739 s. v. Instrumentale
Arithmetik. ^) Le Paige in dem BuUetin de Vinstitut archeologique Liegeois
XXI, 502—504. =>) Unger S. 119. ") Pascal IH, 185—208.
Rechnen. Logarithmen. 725
lichkeit seiner Hilfsarbeiter unberührt, und sie wurde auch von Allen,
welche später yervoUkommnete Apparate erdachten, zuerst 1673 von
Leibniz, rühmend anerkannt.
Wir sagten oben, es sei fast unbegreiflich, wie Neper's Rechen-
stäbe Anklang finden konnten. Fast noch unbegreiflicher ist es, dass
Neper eine derartige Erfindung, wenn sie überhaupt als solche zu
bezeichnen ist, da die schachbrettartige Multiplication, seit lange vor-
handen, den gleichen Gedanken zum Ausdrucke brachte, noch der
Veröfi'entlichung werth hielt, nachdem er schon die Erfindung der
Logarithmen im Drucke bekannt gemacht hatte.
Bevor wir indessen von dieser handeln, ist es wohl richtiger,
von einer später veröffentlichten, doch mit grosser Wahrscheinlich-
keit früher entstandenen verwandten Leistung zu berichten, von den
Progress Tabulen des Jobst Bürgi^). Wir wissen (S. 691), dass
Benjamin Bramer, Bürgi's Schwager, von 1603 — 1611 in dessen
Hause in Prag lebte, dann aber ihn verliess. Nur in jenen Jahren
kann daher eine Arbeit vollzogen Worden sein, von welcher Bramer
später (1630) in einer Vorrede sagte, dass Bürgi ihr obgelegen habe,
und diese Zeitbestimmung deckt sich überdies vollkommen mit den
von Bramer gebrauchten Worten: „Auff diesem Fundament hat mein
lieber Schwager und Praeceptor Jobst Burgi vor zwantzig und mehr
Jahren eine schöne progress tabul .... calculirt^', denn mehr als
20 Jahre von 1630 abgezogen, führt eben in den Zwischenraum
zwischen 1603 und 1611. Der Druck der Tafeln erfolgte 1620 in
Prag unter dem Titel: „Arithmetische und Geometrische Progress-
Tabulen, sambt gründlichen vnterricht, wie solche nützlich in allerley
Rechnungen zu gebrauchen vnd verstanden werden sol", und nur
wenige Exemplare davon haben sich erhalten. Der im Titel ver-
sprochene „gründliche vnterricht" vollends ist in altem Drucke gar
nicht vorhanden und nur handschriftlich einem in Danzig befindlichen
Exemplare beigeheftet, woraus eine Veröffentlichung erfolgte^). Ob
der gründliche Unterricht vorher überhaupt nie gedruckt worden
war, ist unmöglich zu entscheiden.. Denkbar wäre es allerdings bei
der grossen Bedächtigkeit, um kein schärferes Wort zu gebrauchen,
welche Bürgi als Schriftsteller an den Tag legte. Bürgi ging aus
von dem Gedanken zweier zusammengehörenden Reihen, einer arith-
metischen und einer geometrischen, wie er z. B. von Michael Stifel,
wenn auch weder von diesem zuerst noch von diesem allein, deutlich
'■) Grieswald, Justus Byrg als Mathematiker und dessen Einleitung in
seine Logarithmen. Danzig 1856. — Gerhardt, Math. Deutschi. S. 116 — 120.
^) Durch Gieswald in dem genannten Danziger Schulprogramm von 1856.
720 74. Kapitel.
in seiner Arithmetica integra ausgesprochen war^). Da Bürgi be-
kanntlich in der lateinischen Sprache nicht geübt war, auch Stifel
nirgend nennt, so wird er nur mittelbar aus anderer Quelle jenen
Gedanken sich angeeignet haben, und wir haben keinen Grund zu
zweifeln, die von ihm ausdrücklich als seine Vorgänger angeführten
Schriftsteller seien es gewesen, aus welchen er schöpfte-), „auch von
etlichen Arithmeticis Simon Jacob, Moritius Zons und andere ist be-
rürt worden, das was in der Geometrischen Progress oder in der
Schwarzen Zahl Multipliciert, dasselbige ist in der Arithmetischen
Progress oder in der rothen Zahl addiern". Der Erstgenannte, Simon
Jacob, hat uns früher beschäftigt. Von Moritius Zons dagegen
ist nichts weiter bekannt, als dass er 1602 eine Wortrechnuug her-
ausgegeben hat^). Wie er diese Schwäche mit Stifel theilte, wird er
wohl auch den wissenschaftlich werthvollen Gedanken ebendemselben
entlehnt haben. Bürgi nennt an der hier aufgenommenen Stelle
schwarze und rothe Zahlen als gleichbedeutend mit Zahlen der
geometrischen, beziehungsweise der arithmetischen Reihe. Er hat diese
Benennung fortwährend festgehalten, und der Drucker hat sich ihr an-
schliessen müssen, indem thatsächlich schwarze, beziehungsweise rothe
Farbe bei jenen Zahlen in Anwendung kam. Die Tafel ist nach den
in arithmetischer Reihenfolge auftretenden rothen Zahlen zu einer Tafel
doppelten Einganges geordnet. Da nun offenbar die rothen Zahlen
das sind, was andere Schriftsteller die Logarithmen genannt haben,
während die schwarzgedruckten Zahlen die jenen Logarithmen ent-
sprechenden Zahlen sind, so ist Bürgi's Pj-ogresstabul eine
antilogarithmische Tafel, dergleichen nach ihr nicht viele zum
Drucke befördert worden sind.
Von Wichtigkeit ist es, die Basis seiner Tafel zu kennen und,
zu dieser Kenntniss führt uns eine etwas eingehendere Schilderung*).
Die arithmetische Reihe der rothen Zahlen beginnt bei Bürgi mit 0
und setzt sich dann mit 10, 20 u. s. w. fort, d. h. besitzt 10 als
Differenz. Die geometrische Reihe der schwarzen Zahlen beginnt mit
100000000 und setzt sich mit 100010000, 100020001 u. s. w. fort, d. h.
besitzt Iytjt^aa ^^s Quotient der Division jedes folgenden Gliedes durch
das vorhergehende. Eine Logarithmentafel nach der Auffassung un-
serer Zeit ist dieses, wie man erkennt, nicht. Nachdem die Loga-
rithmen als Exponenten solcher Potenzen der Basis erkannt waren,
^) Arithmetica integra f'ol. '6b. *) Gieswald 1. c. S. 27, Z. 3 — 5. ^) Ebenda
S. 22. *) Kästner, Fortsetzung der Rechenkunst (Göttingen 1801), S. 94
—106. — Klügel, Mathematisches Wörterbuch HI, 531—533. — Gieswald
1. c. S. 23-25.
Rechnen. Logarithmen. 727
welche den entsprechenden Zahlen sich gleich erwiesen, musste wegen
?jO = 1 j h^ = J) immer dem Logarithmen 0 die Zahl 1 , dem Loga-
rithmen 1 die Basis h als Zahl gegenüberstehen, und das Bürgi'sche
schwarze 100000000 neben der rothen 0 könnte nur so Berechtigung
erlangen, dass man es als 1 mit einem achtstelligen aus lauter Nullen
bestehenden Decimalbruche läse. Ebenso wäre die zum Logarithmen
10 gehörige Zahl 100010000 als 1,00010000 zu verstehen u. s. w.
Aber Bürgi war von der Erklärung der beiden Reihen mittels des
Potenzbegriffes mit Einschluss der Potenz mit dem Exponenten 0
weit entfernt. Es waren für ihn nur zwei Reihen, eine rothe und
eine schwarze vorhanden, die eine eine arithmetische, die andere eine
geometrische. Anfang und Fortschreitungsgesetz waren beliebig, so-
fern nur eine Zusammengehörigkeit solcher Glieder festgehalten wurde,
welche in beiden Reihen mit gleichem Stellenzeiger auftreten. Von
einer Basis der Progresstabul im heutigen Sinne des Wortes kann
nur in abgeleiteter Weise die Rede sein, und zu dieser Ableitung
führt die folgende Betrachtung. Nennen wir die rothen Zahlen oder
Logarithmen x, die schwarzen Zahlen oder Logarithmanden y, so
ist unter Berücksichtigung der als nothwendig erkannten Divisionen
x=10n, y = 10«(l + ji,)".
Unter den zu einander gehörigen rothen und schwarzen Zahlen findet
sich aber
:, = 100000 ^ = 27184593
X = 230270022 y = 1000000000.
Abgesehen von angehängten Nullen ist also
1 der Logarithme von 2,7184593,
2,30270022 der Logarithme von 10.
In dem später sogenannten natürlichen Logarithmensysteme,
dessen Basis seit Euler durch e bezeichnet wird, ist aber
e = 2,718281828 ... und log. nat. 10 = 2,302585 . . .
Beide Zahlen stimmen mit den bei Bürgi vorkommenden nahe genug
überein, um behaupten zu können: Bürgi's Logarithmen sind die
Logarithmen mit der Basis e ^).
Eine weitere Frage geht nothwendig dahin, wie Bürgi wohl die
schwarzen Zahlen interpolirte, welche zu solchen rothen Zahlen ge-
hörten, die in der tafelmässig in Unterschieden von 10 fortschreiten-
Ke witsch, Die Basis der Bürgi'schen Logarithmen ist e, der Neper-
L
333 (1896).
sehen Zeitschr. f. mathem. und naturwissensch. Unterricht XXVII, 321-
728 74. Kapitel.
den Liste rother Zahlen fehlten? Der kurze Bericht bleibt auf diese
Frage die Antwort schuldig. Dagegen lehrt er die Interpolation der
rothen Zahlen, um diejenige derselben zu finden, welche einer in der
Tafel nicht vorhandenen, gegebenen schwarzen Zahl entspricht^). Zu
suchen sei die rothe Zahl zu der schwarzen Zahl 36. Keine schwarze
Zahl unterhalb der neunziffrigen 100000000 steht in der Tabelle,
folglich ist, damit die Tabelle überhaupt benutzbar werde, 36 durch
Anhängung von 7 Nullen zu 360000000 zu verlängern. Die nächst-
kleinere und nächstgrössere schwarze Zahl der Tabelle ist 359964763
neben der rothen Zahl 128090 und 360000759 neben der rothen Zahl
128100. Man kann an diesen beiden schwarzen Zahlen beiläufig
prüfen, ob die Berechnung der Progresstabul überall nach dem
gleichen Verfahren stattfand. Zunahme der rothen Zahl um 10 ent-
sprach, sagten wir, in den Anfangszahlen eine Vervielfältigung der
schwarzen Zahl mit It^^qqq • Nun ist
l_i_ . 359964763 = 359964763 + 35996 = 360000759,
wie es in der Tabelle gedruckt ist. Zugleich erkennen wir den Unter-
schied 35996 der beiden tabellarisch auf einander folgenden schwarzen
Zahlen. Der Unterschied von 359964763 bis zu 360000000 ist etwas
geringer, nämlich 35237. Nun wird die Proportionalität des Zu-
wachses der schwarzen und der rothen Zahlen in einem engen Spiel-
räume ohne weitere Begründung angenommen und
35996 : 35237 = 10000 : 9789
gerechnet. Eigentlich sollte 10 das dritte Glied der Proportion sein,
statt welches nur zum Zwecke genauer Rechnung 10000 gewählt
wurde. Das vierte Glied 9789 ist daher auch auf 9,789 zurückzu-
0
führen, wofür Bürgi 9789 druckt mit der Bemerkung „und werden
alle Zeit biss unter die 0 ganze verstanden und die folgen der Bruch".
So ist also 128099,789 die rothe Zahl, welche neben die schwarze
Zahl 360000000 gehört. Dass diesem Interpolationsverfahren der rothen
Zahlen ein ganz ähnliches auch auf Proportionalrechnung beruhendes
für die schwarzen Zahlen zur Seite gestanden haben muss, liegt so
ungemein nahe, dass wir kaum daran zweifeln, Bürgi habe deren
Schilderung nur als überflüssig unterlassen.
Wir sagten oben, die Progresstafel sei nach um je 10 Einheiten
wachsenden rothen Zahlen geordnet. Nur am Schlüsse der Tafel ist
eine Abweichung von dieser Anordnung vorhanden. Aus gleich zu
erörternden Gründen sollte nämlich die Tafel, wie sie mit der runden
') Gieswald 1. c. Ö. 28— 2y.
Eechnen. Logarithmen. 729
schwarzen Zahl 100000000 begann, mit der nächsthöheren runden
schwarzen Zahl 1000000000 abschliessen, deren rothe Zahl 230270,022
ist, und diese bildet wirklich den Schluss der Tafel. Diese Zahl
230270,022, welche also die Gleichung &230-27o,o22 _ 100000,0000 er-
füllt, wobei J) = 1,000009990550012, führt den Namen der ganzen
rothen Zahl^) und soll bei manchen Anwendungen der Tafel, z. B.
bei Divisionen, deren Quotient als echtgebrochen sich erweist, den
gleichen Vortheil gewähren, welchen man bei den wirklichen Loga-
rithmen durch ganzzahlige Vergrösserung der Charakteristik erreicht.
Sei 154030185 durch 205518112 zu dividireu. Zu diesen schwarzen
Zahlen gehören als rothe Zahlen 43200 und 72040, deren zweite von
der ersten nicht abgezogen werden kann. Statt 43200 — 72040 rechnet
desshalb Bürgi 230270,022 + 43200—72040 = 201430,022, zu welcher
rothen Zahl die schwarze Zahl 749472554 gehört, wie ohne nähere
Begründung behauptet wird, unter offenbarer Verschweigung der er-
wähntermassen hier nothwendig gewesenen Proportionalrechnung.
Dann fährt Bürgi fort: „ihr gebüreudt schwarze Zahl ist 749472554
und soviel kombt so man 154030185 durch 205518112 dividirt, welches
doch keine ganze sondern lauter Bruch vom ganzen alss 0749472554
j ^749472554 ,,
^^^^ ^1000000000-
So, Bürgi's Progresstafeln, welche also zwischen 1603 und 1611
entstanden, erst 1620 im Drucke erschienen, das bestätigend, was der
Verfasser in seinem gründlichen Unterricht sagt^): „obwol ich mit
diesen Tabulen vor etlichen Jahren hin umbgang so hat doch mein
Beruff von der Edition derselben enthalten." Noch deutlicher sprach
sich Kepler 1627 in der Einleitung zu den Rudolphini'schen Tafeln
aus, Bürgi habe viele Jahre (multis annis) vor der Neper'schen Ver-
öffentlichung seine Tafel besessen, „aber der zögernde Geheimniss-
krämer überliess das eben geborene Kind sich selbst, statt es zum
öffentlichen Nutzen gross zu ziehen"^).
Schützen diese verschiedenen Berichte das unabhängige Erfinder-
recht Bürgi's und stellen ihn, den wir im vorigen Abschnitte auch
als Neuerer auf dem Gebiete der Gleichungslehre, als im Besitze des
Gedankens der Decimalbrüche, als Anwender dieses Gedankens bei
trigonometrischen Rechnungen, bei der abgekürzten Multiplication
kennen gelernt haben, in die Reihe der erfindungsreichsten Rechner,
so spricht doch gerade Kepler in scharfer Weise das Urtheil aus,
welches dem Erfinder, falls er als solcher gelten will, die Pflicht
^) Gieswald 1. c. S. ."50 und häufiger. -) Ebenda S. 26. ^) Etsi homo
eunctator et secretorum suorum custos foetum in partu destituit, non ad usus
publicos jducavit.
730 74. Kapitel.
auferlegt; sein Eigenthum nicht zu verschliessen , sondern es der
Allgemeinheit dienstbar zu machen, und solches that Neper.
Neper wurde desshalb in unbestrittener Weise mit dem Ruhme
belohnt, das logarithmische Rechnen eingeführt zu haben, und wir
müssen nun seine Descriptio von 1614, seine Construdio von 1619,
welche wir schon erwähnt haben, als die trigonometrischen Leistungen
Neper's uns beschäftigten, nach ihrem wesentlichsten und wichtigsten
Inhalte kennen lernen. Damals machten wir (S. 703) auf einige
Schriften aufmerksam, welche Neper offenbar studirt hat. Pitiscus
erwähnt er selbst, das Studium Michael Stifel's glaubten wir wahr-
scheinlich machen zu können, und wenn unsere Muthmassung die
Wahrheit traf, so ist damit zugleich die Quelle erkannt, aus welcher
Neper unmittelbar das Gleiche entnahm, was Bürgi mittelbar aus ihr
schöpfte, den Gedanken, die Verbindung einer arithmetischen und
einer geometrischen Reihe für das praktische Rechnen fruchtbar zu
machen, indem ein für alle mal solche einander entsprechende Reihen
hergestellt wurden. Die Glieder der arithmetischen Reihe nannte
Neper Logarithmen^). Unabhängig von Stifel ist jedenfalls die
Art, wie Neper durch einen mechanischen Vorgang, durch das
Fli essen, fluxus, eines Punktes jede der beiden auf einander be-
zogenen Reihen entstehen liess. Das Wort fluere selbst entnahm er
er vielleicht Clavius (S. 556). Von einem Punkte A aus fliesst ein
Punkt B, welcher zuerst in der Zeiteinheit den Weg von A nach C
durchfliesst, in der zweiten Einheit den von C nach B u. s. w.^). Sind
die durchflossenen Wege einander gleich, so stellt die am Schlüsse
jeder der Zeiteinheiten vom Anfange der Bewegung an bis dahin
zurückgelegte Entfernung jeweils ein Glied der arithmetischen Reihe,
mithin einen Logarithmus dar. Nun findet aber eine zweite Be-
wegung^) gleichzeitig, synchronus motus, mit der ersteren statt, d. h.
eben dieselben Zeiteinheiten wie bei der ersten Bewegung werden bei
der zweiten der Betrachtung zu Grunde gelegt, nur ist der durch-
laufene Weg nicht in jeder Zeiteinheit derselbe. Er nimmt vielmehr
proportional ab. Ist in der 1. Zeiteinheit — des ganz zu durchfliessenden
Weges zurückgelegt, so liefert der Punkt in der 2. Zeiteinheit — des
noch übrigen Weges u. s w., oder die jeweils zurückgelegten Wege
') Neper, Descriptio pag. .5 Cap. 11, propositio 1: Proportionalium nume-
rorum, aut quantitatum, aeqiii-differentes sunt Logarithmi. ^) Ebenda pag. 1—2 :
Sit punctus A, a qtio clncenda sit Tinea fiuxu alterius pmicti, qui sit B; fluat
ergo jirimo momento B ab A in G, secundo momento a C in D etc. ^) Ebenda
pag. 3—4.
Rechnen. Logarithmen. 731
sind -, ±.'''-\ ±-.('1^11^.. Uebriff bleiben jedesmal noch
die Wege:
m — 1 1 /m
-ly
m ' m \
VI )
1 wi — 1
m m
m — 1
m
. ..„ . ... - Im— 1
(^)
1\2 1 (m — 1\2 [m — 1\3
«i \ m I \ m
d. h. die am Ende der einzelnen Zeiteinheiten noch übrigen Wege
stellen die fallende geometrische Reihe dar, welche der erstgebildeten
arithmetischen Reihe Glied für Glied zugeordnet ist.
Neper hat demnach zwei Reihen von entgegengesetzter
Wachsthumsrichtung. Während die Logarithmen zunehmen, neh-
men die Zahlen ab, mit zunehmenden Zahlen werden die Logarithmen
kleiner. Es ist das ein Gegensatz zu der Gewohnheit Bürgi's, ein
Gegensatz auch zu dem, was nicht lange später auch unter den
Berechnern von Logarithmen nach Neper'schem Vorbilde sich ein-
bürgerte.
Grundsätzlich war Neper auch schon 1614 für die von ihm ge-
troffene Einrichtung nicht eingenommen. Nur Nützlichkeitsgründe
bestimmten ihn. Es stehe, sagt er in einer Ermahnung an den
Leser ^), von Anfang frei, welchem Sinus und welcher Zahl man den
Logarithmus 0 beilegen wolle, häufig sei aber mit dem Sinustotus
(d. h. sin 90'^) zu multipliciren oder zu dividiren, dessen Logarithmus
also zu addiren oder zu subtrahiren, und da erscheine die Gleich-
setzung gerade dieses Logarithmus mit 0 zweckmässig, weil die ge-
ringsten Beschwerden hervorbringend. Ueberdies kommen meistens
Sinusse, beziehungsweise Zahlen vor, welche kleiner seien als der
Sinustotus. Diese habe er mit positiven, abundantes , Logarithmen
bedacht, andere mit negativen, defectivos, man hätte aber auch die
entgegengesetzte Wahl treffen können.
Die Tafel selbst ist in sieben Kolumnen auf jeder Seite geordnet,
und je zwei neben einander befindliche Seiten sind Winkelgraden ge-
widmet, welche oben am Blatte angegeben sind; am unteren Rande steht
die Zahl der Winkelgrade, welche die obere zu 89° ergänzt. In der
1. Kolumne sind von oben nach unten Minuten von 1 bis 30 und
von 30 bis 60 angegeben; in der 7. und letzten Kolumne wiederholt
^) Neper, Descriptio pag. 6: Ädmonitio. Erat quidem initio liberum cuilibet
sinui aut quantitati nullum seu 0 pro logarühmo atribuisse: sed praestat id prae
caeteris sinui toti accommodasse: ne unquam in posterum vel minimam molestiam
parturiret nobis addUio et suhtractio eins logarithmi in omni calculo frequen-
iissimi. Caeterum etiam qiiia sinuum et numerorum sinu toto minorum frequen-
tior est usus, eorum igiiur logarithmos abundantes ponimus: aliorum vero defec-
tivos, etsi contra fecisse initio liberum erat.
732 74. Kapitel.
sich diese Minutenaugabe von unten nach oben. Die 2. und 6. Ko-
lumne mit der Ueberschrift Sinus enthalten die Sinusse der zunächst
neben ihnen angegebenen Winkel, also auch die Cosinusse derjenigen
Winkel, deren Maass auf der gleichen Zeile, aber um Blattbreite
entfernt, angegeben ist. Die 3. und 5. Kolumne mit der Ueberschrift
Logarithmi enthalten die Logarithmen der daneben befindlichen
Sinusse. Endlich die 4. mittlere Kolumne ist Biffereniiae überschrieben
und enthält die Differenz der links und rechts stehenden Logarithmen.
Das sind die Logarithmen der Tangenten, da ja log sin rp — log cos (p
= log tang (p . Nehmen wir als Beispiel eine Zeile der rechts stehen-
den Seite desjenigen Blattes, welches die obere Bezeichnung Gr. 9,
die untere Gr. 80 führt, etwa die Zeile
46 I 1G96362 | 17740985 | 17594992 145993 | 9855068 | 14.
Der Sinn derselben ist:
sin 9° 46' = 1696362, sin 89" 14' = cos 9*^ 46' = 9855068,
log sin 9" 46' = 17740985, log cos 9» 46' = 145993,
log tang 90 46'= 17740985 — 145993 = 17594992.
Die Kolumnen der Sinusse und Cosinusse gestatten die doppelte Be-
nutzung der Tafel als logarithmisch-trigonometrische und zugleich
als logarithmische für Zahlen, vorausgesetzt, dass man noch rein-
trigonometrische Tafeln von ausreichender Genauigkeit zur Verfügung
hat. Man will z.B. log 137 finden^). Einer Secantentafel entnimmt
man 13703048 = sec 43° 8'. Nach Neper's Tafel ist
log cos 43° 8' =3150332,
und da log sec 43° 8' = ^ log cos 43° 8', so ist log 137 fast überein-
stimmend mit — 3150332. Freilich wäre bei Benutzung dieses Lo-
garithmen 137 als gleichwerthig mit 13703048 angesehen, während
zum mindesten der Unterschied zu beachten ist, dass letztere Zahl
um fünf Stellen zu lang ist. Diese nothwendige Correctur deutet
Neper durch Hinschreiben so vieler Nullen, als Stellen wegzulassen
waren, mit vorgesetztem Minuszeichen an. Er schreibt also
log 137 = — 3150332 — 00000.
Auch eine Proportionalrechnung muss Neper besessen haben, wie aus
vielfachen Beispielen hervorgeht. So ist einmaP) 6994224 Logarithme
des Cosinus eines gesuchten Winkels. Nach den Tafeln ist
log cos 60° 12'= 6992177, log cos 60° 13'= 6997258.
Neper behauptet, es sei 6994224 = log cos 60° 12' 24,f 3). An einer
*) Neper, Descriptio pag. 11. -) Ebenda pag. 53. =*) Richtiger wäre 24- •
Rechnen. Logarithmen. 733
früheren Stelle behält sich übrigens Neper ausdrücklich vor^), bei
anderer Gelegenheit ausdrücklich zu erörtern, wie auf das Genaueste
zu jeder Zahl der Logarithmus, zu jedem Logarithmen die Zahl ge-
funden werde. An einer noch früheren Stelle^) will er erst das
Urtheil der Gelehrten über die Tafel selbst kenneu lernen, bevor er
seine Methoden zur Herstellung derselben veröif entliche, und diese
Zusage wiederholt er am Schlüsse der Descriptio in einer Bemerkung
des letzten Blattes mit dem Zusätze: Nichts sei von Entstehung an
vollkommen, Nihil in ortu perfedmn.
Die Erfüllung der Zusage war der Zweck der Constructio. Diese
war, wie aus der Vorrede hervorgeht, noch vor der Descriptio ge-
schrieben. Die Logarithmen heissen in ihr noch numeri artificiahs,
der in der Descriptio eingeführte Kunstausdruck war demnach noch
nicht erfunden. Neper starb, ohne seine Anweisung zur Herstellung
der Logarithmentafel dem Drucke übergeben zu haben. Sein Sohn
Robert hielt es für seine Pflicht, die vorgefundene Handschrift zu
veröffentlichen, wenn sie auch der letzten Feile entbehrte, und so
erfolgte der Druck der Constructio von 1619, welcher ausserdem noch
Zusätze von Henry Briggs und Trigonometrisches von John
Neper, insbesondere Ausführlicheres über die Neper'schen Analogien
brachte ^).
Die geometrische Reihe, welche Neper bildete, und welche die
Zahlen enthielt, während deren Stellung in der Reihe als in arith-
metischer Folge stehend mit dem jedesmaligen Logarithmus verwandt
ist, hat eine sehr zusammengesetzte Bildungs weise mit Hilfe von
vier Reihen, welche Ä, B, C, D heissen mögen*). Die Reihe A be-
ginnt mit 10000000 und zieht bei jedem folgenden Gliede ein Zehn-
millionstel des vorhergehenden ab, mit anderen Worten hat als Factor,
mit welchem die Glieder fortwährend zu vervielfachen sind, um das
nächstfolgende zu bilden, den Bruch q^ = 0,9999999. Unter Benutzung
von sieben Decimalstellen, welche in der Constructio durch einen Punkt
von der ganzen Zahl getrennt sind, wie Neper es aber nicht bei
Pitiscus, den er freilich sowohl in der Descriptio als in der Rhab-
dologie wiederholt erwähnt, aber dessen Trigonometrie er nur in
der älteren Ausgabe gelesen hatte, kennen lernte^), ist also die
Reihenfolge der Glieder erstens 10000000, zweitens 9999999, drittens
^) Neper, Descriptio pag. 16, Admonitio. *) Ebenda pag. 7, Admonitio.
^) Beschreibungen der Constructio bei Kästner III, 72 — 86. — Klügel, Mathe-
matisches Wörterbuch III, 53.5 — 539. — G-ünther, Vermischte Untersuchungen
zur Geschichte der mathematischen Wissenschaften, S. 271 — 290. '') Neper,
Constructio pag. 12 — 16. ®) Briefliche Mittheilung von H. Gravelaar, wel-
cher diese Behauptung sehr wahrscheinlich zu machen weiss.
734 ''i- Kapitel.
9999998 • 0000001 , viertens 9999997 • 0000003, endlicli als hundert-
imderstes Glied 9999900 • 0004950. Die zweite Reihe B hat das erste
Glied mit Ä gemeinschaftlich und lässt ihm als zweites das letzte
Glied von Ä oder doch eine von demselben kaum abweichende Zahl
9999900 folgen. Zur bequemeren Uebersicht mögen die Glieder von
A durch a mit den Stellenzeigern 1 bis 101, die Glieder von B durch
h wieder mit Stellenzeigern versehen dargestellt werden, und wie
vorher g[i = ~ , möge jetzt g., = y^ sein. Nun war
&^ = a^ = 10000000, &2 = «101 = 9999900,
zwischen welchen die Glieder a.^ bis %oo eingeschaltet sind und mit
hl und ^2 ßiii© geometrische Reihe bilden. Die Reihe B wird mittels
q^ = YTT^i^TT^ fortgesetzt. Nach den uns schon bekannten h^ und h^
kommt 63 = 9999800 • 001000, b^ = 9999700 • 003000, endlich
&g^ = 9995001 -224804, statt welcher Zahl in Folge eines Rechen-
fehlers bei Neper 9995001 • 222927 angegeben ist. Wie die Glieder
«2 bis «100 zwischen \ und \ eingeschaltet waren, müssen mittels
des gleichen Factors q^ zwischen je zwei auf einander folgende h sich
99 Glieder a einschalten lassen, so dass die Gleichungen stattfinden
Z^i = «1, &2 = ^1017 ^^3 = ^201? ^51 = %oou ^^^^ ^^6S6 Reihe von 5001
Gliedern beginnt mit 10000000, endigt mit einer Zahl, welche nicht
sehr von 9995000 sich unterscheidet. Nun fährt man ähnlich fort
und verschafft sich eine Reihe C, deren Glieder c mit Stellenzeigeru
heissen. Man nimmt
f^ = &^ = a^ = 10000000, C2 = &51 = rfjooi = 9995000,
Cj 9995 1999
^3 ;^ 10000 ~" 2000 ■
Neper rechnet bis c.^^ = 9900473 • 5780, welcheg wenig verschieden
von 9900000 = d.i ist. Nimmt man bei der jetzt beginnenden Bil-
dung der Reihe D als Anfangsglieder d^ = q und das eben an-
d 99
gegebene de, , mithin g^ = -^ = — , so wird d.^ = q^
c^j übereinstimmen, wie d^ nahezu mit c^i, und man erhält wenig-
stens in naher Uebereinstimmung d^^ = ^35^ = 5048858 • 8900. Neper
rechnet aber noch ein d.jQ = c^^^^ = 4998609 • 4034 (indem er die
C- Reihe mittels des Factors q^ so weit fortsetzt) und betrachtet dieses
Schlussglied als in Uebereinstimmung mit 5000000 oder mit der Hälfte
des allen vier Reihen gemeinsamen Anfangsgliedes 10000000. Nun
haben wir schon erörtert, dass neben c^ = a^, Cg = %ooi stattfindet.
Der Stellenzeiger des mit Cjggi übereinstimmenden a ist daher
1 -f 1380 X 5000 = 6900001,
Reclinen. Logarithmen. 735
oder es ist eine geometrische Reihe von 6900001 Gliedern, mit den
GrenzgHedern 10000000 und 5000000 hergestellt, in welcher jedes
Glied ans dem ihm vorhergehenden durch Vervielfachung mit
q, = 0. 9999999
entsteht. Die Logarithmen zu diesen Zahlen müssen, wie wir schon
andeuteten, eine arithmetische Reihe bilden und vermöge dessen den
Ordnungszahlen oder den Stellenzeigern ihrer Zahlen verwandt sein,
ohne sich mit ihnen decken zu müssen.
Neper vergleicht in der Constructio wie in der Descriptio die
Bildung der geometrischen und der arithmetischen Reihe mit Be-
wegungen i) (Figur 143). Auf o T d S
der Linie hi bewegt sich ein . .
Punkt a mit gleichförmiger Ge-
schwindigkeit und legt in der . — . . .
Zeiteinheit den Weg hc zurück. rig. us.
Auf der Linie TS bewegt sich
gleichzeitig ein Punkt g, dessen Geschwindigkeit in T selbst mit
der von a übereinstimmt, aber fortwährend gleichförmig abnimmt.
In der ersten Zeiteinheit legt er den Weg Tel zurück. Denken wir
uns seinen Bewegungsanfang um eine Zeiteinheit zurückverlegt und
auch räumlich nach o verschoben, so muss wegen der gleichförmigen
Verlangsamung oS : TS = TS : dS sein. Daraus folgt
{oS—TS):TS=(TS — dS) : dS, (oS—TS) : {TS—dS) = TS:dS
und wegen TS^dS auch oT^Td. Der Punkt ist also zwischen
0 und T schneller, zwischen T und d langsamer als der Punkt a,
und man kann etwa die Schnelligkeit von a dem arithmetischen
Mittel der Bewegungen oT und Td gleichsetzen.
Darin liegt auf der einen Seite eine ungemein klare Begriffs-
fassung dessen, was man später Geschwindigkeit im Entstehungs-
zustande oder Streben nach Bewegung genannt hat, aber es liegt
noch mehr darin. Stellt TS eine ein für alle Mal gegebene Zahl,
dS einen bestimmten Werth einer veränderlichen Zahl und hc den-
Logarithmus von dS dar, so ist immer noch annähernd
bc = ^(oT+Td)
zu setzen. Sei etwa TS= 10000000, dS= 9999999, so ist
Td=l, oT= ^^^^ = ^^ = 1,00000010000001
und log 9999999 ziemlich genau auf 1,00000005 bestimmt, sofern
^) Neper, Constructio, pag. 20—21.
736 74. Kapitel.
wir der bei Neper noch nicht vorkommenden Abkürzungssilbe log
nns bedienen. Gleichzeitig setzt Neper log 10000000 = 0. Die Dif-
ferenz der arithmetischen Reihe der Logarithmen ist somit
1/J0000005 — "0 = 1,00000005,
der Gliederquotient der geometrischen Reihe der Zahlen ^-- ,
unser früheres q^. Bei der letzten Zahl der Neper'schen Rechnung,
bei 5000000, giebt die Descriptio als Logarithmen 6931469 an^), in
der Constructio dagegen heisst es^), die logarithmische Differenz
solcher Zahlen, die im Verhältnisse von 2 : 1 stehen, sei 6931469,22.
Aus diesem Logarithmus und ähnlicherweise aus einigen anderen
hat man in späterer Zeit die Basis von Neper's Tafeln herzustellen
unternommen^), wiewohl dieser Begriff Neper zunächst, wenn auch
nicht später, gerade so fremd war, wie er es Bürgi war. Die Rech-
nung zeigt erstlich, dass die Logarithmentafel Neper's zuvor einer
Division durch 10000000 in den Zahlen wie in den Logarithmen
bedarf, ehe man sie als eigentliche Logarithmentafeln betrachten kann,
zweitens, dass dann der Logarithme einer Zahl ti im Neper'schen
Systeme, welches als das von der Basis N bezeichnet werden mag,
keineswegs der natürliche Logarithme von u ist, oder mit an-
deren Worten, dass iV^ keineswegs 2,718281828 . . := e ist. In der
Neper'schen Tabelle steht
0,693146922 als Logarithmus der Zahl 0,5
gegenüber. Aber es ist
log nat. 2 = 0,6931472
fast ■ genau übereinstimmend mit dem bei Neper angegebenen Loga-
rithmen von — • Oder es ist iV'"^ ''''* - = • Daraus folgt aber
iV = - oder die Basis der Neper'schen Logarithmen ist —
Neper hat der Constructio noch einen Appendix hinzugefügf^)
und in diesem Anhange über Methoden der Logarithmenberechnung
sich ausgesprochen, welche unter der Voraussetzung Platz greifen,
dass die Zahl 1 den Logarithmus 0 besitze. Hier ist also
erstmalige, wenn auch nicht besonders hervorgehobene Ueberein-
stimmung zwischen Logarithmen und Exponenten, erstmalige An-
^) Neper, Descriptio bei log sin 30*. *) Neper, Constructio, pag. 39.
^) Wackerbarth in Les mondes XXVI, 26 und J. W. L. Glaislier in dem
Beport of tlie Committee of mathematical l'ables, pag. 71 — 73 (Separatabdruck aus
dem Beport of the British Association for the Advaneement of Science for 1873).
Dessen irrige Behauptungen sind widerlegt durch Kewitsch in der Zeitschr. f.
mathem. und naturwissensch. Unterricht XXVII, 321—333 (1806). *) Neper,
Constructio, pag. 48 — 54.
Rechnen. Logarithmen. 737
Wendung einer wirklichen Basis des Logarithmensystems, indem von
der Zahl gesprochen wird, welche 1 zum Logarithmus habe, und
zwar wird entweder 10 oder — als solche Zahl vorgeschlagen, deren
Logarithmus 1 mit beliebig vielen Nullen dahinter sein solle. Ist
1 = log 10, .so wird 0,2 = log (>/lo), 0,04= log (iVf/lo) u. s. w. bis
zur zehnmaligen Ausziehuug von Wurzeln 5. Grades. Neper scheint
indessen vor der furchtbaren Rechenaufgabe, welche er damit sich
und solchen, die seineu Spuren folgen wollten, stellte, zurück-
geschreckt zu sein, wenigstens giebt er keine einzige der Zahlen
wirklich an, deren Berechnung er doch selbst verlangte.
Dagegen lässt er eine Methode folgen, welche nur Quadratwurzel-
ausziehungen verlangt, und von deren Ergebnissen er wenigstens
einige anschreibt. Bei log 10 = 1 ist log 5 folgendermassen zu
suchen, log j/l • 10 = log 3,16227766017 = 0,5. Ferner
log"|/lO- 3,16227766017 = log 5,62341325191 = 0,75
u. s. w., wo man leicht sieht, wie man durch fernere Quadratwurzel-
ausziehung aus dem Producte von 3,16 ... in 5,62 ... zu einer
zwischen 4 und 5 liegenden Zahl mit dem Logarithmen 0,625 ge-
langt. Ueber die beiden auf 11 Decimalstellen hier angegebenen
Zahlen hinaus setzt Neper allerdings die Rechnung wieder nicht fort.
Endlich drittens lehrt Neper, wie man, immer unter der Voraus-
setzung log 10=1, nur durch fortgesetzte Multiplication die Loga-
rithmen zu finden im Staude sei. Bilde man das Product von
10000000000 Factoren, deren jeder 2 heisst, so entstehe eine Zahl
von 801029996 SteUen, und daraus folge log 2 = 0,301029996.
Sind die in jenem Anhange geäusserten Gedanken sämmtlich
Neper's Eigenthum? Es scheint nicht, aber ebensowenig scheint die-
jenige Auffassung richtig zu sein, welche Neper gar keinen Antheil
an den so wesentlichen Aeuderungen des ursprünglichen Gedankens
gestatten wilF). Edward Wright, dessen Name in der Geschichte
der Schifffahrtskunde und der Kartographie einen ehrenvollen Platz
einnimmt, war von Neper's Descriptio in hohem Grade entzückt. Er
sah die Grösse der Erfindung, ihre Tragweite für alle praktischen
Zwecke der Sternkunde in vollem Maasse ein, und setzte seine ganze
Kraft in Bewegung, zur Verbreitung der Logarithmen beizutragen.
Er übersetzte die Descriptio ins Englische und schickte die Hand-
schrift Neper zur Begutachtung. Dieser erklärte sich durchaus ein-
verstanden und befriedigt. Der Druck begann, aber bevor derselbe
') Glaisher 1. c. pag. 49— 52. — Ball, Ristory of the study of mathematics
at Cambridge, pag. 27 — 30.
Cantor. Geschichte der Mathem. II. 2. Aufl. 47
738 74. Kapitel.
161G vollendet war, starb Wright bereits 1015. Seine Einwirkung
war demnach nur geringfügig. Um so erheblicher war die von
Henry Briggs (1556 — IGSO). In Cambridge aufgewachsen begann
Briggs dort seine Lehrthätigkeit 1592. Vier Jahre später trat er in
eine damals durch eine Stiftung von Sir Thomas Gresham ge-
gründete und nach dem Stifter genannte Anstalt in London als Pro-
fessor und verblieb daselbst, bis er 1019 nach Oxford übersiedelte,
wohin er als erster Inhaber eines dort neu gegründeten Lehrstuhls,
der Savile'schen Professur der Geometrie, berufen wurde.
Als 1614 die Descriptio erschien, lebte Briggs demnach in London.
Das Werk entzückte ihn. Neu und wundervoll nannte er in einem
Briefe die Logarithmen. Sein Kopf und seine Hände seien jetzt in
voller Thätigkeit, und er hoffe im nächsten Sommer mit dem Ver-
fasser eines Buches zusammenzutreffen, welches wie kein anderes ihm
gefallen und sein Erstaunen erweckt habe^). Brigg's Wunsch erfüllte
sich durch einen 1615 Neper erstatteten Besuch, der bis zu einem
Monate sich ausdehnte, ein zweiter Besuch erfolgte 1616, ein dritter
war für 1617 in Aussicht genommen und unterblieb nur, weil Neper
am 4. April dieses Jahres schon starb. Gleich 1615 schlug Briggs
vor, der Zahl 10 den Logarithmen — 1 zuzuweisen, im Uebrigen
aber die Anordnung Neper's beizubehalten, d. h. die Zahl abnehmen
zu lassen, während der Logarithme positiv wachse. Neper ergänzte
den Vorschlag, welcher ihm ohnedies nicht ganz überraschend kam,
da ja er selbst schon daran gedacht hatte, die beiden Progressionen
etwas anders zu wählen^), dahin, der Zahl 10 den Logarithmus 1 zu
geben, also Zahlen und Logarithmen gleichzeitig wachsen zu lassen.
So muss man die im Anhange zur Constructio empfohlene Anordnung
als gemeinsames Eigenthum von Neper und Briggs löfetrachten. Die
Niederschriften müssen in der Reihenfolge stattgefunden haben, dass
erst die Constructio, dann die Descriptio, zuletzt und nicht vor 1616
der Appendix entstand. Briggs rechnete allein weiter und gab 1617
seine Logarithmorum Chilias prima heraus ^) , in welcher die Loga-
rithmen der Zahlen 1 bis 1000 für die Basis 10 auf 8 Decimalen
gerechnet waren. Briggs begnügte sich nicht damit. Er liess 1624
eine Ärithmctica logarühniica erscheinen, welche 14stellige Logarithmen
^) Neper , lord of Murkinsto}i, , hath sei my head and liands at icork witli
Ins new and admirable logarithms. I hope to see Mm this summer, if it please
God; for I never saw a book wliich pleased me better, and made me more wonder.
-) Neper, Descriptio pag. 5 Admonitio. *) Wir folgen in der Angabe der
Jahreszahlen Glaisher 1. c. Andere setzen die Besuche Briggs' bei Neper in
die Jahre 1615 und 1617, Neper's Tod 1618 und in eben dieses Jahr den Druck
der CJnlias prima.
Rechnen. Logarithmen. 739
der Zahlen von 1 bis 20000 und von 90000 bis 100000 (in einzelnen
Abzügen bis 101000) enthielten.
Die Neper'schen Logarithmen fanden ihren ersten Neubearbeiter
in Deutschland in der Person von Benjamin Ursinus^), ursprüng-
lich Behr (1587^ — 1633 oder 1634). Er ist in Schlesien geboren, in
Frankfurt a. d. 0. als Professor an der dortigen Universität gestorben.
Bevor er nach Frankfurt berufen wurde, war er seit 1615 am
Joachimsthal'schen Gymnasium in Berlin thätig, und dort erschienen
seine logarithmischen Schriften; der Druckort Köln ist demnach als
Köln an der Spree, nicht als Köln am Rhein zu verstehen. Die
Descriptio war noch nicht lange erschienen, so gab Ursinus 1618
mit einer sogar schon vom 17. Mai 1617 datirten Vorrede eine Tri-
gonometria logarWimica loJiannis Neperi heraus. Es ist die Tafel der
Descriptio, nur überall, in Zahlen wie Logarithmen, um die zwei
letzten Stellen gekürzt. Dazu gehörte allerdings keine eigene Arbeit.
Ursinus liess aber 1624 seinen Magnus Canon Triangulorum Loga-
rithmicus folgen, welcher um eine Stelle über Neper hinausging. Die
Winkel, deren Sinus nebst deren Logarithmen angegeben sind, wachsen,
in Zwischenräumen von je 10". Einzelne Sinusse sind zur schärferen
Prüfung anderer aus ihnen abgeleiteter besonders genau berechnet,
nämlich für einen Halbmesser 10^**. Ihn wandte Ursinus beispiels-
weise bei den Winkeln von 30, 45, 18, 72, 36, 54, 9 Graden an.
Sei es beim Druck, sei es wahrscheinlicher bei der Rechnung,
schlichen in der letzten gegen Neper's Tafel neu hinzugetretenen
Stelle sich manche von Ursinus nachträglich erkannte Fehler ein. Die
Berliner Bibliothek besitzt ein Exemplar, in welchem die nöthigen
Verbesserungen dieser letzten Ziffer von Ursinus' Hand vielfach vor-
kommen. Ein Jahr früher als der grosse Canon erschien, veran-
staltete Ursinus auch eine deutsche Ausgabe der Neper'schen Rab-
dologie ").
Nächst Ursinus war Kepler um die Verbreitung der Neper'schen
Logarithmen in Deutschland bemüht, eine Thatsache, welche um so
auffallender erscheinen könnte, als diese Bemühungen 1620 beginnen,
genau in dem Jahre des Druckes von Bürgi's Progresstafeln,
und dass von diesen gar nicht die Rede ist. Bei den freundschaft-
lichen Beziehungen Keplers zu deren Erfinder können wir uns die
Sache kaum anders vorstellen, als dass Kepler über die Saumseligkeit
Bürgi's, der selbst den gedruckten Tafeln den versprochenen gründ-
^) Neiser, Constructio pag. 157—160. — Kästner III, 87—91. — Klügel,
Mathematisches Wörterbuch 111,541 — 542. — Gerhardt, Math. Deutschi.
S. 1-20—122. -) Neper, Constructio, pag. 152— 153.
47*
740 74. Kapitel.
liehen Unterricht beizugeben noch zögerte, erzürnt war, dass er dess-
halb damals sich nicht bemüssigt fühlte, für einen wenn auch be-
freundeten Mann einzutreten, der mit den gedruckten Belegen seiner
Leistungen zurückhaltend Kepler's etwaiger Absicht, ihm zu nützen,
jeden festen Boden entzog, dass Kepler dagegen die schon veröffent-
lichten Neperschen Tafeln für so unendlich wichtig hielt, dass er
ihre Benutzung zu empfehlen als wissenschaftliche Pflicht erachtete.
Mit blossen Empfehlungen begnügte ein Kepler sich nicht ^). Er
hatte gleich nach Erscheinen der Descriptio von ihr gehört, wenn
auch in etwas anzweifelndem Tone. Er hatte dann durch des Ursinus
Trigonometria logarithmica einen etwas genaueren Einblick gewinnen
können. Er gelangte endlich im Juli 1619 in Linz in den Besitz
der Descriptio selbst. Die georhetrisch- mechanische Einkleidung,
welche in der Descriptio, wenn auch nicht so ausgeführt wie in der
Constructio , hervortrat , behagte den deutschen Gelehrten im All-
gemeinen nicht, und Kepler machte darin keine Ausnahme. Auch
die Anordnung der Neper'schen Tafel nach gleichmässig wachsenden
Winkelgraden, deren trigonometrische Functionen eine nicht gleich-
mässig sich ändernde Zahlenreihe bildeten, sagte ihm nicht zu und
in beiden Beziehungen wollte er bessernde Hand anlegen. Zu Maass-
zahlen von Verhältnissen, ägtO-^ol rot) ^.öyov, werden ihm die Loga-
rithmen, und er berechnet sie nicht in der verhältnissmässig be-
quemen Weise Neper's mittels fortgesetzter Subtractionen gleicher
und zwar einfacher Bruchtheile, sondern durch fortgesetzte Berech-
nung mittlerer geometrischer Proportionalzahlen, also ähnlich wie es
im Anhange zur Constructio vorgeschlagen ist, wobei allerdings nicht
zu vergessen ist, dass Kepler in dem, was er unterliess, wie in dem,
was er that, ganz unabhängig dasteht, indem die Descriptio die Tafeln
zwar enthielt, aber ihre Herstellung nicht lehrte. Die Veränderung
der Anordnung, welche Kepler vornahm, bestand darin, dass er die
Zahlen in arithmetischer Progression zunehmen liess. Freilich setzte
er die Winkelgrössen, als deren Sinusse die Zahlen zu betrachten
seien, wie es bei Neper der Fall war, in einer ersten Kolumne
nebenan, aber während, wie wir erst gesagt haben, bei Neper Regel-
mässigkeit der Zunahme in der ersten, Unregelmässigkeit derselben
in der zweiten Kolumne stattfand, war es bei Kepler umgekehrt.
Die Zahlen der zweiten Kolumne zeigen gleichbleibende, die der ersten
veränderliche Zunahme. Im Uebriwen herrscht selbstverständlich
') Kästner, Geometrische Abhandlungen, I. Sammlung (Göttingen 1790),
S. 495—508. — Gerhardt, Math. Deutschi., S. l-24-l'29. — Glaisher 1. c.
pag. 73—74.
Rechnen. Logarithmen. 741
zwischen den Tafeln Kepler's und Neper's Uebereinstimmung des
Planes. Auch bei Kepler gehörte zur grösseren Zahl der kleinere
Logarithmus j und wo in den Tafeln Neper's und Kepler's gleiche
Zahlen irgend einmal vorkommen, weichen deren Logarithmen höch-
stens in den allerletzten Stellen von einander ab, eine Folge der
verschiedenartigen Berechnung bei gleichartigem Grundgedanken.
Kepler's Tafel, die Zahlen 1 bis 1000 enthaltend, wurde im Winter
1621 auf 1(322 vollendet. Er fügte ihr eine Demonstratio structurae
logarWtmorum in 30 Lehrsätzen bei und schickte das druckfertige
Werk seinem alten Lehrer Mästlin, dem Tübinger Astronomen, zu,
welchem er fortgesetzt die Zuneigung eines dankerfüllten Schülers
bewahrte. Mästlin, der früher, wie oben angedeutet wurde, Neper's
Tafeln grosses Misstrauen entgegenbrachte, sollte die Kepler'sche
Arbeit prüfen, sollte sie einem der Tübinger Drucker zur Herausgabe
empfehlen; aber sei es, dass jenes frühere Misstrauen ihn nicht ver-
lassen wollte, sei es, dass er etwa früher allzu wegwerfend von der
neuen Erfindung gesprochen hatte, als dass es ihm möglich gewesen
wäre, nunmehr selbst einer Logarithmentafel zum Drucke zu verhelfen,
er erfüllte Kepler's Wunsch nicht. Das Manuscript lag nutzlos in
Tübingen. Erst ein Jahr später wandte sich Kepler an einen hoch-
gestellten Gönner, den Landgrafen Philipp von Hessen-Butz-
bach, welcher einen gelehrten Briefwechsel mit ihm eröffnet hatte,
mit der Bitte, ob dieser nicht für den Druck der Tafeln etwas thun
wolle. Die Bitte fiel auf den denkbar günstigsten Boden. Der fürst-
liche Freund der Sternkunde Hess die Handschrift sofort nach Mar-
burg kommen und dort drucken, ohne dass Kepler davon erfuhr, bis
1624 die Chilias Logarithnoi'um ad totidem numerus rotimdos erschien.
Eine Anweisung zum Gebrauche der Logarithmen hatte Kepler zuerst
nicht niedergeschrieben. Auf den Wunsch des Landgrafen verfasste
er sie nachträglich, und im folgenden Jahre 1625 erschien in acht
Kapiteln Kepler's Supplementum Chiliadis Logarithmorum continens
pra£cepta de eorum usu. Kepler benützte diese Logarithmen in seinen
1627 herausgegebenen Rudolphinischen Tafeln. Er beabsichtigte auch
eine Veröff'entlichung in erweitertem Umfange, aber sein 1630 erfol-
gender Tod unterbrach das begonnene Unternehmen.
Jacob Bartsch^), Kepler's Schwiegersohn, führte es zu Ende.
Er war 1600 in Lauban in der Lausitz geboren und starb ebenda
1633, als er im Begriffe* war, eine Stellung als Professor der Astro-
nomie in Strassburg anzutreten. Die Tahidae novae logarlthmico-
^) Kästner III, 92. — Poggeudorff I, 111. — R. Wolf, Geschichte der
Astronomie, S. 304.
742 74. Kapitel.
logisticae sind 1630 in Sagan gedruckt, an demselben Orte 1631 die
Tdbulae nianuales logarithmicac I. Kepleri et I. JBartschii.
Die ausführlichste Tafel Neper'scher Logarithmen ist die von
Peter Crüger^) (1580 — 1639) aus Königsberg, Lehrer der Mathe-
matik lind Poesie am Gymnasium zu Danzig seit 1607. Seine Praxis
trigonometriae logarWunicae mm Logarithmorum tahulis ad triangula
tarn plana quam spliaerica sufficientihns trägt die Jahreszahl 1634. Das
Bemerkenswerthe an seinen Tafeln ist die Trennung der Zahlenloga-
rithmen von denen der trigonometrischen Functionen. Wenn bei
Neper die Aufsuchung der Logarithmen einer ßruchtheile nicht mit
sieh führenden Zahl meistens eine Interpolationsrechnung nöthig
machte, wenn bei Kepler das Gleiche der Fall war, so oft der Loga-
rithme einer trigonometrischen Function eines in Graden und Minuten
ohne sonstige Bruchtheile gegebenen Winkels verlangt wurde, so
wollte Crüger beide Unannehmlichkeiten vermeiden. In einer ersten
Tafel stellte er desshalb die Logarithmen der ganzen Zahlen von 1
bis 10000 zusammen. In einer zweiten Tafel folgten die Logarithmen
der Sinusse und Tangenten aller Winkel von Minute zu Minute
unter Angabe der Proportion altheile für je 10". Die Sinusse selbst
sind nicht mit abgedruckt, und darin liegt eine Schmälerung des
Tafelinhaltes gegen die ursprüngliche Neper'sche Anordnung. Bei
Neper hatten die Logarithmen der trigonometrischen Tangenten, wie
wir uns erinnern (S. 732), die mittelste Stelle inne. Crüger nannte
sie, offenbar aus diesem Grunde, Mesologaritlimi . Eine dritte Tafel
enthält die Logarithmen der Sinusse der von Secunde zu Secunde
wachsenden Winkel des ersten Winkelgrades. Endlich ist eine vierte
Tafel beigefügt, als deren Berechner Bartsch genannt wird. Sie
liefert die Logarithmen der Cosinusse der Winkel bis zu 1"41' in
Zwischenräumen von je 2" unter dem Namen der Antilogarühmi, den
man sich daher wohl hüten muss in dem Sinne zu verstehen, welchen
das Wort nachmals erhalten hat. Es kann auffallend erscheinen, dass
Crüger noch 1634, nachdem, wie wir bald sehen werden, die Briggi-
schen Logarithmen auch in Deutschland schon Eingang gefunden
hatten, dennoch das Neper'sche System seiner Bearbeitung zu Grunde
legte. Er fühlte selbst, dass sein Verfahren einer Rechtfertigung be-
durfte und sprach sie aus. Für ihn gab der Umstand den Ausschlag,
dass alle Rechnungen der Rudolphinischen Tafeln mit Hilfe von
Neper'schen Logarithmen ausgeführt, beziehungsweise gelehrt waren,
und so lange die Hauptbenutzer der Logarithmen Astronomen waren.
*) Kästner, Geometrische Abhandlungen, I. Sammlung, S. 508 — 511.
Poggendorff I, 501.— Gerhardt, Math. Deutschi., S. 122— 124.
Rechnen. Log-aritlimen. 743
so lange diese wesentlich des in den Rudolphiniselien Tafeln anf-
gezeichneten Materials sich bedienten, war es wohl gerechtfertigt, be-
sondere Rücksicht auf eben jene Tafeln zu nehmen.
Wir kehren zu Briggs und dessen 1617 und 1624 gedruckten
Logarithmentafeln zurück. Er beabsichtigte eine Ergänzung derselben
durch logarithmisch -trigonometrische Tafeln und hinterliess 1631 bei
seinem Tode eine auf 10 Decimalen berechnete nahezu vollendete
Tafel , welche die Eigenthümlichkeit besass ^) , den Winkelgraden
decimale Unterabtheilungen beizulegen, also mit deren sexagesimaler
Theilung in Minuten und Secunden, der mehrtausendjährigen Gewohn-
heit, zu brechen. Wohl wurde diese Tafel, wie wir noch sehen
werden, 1633 gedruckt aber die wichtige Neuerung, welche sich,
wenn Briggs' Tafel die erste für die Basis 10 veröffentlichte gewesen
wäre, vermuthlich eingebürgert hätte, ging nun verloren, denn es
waren bereits Tafeln vorhanden, welche die Basis 10 bei sexagesi-
maler Winkeltheihmg benutzten, ihren Besitzern also nicht das Auf-
geben des zur zweiten Natur Gewordenen auferlegte.
Der Verfasser dieser schon 1620 gedruckten auf 7 Decimalen
sich erstreckenden logarithmisch -trigonometrischen Tafel war Ed-
mund Gunter^), und sein Vorgang beherrschte die künftige Zeit.
Wir haben (S. 691) Gunter als Erfinder einer Art von Proportional-
zirkel kennen gelernt. Im Jahre 1624 fertigte er Rechenstäbe an,
welche beim logarithmischen Rechnen in Gebrauch genommen wer-
den sollten, ähnlich wie die Neper'schen beim gewöhnlichen Rechnen.
Sie erhielten den Namen Gunter's Scale ^).
Die Tafeln von Briggs von 1624 gaben, sagten wir (S. 738),
14stellige Logarithmen der Zahlen von 1 bis 20000 und von 90000
bis 100000, beziehungsweise 101000. Eine grosse Lücke von 20000
bis 90000 war noch auszufüllen, und Briggs war emsig mit dieser
Arbeit beschäftigt, aber ohne sein Wissen und Zuthun hatte ein
Anderer, der die Arithmetica logarithmica von 1624 kennen gelernt
hatte, an die gleiche Arbeit sich gemacht: Adriaen Vlack'^j. Ueber
Vlack's Geburtsjahr sind wir nicht unterrichtet. Wir wissen nur,
dass er in der holländischen Stadt Gouda geboren ist, einer ange-
sehenen Familie angehörte, dass er wissenschaftliche Bildung besass,
insbesondere der lateinischen Sprache mächtig war, dass es ihm auch
an mathematischen reicheren Kenntnissen nicht fehlte, dass er in-
') Glaisher 1. c. pag. 6.5—64. -) Ebenda pag. 65. ^; Poggendorff
I, 980. Eine Beschreibung von Gunter's Scale gab John Robertson in den
Phüoaophical Transactions, Vol. 48, Part. I, pag. 96 sqq. ^) Kästner IE, 97 —
98. — Glaisher 1. c. pag. .51 — 53. — Bierens de Haan, Boiiwstoffen etc.
pag. 1 — 25 und 1*— 37.
744 74. Kapitel.
dessen nie dem Lehrberufe oblag. Im Jahre 1626 war er in seiner
Vaterstadt bei der buehhändlerischeu Firma Pieter Rammaseyn be-
schäftigt, der er vielleicht als Theilhaber angehörte. Von 1633 —
1642 lebte Vlack in London als Buchhändler, wesentlich dem Ver-
triebe von in Holland bei dem eben genannten Geschäfte erschiene-
nen Werken sich widmend. Da vollzog sich in England die grosse
staatliche Umwälzung, welche nach 16jährigen Kämpfen 1649 zur
Hinrichtung Karl L, nach weiteren elf Jahren 1660 zur Wiederein-
setzung des Königthnms führte. Es scheint gewiss, dass persönliche
Gefahren, welche Vlack bei Beginn jener bürgerlichen Entzweiungen
lief, seine vielleicht etwas beschleunigte Abreise aus dem ihm
ungastlich gewordenen Lande veranlassten. Er siedelte 1642 nach
Paris über, wo er bis 1648 verweilte, um sich dann im Jahre des
westfälischen Friedens als Buchhändler im Haag niederzulassen. Dort
lebte er noch 1655, und einer Vorrede eines damals bei ihm gedruck-
ten Buches entstammen die angegebenen Einzelheiten. Während der
Gouda'schen Zeit stand Vlack einem dortigen Feldmesser und Lehrer
der Mathematik Ezechiel de Decker nahe, und beide zusammen
studirten die auf Logarithmen bezüglichen Schriften, welche in England
gedruckt worden waren, wobei De Decker, als des Lateinischen un-
kundig, mindestens ebensosehr der Beihilfe Vlack's bedurfte, als diesem
De Decker's mathematische Unterstützung erwünscht sein mochte.
Neper's Descriptio von 1614, dessen Rabdologia von 1617, dessen
Constructio von 1619, Gunter's Canon triangulorum von 1620 und
von 1623, endlich die Arithmetica logarithmica von Briggs von 1624
wurden gemeinschaftlich durchgearbeitet. Bei diesen Studien kam
der Plan zur Reife, in holländischer Spi-ache und unter dem Titel
Niemve Tellonst, neue Zahlenkunde, den Lihalt jener Werke neuer-
dings zu veröffentlichen; und in der That erschien 1626 bei Pieter
Rammaseyn in Gouda, d. h. also unter Vlack's buchhändlerischer Bei-
hilfe, ein erster Band der Nieuwe Telkonst. Den Inhalt bildet
Neper's Rabdologie durch Adriaen Vlack aus dem Lateinischen über-
setzt, kaufmännische Rechnungsvortheile , Zinstafeln u. s. w. von
De Decker, endlich Stevin's Rechnung mit Decimalbrüchen. Das
Format war Quart. Im gleichen Jahre 1626 erschien aus der gleichen
Druckerei ein Octavband, welcher ebenfalls Nieuwe Telkonst über-
schrieben ist, aber nur De Decker als Herausgeber nennt und Vlack's
Namen ganz verschweigt, auch die Bezeichnung als zweiter Band
vollständig vermissen lässt; dagegen sind auf dem Titelblatte neben
Neper auch Briggs und Gunter als Quellenschriftsteller erwähnt.
Ein zweiter Band der Nieuwe Telkonst, der in dem ersten Bande
von Vlack und De Decker in Aussicht gestellt worden war, ist niemals
Rechnen. Logarithmen. . 745
erscliieneu, inui docli war er als der imüangreicliere angekündigt.
Man nimmt au, als Ersatz für ihn habe die ÄrifJimetica logarit/onica
dienen sollen, welche als stattlicher Foliant 1628 von Rammaseyu's
Druckerwerkstätte ausging. Bei ihr ist jetzt De Decker's Name weg-
geblieben, während Neper und Briggs auf dem Titelblatte weiter
erscheinen. Vlack von Gouda nennt sich bescheiden der Vermehrer
der zweiten Ausgabe^). Die Vermehrung besteht in der Ausfüllung
der bei den Briggischen Tafeln von 1624 noch vorhandenen Lücke,
so dass, indem auch die von Briggs berechneten Logarithmen nur
um 4 Decimalen gekürzt wieder abgedruckt waren, jetzt die zehn-
stelligen Logarithmen sämmtlicher Zahlen von 1 bis 100000 vereinigt
im Drucke vorlagen. Irgend eine Vereinfachung des Druckes Avar
nicht vorhanden, vielmehr war zu jeder Zahl der Logarithme voll-
ziffrig mit Einschluss der Charakteristik abgedruckt. Am 25. October
1628 richtete Briggs einen Brief an John Pell^), in welchem die
Ausgabe besprochen wird. Vlack habe davon 1000 Exemplare in
lateinischer, holländischer und französischer Sprache gedruckt, und
die meisten seien bereits verkauft. Dieser fast unglaublich rasche
Verkauf erklärt sich dadurch, dass eine Anzahl von Exemplaren in
den Besitz eines Londoner Buchhändlers Miller übergegangen sein
wird. Wenigstens gab dieser 1631 Logarithmentafeln heraus, welche,
abgesehen von einer Vorrede in englischer Sprache, so vollständig
mit der Arithmetica logarithmica übereinstimmen, dass man schon
daraufhin den Verdacht hegen konnte, es handle sich nur um eine
neue Titelausgabe, ein Verdacht, der sich zur Grewissheit erhob, als
man in einzelnen englischen Exemplaren noch an dem unteren Rande
der Blätter holländische Druckvermerke wahrnahm, welche man bei
ihm zu entfernen vergessen hatte. Was die Zuverlässigkeit der Vlack-
schen Berechnung betrifPt, so sind in seinen Tafeln im Ganzen etwa
oOO Fehler nachgewiesen worden, welche nicht auf die letzte Deci-
male der Logarithmen sich beziehen^).
Man kann die Vermuthung kaum zurückweisen, dass der starke
Absatz, welchen Vlack's Arithmetica logarithmica in England fand,
mit zu den Beweggründen gehörte, die den Herausgeber 1633 zur
Uebersiedelung veranlassten, in demselben Jahre, in welchem wieder
ein neues Logarithmenwerk bei Rammaseyn herauskam, welches nicht
zum mindesten auf den englischen Vertrieb angewiesen war, die
Trigonometria Britannica von Henry Gellibraud'*) (1597 — 1637),
^) Editio secunda aucta per Adrianum Vlack Goiidanum. ^) Phüosophical
Magazine vom Mai 1873. ^j Glaisher 1. c. pag. 53. *) Kästner III, 98—
99. — Glaisher I. c. pag. G4. — Poggendorff I, 870—871.
746 74. Kapitel.
der als Theologe begann, dann im Mannesalter der Mathematik sich
zuwandte, seit 1627 der Nachfolger Gunter's in der astronomischen
Professur am Gresham- College war. Gellibrand's Mitwirkung an der
Trigonometria Britannica war keine sehr bedeutende. Wenig mehr
als die Einleitung rührt von ihm her. Die Tafeln sind solche, die
er bereits fertig berechnet vorfand, z. B. die früher erwähnte loga-
rithmisch-trigonometrische Tafel von Briggs, welche auf der Ein-
theilung eines Winkelgrades in Centesimaltheile sich aufbaut.
Und wieder in demselben Jahre 1633 brachte die gleiche Druckerei
ein Tabellenwerk unter Vlack's eigenem Namen, die Trigonometria
ariificialis sive magnus Canon triangulorum logarithmicus. Die Loga-
rithmen sind zehnstellig, die Winkel, für deren trigonometrische Func-
tionen man dort die Logarithmen findet, wachsen in Zwischenräumen
von je 10". Vlack hat durch seine rechnerischen Bemühungen, durch
seine buchhändlerische Thätigkeit entschieden am meisten zur Ver-
allgemeinei-ung des Gebrauches Briggischer Logarithmen beigetragen,
und dieses Verdienst wird ihm nicht geschmälert, wenn auch einige
andere Mathematiker gleichzeitig, aber mit geringerem Eifer, jeden-
falls mit geringerem buchhändlerischem Erfolge, das gleiche Bestreben
an den Tag legten.
Hier wäre etwa zunächst Edmund Wingate^) (1593 — 1656)
zu erwähnen, ein Londoner Advocat, der aus Liebhaberei auch mathe-
matische Studien betrieb. Er ging 1624 auf einige Jahre nach Paris
und veröffentlichte dort erst eine Nachahmung der Gunter'schen
Rechenstäbe: Constriiction , description et iisage de Ja regle de Pro-
portion, dann 1626 eine Ärithmetique logarithmique, von welcher eine
englische Uebersetzung 1635 in London erschien.
Denis Henri on^), Professor der Mathematik in Paris, gab dort
1626 einen Traicte des logarithmes heraus, die erste in Frankreich
gedruckte eigentliche Logarithmentafel.
In Deutschland folgte Johann Faulhaber^), welcher in seiner
Ingenieurs- Schul von 1630 lehrte, wie man trigonometrische Rech-
nungen logarithmisch zu vollziehen habe. Die Berufung auf Vlack
und Briggs, welche neben Neper, Pitiscus, Bernegger auf dem Titel-
blatte erscheinen, lässt erkennen, dass hier vermuthlich zuerst in
Deutschland die Neper'schen Logarithmen verlassen sind.
Kehren wir zu dem Jahre 1633 zurück, aus welchem wir schon
zwei Tafel werke zu erwähnen hatten, so lernen wir es als das Ver-
') Marie, Histoire des sciences mathematiques et physiques III, 225 — 226.
'j Ebenda III, 226. — Glaisher 1. c. pag. 106 und 151. ») Ebenda pag. 99
und 148.
Rechnen. Logarithmen. 747
öffentlichungsjahr noch eines drftten bedeutsamen Bandes kennen.
Nathaniel Roe's^) Tafeln der Briggischen Logarithmen der Zahlen
von 1 bis 100000 zeichnen sich nämlich in doppelter Weise aus.
Erstens ist es eine durchweg siebenstellige Logarithmentafel und aus der
zehnstelligen Vlack'schen Tafel durch Weglassen von drei Endziffern
gebildet. Von der etwaigen Erhöhung der letztbleibenden Ziffer um
eine Einheit, wenn die gestrichenen Stellen den Werth 500 erreichen
oder übertreffen, ist dabei nicht die Rede. Zweitens ist ein Schritt
zur übersichtlichen und raumsparenden Anordnung der Tafel voll-
zogen. Die Zahlen stehen, soweit sie von den Hundertern aufwärts
reichen, an der Spitze der Logarithmencolumnen, die beiden Rand-
ziffern von 00 bis 99 sind daneben gedruckt. Bei den Logarithmen
sind die vier Anfangsstellen links, also die einziffrige Charakteristik
und die drei ersten, Decimalen, gleichfalls abgesondert gedruckt, wäh-
rend die vier letzten Stellen dann bei jeder Zahl voll gedruckt sich
finden.
Die Vollendung der Raumersparniss durch Umwandlung der Lo-
garithmentafel in eine Tafel doppelten Einganges, als welche sie
gegenwärtig allzubekannt ist, als dass sie einer besonderen Be-
schreibung bedürfte, vollzog John Newton^) in seiner Trigono-
metria Britannica von 16,58, welche nicht mit der früher erwähnten
1633 in Gouda gedruckten Trigonometria Britannica verwechselt wer-
den darf, so wenig wie der Herausgeber mit dem berühmten Verfasser
der Philosophiae naturalis principia mathematica. Die Newton'schen
Logarithmen sind die ersten achtstelligen gewesen.
Eine eigenthümliche Methode zur Berechnung Briggischer Loga-
rithmen hat Huygens 1666 der Pariser Academie in einer ihrer
ersten Sitzungen vorgelegt^). Man solle y 10 und y 10 durch wieder-
holte Quadratwurzelausziehung berechnen. Nach Multiplication mit
d = 10^^ zur Entfernung der Decimalbrüche wird der erstere Werth
a = 10746078283213, der zweite h = 10366329284377. Alsdann
wird '^-^-i^^^^-TT + 40Z> — 3a — 3d = 559661035184532 gebildet
und diese Zahl mit a — h vervielfacht. Wieder ganzzahlig geschrieben
erscheint das Product p = 4175509443116778. Soll dann etwa
log 2 gesucht werden, so berechnet man wieder unter Weglassung
der Decimalkomma
/■ = '|/2 = 102189171486541 und g = ^2 = 10108892860517.
>} Glaisher 1. c. pag. l24 und 159. -) Ebenda pag. 118 und 156.
^) Durch J. Bertrand aus den bisher ungedruckten Protokollen veröflFentlicht
in den Comptes rendus de VAcademie des Sciences LXVI, 565 — 567 (1868).
748 «'S. Kapitel.
Mittels d, f, (j bildet mau eine Hilfsgrösse gauz ähuliclier Art wie
vorher mittels d, a, h, uämlich
3d~l^^Ag + "^^^ ~ '^f~ ^'^ = 545869542830178
i;nd multiplicirt sie mit a — • Man erhält das Product
q = 1256953589206.
Dann ist endlich jKg = f?:log2 und log 2 = 30102999567 natürüch
immer ohne Decimalkomma. Die zehn ersten Stelleu von links sind
richtig, die elfte ist um eine Einheit zu hoch. Einen Beweis dieses
Verfahrens scheint Huygens nicht vorgelegt zvi haben, wenigstens
hat ein solcher nicht unter den Protokollen der Akademie aufs^efunden
werden können.
75. Kapitel.
Erftndiiii,:? von .Methoden. Wahrsclieinlichkeitsreclinnng.
Kettenbrüche. Aufgabensammlungen.
Nach der Entwickelungsgeschichte der Lehre von den Loga-
rithmen kündigten wir (S. 719) ein Eingehen auf Untersuchungen
an, welche die Vorläufer der späteren algebi-ai scheu Analysis genannt
zu werden verdienen.
Insofern die sogenannten Wortrechnungen, denen Michael
Stifel, wie wir uns erinnern, nur zuviel Zeit und Mühe widmete, statt
der Buchstaben ihnen entsprechende Zahlen aus der Reihe der natür-
lichen Zahlenfolge oder aus der der Dreieckszahlen einsetzten, gaben
sie Veranlassung, mit diesen Dreieckszahlen sich näher zu beschäf-
tigen, aber auch sonstige Zahlenreihen zu untersuchen. Die Wort-
rechner erwarben sich dadurch wenigstens mittelbar einige Verdienste.
Unter ihnen ragt nächst Stifel Johann Faulhaber ^) von Ulm
weit hervor und nach ihm sein Freund und Mitarbeiter Johann
Kemmelin. Von 1612 bis 1619 gaben diese Beiden Schriften heraus,
in welchen die Lehre von den arithmetischen Reihen wesentliche
Fördenmg fand. Faulhaber gab Summen formein für die Poten-
zen der aufeinanderfolgenden Zahlen der natürlichen Zah-
lenreihe bis zur Summe der elften Potenzen einschliesslich.
Er sagt zwar nirgend, wie er zu diesen Formeln gelangte, es kann
aber kaum ein Zweifel sein, dass er sich fortgesetzte Differenzen-
Kästner ni, 29—33 und 114—124.
p]rfiiuUmg vou Methoden. Wahrsclieinliohkeitsreclin. Kettenbrüclie u. s. w. 749
reihen bildete, dass er so den Begriff der arithmetischen Reihe
höherer Ordnung gewann, dass er von ihm aus empirisch die
Summenformel sich verschaffte und mit dem Zutreffen in einigen
wenigen Fällen statt jeden Beweises sich begnügte. Es war also eine
ungenügende Induction, auf welche Faulliaber sich verliess, und nur
die G^uld und der rechnerische Scharfsinn sind zu rühmen, welche
auf so wenig gesichertem Boden sich mit Glück zu bewegen ver-
mochten.
" Die Zeit war gekommen, in welcher die ungenügende Induction
der sogenannten vollständigen Induction den Platz räumen
musste, oder anders ausgesprochen: die Erfindung des Beweises
von n auf n -\- 1 stand bevor, und der ihn lieferte, war Blaise
Pascal. Die Zeit der Erfindung genau anzugeben ist nicht möglich,
jedenfalls fiel sie vor 1654. In dem Traite da tricmgle arithmetique,
welcher 1662 bei Pascal's Tode in gedrucktem Zustande sich vorfand
und dann 1665 in den Buchhandel kam, auf welchen aber in Briefen
zwischen Pascal und Fermat aus dem Sommer 1654 deutlich an-
gespielt ist, findet sich eine 12. Folgerung, Consequence XII ^), zu
deren Beweis Pascal sich zweier Hilfssätze bedient. Erstlich sei die
von ihm ausgesprochene Wahrheit in der zweiten Reihe von Zahlen
augenscheinlich erfüllt, und dauu behauptet der zweite Hilfssatz que
si cette proporüon se trouve dans tine hase quelconqne, eile se trouvera
necessairement dans la hase suivante. Die Vereinigung der beiden
Wahrheiten, dass was in einem Falle als richtig sich erweist, im
nächsten Falle auch richtig sein muss mit der durch Augenschein
erwiesenen Richtigkeit in einem bestimmten Falle, bildet aber die
Methode der vollständigen Induction, eine der fruchtbarsten der ge-
sammten Mathematik.
Noch 28 Jahre früher als die Methode der vollständigen Induction
war 1637 eine andere Methode von grösster Fruchtbarkeit bekannt
gemacht worden: die Methode der unbestimmten Coefficien-
ten. Ihr Erfinder war Descartes. In dessen Geometrie von 1637
findet sich die Beschreibung der Methode, welche in der mehr ver-
breiteten lateinischen Ausgabe'^) folgenden Wortlaut besitzt: Attamen
vos monere volo, qiiod inventio liaec suppouendi duas eiusdem formae
aequationes ad comparandum separatim omnes terminos unius cum
Omnibus terminis alterius , ut inde ex una sola nascantur plures
aliae, infinitis aliis Problematis inservire possit, neque una ex minimis
metJiodis, qua utor existatj d. h.: Im Vorbeigehen will ich einschärfen,
\) Pascal III, 248. ^) Geometria a Benato Descartes anno 1637 gaUice
eclita (ed. Franciscus van Schooten. Amsterdam 1659) I, 49.
750 75. Kapitel.
dass die Erfindung der Annahme zweier Ausdrücke gleicher Gestalt,
deren Glieder einzeln verglichen werden und so eine Gleichung mehrere
andere erzeugen lassen, bei unendlich vielen anderen Aufgaben dienen
kann, ja dass sie keineswegs die geringste unter den von mir be-
nutzten Methoden ist. Wenn irgendwo, so war hier Descartes' selbst-
bewusster Stolz vollkommen an seinem Platze, und man kann fast so
weit gehen, eben dieses volle Bewusstsein von der Wichtigkeit der
neuen Methode ihrer Erfindung an die Seite zu stellen.
Die Dinge, bei welchen Descartes seine Methode in Anwendung
brachte, gehören erst einem etwas später von uns zu erörternden
Kapitel der mathematischen Wissenschaften an. Hier musste es ge-
nügen, ihren ganz abgesehen von etwaigen Ergebnissen vorhandenen
analytischen Charakter hervortreten zu lassen. Anders verhält es
sich mit Pascal's vollständiger Induction. Die ganze Abhandlung
vom arithmetischen Dreiecke gehört nebst anderen sich ihr unmittel-
bar anschliessenden Untersuchungen ^) ihrem Inhalte nach hierher und
muss besprochen werden.
Das arithmetische Dreieck erinnert durch äussere Gestalt
wie durch die zu erreichenden Zwecke an die Art, wie Stifel seine
Binomialcoefficienten ordnet, ohne jedoch irgend damit verwechselt
werden zu können. Schon darin, dass die Zeilenlänge von oben nach
unten gerechnet bei Stifel zunimmt, bei Pascal abnimmt, ist ein
wesentlicher Unterschied zu erkennen, und ebenso darin, dass bei
Pascal eine erste Horizontalzeile sowie eine erste Kolumne aus lauter
Einsern gebildet vorhanden ist, welche bei Stifel fehlen. Es wäre
also im höchsten Grade ungerecht, eine Abhängigkeit Pascal's von
Stifel zu vermuthen. Selbst wenn Pascal die Arithmetica integra ge-
kannt hat, was wir noch sehr bezweifeln, war das arithmetische
Dreieck durchaus sein geistiges Eigenthum. Die Entstehung ist fol-
gende: Eine Anzahl von Einsem, etwa 10 an der Zahl, füllen eben-
soviele in einer ersten Horizontalzeile neben einander befindliche
Zellen. Eine zweite Horizontalzeile enthält eine Zelle weniger, also
deren 9, und das geht so weiter bis zur zehnten einzelligen Hori-
zontalzeile. Jede untere Horizontalzeile füllt ihre Zellen mit Zahlen,
die mit 1 beginnen und nach dem Gesetze fortschreiten, dass jede
Zelle die Summe der ihr links stehenden und der genau senkrecht
über ihr stehenden Zahl enthält.
1) Pascal lU, -243—3:
Erfindung von Methoden. Walirscheinliclikeitsrechn. Kettenbrüche u. s. w. 751
//
/l
/ 1 .
/l
/ 1
/
/ 1
/■ 1
/l
/ 1
A
/l
/ 2
/
/
/ö
/6
/ 7
/»
/ 9
/
/ ^
/ 3
/e
/lO
/»
/ 21
%
/ 36
/ 1
/ 4
/lo
/20
/35
/ö6
/84
-
//
/ 5
/.
/35
/70
/126
X
X
/21
/56
^26
//
/ 7
Ä
/84
/
/ 8
/
/ 36
/4
X
Die Ä;*** Zelle der r"^" Zeile mag durch (r)x, die darüber befindliche
also durch (r — 1)^., die links stehende durch rr)i_i bezeichnet werden,
so ist immer (>■)/[■ = (>' — 1 )i. -|- (O-^ — 1 • ■'^^^ entstandene Zahlendreieck
besitzt ebensoviele Verticalkolumnen als Horizontalzeilen, und die r*"
Kolumne stimmt genau mit der r*^° Zeile überein. Ihr U^^ Feld ist aber
die r'^ Zelle der Z:*'"' Zeile, also das weitere Gesetz vorhanden (rj^- = (A'),..
Ausser den Zeilen und Kolumnen, welchen Pascal die Namen beilegt
cellules d\in nicme rang imrallHe und cellules d'un nwme rang perpen-
dkidaire, unterscheidet er noch als cellules d'une meme hase diejenigen,
welche von einer gemeinsamen Geraden als Diagonale durchschnitten
werden. Sie nehmen von links oben nach rechts unten je um eine
Zelle zu, und jede enthält, wie der Augenschein lehrt, die Combina-
tionszahlen von Elementen in einer um die Einheit anwachsenden
Anzahl zu allen bei dieser Seitenzahl möglichen Classen. Eine Be-
zeichnung ähnlich der von uns zum Ausspruch einiger Gesetze in
Anwendung genommenen kennt Pascal nicht, erst Leibniz hat
Buchstaben mit Stellenzeigern in die Mathematik einzu-
führen gewusst. Die ausgesprochenen Sätze dagegen kennt er.
Die Bildungsregel heisst: Le nombre de cJiaque cellule est egal d celui
de la cellule qiii la precede dans son rang perpendiculaire plus ä celui
de la cellule qui la precede dans son rang parallele^). Dass (r)^. = (Z;),.
lautet: En taut triangle aritlimetiqiie chaque cellide est egale ä sa reci-
1) Pascal III, 245.
752 75. Kapitel.
proque ^). Die Uebereiostimmung der ganzen Zeilen nnd Kolumnen
spricht Pascal mit den Worten aus: En tout triangle arithmetique un
rang parallele et nn perpendiculaire qui ont im meme exposant sont
composes de cellules toutes pareiUes ks wies aux autres^). Jede Basis
besitzt ferner nach Pascal die doppelte Summe der ihr vorhergehen-
den^). In der fünften Basis z. B. ist in Folge des Bildungsgesetzes
des Dreiecks 1 = 1, 4=1 + 3, 6 = 3 + 3, 4 = 3 + 1, 1 = 1,
also 1 + 4 + (3 + 4 + 1 = 2(1 + 3 + 3 + 1). Da nun die Summe
der ersten Basis 1 ist, so wird die der zweiten 2, die der dritten 4,
und jede weitere Summe einer Basis ein weiteres Glied der mit 1
beginnenden geometrischen Reihe 1, 2, 4,... sein, nämlich das so-
vielte, als die Reihennummer der Basis ist^). Die Bestimmung einer
einzelnen Zellenzahl (r)it wird nach folgender Vorschrift vorgenom-
men^). Man bildet das Product der Zahlen 1 • 2 • ■ ■ (Je — 1), ferner
das der Zahlen r • {r -\- 1) • • ■ (/• -j- /.• — 2), so ist (r)^. der Quotient
der Division des zweiten Productes durch das erste, z. B.
/o\ 3 ■ 4 • 5 • 6 ^ ~
Die in der Eckzelle links oben befindliche Zahl, gewöhnlich eine 1,
heisst die Erzeugungszahl, gmerateur, des Dreiecks*'). Ihr gleich
müssen alle Zahlen der ersten Zeile und der ersten Kolumne gewählt
werden, damit auch bei diesen (rj^. ^(r — 1);;.-|- (r)A._i sei, und nach
demselben Gesetze füllen alsdann die übrigen Zellen sich an. Die
Sätze, welche wir ausgesprochen haben, ändern sich naturgemäss in
einigen Beziehungen, wenn eine andere Zahl als 1 zur Erzeugungszahl
genommen wird. Das Einheitsdreieck, wie wir jenes kurz nennen
wollen, dessen Erzeuguugszahl 1 heisst, hat vielfache Anwendung.
Erstlich sind seine Zeilen und ebenso die denselben gleichen Kolumnen
mit lauter arithmetischen Reihen steigender Ordnung besetzt, welche
also einfach daraus abgeschrieben werden können. Die zweite An-
wendung bildet die Auffindung der Combinationszahlen'),
d. h. der Zahlen, welche angeben, auf wie viele verschiedene Arten
man eine gegebene Anzahl von Elementen aus einer ebenfalls ge-
gebenen nicht kleineren Anzahl von Elementen auswählen kann. Der
moderne Sprachgebrauch sagt: n Elemente sollen zur Klasse Ic com-
binirt werden; bei Pascal heisst es, man suche la muUitude des coni-
hinaisons des Je dans n. Eines Zeichens bedient sich Pascal nicht für
die Combinationszahlen, dagegen kannte er deren meiste Eigenschaften.
'} Pascal in, 246 Consequence V. -) Ebenda III, 247 Consequenee VI.
") Ebenda IQ, 247 Consequence VII. '') dont Vexposant est le meme que celiii
de la lose. ^) Pascal III, 251 Probleme. ^) Ebenda m, 245. '; Ebenda
III, 253 — 257: Usage du triangle arithmetique ponr les combinaisons.
Erfindung von Metboden. Wahi-scheinliclikeitsrechn. Kettenbniche u. s. w. 753
Schreiben wir ( j für die Combinationszahl von 7i Elementen zur
Klasse ]i, so weiss Pascal, dass ( ) = 1, dass (.) = n, dass
g)+u")-g::)-^
Pascal unterscheidet ferner ein 1., 2., . . «*^' Dreieck, je nachdem die
erste Zeile und die erste Kolumne aus 1, 2, . . n Zellen bestehen. Er
zeigt alsdann, dass LI die Summe sämmtlicher Zahlen der Z.**^" Zeile,
oder, was auf das Gleiche herauskommt, die (k -\- 1)*'^ Zelle der
(n -«f- 1)*®" Basis, wenn dieselbe von links unten nach rechts oben in
jener Basis abgezählt ist.
Pascal schickte seine Abhandlung über das arithmetische Dreieck
im August 1654 nach Toulouse an Fermat, und mit dieser Sendung
kreuzte sich^) eine solche von Fermat an Pascal fast gleichen In-
haltes, nämlich über figurirte Zahlen. Fermat befasste sich aber mit
diesem Gegenstande sicherlich schon 1636, wo er in einem Briefe an
Roberval vom 16. December von einer Methode der Summirung
beliebiger Potenzen der ganzen Zahlen spricht-), mithin von der
wissenschaftlichen Vollendung dessen, was Faulhaber wieder etwa
20 Jahre früher angebahnt hatte (S. 748). Von dessen Arbeiten hatte
allerdings Fermat ganz gewiss keine Kenntniss. Fermat sagte in
jenem Briefe an Roberval, er werde ihm die aufgeschriebene Er-
findung sammt Beweis vorlegen, sobald er es wünsche^); erfüllt hat
er die Zusage nie.
Mit dem Traite du triangle arithmetique vereinigt kam auch der
Traue des ardres nume'riques^) heraus, welcher gewissermassen als Er-
gänzung des ersteren angesehen werden kann. Manche von den Sätzen
jener Abhandlung kehren hier in veränderter Form wieder. Der
XL Satz^), von welchem Pascal ausdrücklich berichtet, Fermat habe
ihn gleichzeitig und ganz unabhängig von seinem Gedankengauge
erkannt, ist folgender: Eine Zahl beliebiger Ordnung mit der voraus-
gehenden Wurzel vervielfacht und getheilt durch den Exponenten
ihrer Ordnung giebt zum Quotienten die aus dieser Wurzel hervor-
gehende Zahl der folgenden Ordnung. In Zeichen geschrieben heisst
der Satz: L l^= (n — k) Q : (/^ + 1). Unzweifelhaft haben Pas-
cal und Fermat die grosse Bedeutung dieses Satzes für die Lehre
von den figurirten Zahlen eingesehen. Ob sie sich ebenso klar seiner
^) Pascal III, 231. ^) Varia Opera Petri de Fermat pag. 148. ^) J'en
ecriray cepenclant Vinvention et clemonstration que voiis verres lorsqu'il vous
plairra. ^) Pascal III, 268—271. ^) Ebenda III, 271.
Caxtor , Geschichte der Mathem. II. 2. Aufl. 48
754 75. Kapitel.
Wichtigkeit für die Binomialentwicklung bewusst waren, lässt sich
aus dem Wortlaute nicht entnehmen, auch nicht ob sie die indepen-
deute Formel L] = ~ — 2 7- — — jemals kannten oder zu
kennen suchten.
Eine besonders bedeutsame Anwendung des arithmetischen Drei-
ecks ist die auf die Wahrscheinlichkeitsrechnung. Wir haben
(S. 678) als wir Pascal zum ersten Male nannten, nur in nothdürf-
tigster Weise seine Lebensgeschichte berührt. Im Jahre 1649 kehrte
Pascal aus Rouen, wo er eine Zeit lang Beamtendienste leistete, nach
Paris zurück. Neben dem Verkehre mit den hervorragendsten Mathe-
matikern, denen er seit seiner Kindheit nahe stand, fesselte ihn auch
das wilde und nicht selten wüste Leben der Hauptstadt, und er
stürzte sich in dasselbe mit der jugendlichen Gier seiner 26 Jahre,
gehörte auch bis etwa zum September 1654 den lockeren Kreisen
an, in denen er sich wohler fühlte, als es seiner Gesundheit und
seiner Börse zuträglich war. Zu seinen damaligen nahen Bekannten
gehörte ein Spieler De Mere, von dessen Verkehr mit Pascal einige
Briefe erhalten sind. In einem Briefe meint er, Pascal habe ihm
zwar gesagt, er halte nicht mehr viel von der Mathematik, aber, so
sehr er sich dieser Sinnesänderung freue, glaube er nicht vollständig
daran, weil in mancherlei Trugschlüssen, die Jener sich zu Schulden
kommen lasse, noch immer der schädliche Einfluss mathematischen
Denkens zu Tage trete ^). Eben dieser De Mere stellte Pascal gegen
Ende jenes lockeren Lebens zwei Aufgaben der Wahrscheinlichkeits-
lehre: Die eine fragte, ob es von Vortheil sei zu wetten, dass man
in einer gewissen Anzahl von Würfen mit zwei Würfeln den Sechser-
pasch, sonnez, werfen werde; die zweite verlangte zu wissen, wie man
theilen solle, les partis'-), wenn man ein auf eine gewisse Anzahl ge-
wonnener Einzelspiele gerichtetes Spiel zu unterbrechen gezwungen sei,
bevor es zur Entscheidung kam. Die zweite Aufgabe fesselte Pascal
ganz besonders, und er erfand eine Methode, methode des partis, zu
ihrer Lösung. Man kann ihren Kern darin finden, dass immer die
Frage nach dem Betrage aufgeworfen wird, über welchen
eigentlich ein bestimmtes Einzelspiel die Entscheidung
^) Der Brief ist zum grossen Theile abgedruckt in Bayle, Dictionnaire
Jiistorique et critique. 'S. Ausgabe. Rotterdam 1715, Bd. III, S. 917 in den An-
merkungen zum Artikel Zenon. Für die Geschichte der Wahrscheinlichkeits-
rechnung überhaupt benutzten wir häufig das sehr umfangreiche und zuver-
lässige Werk von J. Todhunter, A history of the mathematical theory of pro-
hability from the time of Pascal to that of Laplace. Cambridge and London 18G5.
*) Le parti == die Theiluug ist nicht zu verwechseln mit Ja partie = das Ein-
zelspiel, die Partie.
Erfindung von Methoden. Wahrscheinlichkeitsrechn. Kettenbrüche u. s. w. 755
giebt^). Gesetzt, das Spiel werde durch dreimaligen Gewinn ent-
schieden und die Theilung solle vollzogen werden, wenn ein Spieler
schon einmal, der andere noch gar nicht gewonnen hat. Pascal sagt
dann so: Hätte der erste Spieler Ä 2 Gewinne, der zweite B 1 Gewinn,
und sie spielen weiter, so kann zweierlei sich ereignen: Ä gewinnt und
erhält den ganzen Einsatz, oder B gewinnt und steht dann mit Ä gleich-
auf, so dass jedem die Hälfte des Einsatzes zukommt. A erhält also
unter allen Umständen die eine Hälfte des Einsatzes, spielt daher nur
um die andere Hälfte. Diese letztere Hälfte ist, wenn das Spiel unter-
bleibt, zwischen Ä und B hälftig zu th eilen, d. h. wenn der Gesammt-
einsatz 1 beträgt, hat A ~- zu erhalten und B nur -^ ■ Nun stehe zwei-
tens Ä mit 2 Gewinnen gegen B ohne Gewinn oder mit 0 Gewinnen.
Fällt ein neu zu spielendes Spiel zu Gunsten von Ä aus, so hat er ge-
wonnen und zieht den ganzen Einsatz; fällt es zu Gunsten von B
aus, so ist der vorige Fall hergestellt, und A hat ^ zu fordern. So
viel bekommt er also mindestens und spielt nur um — • Dieses letzte
4
Viertel ist, wenn das Spiel unterbleibt, zwischen A und B hälftig zu
7 1
theilen, d. h. A hat -~ und B -^r zu erhalten. Endlich stehe das Spiel
auf 1 gegen 0, wonach eigentlich gefragt wurde. Gewinnt A in einem
weiter angenommeneu Spiele, so ist der zuletzt erörterte Zustand ge-
schaffen, und A bekommt -— • Gewinnt dagegen B, so stehen die
beiden Spieler gleichauf, und jeder erhält die Hälfte. A hat also
diese Hälfte unter allen Umständen zu fordern und würde ein etwaiges
Spiel nur um — T ^^ TT spielen, wovon ihm bei Unterbleiben des
3
Spieles die Hälfte mit zukommt. Die Theilung muss desshalb dem
A — , dem B — zusprechen.
Schon vor der Erfindung dieser sinnreichen Methode hatte Pascal,
einer Aeusserung in einem Briefe an Fermat vom 29. Juli 1654 zu-
folge'), daran gedacht, durch Bildung von Combinationsformen
die Aufgabe zu erledigen, wobei ihm aber die Umständlichkeit dieser
Arbeit abschreckend erschien. Fermat fiel auf den gleichen Gedanken
und muss ihn in einem verloren gegangenen Schreiben an Pascal
auseinandergesetzt haben, wie aus der Antwort Pascal's vom 24. August
zu ersehen ist^). Aus einem anderen Briefe Pascal's an Fermat vom
^) Pascal III, 221—225. ^) Ebenda III, 221: Votre methode est tres süre,
et c'est la premiere qui m'est venue ä la pensee dans cette recherche. Mais par-
ceque la peine des eombinaisons est excessive, j'en ai trouve un abrege. ^) Ebenda
III, 226—231.
48*
756 75. Kapitel.
27. October 1654 erfahrea wir aber auch, dass, was Pascal als com-
binatorische Methode sich dachte, von der Fermat's durchaus ver-
schieden war^). Die Fermat'sche Methode ist für die oben aus-
einandergesetzte Aufgabe folgende: Wird auf 3 Gewinnspiele ge-
spielt, und A steht auf 1, JB auf 0, so ist in spätestens 4 Einzelspielen
das Spiel zu Ende. Bezeichnet man nun jedes durch einen der Spieler
gewonnene Einzelspiel durch den seinem Namen entsprechenden
kleinen Buchstaben, so giebt es 16 Möglichkeiten: aaaa, aaab,
aaha, aahh, ahaa, ahal), ahha, ahhh, haaa, haah, haha,
hahh, hhaa, hhah, hhha, hhhh. Davon sind die 8., 12., 14., 15.,
16., also insgesammt deren 5 dem JB günstig und die übrigen 11 dem
A. Fermat dehnte diese seine Methode auch auf mehr als nur zwei
Spieler aus, blieb aber damit Pascal unverständlich, bis er ihm am
25. September die Sache klarer auseinanderlegte^), worauf Pascal's
erwähnte volle Zustimmung vom 27. October erfolgte.
Pascal hörte aber desshalb keineswegs auf, die ihm eigenthüm-
liche Methode zu vervollkommnen, und bei ihrer Anwendung sich des
arithmetischen Dreiecks bedienen zu können, erschien ihm mit Recht
bemei'kenswerth^). Man müsse, sagt Pascal, beachten, wie viele Ge-
winnspiele jedem der beiden Spieler, zwischen denen die Theilung
erfolgen soll, noch fehlen, um überhaupt gewonnen zu haben. Die
beiden Zahlen addirt man zusammen und sucht die sovielte Basis
im arithmetischen Dreiecke, als jene Summe als Ordnungszahl be-
trachtet angiebt. Addirt man die Zellenzahlen von sovielen von
unten, beziehungsweise von oben an gezählten Zellen dieser Basis,
als durch die jedem Spieler fehlende Anzahl von Gewinnspielen vor-
geschrieben wird, so liefern die beiden Summen die Verhältnisszahlen,
nach welchen die Theilung in umgekehrter Reihenfolge der Spieler
vor sich zu gehen hat. Fehlen beispielsweise dem ersten Spieler 2,
dem zweiten 4 Gewinnspiele, so muss man zur 2 -}- 4 = 6. Basis über-
gehen, und die Summe von 4 Zellen 1 -j- ^ -f- 10 -|- 10 = 26 nebst
der von 2 Zellen 1 -}- 5 = 6 geben das Verhältniss an, in welchem
der erste, beziehungsweise der zweite Spieler am Gesammteinsatze
betheiligt ist. Der Beweis wird nach der Methode der vollständigen
Induction geliefert^). Fehlten dem einen Spieler 2, dem anderen
3 Gewinnspiele und man müsste zur 5. Basis übergehen, so solle man
^) Pascal III, 23.Ö: J'admire votre rnethode pour les partis, d'autant mieux
que je l'entends fort bien; eile est entierement votre, et n'a rien de commiin avec
la mienne. *) Ebenda EI, 232—234. ') Ebenda III, 257—266: Usage du
ti-iangle arithmetique pour determiner les partis qu'on doit faire entre deux joueurs
qui jouent en plusieurs parties. Veigl. besonders pag. 261 Probleme I. *) Ebenda
III, 263.
Erfiudimg von Methoden. Wahrsclieinliehkeitsrechn. Kettenbrüche u. s. w. 757
tlie Voraussetzung machen, es werde ein weiteres Spiel gespielt, wel-
ches entweder A oder B gewinnt. Dann fehlen entweder dem Ä 1,
dem B 3 oder dem Ä 2, dem B 2 Gewiunspiele. Da
1+3=2+2=4
ist, so hat man es jetzt mit einer um 1 niedrigeren Anzahl von beiden
Spielern zusammen fehlenden Gewinnspielen zu thun, für welche die
Methode schon als bewiesen gilt. In den beiden angeführten Fällen
haben also die beiden Spieler folgende Ansprüche:
A fordert 1 + 3 + 3 und B fordert 1 ,
A fordert 1 + 3 und B fordert 1 + 3.
Die beiden Möglichkeiten vereinigen sich so, dass
A fordert 1 + (1 + 3) + (3 + 3) und B fordert 1 + (1 + 3).
Das sind aber gerade die dem A, beziehungsweise dem B durch die
Regel zugewiesenen Zellenzahlen der 5. Basis, d. h. die Regel gilt
für n -\- 1 , wenn sie für n gilt. Ihre Geltung bei n = 2 ist aber
augenscheinlich, da alsdann nur zwei Fälle denkbar sind: entweder
einem Spieler fehlen 2, dem anderen 0 Gewinnspiele, dann theilen
sie nach den Brüchen --^ und y; oder jedem Spieler fehlt 1 Ge-
winnspiel, dann theilen sie nach den Brüchen -_- und -— • Beides ist
aber in Uebereinstimmung mit der Regel, die dadurch allgemein be-
wiesen erscheint. Die grosse Eleganz dieser Untersuchung ist be-
strickend, und nur der Vorzug erhebt Fermat's combinatorische Methode
über die Pascal's, dass sie noch anwendbar bleibt, wo jene versagt,
nämlich wenn es um mehr als zwei Spieler sich handelt,
Pascal hielt mit diesen Untersuchungen nicht zurück. Wie er
gegen Fermat rückhaltslos sich äusserte, theilte er auch den Pariser
Freunden, besonders Roberval, die beiderseitigen Ergebnisse mit^),
ohne aber Verständniss oder gar Anerkennung zu finden. Einige
Einwürfe mehr philosophischer als mathematischer Natur waren die
ganze Frucht der Besprechung. Gleichwohl muss die Kunde von
den eigenartigen, ganz neue Ergebnisse zu Tage fördernden Unter-
suchungen sich ziemlich herumgesprochen haben , wenn auch der
Traite du Triangle erst 1665 in den Buchhandel kam (S. 749), der
Briefwechsel zwischen Pascal und Fermat noch viel später in die
Oefi'entlichkeit gelangte.
Von einer Abhängigkeit der 1657 gedruckten Exercitationes mathe-
^) Pascal III, 227: Je commimiquai votre methode ä nos messieurs; sur
quoi M. de Roberval nie fit cette objection (Brief Pascal's an Fermat vom
24. August 1654).
75H 75. Kapitel.
maticae des jüngerera Francisciis van Schooten von Pascal wird man
nicht reden können, wenn auch dort ^) mancherlei combinatorische Unter-
suchungen sich finden, von welchen namentlich eine in Dreiecksgestalt
geordnete Vereinigung sämmtlicher aus gegebenen Buchstaben zu bil-
denden Combinationen Erwähnung verdient. Jeder neue Buchstabe
beginnt eine neue Zeile und tritt in derselben hinter alle bereits ge-
bildeten Formen, beiläufig bemerkt genau das gleiche Verfahren,
welches Buckley (S. 480) einhielt. Das Dreieck sieht so aus:
a .
h . ah .
c . ac . hc . ahc .
d . ad . l>d . ahd . cd . acd . hcd . ahcd.
Dagegen behaupten wir eine gewisse Abhängigkeit von Pascal für
einen Anhang zu den Exercitationes mathematicae, eine 14 Druckseiten
starke Abhandlung De ratiociniis in ludo aleae von Christian
Huygens. Seine geometrischen Erstlingswerke aus den Jahren 1651,
1654, 1656 haben uns (S. 715) beschäftigt. Sie führten dazu, den
Namen des noch jugendlichen Verfassers rasch bekannt zu machen,
und als Huygens im Sommer 1655 nach Paris kam, trat er schon in
fast gleichberechtigten Verkehr mit Roberval und anderen Mathe-
matikern. Dort erfuhr Huygens jedenfalls von dem zwischen Pascal
und Fermat brieflich Verhandelten. Als er nach Holland zurück-
kehrte, blieb er in Briefwechsel mit französischen Gelehrten, so auch
mit Pierre de Carcavy^). Dieser war der Sohn eines reichen
Bankiers. Am Anfange des XVII. Jahrhunderts geboren, nahm er
1622 — 1636, also gleichzeitig mit Fermat, die Stellung eines Parla-
mentsrathes in Toulouse ein. Im Jahre 1636 siedelte er als Rath
nach Paris über. Vermögens Verlust nöthigte ihn 1647 seine dortige
Stelle zu verkaufen, und nun trat er 1648 in den Dienst des Herzogs
von Liancourt. Seit 1663 war er dann an der königlichen Bibliothek
in Paris augestellt, welcher bei seinem Tode 1684 die werthvollen
Sammlungen zufielen, die er angelegt hatte. Carcavy also schrieb
unter dem 22. Juni 1656 an Huygens und legte einen vor wenigen
Tagen von ihm erhaltenen Brief Fermat's bei,» in welchem Ergebnisse
der Wahrscheinlichkeitsrechnung, nicht aber das Verfahren zu denselben
zu gelangen mitgetheilt waren ^). Huygens wies desshalb mit Recht
in der am 27. April 1657 niedergeschriebenen Vorrede zur Abhand-
^) Van Schooten, Exercitationes mathematicae, pag. 373—387. *) Vergl.
eine ausführliche Abhandlung von C h. Henry im Bulletino Boncompagni
T. XVII (1884). Ergänzungen und Berichtigungen dazu von P. Tannery im
Bulletin Darhoux XXVIII, 61 (1893). ■') Oeuvres de Huygens I, 431—434.
Erfindung von Methoden. Wahrscheinlichkeitsrechn. Kettcnbrüehe u. s. w. 759
lung über das Würfelspiel die Ehre erster Erfindung zu Gunsten
seiner französischen Vorgänger zurück, fügte aber mit gleichem Rechte
hinzu, jene hätten ihre Methoden so geheim gehalten, dass er ge-
zwungen gewesen sei, den ganzen Gegenstand von den ersten An-
fängen an zu entwickeln^). Schon am 10. März 1656 waren Huygens
Untersuchungen über die Wahrscheinlichkeitsrechnung im Gange, am
20. April war Einiges druckfertig, am 6. Mai hatte Franciscus van
Schooten schon zugesagt, vielleicht schon begonnen, die holländisch
geschriebene Abhandlung ins Lateinische zu übersetzen-), um sie dann
1657 unter dem oben angegebenen Titel seinen eigenen vermischten
Untersuchungen als Anhang anzuschliessen, und alle diese Daten liegen
vor dem des Briefes, in welchem Carcavy die Fermat'sche Einlage
übersandte, eine Bestätigung unserer Behauptung, dass der Keim zu
Huygens' Untersuchungen in Gesprächen gelegt wurde, welche bereits
in Paris stattfanden.
Die Grundlage, auf welche Huygens seine Betrachtungen stützt,
ist die des arithmetischen Mittels. Wenn, sagt er unter An-
wendung allgemeiner Buchstaben, in p Fällen jeweil eine Summe er,
in q Fällen jeweil eine Summe h mir zufällt, so ist in jedem einzelnen
Falle meine Erwartung -^^—r, — Daran knüpft er dann Theilungs-
aufgaben, welche er vollständig in Pascal's Sinne, bevor dieser das
arithmetische Dreieck anwandte, behandelt, so dass es wahrscheinlich
wird, er habe durch Roberval mehr Andeutungen über das Verfahren
Pascal's als über dasjenige Fermat's erhalten. An die Theilung zwischen
zwei Spielern knüjjfen sich ähnliche Aufgaben unter Annahme von
drei oder noch mehr Spielern und wir erinnern uns, dass hier Pascal
rathlos geblieben war, wenigstens seines Dreiecks Bequemlichkeit ein-
büsste. Huygens wendet auch hier ein recurrirendes Verfahren an.
Es wird berechnet, wieviel jedem einzelnen Spieler unter der Voraus-
setzung zukomme, es sei ein weiteres Spiel gemacht worden und der
Reihe nach zu Gunsten jedes der betheiligten Spieler ausgefallen.
Ausser den Theilungsaufgaben waren von De Mere seiner Zeit
auch Würfelaufgaben gestellt worden. Pascal und Fermat Hessen sich
diese, als leichter, wenig angelegen sein. Huygens dagegen setzt sie
von Propositio X seiner Abhandlung an auseinander, und wieder auf
*) Sciendum vero, qiiod jam pridem inter prazstantissnnos tota, Gallia geo-
metras calculus hie agitatus fuerit, nequis indebitam mihi primae inventionis glo-
riam hac in re tribuat. .Caeterum Uli, difficillimis quibusque quaestionibus se
invicem exercere soliti, methodum suam quisque occultam retinuere, adeo ut a
primis elementis universam hanc materiam evoluere mihi necesse fuerit. ^) Oeuvres
de Huygens I, 389, 405, 413.
760 '<•''• Kapitel
der Grundlage des arithmetischen Mittels aus den unter den ver-
schiedenen möglichen Voraussetzungen zu erwartenden Gewinnen,
sors oder aestimaüo expedationis. Will man mit einem Würfel auf
einen Wurf 6 Augen werfen, so sind sechserlei Würfe möglich, von
welchen einer den Gewinn a liefert und fünf den Gewinn 0, die Er-
wartung ist also — " ^ ; . - = -^ • Stehen zwei Würfe frei, so lie-
° 1 -j- o b '
fert von sechs Möglichkeiten des ersten Wurfes eine den Gewinn a,
die fünf anderen liefern wenigstens die Möglichkeit im zweiten Wurfe
zu gewinnen, welche als mit — zu veranschlagende bekannt ist. Die
Erwartung ist also jetzt:
1+5 36 '
' .25 . .
und dem Gegenspieler kommen folglich ^a zu, so dass die beider-
seitigen Erwartungen sich wie 11 : 25 verhalten^). Dieses Wettver-
hältniss geht bei 3 Würfen in 91 : 125, bei 4 Würfen in 671 : 625,
bei 5 Würfen in 4651 : 3125, bei 6 Würfen in 31031 : 15625 oder
annähernd in 2 : 1 über. Huygens hebt weiter auch noch hervor,
dass die Zahl der Würfe durch die Zahl der bei einmaligem Wurfe
gebrauchten Würfel ersetzt werden können , ohne übrigens diese Be-
hauptimg zu begründen, und fügt die mathematische Betrachtung
einiger zusammengesetzten Spielarten mit Würfeln hinzu.
Auch nach dem Erscheinen der Ratiocinia in ludo aleae dauerte
es wieder 14 Jahre, bis abermals in Holland eine Schrift über Wahr-
scheinlichkeitsrechnung gedruckt wurde. Das Jahr 1671 liegt aber
bereits jenseits der Zeitgrenze dieses Bandes, und wenn wir auch mit
einzelnen Abschnitten es weniger genau nehmen, über den Band
hinaus wollen wir nicht greifen und versagen es uns desshalb, auf
Jan de Witt's Waerchje von kjf-renten nar proportie van los-reuten^)
irgend näher einzugehen.
Dagegen erwähnen wir, dass John Graunt^) (1620 — 1674) sich
mit Statistik beschäftigte und 1662 ein Buch unter dem Titel:
Natural and political ohservations mentionecl in a folloiving index and
niade upon tlie hills of martality veröffentlichte. Darin soll zuerst das
Uebergewicht der Knabengeburten gegen Mädchengeburten im Ver-
') unde contracertanti lusori cedit reliquum ^ a, adeo ut sors utriiisque sive
aestimaüo expectationis eam servet rationem quam 11 ad 25. *) Ein Abdruck
der sehr selten gewordenen Schrift erschien 1879 als Festgabe zum 100jährigen
Jubiläum der Wiskimig Genootschap te Amsterdam. *) Dictionarij of national
hiography (;London 1890) XXII, 427—428.
Erfindung von Methoden. Wiilir.soheinlichkeitsrechn. Kettenbnichc u. s. w. 761
hältnisse von 10G8 : 1000 aus über 32 Jahre sich erstreckenden Be-
ol)achtnngen gefolgert worden sein^).
Die Besprechung solcher Untersuchungen, welche an das Gebiet
der algebraischen Analysis anstreifen, führt uns weiter zur Erfindung
der Kettenbrüohe.
Wir haben Pietro Antonio Cataldi als einen der Schriftsteller
genannt (S. 596), welche ihre Stimmen gegen Scaliger erhoben,
als er behauptete, die Kreisquadratur gefunden zu haben. Wir hätten
ihn noch bei verschiedenen anderen Gelegenheiten nennen können,
denn er war ein fruchtbarer Schriftsteller, wie ein beliebter Lehrer^).
Schon 1563 war Cataldi Professor in Florenz; 1572 lehrte er in
Perugia; 1584 trat er in den Verband der Universität Bologna,
welchem er bis zu seinem Tode 1626 angehörte. Ueber 30 Schriften
werden von ihm genannt. Die letzte, eine Vertheidigung Euklid's
aus seinem Todesjahre 1626, muss er, da er die Florenzer Professur
nicht leicht früher als mit 20 Jahren inne gehabt haben kann, in
einem Alter von mindestens 83 Jahren geschrieben haben. Die erste
Veröffentlichung Cataldi's ist aus dem Jahre 1572. Eine Pratica
aritmetica hat er zwar mit 17 Jahren verfasst, aber ihr erster Theil
kam erst 1602 unter dem aus Pietro Antonio umgestellten Pseudonym
Perito Annotio im Drucke heraus, während der zweite Theil unter
Cataldi's vollem Namen 1606 folgte. Die erste Schrift, welche Ca-
taldi in Bologna vollendete, war eine Abhandlung über vollkommene
Zahlen vom Jahre 1588. Das Manuscript kam ihm aber abhanden,
und er war genöthigt, die ganze Arbeit neu zu vollenden, so dass
der Druck erst 1603 erfolgen konnte. Aus dem gleichen Jahre ist
eine Schrift über das Parallelenaxiom, Operetta delle linee rette equi-
distanfi, welches auf einem Trugschlüsse beruhen soll. Die Parallel-
linien werden darin als Linien gleichbleibenden Abstandes erklärt,
eine Erklärung, welche Petrus Ramus wieder in die Geometrie ein-
geführt zu haben scheint, nachdem Posidonius (von Rhodos?) sie
im Wesentlichen schon ausgesprochen hatte ^). Fernere geometrische
Schriften sind eine angenäherte Kreisquadratur von 1612, eine gegen
Scaliger gerichtete Vertheidigung der Kreismessung Archimed's von
1620, eine Abhandlung über Dürers Construction des regelmässigen
Fünfecks gleichfalls von 1620, eine dreibändige Euklidausgabe von
1620 — 1625. Von diesen Schriften hätten wir die über vollkommene
Zahlen dem 76. Kapitel aufsparen, die übrigen, wie gesagt, schon
früher erwähnen müssen, wenn nicht nach dem uns vorliegenden
') Moser, Die Gesetze der Lebensdauer (Berlin 1839), S. 210. ^) Libri
IV, 87—97. ^) Proclus (ed. Friedlein), pag. 176 lin. 6—10.
762 75. Kapitel.
Berichte deren Menge über ihren inneren Gehalt das Uebergewicht
besessen zu haben schiene. Wir beschäftigen uns genauer nur mit
einer 1613 gedruckten Abhandlung Cataldi's : Trattato del modo hre-
vissimo di trovare la radice quadra delli nunieri ^) (S. 623)^ weil in ihr eine
Quadratwurzelausziehung mittels eines unendlichen Ketten-
bruches gelehrt ist. Zunächst ist allerdings ein anderer Weg ein-
geschlagen. Ist eine Zahl N =^ er -\- h, und soll ]/iV" ermittelt
werden, so ist in erster Annäherung "j/iVnoa zu klein, in zweiter
Annäherung YN ro (i -^ -^ == ä zu gross. Wird A^ — N gebildet
und durch 2Ä getheilt, etwa — ^ — = B gesetzt, so ist eine neue
Annäherung YNcoÄ — B wieder zu gross. Man kann sich unter
Einsetzung der Werthe der einzelnen Buchstaben überzeugen, dass
(A - Bf = J^+ .,„,(,„"4 + ,^)- Setzt man ferner ?^-^ = C
und wählt YNcxjIj — C als weitere Annäherung, so wird auch diese
zu gross, wenn auch wieder dem wahren Werthe "|/iV beträchtlich
näher kommend, und in ähnlicher Weise kann man fortfahren, immer
andere Wurzelwerthe sich zu verschaffen, welche zwei Eigenschaften
mit einander gemein haben: immer über dem wahren Werthe zu
liegen und demselben näher und näher zu kommen. Einen all-
gemeinen Beweis führt Cataldi nicht und kann er nicht führen, weil
er keiner allgemeinen Buchstaben sich bedient, sondern nur mit be-
stimmten Zahlenwerthen rechnet. Bestimmte Zahlenwerthe sind es
auch wieder, mit denen allein er sich befasst, wo er die Kettenbruch-
methode lehrt. In allgemeiner Darstellung ist sein Verfahren fol-
gendes. Ist y«^ -\- 1) = a -\- X, so ist & = (2 a -f~ ^)^y
und folglich
2« -f • • •.
also beispielsweise
8 +... .
Die Schreibweise Cataldi's sieht fast genau so aus ^), Cataldi schreibt
nämlich zuerst
') Libri IV, 92 Note 1 und 9.3 Note 1. — Favaro, Notizie storiche suUe
frazioni continue im Bulletino Boncompagni VII, 534 — 547. *) Favafo 1. c.
P3,g. 535 hat die Stelle aus pag. 70 — 71 von Cataldi, Trattato del modo bre-
vissimo etc. zum Abdrucke gebracht.
Ertimlung von Methoden. Wahrsclieinlicbkeitsreebn. Kettenbrüche u. s. w. 763
Er sagt aber dann, im Drucke sei ein so geformter Ausdruck schwer
2 2 2
wiederzugeben, dessbalb ziehe er vor, künftig 4& — &^&y setzen
zu lassen, wo das Pünktchen, welches hinter der als Nenner auftre-
tenden 8 stehe, die Bedeutung habe, der nächstfolgende Bruch solle
ein gebrochener Theil eben dieses Nenners sein^). Dass Cataldi in
Bologna die Algebra Bombelli's kennen lernen konnte, wenn nicht kennen
lernen musste, und dass er in ihr die Anregung zu seinem Verfahren
finden konnte (S. 622), ist nicht zu bezweifeln. Nicht weniger un-
zweifelhaft ist aber der ungeheure formale Fortschritt von Bombelli
zu Cataldi bei einem Gegenstande, dessen Hauptvorzug gerade in der
Form liegt.
Der nächste Schriftsteller, bei welchem Kettenbrüche sich finden,
war Daniel Schwenter. Seine Geometria practica von 1618 ist
uns schon bekannt geworden und bekannt auch, dass er in derselben
der Kettenbrttche sich bediente, um gewisse Verhältnisse in kleineren
Zahlen auszudrücken. Darauf haben wir jetzt genauer zurückzukom-
men-). „Wie man aber zwo grosse Zahlen, sagt Schwenter"'), so
numeri primi und Arithmetice nicht können auffgehebt werden, dem
Gebrauch nach, kleiner machen soll, seynd bei den Logisticis und
Rechenmeistern viel feine Regeln zu finden. Die beste, geheimeste
und künstlichste will ich hierher setzen. Ich soll die zwo Zahlen
233 und 177, als welche für sich numeri primi, oder aber die Proportion
-^ in kleineren Zahlen Meehanice aussprechen: So mache ich nun
folgende Disposition oder Ordnung. Wann nun ordentlich hierinnen
177
verfahren, finde ich, aus gemeldter Tafel, dass ich für — nehmen
kann — oder — oder endlich —- , welches denn eine sehr nützliche
104 2o 4 '
Regel zu diesem unserm Messen." Schwenter fügt hinzu, er habe
aus gewissen Gründen in der ersten Auflage (das war 1618) sich be-
gnügt, das Ergebniss anzusetzen, ohne zu enthüllen, wie er dazu ge-
langt sei- jetzt wolle er Alles auseinandersetzen. Nun folgt eine
Figur, deren Entstehung er beschreibt:
^) faciendo un punto all' 8 denominatore di ciascun rotto, a significare. che
ü sequente rotto e rotto d'esso denominatore. ^) Günther, Beiträge zur Erfin-
dungsgeschichte der Kettenbräche, S. 7— 11 (Weissenburg 1872). ^) Schwenter,
Geometria practica (III. Auflage von 1641), S. 68 des zweiten Tractates.
764
Kapitel.
1
233
1
0
177
1
0 1
1
56
3
1 1
1
9
6
3 i
4
2
4
19
25
1
2
79
104
0
0
i„ i
233
Zuerst werde in dem Felde links 233 und darunter, aber durch einen
Strich getrennt, 177 angeschrieben. In dem mittleren Felde auf dessen
rechter Seite wird „hinter die grösste Zahl, als hie 233, allzeit 1,
hinter die kleiner, als hie 177, allzeit 0" geschrieben. Nun dividire
mau: 177 in 233 gehe 1 mal, Rest 56, desshalb stehe 56 unter 177
und 1 dicht neben 177; 56 in 177 gehe 3 mal, Rest 9, von diesen
Zahlen stehe 3 neben, 9 unter 56; 9 in 56 gehe 6 mal mit dem Reste 2;
2 in 9 gehe 4 mal mit dem Reste 1 ; 1 in 2 gehe 2 mal mit dem
Reste 0. Alle diese Zahlen finden ihren gleichmässigen Platz, die
Quotienten neben, die Reste unter den jedesmaligen Divisoren. Neben
dem letzten Reste 0, der wieder durch einen Horizontalstrich von den
über ihm befindlichen Zahlen getrennt ist, erscheint eine zweite 0.
Nunmehr geht es an die Bildung der im mittleren Felde auf der
rechten Seite befindlichen Zahlen, deren beide obersten 1 und 0 durch
einen Horizontalstrich von einander getrennt schon vorhanden sind.
Jede Zahl wird mit ihrer linken Nachbarzahl des gleichen Mittelfeldes
vervielfacht, die über ihr stehende Zahl hinzuaddirt, die Summe
darunter gesetzt; also
1-0+1 = 1, 3-1+0 = 3, 6-3 + 1 = 19, 4-19 + 3 = 79,
2-79 + 19 = 177.
Das letzte Feld rechter Hand , in dessen oberste Sonderabtheilung
man 1, 0 unter einander schreibt, wird in ganz ähnlichei' Weise ge-
füllt. Multiplicatoren sind wieder die linksstehenden Zahlen des Mittel-
feldes, vor deren Benutzung aber die in der oberen Sonderabtheilung
des Mittelfeldes allein stehende 1 in Anwendung tritt. Die Zahlen-
bidung ist mithin
1-0+1 = 1, 1-1 + 0 = 1, 3-1 + 1 = 4, 6-4+1 = 25,
4 . 25 + 4 = 104, 2 • 104 + 25 = 233,
und diese letzte Zahl ist abermals durch einen Horizontalstrich von
der ihr vorhergehenden 104 getrennt. Die Zahlen rechts im Mittel-
felde und die gleicher Zeile im letzten Felde rechts stehen in nahezu
gleichem Verhältnisse und geben von unten nach oben die Brüche
Erfiudimg von Methoden. Wahrscheinlichkeitsrechn. Kettenbrüche u. s. w. 765
--— , -,-, — , -r , -—, -— ■ Deutlich srenuff ist diese Beschreibung
233 ' 104 ' -25 ' 4 ' 1 ' 1 o & a
Schwenter's der Kettenbruchentwickehing
177 _ 1
233 T H , 1
^ 2 '
und vou besonderer Geschicklichkeit zeigt die Einführung des
Näherungswerthes - zur bequemeren Fortsetzung des einmal be-
gonnenen Rechnungsverfahrens bei Bildung der Näherungswerthe. Dass
ein eigentlicher Beweis fehlt, wird man Schwenter kaum verübeln.
Schwenter starb 1636, und noch in dem gleichen Jahre gaben
seine „hinterlassenen Söhne und Töchter", wie die Unterschrift eines
an Herzog August zu Braunschweig und Lüneburg gerichteten Wid-
mungsschreibens besagt, eine Sammlung unter dem Titel Deliciae
physico-matliemaücac oder Mathematische und pliilosophische Erquiclc-
stunden heraus, deren wir bald wiederholt gedenken müssen. Für
den Augenblick haben wir es nur mit der 87. Aufgabe des I. Theils
dieser Erquickstunden zu thun^), in welcher unter Berufung auf die
Geometrica practica ebendieselbe Aufgabe wie dort behandelt ist,
177
nämhch Näherungswerthe für den Bruch — ^ in kleineren Zahlen aus-
findig zu machen. Die Methode ist die gleiche geblieben, ein Beweis
findet sich auch hier nicht, aber eine wesentliche Zwischenbemerkung
hat Schwenter über die Art der Annäherung eingeschaltet: „je weiter
man von dem untersten hinaufsteiget, je mehr es fehlet. Zum Exempel
TTTT seynd näher bei ~- als -rr, und -^- näher als ' und so fortan."
104 -^ 233 25' 2o 4
Schwenter und Cataldi, das kann man wohl mit voller Sicherheit
behaupten, waren unabhängig von einander zur Erfindung der Ketten-
brüche gelangt, denn hätte Schwenter von Cataldi's Wurzelaus-
ziehungsmethode Kenntniss gehabt, so hätte er sie zweifellos mit-
getheilt, und ohne diese Methode gab es für Cataldi keine Kettenbrüche.
Noch ein dritter, jedenfalls nicht minder unabhängiger Erfinder der
Kettenbrüche trat in England auf. Es war Lord Broun ck er -J
(etwa 1620 — 1684), ein eifriger Anhänger der Monarchie und nach
deren Wiederherstellung Kanzler und Grosssiegelbewahrer Karl IL, in
wissenschaftlicher Beziehung hochverdient um die Begründung der
Royal Society, deren erster Vorsitzender er war. Zu den Freunden
Brouncker's gehörte John Wallis (1616 — 1703), gleichfalls in nahen
Beziehungen zu König Karl IL als dessen Kaplan stehend, und eines
>) Erqiiickstimden, S. 111—113. ^ Poggendorff I, .309.
766 "o- Kapitel.
der ersten Mitglieder der Royal Society. In dessen Ariihmetica in-
finitorum von 1659 war nun eine später nach dem Erfinder benannte
Darstellung von :;t als Product unendlich vieler Factoren veröffent-
licht, auf welche wir in anderem Zusammenhange zurückkommen.
Wallis selbst war bei der ganz ungewohnten Form des von ihm ge-
gebenen Ausdruckes seiner Sache nicht ganz sicher. Er legte seine
Ent Wickelung Lord Broun cker vor, und dieser brachte das Product
3 3 5 5 7 7..
^r • -r • ^^ • ^ • -r • -^ • • • in die Form des Kettenbruches
2 4 4 6 6 8
1+1
2 +^
Y+25
2 -|- 49
Y+ . . . .
Wie Lord Brouncker diese Umwandlung vollzogen hat, ist nicht be-
kannt.
Ein von Wallis gegebener Beweis ist derart gekünstelt, dass man
unmöglich annehmen kann, die Erfindung sei auf einem ihm ent-
sprechenden Wege gemacht worden^). Dagegen ist aus dem von
Wallis Entwickelten deutlich zu erkennen, dass ihm die Bildungs-
weise der aufeinander folgenden Näherungswerthe "~'' , "~ , —
des Kettenbruches "~^ "^^
^1
«^+••.4.^
nicht minder gut bekannt war, als sie Schwenter in dem besonderen
Falle h^ = h.^ = ■ ■ = bn = 1 zu Gebote stand. Mit anderen Worten,
wir müssen für Wallis die Kenntniss der Formeln
beanspruchen.
Auch Christian Huygens nimmt in der Geschichte der Ketten-
brüche einen ehrenvollen Platz ein; aber was er auf diesem Gebiete
leistete, ist erst in seiner Descriptio automaü planetarii 1703 ver-
öffentlicht worden und entzieht sich dadurch unserer Besprechung.'
Wir haben zugesagt, auf Schwenter's Mathematische Erquick-
stunden zurückzukommen; wir haben früher eine Besprechung ge-
wisser Aufgabensammlungen in Aussicht gestellt. Beide Zusagen
werden gemeinsam erfüllt.
Dass in allen Werken, welche der Arithmetik und der Alg-ebra,
^) Reiff, Geschichte der uuendlichen Reihen (Tübingen 1889), S. 14.
Erfindung von Methoden. Wahrscheinlichkeitsrechn. Kettenbrüche u. s. w. 767
SO weit sie in deu einzelnen Zeiträumen schon vorhanden gewesen
ist, gewidmet waren, stets ein Hauptgewicht auf zahlreiche Beispiele
gelegt wurde, zeigt ein Blick in die Geschichte fast jedes Jahrhunderts,
von welchem in diesem Bande die Rede war, und um so deutlicher,
je weiter man gegen rückwärts blättert. Im XV. Jahrhunderte wurden
besondere Sammlungen von Aufgaben angelegt, wie die aus Pamiers
und die, welche dem Triparty folgt (S. 359). Anderwärts fand dieses
Beispiel noch keine Nachahmung, noch weniger aber begnügte man
sich mit der alten Form der Lehrbücher, welche man fast beschreiben
könnte als Aufgaben mit darangeknüpften Ei-örterungen. Je mehr
die Theorie sich vordrängte, um so mehr wurden die Lehrbücher zu
Erörterungen mit als Beispiele dienenden Aufgaben. Im XVIL Jahr-
hunderte spaltete sich vollends das bisher Verbundene. Das Lehr-
buch warf die Menge der Aufgaben als einen nicht an und für sich,
aber für das Lehrbuch unnützen Ballast bei Seite und dafür erschienen
wieder eigene Sammlungen von Aufgaben, in denen die Theorie kaum
vorgetragen war, und die ihr Bestreben darauf richteten, die Auf-
gaben recht anmuthig und ergötzlich zu gestalten, den Lesern diese
Eigenschaft auch im Titel so verlockend als möglich anzupreisen.
Der erste Schriftsteller, welcher dieses bald von Anderen befolgte
Beispiel gab, war ein Franzose Claude Gaspard Bachet de Mezi-
riac, der Herausgeber des Diophant im griechischen Urtexte (S. 655),
welcher 1612 seine Frobllmes plaisants et deledables qui se fönt par
les nonibres dem Drucke übergab. Diesen folgte erst der Diophant
1621 und eine zweite Ausgabe der Problemes plaisants 1624. Von
deren ersten Ausgabe scheint kein einziges Exemplar mehr nachweis-
bar zu sein. Auch Exemplare der zweiten Auflage gehören zu den
grössten Seltenheiten französischer Büchersammlungen, und es war
ein, wie der Erfolg gezeigt hat, glücklicher Gedanke, in neuester Zeit
weitere Auflagen des alten Werkes zu veranstalten^). Die Vorrede
zur zweiten Auflage beginnt mit einer Erklärung Bachet's, welcher
wir entnahmen, was wir über den Zweck des Titels Problemes plaisants
gesagt haben. „Elf Jahre, heisst es in jener Vorrede weiter, sind
seit der ersten Druckgebung dieses Buches verflossen. Ich wollte es
ans Licht bringen, ebensowohl um meine Kräfte zu versuchen, als
um zu sondiren, wie man meine Leistungen beurtheilen werde, und
damit es als Vorläufer zu meinem Diophant diene. Das kleine Werk
ist von den hervorragendsten Geistern Frankreichs günstig aufgenom-
men worden; mit des Himmels Hilfe ist Diophant im Erscheinen
^) Einer 3. Auflage folgten rasch eine 4. und 5. Letztere von 1884 ist
bezeichnet als Cinquieme edition revue, simplifiee et augmentee par A. Labosne.
768 ''ö. Kapitel.
begriffen; es will mir dalier scheinen, als könnte ich mit grösserer
Zuversicht das Buch neuerdings veröffentlichen und mir eine gute
Aufnahme desselben versprechen, da es in vollkommnerem Zustande
erscheint als vordem." Worin die Vervollkommnung bestehe, spricht
Bachet immer in ebenderselben Vorrede an einer etwas späteren
Stelle aus: Fehler seien in geringerer Anzahl vorhanden, mehrere
neue Aufgaben seien hinzugefügt, der Beweis, der zu dem 6. (in der
früheren Ausgabe 5.) Probleme gehöre, sei vervollständigt. Ueber-
dies, meint Bachet, seien Dinge, wie sie in seinem Buche vorkommen,
keineswegs ohne Nutzen, und beispielsweise erzählt er nun die Ge-
schichte von Josephus, der nach der Einnahme von Jerusalem sein
Leben rettete, indem er von einer Anordnung der mit ihm in einer
Höhle eingeschlossenen Gefährten Gebrauch machte, welche dem Ge-
danken nach mit der von uns schon früher (S. 326 und 501 ) angeführten
Aufgabe von den 15 Türken, welche mit 15 Christen auf einem Schiffe
befindlich sind, während die Hälfte der Bemannung über Bord muss,
übereinstimmt. Unter den von Bachet behandelten Aufgaben ist die
der Zauber quadrate hervorzuheben, welche er nach einer Methode
bildet, der der Name der Terrassenmethode beigelegt worden
ist^). Am wichtigsten ist aber unzweifelhaft, wie Bachet selbst er-
kannte, jene 6. Aufgabe der zweiten Auflage. Sie ist eine zahlen-
theoretische und wird uns am Anfange des nächsten Kapitels be-
schäftigen. Jetzt haben wir noch von einigen Sammlungen zu
sprechen, die in Nachahmung der Bachet'schen entstanden.
In dem gleichen Jahre 1624, welches die zweite Auflage von
Bachet's Problemes plaisants erscheinen sah, kam in Pont-ä-Mousson
ein Buch unter dem Titel Recreations mathematiques heraus. Als
Verfasser nannte sich ein Van Etten. Es blieb aber nicht unbe-
kannt, dass dieses nur ein Borgname war, und dass der Verfasser
Jean Leurechon-) (etwa 1591 — 1670) hiess, ein Jesuit, welcher im
Kloster seines Ordens in Bar-le-Duc in Lothringen Theologie, Philo-
sophie und Mathematik lehrte. Leurechon hat in seine Sammlung
die leichteren Aufgaben Bachet's übernommen, daneben eine Menge
anderer Dinge, welche zum Theil aus Cardano's Büchern De suh-
iüifate stammen mochten: an Bachet's wirklich werthvollen Kapiteln
ist er vorbeigegangen.
Claude Mydorge gab 1630 im Anschlüsse an die rasch verbrei-
teten Recreations ein Examen du livre des recreations matheniatiqties
et de ses prohVmes heraus, vielleicht etwas höher zu schätzen als das
^) Clünther, Venuischte Untersuchungen zur Geschichte der mathemati-
schen Wissenschaften. -) Poggendorff I, 14.S8.
Erfindung von Methoden. Wahrscheinlichkeitsrechn. Kettenbriiche u. s. w. 769
Buch, dessen Prüfung ausgesprochene Aufgabe war, aber den geo-
metrischen Leistungen Mydorge's (S. 673) nicht ebenbürtig.
Leurechon's Buch kam auch nach Deutschland. Ein Gönner
Schwenter's, wer es war, wissen wir nicht, schickte es ihm von
Paris aus zum Geschenk. Schwenter, welcher in der Vorrede zu
seinen Erquickstunden dieses erzählt, fügt hinzu, er sei der fran-
zösischen Sprache nicht so mächtig gewesen, dass er sofort Alles ver-
standen hätte, aber der Inhalt habe an und für sich zum Verständ-
niss der Sprache mitgeholfen, und sodann habe er Mühe und Kosten
nicht gescheut, eine Persönlichkeit aufzufinden, welche des Französi-
schen vollkommen kundig gewesen sei und ihn gegen Bezahlung beim
Uebersetzen unterstützte. Anderes habe er lange Zeit vorbereitet und
gesammelt gehabt und so sei endlich dieser Band zusammengekommen,
der an Fülle des Inhaltes mit jenem französischen Musterwerkehen
gar nicht mehr verglichen werden könne. Dass diese Behauptung
Schwenter's nicht auf Ruhmredigkeit sich zurückführt, beweisen die
574 Druckseiten der Mathematischen Erquickstunden, beweisen Be-
rufungen auch auf solche Werke, welche in hebräischer Sprache ver-
fasst nur einem so gewandten Orientalisten, wie Schwenter es war,
sich erschlossen, beweisen ihm eigene Untersuchungen, von welchen
wir die über Kettenbrüche oben erörtert haben. Auch von den aus
hebräischen Vorlagen stammenden Dingen wollen wir wenigstens ein
Beispiel geben. Die Aufgabe von den 30 Menschen, welche so ge-
schickt geordnet werden müssen, dass ein gewisses Abzählen eine zum
voraus bestimmte Hälfte derselben dem Tode weiht, während die
Anderen gerettet sind, und der Beziehung dieser Aufgabe zu Josephus
haben wir wiederholt gedacht. Bei Schwenter tritt sie gleichfalls
auf^). Auch ihr Vorkommen bei Christoph Rudolff, bei L eu-
re chon wird erwähnt, die Stelle des Josephus wieder angeführt.
Ueberdies aber ist eine älteste Quelle der Aufgabe als solcher ge-
nannt, welche Schwenter aufgestöbert habe. Elias Levita der
Deutsche^) (1472 — ^1549) verfasste ein 1518 in Rom gedrucktes Buch
Eaharlava, Abhandlungen über gemischte unregelmässige Sprach-
formen. Dort sei Ihn Esra als Erfinder des Kunststückchens ge-
nannt, welches er im Buche der Thaten beschrieben habe^J. iDie 30
zu ordnenden Leute sind ' dort zur Hälfte Ihn Esra's Schüler, zur
Hälfte leichtfertige Gesellen. Ob das angeführte Buch der Thaten
wirklich von Ihn Esra herrührt, ist eine andere, hier und für uns
ziemlich gleichgiltige Frage. Sicher ist, dass ein sogenanntes „Maser-
') Mathematische Erquickstunden S. 79 — 82. ^) Allgem. deutsche Bio-
graphie XVni, 505 — 507, Artikel von Ludw. Geiger. ^) Vergl. auch Stein-
schneider in der Zeitschr. Math. Phys. XXV, Supplementheft S. 123—124.
Cantoe, Geschichte der Mathem. 11. 2. Aufl. 49
770 75. Kapitel.
Buch" mehrfach vorkommt und Erzählungen mannigfacher Art von und
über jüdische Gelehrte enthält^). Sicher ist aber auch, dass Ibn Esra
(1093 — 1168) nicht der Erfinder des Kunststückchens sein kann, da
es mit der für dessen Ausführung zu benutzenden Regel schon in
einer Handschrift des X. Jahrhunderts sich vorfindet^). Spätere Vor-
kommen gehören dem XL Jahrhunderte u. s. w. an^).
Schwenter's Buch fand rasch Nachahmung und Erweiterung durch
Georg Philipp Harsdörfer '^) (1607 — 1658), einen Nürnberger
Rathsherrn und vielseitigen, auch einflussreichen Schriftsteller, der
sich besonders durch acht Bände Gesprächsspiele (1642 — 1649) und
durch die Gründung des Blumenordens an der Pegnitz (1644) in
weiten Kreisen bekannt gemacht hat. Er gab 1651 und 1653 zwei
Bände Fortsetzungen zu den Erquickstunden heraus, aus welchen der
Mathematiker allerdings Erquickliches kaum zu melden hat. Harsdörfer
war oifenbar bei riesiger allgemeiner Belesenheit in der Mathematik
am wenigsten bewandert, und was geometrisch interessant bei ihm
auftritt, dürfte sicherlich nicht sein Eigenthum sein, wenn wir auch
nicht überall seine Quelle nachzuweisen vermögen.
Mit dieser Fortsetzung blieb Schwenter's Buch Jahre lang das
vollständigste seiner Ai-t, dann liefen ihm 1697, also wieder zu einer
Zeit, welche uns näheres Eingehen verbietet, die Becreatdons mathe-
niatiques von Jaques Ozanam den Rang ab. Es bedürfte der Unter-
suchung, ob Ozanam mit Wahrscheinlichkeit die Erquickstunden
kannte und benutzte, oder nicht. Genannt hat er sie jedenfalls nicht.
Ob und in wie weit die drei Bände Apiaria universae philosophiae
mathematicae in quibus paradoxa et nova pleraque machinamenta
exhibentur, welche der italienische Jesuit Mario Bettini^) (1582 —
1657) in den Jahren 1641 — 1642 herausgab, und deren dritter Band
1660 unter dem Namen Recreationum mathematicarum Apiaria XII
novissima neu aufgelegt wurde, als ein durchaus selbständiges Werk
betrachtet werden müssen, wissen wir nicht. Harsdörfer hat es jeden-
falls ausgenutzt.
Der 1665 in Schleswig gedruckte Arithmetische Lustgarten von
Johann Mohr^) dürfte dagegen sicherlich eine Nachahmung
Schwenter's sein.
*) Private Mittheilung von Hrn. Herrn. Schapira. -) Curtze in der
BihUoth. mathem. 1895, S. 34—36. =*) Curtze ebenda 1894, S. 116 und Zeitschr.
Math. Phys. XL, Supplementheft S. 112 Note (1895). *) Allgem. deutsche Biogra-
phie X, 644 — 646. Artikel von W. Greiz enach. Dann besonders K. Rudel in
der Festschrift des Pegnesischen Blumenordens (Nürnberg 1894), S. 301—403
über Harsdörfer als Physiker, Mechaniker u. s. w. ^) Kästner, Geometrische
Abhandlungen, I. Sammlung, S. 25 — 27.— Poggendorff I, 179. •*) Poggen-
dorff II, 170.
Zahlentlieorie. Algebra. 771
76. Kapitel.
Zaiileiitheorie. Algebra.
Zahlen theo retische Untersuchungen mannigfacher
Art waren niemals ganz ausser Uebung gekommen, aber wesentlich
Neues hatten sie weder nach der Richtung gebracht, dass die seit
altgriechischer Zeit vorhandenen Gattungen von Aufgaben vermehrt
worden wären, noch nach der Richtung, dass neue Methoden Anwen-
dung gefunden hätten. Wenn Cataldi 1603 über vollkommene
Zahlen schrieb (S. 761) und eine Divisorentabelle der Zahlen bis 1000
beigab, so ist darin wieder nichts Neues zu finden. Die Schrift hätte
mehrere Jahrhunderte früher genau ebenso verfasst werden können.
Das Gleiche gilt von der Tabelle mit den Primzahlen unterhalb
10000, gilt beinahe auch von der Abhandlung über befreundete
Zahlen, welche der jüngere Franciscus .van Schooten 1657 in
seinen Exercitationes mathematicae drucken Hess.
Ausserhalb der längst und wiederholt betretenen Pfade liegt die
Mathesis hiceps vetus et nova, welche 1670 ein gelehrter Bischof
Johann Caramuel y Lobkowitz^) (1606 — 1682) veröffentlichte,
und die wir bei der geringfügigen Zeitüberschreitung von zwei Jahren,
deren wir uns dabei schuldig machen, noch in diesem Bande er-
wähnen. Caramuel trennte den Gedanken eines Zahlensystems über-
haupt von dem auf der Grundzahl 10 sich aufbauenden decadischen
System; er beschrieb vielmehr solche Systeme, deren Grundzahlen
sämmtliche Zahlen von 2 bis zur 10 einschliesslich und überdies 12
und 60 sind. Im 2. Bande des umfangreichen Werkes ist ein beson-
derer Abschnitt der Combinatorik gewidmet, und in diesem heisst ein
Kapitel Kyheia. Es enthält ziemlich unbedeutende Untersuchungen
über das Würfelspiel").
Vollends neue Bahnen eröffnete der Mann, welcher 1621 erst-
malig den griechischen Diophant im Drucke herausgab: Bache t de
Meziriac. Unter dem vollen Eindrucke des gewaltigen Virtuosen
in der Kunst der unbestimmten Analytik (Bd. I, S. 448) stehend hat
Bachet häufig Erörterungen und Zusätze eingestreut, welche den
Werth der Ausgabe um ein Beträchtliches erhöhten. Am wichtigsten
ist der Zusatz^) zu der Aufgabe IV, 41 des Diophant. Sein Inhalt ist
') Klügel, Mathematisches Wörterbuch I, 943 — 944. — Quetelet
pag. 225 — 226. — Allgem. deutsche Biographie III, 778 — 781. Artikel von Stieve.
•) Briefliche Mittheilung von H. Ambr. Sturm. ^) In der II. Ausgabe (Tou-
louse 1670) auf pag. 194—198 abgedruckt,
49*
772 ''ß- Kapitel.
unter Anwendung von Bezeichnungen, deren Backet sich freilich nicht
bediente, die aber dem heutigen Leser am geläufigsten sind, folgender.
Die beiden Gleichungen
X -\- y -\- s = 41 und 4ä; + 3?/ + y-^ =^40
sollen erfüllt werden. Wenn 3^ -f- --- =40 — Ax, so ist
9^ + ^ = 120 — 12a;.
Daneben ist y -\- z = AI — x, also mittels Subtraetion
8y = 79 — IIa; d. h. y = 9^ - l^x
und
2=^4:l—x — y = 31— + —X .
Jede Wahl von x würde daher Werthe von y und z finden lassen,
welche mit x zusammen die beiden Gleichungen erfüllen. Nun ver-
langt Bachet nicht bloss positive Werthe für x, y, z, sondern hierin
über Diophant hinausgehend auch ganzzahlige Werthe. In
9I
73 8
erster Linie muss also 9- 1— a; positiv sein, d. h. x <, — ^ oder
80 ^ o
^¥
2
X < 7^^ • Für X stehen daher die Möglichkeiten der Werthe x = 1
1 3
bis a; = 7 zur Verfügung. Dabei soll auch 31— -|- —x ganzzahlig,
mithin 1 -\- ?>x durch 8 theilbar sein, und dieses Verlangen wird
durch a; = 5 erfüllt. So findet Bachet a7 = 5, ?/ = 3, ^ = 33. Die
Auffindung von a? = 5 gelingt freilich nur durch versuchsweise An-
wendung der in Frage kommenden möglichen Werthe, und insofern
ist das Verfahren zweifellos recht langwierig, aber immerhin ist so
eine Methode vorhanden zur Auflösung einer der Haupt-
sache nach neuen Aufgabe, denn — wir wiederholen es — in
Europa ist vor Bachet niemals mit gleicher Bestimmtheit wie von
ihm darauf abgehoben worden, dass es ausschliesslich um ganzzahlige
positive Auflösungen der unbestimmten Aufgabe sich handle.
Dieser Zusatz in der Diophantausgabe war für Bachet nicht die
erste, nicht die letzte Gelegenheit, sich über unbestimmte Aufgaben
ersten Grades auszusprechen. Schon in den ProhUmes iilaisants et de-
Uctables von 1612 war in der 5. Aufgabe die Behauptung enthalten,
man könne stets ein kleinstes ganzes Vielfaches einer ge-
gebenen Zahl finden, welches ein ganzes Vielfaches einer
zweiten gegebenen Zahl um eine dritte gegebene Zahl über-
treffe, vorausgesetzt, dass die beiden ersten gegebenen Zah-
len theil erfremd seien. In der zweiten Auflage der Sammlung
Zahlentheorie. Algebra. 773
von 1624 ist die 5. Aufgabe zur 6. geworden, die blosse Behauptung
zu einem bewiesenen Lehrsatze, und zum Zwecke des Beweises hat
Bach et aus einem anderen Werke Elements d'arithmetiqiie, welches
er noch herausgeben wollte, aber niemals herausgegeben zu haben
scheint, etwa zehn Sätze entnommen und hier eingeschaltet^). Da-
runter war der für jede wissenschaftliche Zahlentheorie grundlegende
Satz, dass, wenn a,l), c . . . unter einander theilerfremde Zahlen sind,
und M deren Product ahc . . . bedeutet, wenn überdies n^ und w,
Zahlen unterhalb 31 sind, welche der Reihe nach durch a, h, c . . .
dividirt die Reste ^i, ßx, fx • ■ • beziehungsweise a.^, ß.,^, y.> . . . übrig
lassen, das System der ersten Reste mit dem der zweiten nicht in
Uebereinstimmung sein kann.
Bachet's Diophant übte durch seine eigenen Zusätze bereichert
eine um so mächtigere Wirkung aus, und insbesondere war es Pierre
de Fermat, welcher im Besitze eines Exemplars dieses Werkes die
Blätter desselben mit Randbemerkungen füllte, welche dann später
1670 in einer neuen, durch Fermat's Sohn besorgten Diophantausgabe
ihren Abdruck fanden. Andere zahlentheoretische Sätze Fermat's
wurden in den Opera varia veröffentlicht, deren Druck gleichfalls
der Sohn überwachte, noch Anderes steht in dem Commercium episto-
licum, welchen John Wallis 1658 herausgab^). Eine Frage, deren
Beantwortung schwierig, wenn nicht unmöglich ist, betrifft die Rand-
bemerkungen zum Diophant. Was war Fermat's Absicht, als er sie
niederschrieb? Dachte er an den Druck einer neuen Ausgabe, wie
sie wirklich nach seinem Tode veranstaltet wurde, oder machte er
nur zum eigenen Gebrauche flüchtige Aufzeichnungen über das, was
ihm beim Studium auffiel, und was künftigen Arbeiten als Gegenstand
dienen sollte? Im zweiten Falle wären gewisse Aeusserungen über
von Fermat besessene Beweise nicht haarscharf zu nehmen. Welcher
Mathematiker hätte sich bei ganz neuen Untersuchungen nicht schon
getäuscht und Beweise für streng und vollwichtig gehalten, die später,
wenn sie der Oeffentlichkeit übergeben werden sollten, sich als allzu-
leicht erwiesen? Im ersteren Falle hätte man dagegen bei dem La-
konismus jener ebenerwähnten Aeusserungen an ein absichtliches
Schweigen zu denken, welches vielleicht die neue Ausgabe mit einem
Reize mehr versehen sollte, und welches zu brechen Fermat sich vor-
behielt, wann und wie es ihm beliebte, vielleicht richtiger gesagt
wann und wie er der ihm angeborenen Scheu vor Ausarbeitungen
^) Vergl. die Vorrede von 1624, S. 10 des neuen Abdrucks. *) Der Com-
mercium epistolicum ist auch in den Gesammtwerken von Wallis (Oxford 1695
—1699) abgedruckt.
774 76. Kapitel.
Herr zu werden vermochte. Jedenfalls fehlen uns die Beweise, von
denen wir hier reden, und ebenso sicher ist, dass Fermat sie be-
sessen hat oder besessen zu haben glaubte, da es sonst unbegreif-
lich wäre, dass er sie den Gelehrten, mit welchen er einen regen
Briefwechsel zu führen pflegte, hie und da anbot. Unbegreiflich frei-
lich ist es auch, dass dieses Anerbieten niemals angenommen wurde,
wodurch der von uns betrauerte Verlust nirgend, wo es gelohnt hätte,
abgewendet worden ist. Wir wollen nun einige der Fermat'schen
Sätze in der Reihenfolge, in welcher sie in der Diophantausgabe von
1670 erschienen, angeben.
1. „Es ist ganz unmöglich, einen Kubus in zwei Kuben, ein
Biquadrat in zwei Biquadrate und allgemein irgend eine Potenz
ausser dem Quadrate in zwei Potenzen von demselben Exponenten
zu zerfallen. Hierfür habe ich einen wahrhaft wunderbaren Beweis
entdeckt, aber der Rand ist zu schmal, ihn zu fassen" ^). Dieser
Satz, welchem seine zufällige Stellung als Randnote den ersten Platz
in unserem Berichte anweist, ist zugleich der berühmteste von allen,
welche die Wissenschaft Fermat verdankt. Wie es sich mit jenem
wirklichen oder vermeintlichen Beweise Fermat's verhielt, gehört zu
den unlösbaren Räthseln. Nur sehr allmälig ist es verschiedenen her-
vorragenden Zahlentheoretikern') gelungen, die Wahrheit des Satzes
festzustellen. Sie benutzten dazu Beweismittel, welche Fermat zuver-
lässig nicht in seiner Gewalt hatte. Im Februar 1877 tauchte zwar
in italienischen Zeitungen die Nachricht auf, ein H. Paolo Gorini
habe einen einfachen Beweis entdeckt, doch ist in die eigentliche
Fachliteratur nichts gedrungen, so dass jene Mittheilung gleich so
manchen ähnlichen aus verschiedenen Ländern und Zeiten auf Irrthum
beruht haben dürfte. Ganz zweifellos ist auch nicht der Zeitpunkt,
zu welchem Fermat seinem Satze die erwähnte Form gab ^): Wahr-
scheinlich im September oder October 163G schickte Fermat an
Pater Mersenne eine Anzahl von Aufgaben, welche einem Herrn
de Sainte-Croix vorgelegt werden sollten. Vermuthlich ist damit
der Prior des Klosters von Ste. Croix gemeint, welcher mit seinem
') Diophant (1670), pag. 61. Vergl. die deutsche Diophantübersetzung von
6. Wertheim (Leipzig 1890), S. 52. Wir citiren künftig die griechische Aus-
gabe von 1670 einfach als: Diophant, die Wertheim'sche Uebersetzung als
deutsch mit nachfolgender Seitenzahl. *) Euler, Dirichlet, Kummer.
') Für alle diese Zeitbestimmungen vergl. C. Henry, Becherches sur les manu-
serits de Pierre de Fermat im Bulletino Boncompagni T. XII. Wir citiren
Henry mit der Seitenzahl des Sonderabdrucks und in Klammem die Stelle des
Bullet. Bmicamp. Femer P. Tannery, Sur la date des principales decouvertes
de Fermat im Bulletin Darboux. 2. Serie, T. VII (1883). Wir citiren die Seiten-
zahl des Sonderabdrucks.
Zahlentheorie. Algebra. 775
weltlichen Namen Andre Jumeau hiess^). Unter diesen Aufgaben
findet sich schon diejenige, zwei Kuben zu finden, deren Summe ein
Kubus oder zwei Biquadrate, deren Summe ein Biquadrat sei-), und
es ist mehr als nur wahrscheinlich, dass Fermat damals schon wusste,
dass er hier Unmögliches verlangte, und dass er nur, um die Auf-
gabe noch schwieriger zu gestalten, nicht geradezu den Beweis der
Unmöglichkeit verlaugte. Wann aber die Ausdehnung des Satzes
auf die Unmöglichkeit von x" -\- y" = s" bei n>4 erfolgte, ist
ganz unbekannt.
2. „Eine Primzahl von der Form 4:11 -{- 1 ist nur einmal Hypo-
tenuse eines rechtwinkhgen Dreiecks, ihr Quadrat ist es zweimal, ihr
Kubus dreimal, ihr Biquadrat viermal u. s w." ^). An einem Bei-
spiele, etwa dem der Primzahl 5, erläutert sich dieser Satz folgender-
massen :
5^' = 3^ -f 4-; '2b-' = 15^ + 20^ = 7- + 24-;
125- = 75- + 100- = 35- + 120^ = 44- + 1171
Im unmittelbaren Anschlüsse an diesen Satz behauptet Fermat weiter:
3. „Eine solche Primzahl und ihr Quadrat lassen sich nur einmal
in zwei Quadrate zerfallen, ihr Kubus und ihr Biquadrat zweimal, ihr
Quadratokubus und ihr Kubokubus dreimal u. s. w." Beispielsweise ist
5 = 1+4; 25 = 9-fl6; 125 = 4 -f 121 = 25 + 100;
025 = 49 + 57G = 225 -f 400 u. s. w.
4. „Wir können eine Aufgabe lösen, welche Bachet unbekannt
war, nämlich eine aus zwei Kuben zusammengesetzte Zahl in zwei
andere Kuben zerlegen, und zwar ist das auf unendliche viele Weisen
möglich"^).
5. „Ich habe sogar den schönen und ganz allgemeinen Satz
entdeckt, dass jede Zahl entweder eine Dreieckszahl oder die Summe
von 2 oder 3 Dreieckszahlen; entweder eine Quadratzahl oder die
Summe von 2, 3 oder 4 Quadratzahlen; entweder eine Fünfeckszahl
oder die Summe von 2, 3, 4 oder 5 Fünfeckszahlen ist, und dass
weiter derselbe allgemeine Satz für Sechseckszahlen, Siebeneckszahlen,
überhaupt beliebige Polygonalzahlen gilt. Den Beweis desselben, der
aus vielen mannigfaltigen und ganz verborgenen Geheimnissen der
Zahlen hergenommen wird, -kann ich hier nicht beifügen. Ich habe
nämlich vor, ein besonderes Werk diesem Gegenstande zu widmen
und die Arithmetik in diesem Theile über die alten und bekannten
Sätze hinaus in wunderbarer Weise zu erweitern"^). Der letzte Aus-
1) Henry pag. 23 (XII, 497). *) Tannery pag. 8. '') Diophant pag. 127
(deutsch 112). ^) Ebenda pag. 133 (deutsch 119). ''; Ebenda pag. 180—181
(deutsch 162).
776 76. Kapitel.
Spruch ist wieder einer von denen ^ auf welche man sich dafür be-
rufen könnte, dass Fermat's Randnoten zum Diophant auf künftige
Veröffentlichung als solche gemeint waren. Der Satz selbst ist in
dem mittelbar für den Herrn von Sainte Croix bestimmten Briefe von
1636 aufgefunden worden^). Dieser scheint ihn alsdann Descartes
mitgetheilt zu haben, welcher seinerseits wieder in einem Briefe an
Mersenne vom 27. Juli 1638 ihn wiederholt^ indem er ihn das
Eigenthum des H. von Ste. Croix nennt ^). Ganz klar ist die Sache
nicht. Jedenfalls erscheint es wunderbar, dass Mersenne, welcher die
erste Uebermittelung des merkwürdigen Satzes an den, welcher jetzt
als Urheber gelten sollte, besorgt hatte, nicht für das Recht des
eigentlichen Erfinders eintrat. Wieder 16 Jahre später, am 25. Sep-
tember 1654, theilte Fermat den Satz brieflich auch Pascal mit^).
Der Beweis, sagte er, beruhe auf dem Satze von der Zerfällbarkeit
jeder Primzahl von der Form 4n -\- 1 in zwei Quadrate. Ist dieser
Beweis schon gleich bei Erfindung des Satzes in Fermat's Besitz ge-
wesen, und ist dessen versuchte Datirung richtig, so stammt demnach
auch ein Theil mindestens des vorhin unter 3. angegebenen Satzes
ebenfalls aus dem Jahre 1636.
6. „Ich kann allgemein die Aufgabe lösen, beliebig viele Zahlen
von der Beschaffenheit zu ermitteln, dass das Quadrat einer jeden
eine Quadratzahl bleibt, mag man nun die Summe aller Zahlen zu
denselben addiren oder von denselben subtrahiren'' *).
7. „Warum sucht aber Diophant nicht zwei Biquadrate, deren
Summe ein Quadrat sei? Diese Aufgabe ist allerdings unmöglich,
wie mein Beweisverfahren in aller Strenge darthun kann"^).
Diesen Auszügen aus den Randbemerkungen zu Diophant lassen
wir solche aus Briefen Fermat's folgen.
8. Die beiden ältesten Untersuchungen auf zahlentheoretischem
Gebiete, mit denen Fermat sich beschäftigte, betrafen Zauberquadrate
und vollkommene Zahlen. Wohin sie führten, ist unbekannt. Die
Briefe, in welchen jene Andeutungen vorhanden sind^), führen die
Daten von April und Juni 1640. Die Zauberquadrate hat Fermat
in den Problemes plaisants Bachet's kennen gelernt, deren er in der
Ausgabe von 1624 sich bediente; es sind mehr als zehn Jahre, dass
er selbst sich eine Methode zur Herstellung solcher Quadrate bildete,
9. Unter dem 18. October 1640 schrieb Fermat^) an Frenicle,
^) Tannery pag. 7. *) Oeuvres de Descartes (ed. Cousin) VII, 11 '2.
3) Pascal m, 234. *) Diophant pag. 221 (deutsch 203). *) Ebenda
pag. 258 (deutsch 248). ^) Fermat, Varia Opera pag. 173 und 176. Oeuvres
n, 189—197. — Henry pag. 48 (XII, 522). — Tannery pag. 9. ") Fermat,
Varia Opera pag. 163. Oeuvres 11, 209.
Zahlentheorie. Algebra. 777
jede Primzahl theile unfehlbar den um die Einheit verminderten Be-
trag irgend einer Potenz einer beliebigen Zahl, und der Exponent
jener Potenz, Vexposant de ladite puissance, sei selbst ein Theiler der
um die Einheit verminderten Primzahl. Dieser Satz erhielt in den
zahlentheoretischen Lehrbüchern unserer Gegenwart den Namen des
Fermat'schen Satzes. In der Bezeichnung von Gauss wird er so
gesehrieben: a* ^i 1 (mod^j) und j9 ^ 1 (mod t).
10. Englischen Mathematikern legte Fermat 1657 die Doppel-
aufgabe vor, eine Kubikzahl zu finden, welche um ihre Untervielfache
vermehrt zur Quadratzahl werde, eine Quadratzahl zu finden, deren
Untervielfache sie zur Kubikzahl ergänzen^). Als Beispiel einer Auf-
lösung der ersten Aufgabe wies er auf 7^ ^ 343 hin, weil
343 4_ 1 _|_ 7 _!- 49 = 400 = 201
11. Eine hochwichtige Aufgabe ist die der ganzzahligen Auf-
lösung von ax' -\- 1 = y% wenn die nichtquadratische ganze Zahl a
gegeben sei^). Fermat legte sie 1657 erst Frenicle vor, dann allen
lebenden Mathematikern. Seine eigene Auflösung kennen wir, wie
wir noch sehen werden, nur in ihren allerallgemeinsten Umrissen.
In England fanden Wallis und Lord Brouncker gemeinsam ein
sehr umständliches Verfahren, welches in dem Commercium episto-
licum von 1658 veröffentlicht ist. Eine zweite Veröffentlichung er-
folgte zehn Jahre später. John Pell hatte 1654 — 1658 als Resident
Cromwell's in der Schweiz gelebt und war dort mit Johann Hein-
rich Rahn (1622—1676) bekannt geworden, welcher 1659 eine
„Teutsche Algebra" herausgab. Pell vermittelte eine englische Ueber-
setzung dieses Buches durch Thomas Brancker, welche 1668 ge-
druckt wurde. Rahn's Name blieb aber auf dem Titelblatte weg und
kommt nur in der Vorrede in der Form Rhonius vor. Pell, der
die Uebersetzung veranlasst hatte, gab auch einige Zusätze, und
unter diesen ist der wiederholte Abdruck der englischen Auflösung
von ax--^l = if zu finden, ein anderes Verdienst hat Pell sich um
diese Aufgabe nicht erworben, und gleichwohl ist sie als Pell' sehe
Aufgabe bekannt geblieben.
12. Ein Satz hat Fermat^) wiederholt beschäftigt. Wahrschein-
lich war er ihm schon 1637, dann sprach er ihn als sicher am
18. October 1640 aus, und ebenso in einem Briefe vom 29. August
*) Fermat, Varia Opera pag. 188. Oeuvres ü, 332. *) Ebenda, Varia
Opera pag. 190. Oeuvres IT, 333. — Tannery pag. 10. — Hankel, Zur Ge-
schichte der Mathematik im Alterthum und Mittelalter. — Allgem. deutsche
Biographie XXVII, 174—175. =>) Fermat, Varia Opera pag. 162. — Pascal
III, 232. — Tannery pag. 10.
778 76. Kapitel.
1654 an Pascal. Der Wortlaut dieser letzteren Mittheilung verdient
von einem gewissen Absätze an Beachtung. Der Satz selbst besteht
darin, dass die fortgesetzte Quadrirung von 2 bei Vermehrung der
betreffenden Potenzen um 1 lauter Primzahlen gebe, dass also 2-^ -}- 1
immer Primzahl sei. Als Beispiele führt Fermat an: 2- -f- 1 = 5;
2* + 1 = 17, 2» + 1 = 257, 21*^ + 1 = 65537, und nun fügt er
hinzu: „Es ist das eine Eigenschaft, für deren Wahrheit ich einstehe;
der Beweis ist sehr unangenehm, und ich bekenne, dass ich ihn noch
nicht vollständig zu erledigen im Stande war. Ich würde Ihnen
nicht vorschlagen, einen Beweis zu suchen, wenn ich damit zu Stande
gekommen wäre." Das Eigenthümliche besteht darin, dass der Satz
irrig ist, und dass, wenn Fermat in seinen Beispielen um einen ein-
zigen Schritt weiter gegangen wäre, er mit
23=-' + 1 = 4294967297 = 641 • 6700417
die erste zusammengesetzte Zahl jener vermeintlichen Primzahlenform
vor sich gehabt hätte. Fermat hat also in seiner Behauptung sich
getäuscht. Um so schärfer tritt neben der festen Ueberzeugung von
der Richtigkeit des Satzes die offene Erklärung entgegen, es sei ihm
nicht geglückt, einen zureichenden Beweis aufzufinden. Sie muss
uns in der Ueberzeugung bestärken, dass Fermat, wenn er auch
vielleicht etwas rasch zu Verallgemeinerungen geneigt war, doch eine
einfache Induction nicht als Beweis anerkannte, dass er also, wo er
von thatsächlich geführten Beweisen sprach, auch wirklich solche, die
ihm tadellos erschienen, besessen haben muss.
Worin bestanden aber die zahlen theoretischen Methoden Fermat's?
Er rühmte sich solcher schon sehr frühe. Schon am 16. December
1636 schrieb er an Roberval^): Four ce qui est des nombres et de
leurs parties aliquotes fai trouve une metliode generale poiir soiidre
toutes les questions par algehre, de qiioy fai fait dessein d'ecrire un
petit traite. Allein da diese Abhandlung über aliquote Theile, ver-
muthlich also auch über deren Summe, über vollkommene Zahlen
und dergleichen nicht zu Stande kam, so kann sie über die in ihr
zur Anwendung gebrachte allgemeine Methode keine Auskunft er-
theilen. Etwas bessere Ausbeute gewährt ein Bruchstück, welches
unter der Aufschrift Relation des dccouvertes en la scienee des nomhres
in der Leidener Bibliothek aufgefunden worden ist^). Fermat erklärt
darin, er habe, da die in den Büchern gelehrten Methoden sich beim
Beweise schwieriger Sätze als untauglich erwiesen, eine neue Methode
erfunden, welche er la descente infinie ou indefinie, die unendliche
*) Fermat, Varia Opera pag. 149. ^ Henry pag. 213—216 (XII, 687
—690).
Zablentheorie. Algebra. 779
oder unbegrenzte Abnahme nannte. Insbesondere bei Unmög-
liclikeitssätzen sei dieses Verfahren angebracht, z. B. bei dem Satze,
dass es kein ganzzahliges rechtwinkliges Dreieck gebe, dessen Fläche
als Quadratzahl auftrete. Man könne nämlich beweisen, dass, falls
ein solches Dreieck vorhanden sei, immer ein zweites in kleineren
Zahlen die gleiche Eigenschaft besitze. Von diesem gelange man
zu einem dritten, zu einem vierten u. s. w. ins Unendliche; unendlich
viele ganze Zahlen von abnehmender Grösse gebe es aber nicht, also
sei die erste Annahme unrichtig. Wie er den Beweis von der Mög-
lichkeit eines solchen Dreiecks auf die eines kleineren führe, sage er
hier nicht, denn einmal sei die Erörterung zu lang, und ferner liege
gerade darin das Geheimniss seines Verfahrens, und er möchte gern,
dass die Pascal, die Roberval und Andere, auf diese Andeutung
gestützt, es ihm nacherfänden. Für den Beweis von bestimmten Be-
hauptungen^) sei die Methode zunächst nicht anwendbar gewesen,
wie z. B. für den Beweis des Satzes, dass jede Primzahl von der Form
4:U -{- 1 Summe zweier ganzzahligen Quadrate sei. Da habe er sich
folgendermassen geholfen: er habe gezeigt, dass, wenn irgend eine
Primzahl von der Form 4n-\- 1 nicht die Summe zweier ganzzahligen
Quadrate wäre, es eine kleinere Primzahl von gleicher Form und
gleicher Eigenschaft geben müsste. Bei fortwährender Verkleinerung
müsse man aber endlich zur kleinsten Primzahl von der Form 4w + 1
d. h. zu 5 gelangen, welche alsdann auch nicht Summe zweier ganz-
zahligen Quadrate sein könnte, während doch 5 ^ 1^ -|- 2- ist. Aehn-
licherweise habe er unter Anwendung neuer, mitunter sehr schwierig
aufzufindender Grundgedanken noch andere Sätze unter die Methode
der unendlichen Abnahme untergebracht. Dahin rechne er den Satz,
an dessen Beweis Bach et und Descartes — letzterer nach brief-
lichen Aeusserungen — geradezu verzweifelten, dass jede Zahl Quadrat-
zahl oder Summe von 2, 3, 4 Quadratzahlen sei, dahin auch die
ganzzahlige Auflösung von ax^ -|- 1 = ^-, so oft a keine Quadratzahl
sei. Die Herren Frenicle und Wallis hätten allerd^gs einige be-
sondere Auflösungen dieser letzteren Aufgabe geliefert, aber nicht die
allgemeine. Diese beruhe eben auf der Methode der unendlichen Ab-
nahme, und nun möchten die Herren sich wiederholt daran versuchen ^).
Auch der Satz, dass kein Kubus die Summe zweier Kuben sei, ge-
höre unter das gleiche Beweisverfahren.
*) questions affirmatives im Gegensatze zu den vorher erwähnten pro-
positions negatives. ^) ce que leur indiqiie, afin qu'ils adjoustent la demonstra-
tion et construction generale du theoreme et du prohleme aux Solutions singuliercs
qu'ils ont donnees.
780 76. Kapitel.
An diesen Auszug aus Fermat's Angaben knüpft sich von selbst
die Frage, woher Fermat die Anregung zur Erfindung seiner Methode
der unendlichen Abnahme erhalten haben mag? Man wird kaum
irre gehen, wenn man den letzten Zusatz des Campanus zu
Euklid IX, 16 (S. 105) als die Quelle nennt, aus welcher Fermat
schöpfte. War doch das Studium Euklid's und seiner Erklärer noch
ein selbstverständliches, dem Jeder oblag, welcher für Mathematik
Sinn hatte, und Fermat hat gewiss der allgemeinen Uebung sich
nicht entzogen. Aber sein Verdienst wird durch das Vorhandensein
dieses um 300 Jahre älteren Vorgängers um nichts geschmälert. In
jenen 300 Jahren haben Tauseude vor und gleichzeitig mit Fermat
den Grundgedanken der Methode der unendlichen Abnahme genau so
wie er kennen gelernt. Sie alle haben nicht eingesehen, welcher
Ausdehnung die einmalige Anwendung des Gedankens durch Cam-
panus fähig war, sie alle gingen achtlos vorüber, die Perle im Frucht-
haufen verschmähend, bis Fermat sie entdeckte und ihr die richtige
Fassung verlieh.
Eine zweite Frage, welche sich anknüpft, ist die nach dem Zwecke
und der Verbreitungsart der Relation des decouvertes en la science
des nomhres. Die Vermuthung spricht dafür, dass sie in zahlreichen
Abschriften umlief, dass neben derjenigen, die in Leiden sich erhielt,
andere an die in ihr zum Nacheifern geradezu herausgeforderten
Mathematiker gegangen sein müssen, dass jene Herausforderung den
eigentlichen Zweck des denkwürdigen Schriftstückes bildete. Der Er-
folg aber war Null. So wenig wir zweifeln, dass Pascal und Roberval,
Fremde und Wallis die Relation erhielten und studirten — Bachet
und Descartes waren schon todt, als sie 1G50 verbreitet wurde ^) —
ebenso gewiss ist es, dass diese Männer nichts herausstudirt haben.
Fermat's Geheimniss ist sein Geheimniss geblieben lange über das
Grab hinaus.
Ausser in der Relation hat Fermat noch an einer Stelle seines
Verfahrens unendlicher Abnahme gedacht, allerdings ohne diese Wort-
verbindung zu gebrauchen. Das erste in der Relation angeführte
Beispiel der Anwendung der unendlichen Abnahme war das von der
Unmöglichkeit eines ganzzahligen rechtwinkligen Dreiecks mit einer
Quadratzahl als Fläche. Diesen Satz kannte Fermat 1686, als er für
den Herrn von Ste. Croix Aufgaben zusammenstellte, welche Unmög-
liches verlangten =^), auf ihn kam er in seinen Diophantanmerkungen
zurück^). Der letzte Satz des VI. Buches des Diophant hatte Bachet
^) Tannery im Bulletin Darboux XXVIII, 61— 62. ^) Tannery pag. 8.
^) Diophant pag. 338—339 (deutsch 294—295).
Zahlentheorie. Algebra. 781
Gelegenheit geboten, noch eine ganze Anzahl von Aufgaben über das
ganzzahlige rechtwinklige Dreieck folgen zu lassen. Die 20. derselben
betraf die Auffindung eines rechtwinkligen Dreiecks von gegebener
Fläche, und an sie knüpfte Fermat als Bedingung, unter welcher
allein eine Auflösung möglich ist, den Ausschluss einer Quadratzahl
als Fläche. Er hat auch den Beweis jener Unmöglichkeit in räthsel-
hafter Kürze angedeutet, dessen Schluss allein ganz klar und ver-
ständlich ist: „Wenn es also zwei Quadrate giebt, deren Summe und
Differenz Quadrate sind, so giebt es auch zwei andere ganze Quadrat-
zahlen von derselben Beschaffenheit wie jene, welche aber eine kleinere
Summe haben. Durch dieselben Schlüsse findet man, dass es eine
noch kleinere Summe als die vermittels der ersteren gefundene giebt,
und so werden ins Unendliche fort immer kleinere ganze Quadrat-
zahlen gefunden werden, welche dasselbe leisten. Das ist aber un-
möglich, weil es nicht unendlich viele ganze Zahlen geben kann,
welche kleiner sind als eine beliebig gegebene ganze Zahl. Den Be-
weis ganz und ausführlicher hier mitzutheilen, dazu reicht der Raum
nicht aus." Der vollständige Beweis findet sich in Frenicle's weiter
unten zu nennenden Abhandlung über ganzzahlige rechtwinklige Drei-
ecke. Man wird ihn vielleicht als Fermat's Eigenthum betrachten
müssen, da Fermat einmal ausdrücklich sagt^), er habe an Frenicle
die durch unendliche Abnahme geführten Beweise einiger Unmöglich-
keitssätze geschickt.
Wir haben die Namen der Männer hervorgehoben, welche Fermat
vermuthlich unmittelbar, jedenfalls mittelbar zur Nacherfindung seines
Verfahrens und dadurch zu einer Art von Wettkampf herausforderte.
Von einer Thätigkeit Roberval's in der Zahlentheorie ist nichts
bekannt. Fermat dürfte ihn nur erwähnt haben , weil er dessen
Fähigkeiten überhaupt hoch anschlug, und weil Roberval in dem Brief-
wechsel zwischen Fermat und Pascal als eine Art von Vertrauens-
mann des letzteren vorkommt, so dass es für Fermat nahe lag, beide
Persönlichkeiten zu verbinden.
Pascal hat wirklich zahlentheoretisch gearbeitet. Zwei kleinere
Abhandlungen sind uns von ihm bekannt. Die erste ^) beschäftigt
sich mit dem Producte von Zahlen, welche in der natürlichen Zahlen-
reihe unmittelbar aufeinanderfolgen, also mit
a(a-f l)(a + 2) ■••(« + /.•- 1),
wo a und Ti positive ganze Zahlen sind. Er nennt ein solches Pro-
') Fermat, Oeuvres II, 436. Auf diese Stelle hat uns H. G. Wertheim
aufmerksam gemacht und die entsprechenden Folgerungen aus ihr gezogen.
-) Pascal III, 278—282.
782 76. Kapitel.
duct produit des nonibres Continus und zwar de Vespece k, in lateini-
scher Sprache produdiim continu<yrum sjjeciei Ji. Es sei das erste Mal,
meint Pascal, dass solche Producte untersucht würden, und wenn wir
ihm hierin beizupflichten haben, so ist nicht minder richtig, dass
Pascal's mathematischer Blick ihn auf einen Ausdruck leitete, der
hinfort eine immer bedeutendere Rolle spielen sollte. Unter Pascal's
Sätzen ist der erste folgender, dem wir freilich durch Anwendung der
Buchstaben h und Je eine bei ihm nicht vorhandene Gestalt geben:
Wenn h und Z: ganze Zahlen sind, so findet das Yerhältniss statt:
l ■'2---{h — i): Jc(h H- 1; ■ • • (k + /' — 2)
= 1 • 2 ■ • ■ (/; — 1) : /i(Ä + 1) • • • (h + Ic — 2).
Im zweiten Satze ist die Theilbarkeit von cna -|- 1) • • • (a -|- /.• — 1)
durch 1 • 2 • ■ • A" ausgesprochen und mittels der Betrachtung bewiesen,
dass ci(a-\-iy.^^.(a + k-i) ^^^ ^,, r^^^^ ^^^ j^ _^ ^,^„ Ordnung eine
ganze Zahl sein müsse. Dieser Beweis lässt uns zugleich den Zu-
gangspunkt erkennen, von welchem aus Pascal in die Betrachtung
der Eigenschaften ganzer Zahlen eintrat. Die weitereu Sätze der
Abhandlung sind nicht von grosser Bedeutung.
Pascal's zweite Abhandlung^), die wir zu nennen haben, hat die
Theilbarkeitsbedingungen von Zahlen zum Gegenstande, insofern die-
selbe aus der Kenntniss der einzelnen Ziffern der zu prüfenden Zahl
hervorgehe: Caracteres de divisihüite des nomhres, deduits de la con-
nnissance de Ja somme de leurs cJiiffres, oder lateinisch: De numeris
midtiplicibus ex sola characierum numericorum additione agnoscetidis.
Die Theilbarkeitsfrage sei allerdings schon vielfach behandelt, sagt
Pascal in den einleitenden Worten, und das Kennzeichen der Theil-
barkeit durch 9 sei Gemeingut, aber er wolle ein ähnliches Verfahren
lehi-en, welches die Theilbarkeit durch irgend ein Ä zur Entscheidung
bringe. In Pascal's eigener Bezeichnung ist seine Vorschrift die fol-
gende. Er schreibt in eine Zeile die Zahlen 10 98765432 1.
Unter die rechts zu äusserst befindliche 1 schreibt er wieder eine 1.
Diese vervielfacht er mit 10, dividirt das Product durch A und schreibt
den Rest B unter die 2. Sodann bildet er das Zehnfache von B, um
es wieder durch A zu dividiren und den Rest C unter die 3 zu
setzen u. s. w., so dass schliesslich eine Doppelreihe
10 9 8 7654321
K IHGFEBCBl
vorhanden ist. Soll nun etwa TVNM, d. h. T Tausender, Y Hun-
*) Pascal 111/311—322.
Zahlentheorie. Algebra. 783
derter, T Zehner, M Einer auf Theilbarkeit durch A geprüft werden,
so schreibt man die Zahl in eine dritte Zeile und zwar M unter 1,
N unter B, V unter C, T unter D und vervielfacht so wie die
Zeilenglieder unter einander stehen, worauf man die Producte addirt.
Mit anderen AVorten, man bildet die Summe 1 • M-\-B-N-\-C- V-^BT
und mit ihr ist TV NM gleichzeitig durch Ä theilbar oder nicht.
Natürlich kann man die Summe, welche man erhielt, neuerdings einer
ähnlichen Prüfung unterwerfen. Wir heben aus den Eiuleitungs-
worten noch besonders hervor, dass Pascal das volle Bewusstsein von
dem Unterschiede hatte, welcher zwischen Zahlensystem überhaupt
und dem an sich zufälligen decadischen Systeme^) besteht, und dass
er hierin Vorgänger, aber jedenfalls unbekannter Vorgänger von
Caramuel (S. 771) war.
Der zweite Mathematiker, den wir nächst Pascal in Frankreich
als Zahlentheoretiker zu nennen haben, ist Beruhard Frenicle
de Bessy") (etwa 1602 — 1675). Er war im Müuzamte angestellt und
gehörte überdies der französischen Academie der Wissenschaften an,
in deren Veröffentlichungen seine Abhandlungen vereinigt erschienen
sind^). Ihr Gegenstand ist fast ausschliesslich zahlentheoretisch oder
zahlentheoretisch-combinatorisch, indem wir z. B. die Zauberquadrate
unter diese letztere Benennung unterbringen zu sollen glauben. Die
rein zahlentheoretischen Abhandlungen beschäftigen sich vorzugsweise
mit ganzzahligen rechtwinkligen Dreiecken , triangles redangles en
nomhres, um Frenicle's Ausdruck zu gebrauchen. Wenn eine Ab-
handlung die Ueberschrift Methode pour trouver la Solution des problemes
par exelusiou trägt, so ist dieses ein einigermassen irreführender Titel.
Eine Methode der Ausschliessung wird hier noch weniger gelehrt, als
wir von Fermat sagen durften, er habe die Methode der unendlichen
Abnahme gelehrt. Bei Frenicle besteht die Ausschliessung in Fol-
gendem: Irgend ein Satz, z. B. ein Satz für die Seiten eines bestimmten
ganzzahligen rechtwinkligen Dreiecks wird ausgesprochen. Er sei,
heisst es weiter, Sonderfall eines allgemeinen Satzes, dem man nach-
zuforschen habe. Nun versucht es Frenicle mit einer Erweiterung,
aber ein anderes bestimmtes Beispiel passt für diese Erweiterung
nicht, sie ist folglich unstatthaft. Aehnlich wird eine zweite, viel-
leicht eine dritte Erweiterung versucht und durch ihr widersprechende
Beispiele ausgeschlossen. Das ist es, was unter der exdusion zu ver-
stehen ist. Findet sich endlich eine allgemeine Formel, unter welche
^) Systeme dont la hase est de xmre Convention contrairement ä ce que Je
vulgaire pense sans raison aucim. ■) Poggendorff I, 798. — Nouvelle Bio-
graphie universelle XVIII, 803—805. ^) Me'moires de VAcademie royale des
Sciences {depuis 1666 jusqii'ä 1699), Tome V. Paris 1729.
784 76. Kapitel.
alle vorgeführten Einzelbeispiele passen, was aber nicht methodisch
bewerkstelligt wird, sondern ganz zufällig sich ergiebt, so ist der ge-
suchte Satz vielleicht entdeckt, keinenfalls bewiesen, wenn man jene
Induction nicht als Beweis gelten lassen will. Andere Untersuchungen
Frenicle's müssen unter der Hand bekannt gewesen sein, denn aus
diesen von der Academie veröffentlichten Arbeiten ist die grosse Hoch-
schätzung, welche Fermat insbesondere Frenicle widmete, in keiner
Weise zu erklären. Die im Commercium epistolicum (S. 773) von
Wallis wiederholt erwähnte Schrift Frenicle's: Soluiio duorum prdble-
matuni circa numeros cnhos et quadratos quae tanquam insolubüia imi-
versis Europae Maihemaiicis a clarissimo viro D. Fermat sunt propo-
sita et a D. B. F. D. B. invenia'^) , welche 1657 in Paris gedruckt
wurde, ist zur Zeit unauffindbar.
Was Descartes und seine zahlentheoretischen Leistungen be-
trifft, so sind wir auf wenige Andeutungen angewiesen, welche in
seinen Briefen an Pater Mersenne vorkommen. Die Zahlen 30240,
32760 u. s. w. bis zu einer zwölfziffrigen Zahl 403031236608 nennt
Descartes als solche, deren aliquote Theile ihr* Dreifaches als Summe
haben, also 90720, 98280, . . . endlich 1209093709824. Die aliquoten
Theile von 14182439040 geben als Summe das Vierfache dieser Zahl
56729756160. Ganz zufälliges Auffinden so grosser Zahlen mit der-
artigen Eigenschaften ist wohl ausgeschlossen, aber wie verfahren
worden ist, deutet Descartes nicht an. Er bediene sich seiner Ana-
lysis bei derartigen Fragen; sie so auseinanderzusetzen, dass sie von
Leuten verstanden werden könne, welche auf andere Methoden ein-
geübt seien, nähme zu lange Zeit in Anspruch. In einem anderen
Briefe redet Descartes von vollkommenen Zahlen und von der Mög-
lichkeit, dass es solche gebe, welche ungerad seien, eine Möglichkeit,
welche er allerdings auf den Fall beschränkt, dass die betreffende
vollkommene Zahl Product einer Primzahl in die Quadrate anderer
Primzahlen sein könnte. Auch Briefe an Frenicle sind vorhanden,
welche ähnliche Fragen berühren, doch ist nirgend ein Hinweis auf
LTntersuchungsverfahren zu finden. Descartes vermeidet vielmehr und
namentlich in Briefen an oder für Fermat, vielleicht weil er sich
aus Gründen, von welchen später die Rede sein wird, diesem gegen-
über doppelter Vorsicht befleissigen zu müssen glaubte, jedes Eingehen
auf zahlentheoretische Dinge, gleich als wenn er sich nicht mehr
damit beschäftigte -J.
') B. P. D. B. = Bemard Frenicle de Bessy. -) Oe^lvres de Descartes
(ed. Cousin) VII, 70: Je supplie aussi M. de Fermat de m'excuser de ce qite je
ne reponds point ä ses autres questions; car comme je vous ai mande par mes
precedentes, e'est un exercise auquel je renonee entierement.
Zableutheorie. Algebra. 785
Noch ein französischer Schriftsteller hat hier seinen Platz zu
finden: Jaques de Billy ^) (1602 — 1679)^ ein Mitglied des Jesuiten-
ordens, Lehrer der Mathematik in Dijon. Sein Hauptwerk ist der
1643 erschienene, 493 Seiten starke Quartband Noca Geonietriae Clavis
Äl(/ehm, in welchem die mannigfachsten Aufgaben über proportionale
Grossen erst algebraisch und dann auf Grund des gewonnenen Er-
gebnisses durch Zeichnung gelöst werden-). Von der gleichen Natur
ist ein 1660 durch den Druck veröiFentlichtes Werk: Diophantus
ffconietm sive opus contextum ex arithmetka et geometria. Nach einem
in schwülstige Worte gekleideten Lobe des Diophant, welcher in der
Arithmetik das sei, was Cicero als Redner, Virgil als Dichter, Hippo-
krates als Arzt u. s. w., werden 81 Aufgaben aus den verschiedenen
Büchern Diophant's mehr oder weniger ausführlich und zum Theil
recht geschickt behandelt. Z, B. gleich die erste Aufgabe des L Buches
des Diophant, eine gegebene Zahl als Summe zweier Zahlen von ge-
gebenem Unterschiede darzustellen, wird zunächst an den bestimmten
gegebenen Zahlen behandelt (100 als gegebene Summe, 40 als gege-
bener Unterschied lassen 30 und 70 als die gesuchten Zahlen erkennen).
Dann lässt Billy eine allgemeine algebraische Auflösung folgen und
endlich die geometrische Darstellung, welche aber selbst eine dreifache
ist, je nach dem Rauragebilde, welches zur Versiunlichung der Zahlen
in Anwendung tritt. Es wird also eine Strecke, ein Quadrat, ein
Würfel in zwei Gebilde gleicher Natur zerlegt, deren Unterschied
wieder eine gegebene Raumgrösse derselben Art (Strecke, Quadrat,
Würfel) ist. Die Constructionen, welche dazu dienen, sind zum Theil
recht hübsch. Als zweiter Theil des Diophantus geometra sind noch
weitere 59 algebraische Aufgaben geometrisch gelöst, welche nicht
aus Diophant's Arithmetik stammen. Die vier unter Nr. 25 — 28 be-
handelten Aufgaben beziehen sich z. B. auf die Einbeschreibung von
Quadraten und Rechtecken in gegebene Dreiecke, Aufgaben also,
welche seit Heron von Alexandria (Bd. I, S. 361 und 684) Mathema-
tiker der verschiedensten Zeiten beschäftigt haben. Ein drittes Werk
führt den Titel: Dioplmnü redivivi pars prior et xmrs posterior und
ist 1670 in Lyon gedruckt. Im ersten Theile werden in drei Kapiteln
172 Aufgaben über das rechtwinklige Dreieck im Anschlüsse an das
sechste Buch des Diophant, im zweiten Theile 85 und in einem
Epiloge noch sechs weitere unbestimmte Zahlenaufgaben behandelt.
Billy stand auch mit Fermat in Briefwechsel über zahlentheoretische
Gegenstände. Die schon oft von uns erwähnte Diophantausgabe von
^) Poggendorff I, l'Jl. - -) G. Wertheim brieflich über sämmtliche
Schriften De Billy ".s.
Caxtor, GeschichtG der Malliem. II. 2. Aufl. .ÖO
786 76. Kapitel.
1670 enthält als Einleitung eine Schrift Billy's: Dodrinae anahjticae
inventum novum, welche aber durch die Zusatzbemerkung zu dem
Titel: ex variis epistolis quas ad eiim diversis tcmporihiis misit D. P.
de Fermat Senator Tolosanus, mag sie von Billy herrühren oder von
dem jüngeren Fermat beigefügt sein, jedenfalls kundgiebt, dass man
Fermat mit grösserem Rechte als Billy als den Verfasser zu nennen
hätte. Das Inventum novum beschäftigt sich mit sogenannten dop-
pelten und dreifachen Gleichungen, d. h. mit der Auffindung
von ganzen Zahlen, welche zwei oder drei -Ausdrücke, in denen sie
vorkommen, zu vollständigen Quadraten machen. Doppelte Glei-
chungen in diesem Sinne des Wortes hatte Diophant bereits, drei-
fache noch nicht.
Neben diesen Schriftstellern über Zahlentheorie nannten wir an
verschiedenen Stellen gelegentlich und nennen wir jetzt wiederholt
zwei Mittelspersonen wissenschaftlichen Verkehrs, deren weit ver-
zweigter Briefwechsel ungefähr die wissenschaftlichen Zeitschriften
späterer Zeit ersetzte, wenn auch ungenügend ersetzte, da es vielfach
vom Zufalle, von der grösseren oder geringeren Mittheilungslust, von
freundschaftlichen oder feindseligen Gesinnungen , von räumlichem
Beisammensein oder augenblicklichen Entfernungen dieser oder jener
Persönlichkeit abhing, ob die gemeldete Neuigkeit zur rechten Zeit
an die rechte Bestimmung gelangte. Genug, es gab damals nur
solchen Briefverkehr, auch die Druckgabe von Academieschriften fällt
erst in das Ende des XVII. Jahrhunderts und noch später. Die Per-
sonen, welche wir meinen, sind Peter von Carcavy und Pater
Mersenne in Frankreich. Von Carcavy haben wir (S. 758) das
Nöthige mitgetheilt. Pater Marie Mersenne^) (1588 — 1648) gehörte
dem Minoritenorden an und lebte in den Klöstern seines Ordens in
Paris, Nevers, dann wieder in Pasis. Er machte aber auch verschie-
dene Reisen nach Italien und nach den Niederlanden, bei welchen er
zahlreiche Verbindungen anknüpfte. Einen ähnlich weiten Bekannten-
kreis wie Carcavy und Mersenne besass ein Engländer, der aber ver-
möge seines laugen Aufenthaltes in Paris fast als Franzose gelten
kann. Sir Kenelm Digby^j (1603—1665) war der Sohn eines Ver-
schwörers und selbst politischen Umtrieben zugethan. So kam es,
dass er seine Heimath wiederholt zu verlassen sich genöthigt sah.
Er führte in Paris das Leben eines Flüchtlings. In Frankreich wurde
er Anhänger der Descartes'schen Richtung. Die Beziehungen der drei
Männer zu den zahlentheoretischen Bestrebungen der Zeit waren fol-
^) Oeuvres completes de Christian Hnygens I, 19 Note 1. -) Ebenda ü, 12
Note 2.
Zahlentheorie. Algebra. 787
gende. Mersenne haben wir als den Empfänger von Briefen bezeich-
net, in welchen Fermat, in welchen Descartes manche zahleutheore-
tische Mittheilung machten. Durch Carcavy's Vermittelung kam Fermat's
Relation nach Leiden. Digby übersandte in Fermat's Auftrage seine
Aufgaben nach England, damit mau dort an deren Auflösung sich
versuche. So muss man sagen, dass Fermat überall im Vordergrunde
steht, dass er nach Leonardo von Pisa zuerst wieder als Er weiterer
der Mathematik nach zahlentheoretischer Richtung auftrat, während
man von Regiomontan höchstens sagen kann, dass er über die
längst gesteckten Grenzen hinansschaute, ohne sie hinauszuschieben.
Jetzt war ein neues Reich der Wissenschaft eröffnet, es waren in ihm
Ziele gesteckt^ zu deren Erreichung selbst wieder neue Wege gebahnt
werden mussten, welche von Geistesverwandten Fermat's in späteren
Jahrhunderten eröffnet wurden.
Bereits nicht mehr so neu war die Algebra, die Lehre von
den Gleichungen. Wir haben für sie den Zeitpunkt wesentlich
neuer Entdeckungen schon vor und in der ersten Hafte des XVL Jahr-
hunderts beginnen sehen, aber der erreichbar höchste Punkt war noch
keineswegs wirklich erreicht. Wir haben auch in den ersten 60 Jahren
des XVn. Jahrhunderts neue Fortschritte aufzuzeichnen, in deren
Spuren eintretend unmittelbare Nachfolger weitere Stufen erstiegen.
Albert Girard gab 1629 seine Invenüon nouvdle en Valgehre^)
heraus, eine Schrift von nur 64 Quartseiten, aber reichen Inhaltes.
Von trigonometrisch wichtigen Dingen, welche dort zu finden sind,
war S. 709 die Rede. Jetzt haben wir es mit dem zu thun, was
durch den Titel recht eigentlich in Aussicht gestellt ist. Zunächst
sind einige Bezeichnungen Girard's zu bemerken und vor allem die
Klammern als Zeichen der Zusammengehörigkeit verschiedener Aus-
drücke zum Zwecke der Ausführung einer neuen Operation, welche
Girard in die Buchstabenrechnung einführte. Weniger glücklich war
er in Beibehaltung von Vieta's Zeichen =, welches zwischen zwei
Ausdrücken befindlich ihre Differenz bezeichnen sollte, mag nun der
erste oder der zweite der grössere sein (S. 631). Auch Zeichen für
grösser und für kleiner benutzte Girard; AffB hiess: A ist grösser
als B, während B%A gelesen wurde: B ist kleiner als A-^ beides
kam bald in Vergessenheit. Zeichen der Addition ist bei Girard -f"?
Zeichen der Subtraction — oder auch -^ , Zeichen der Division ein
A.
Bruchstrich -^- Zur Multiplication dient das einfache Nebeneinander-
^) H. Bierens de Haan hat 1884 in Leiden die ungemein selten gewor-
dene Schrift neu drucken lassen. Auszüge in Klügel, Mathematisches Wörter-
buch I, 52 — 57 und in den Nouvelles annales de mathe'matiques XIV, Bulletin de
hihliograpliie pag. 135—152.
50*
788 76. Kapitel.
setzen zweier Buchstaben All Ein Gleicliheitszeichen kommt nicht
vor, Girard schreibt vielmehr statt dessen das Wort egale. Für die
Unbekannten wendet Girard, offenbar in Nachfolge von Yieta, die
Vocale an^). In der Potenzbezeichnung schliesst sich Girard einiger-
massen an Stevin an. Wie jener den Exponenten einringelte, so
klammert Girard ihn ein und setzt ihn vor den zu potenzirenden
Ausdruck, (—) 49 bedeutet also 49 2" = 343. An Stevin erinnert auch
der Glaube Girard's an ein weises Jahrhundert^). Die Unterscheidung
positiver und negativer Zahlen bei der Quadratwurzelausziehung,
sowie das Auftreten imaginärer Quadratwurzeln ist Girard ganz ge-
läufig^) und ebenso das Auftreten solcher Zahlen als Gleichungs-
wurzeln, welches er zu erklären unternimmt. Das Minuszeichen be-
deute geometrisch eine Bewegung in entgegengesetztem Sinne als das
Pluszeichen'*). An einer anderen Stelle sagt er, man dürfe negative
Gleichungswurzeln nicht unbeachtet lassen^). Der Grund dazu liegt
in Folgendem: Girard weiss, dass jede Gleichung so viele
Wurzeln besitzt, als ihr Grad anzeigt, und dass die Coeffi-
cienten der einzelnen Potenzen der Unbekannten aus den
Combinationen der Wurzeln zu aufeinanderfolgenden Klas-
sen sich zusammensetzen. Er nennt die Summe der Wurzel-
werthe premiere faction, die ihrer Verbindung zu zweien, dreien
deuxieme faction, troisieme faction u. s. w.^). An dem Gesetze der
Coefficientenbildung wird er auch nicht irre, wenn gleiche Wurzeln
vorkommen und ebensowenig, wenn imaginäre Wurzelwerthe auftreten.
Bei der Gleichung, welche man gegenwärtig x^ — 4a; -|- 3 = 0 schreiben
würde, und deren vier Wurzeln x-^ ^ 1, ä\> = 1 , x^ = — 1 -\- Y — 2 ,
x^= — 1 — ]/ — 2 er kennt, steUt er geradezu die Frage, wozu
jene imaginären Wurzeln dienen, und er beantwortet die Frage
dahin, dass es eben andere Wurzeln nicht gebe, und dass sie die All-
gemeinheit des Bildungsgesetzes erläutern ''). Diese Kenntnisse Girard's
sind geläuterter, möchte man sagen, als die seiner Vorgänger, aber
wesentlich neu sind sie nicht. Dieses Beiwort verdient dagegen ein
*) les voyelles se posent pour les choses incognues. -) ceste science incogniie
jusques ä present, si ce n'est devant le deluge. *) Soit -\- 9, sa racine est -{- 3
Oll bien — 3, mais la racine de — 9 est indicihle et n'est ny -\-ny — . *) Jus-
ques icy nous n'avons encore explique, ä quoy servent les Solutions par — quand
il y en a. La Solution par — s'explique en geometrie en retrogradant et le —
recule Ja ou le -{- avance. ^) or les solutions par — ne se doivent omettre.
®) la nature des equations qui est qu'icelles ont leurs ternies compose des factions.
') On pourroit dire: ä quoy sert ces solutions qui sont impossihles? Je reponds:
poiir trois choses, pour la certitude de la reigle generale, et qu'il n'y a point
d'aidres solutions, et pour son utilite.
Zablentheorie. Algebra.
789
von ihm ausgesprochener Satz: Girard weiss die Summen der
vier ersten Potenzen der Wurzelwerthe einer Gleichung aus
den Gleichungscoefficienten herzustellen. Er nennt bei dieser
Gelegenheit die Coefficienteu nicht fadioii, sondern niesle und be-
zeichnet sie durch aufeinanderfolgende Initialen, ohne Rücksicht da-
rauf, dass ihm A sonst eine Unbekannte darstellt. Er kennt also
A als Premier meslc, B als second, C als troisiesme, D als quatriesme
(nämlich immer meslc hinzugedacht). Dann schreibt er:
A
2
Solutions
Alors en
g
Aq — B'2
g ^
quarez
toute Sorte
^ ^
Acnh - ABS-{-VS
^ -Ö
Cubes
d'equation
ö
Aqq — AqB4-{-AC4: + Bq2-
-D4
quare-quj
In heutiger Schreibweise würde der Satz so aussehen. Seien x^, x.^^
iie Wurzeln der Gleichung
' -j- (hX""' «3
X" — a^^x
so ist
Zx = a
-f- a^x"-
«1, Zx- = lY — 2 «2, Zx^ = «j-" -
2.V = «1^ — 4a^^a., +.4«!«., -\- 2a.r
■■•±a,=0,
- 4a^.
Den Werth anderer symmetrischer Functionen der Gleichungswurzeln
criebt Girard nicht au, er wird also solche vermuthlich nicht weiter
gekannt haben. Eine Bemerkung Girard's über das Ausziehen der
Kubikwurzel aus der Summe einer rationalen Zahl und einer Quadrat-
3. ^
Wurzel ist folgende. Es sei Va-j-Yh^^a-^- ]//3, so folgt daraus
yä}' — h = a- — ß und ebenso yh — er = ^ — a^ , und darin be-
steht Girard's beweislos ausgesprochene Behauptung. Genau ebenso
beweislos hatte (S. 44ü) Michael Stifel den allerdings nicht ganz
so deutlich ausgesprochenen Zusammenhang als Zusatz zu der Rudolff-
schen Coss veröffentlicht, doch scheint Girard keine Kenntniss davon
besessen zu haben, weil er sonst kaum als Einleitung besonders be-
tont hätte, Niemand habe die Kubikwurzelausziehung aus Binomien
noch erfunden^). Die Regel, welche Girard aus ya^ — h= a" — ß
mit gleichzeitiger Berücksichtigung von a = a^ -{- "daß, also von
a>a^, sich bildet, besteht darin: zuerst wird der Zahlenwerth ya^ — h
gesucht, dessen Rationalität allerdings vorausgesetzt ist; dann nimmt
') L'extraction Ctihique des binomes n'rfttaiit t'ucarc iiwentee de personne, on
pourra servir de la reigle suyvante.
790 76- Kapitel.
mau alle a > "j/a und bildet aus ihueu rr; zieht mau von jedem «-
die Zahl yaF — h ab, so erscheint das zu jenem «^ gehörige ß, und
man gewinnt somit alle die Ausdrücke a -f Y^, von denen einer
Früher als Girard's Invention nouvelle en l'algebre wurde jeden-
falls ein Werk verfasst, welches wir gleichwohl nach jenem nennen,
weil es nicht früher als 1631 an die Oeffentlichkeit gelangte. Thomas
Harriot^) (1560 — 1621) ist in Oxford geboren und als Schüler der
dortigen Hochschule aufgewachsen. Im Jahre 1585 machte er im
Auftrage von Sir Walter ßaleigh eine Reise nach Virginien, um das
Land auszumessen, wovon er die Ergebnisse 1588 unter der üeber-
schrift: A brief and true report of the new found land of Virginia
veröffentlichte. Einen reichen und sachverständigen Gönner fand
Harriot in Henry Percy Earl of Northumberland, dem er seine Ent-
deckungen mitzutheilen pflegte. Die wichtigsten derselben gehören
der Astronomie und der Physik an. Der Mathematiker Harriot ist
ausschliesslich durch sein nachgelassenes Werk Ärtis analytkae praxis
bekannt, welches 1631, mithin zehn Jahre nach dem Tode des Ver-
fassers, durch Walter Warner herausgegeben wurde. Genannt hat
sich der Herausgeber allerdings nicht, auch nicht innerhalb der offen-
bar von ihm herrührenden Vorrede, in welcher der Verdienste der
Italiener, Stevin's und besonders Vieta's um die Algebra rühmend
gedacht ist. Manches dürfte noch handschriftlich in Oxford aufbe-
wahrt werden, dessen Durchmusterung wünschenswerth erscheint;
denn wenn Percy, der Vertraute Harriot's, in einem erhaltenen Brief-
fragmente zu ihm sagt, Vieta habe ihn um die Ehre gebracht, Er-
finder der Algebra geworden zu sein-), so ist man versucht, diesem
Ausspruche eine breitere Grundlage zu geben, als die der Artis ana-
lyticae praxis, selbst wenn diese schon vor 1591, also vor dem Er-
scheinen von Vieta's In artem analyticam isagoge (S. 629) druckreif
gewesen sein sollte. Ein so frühes Datum kann aber nicht vermuthet
werden, weil sonst nicht in der Vorrede^) des Herausgebers und noch
weniger in dem Werke selbst das Früherrecht gerade Vieta's so stark
anerkannt sein könnte, als es der Fall ist^). Nehmen wir die grosse
1) Kästner 111,42—46 und 176—181. — Montucla II, 105—111. —
Klügel, Mathematisches Wörterbuch I, 47 — 51. — v. Zach, Monatliche Corre-
sponclenz VIII, 43 — 60. -) Vieta prcvented you of the Gharland for the greate
Invention of Algebra. ^) Exegetice ista niimerosa est quam Mc proferimus e
Thomae Harrioti nostri schediasmatis depromptam; non quidem tit priinis Vietae
cogitationibus formata est, sed posterior ibus Harrioti reformatam. *) Artis ana-
lyticae praxis pag. 2, Befinitio 7 : Huic analytices parti a Francisco Vieta, magno
Zahlentheorie. Algebra. 791
Aehnlichkeit manclier Kimstansdrüeke hinzu, welchen wir bei Vieta
und Harriot begegnen, so besteht kein Zweifel, dass so weit die Artis
analyticae praxis allein massgebend bleibt, Harriot nur als Schüler,
nirgend als Nebenbuhler Vieta's erscheint. Für Harriot ist jede Glei-
chung dadurch entstanden, dass Factoren von der Gestalt a — h oder
a -\- c oder a -\- d, wobei a die Unbekannte bezeichnet, für welche
Vieta die luitialvocale A u. s. w. benutzte, mit einander vervielfacht
wurden. Alsdann wird das die Unbekannte nicht enthaltende Glied
mit entgegengesetztem Vorzeichen rechts vom Gleichheitszeichen ge-
schrieben, alle übrigen Glieder bleiben links stehen, also etwa
aaa — haa -\- caa -\- äaa — • hca — hda -\- cda = hcd,
in der Schreibweise Harriot's, welcher die Producte durch einfaches
Nebeneinanderschreiben der Buchstaben darstellte, mochten die Fac-
toren einander gleich oder von einander verschieden sein. Ob das
rechtsstehende Glied positiv oder negativ ausfällt, gilt Harriot gleich,
der nur darauf sieht, dass das höchste Glied links mit keinem anderen
Coefficienten als der nicht besonders geschriebenen positiven Einheit
behaftet sei. Das Gleichheitszeichen Reeorde's benutzt Harriot fort-
während, ausserdem noch den liegenden Winkel < beziehungsweise
> für kleiner und grösser, wie er seitdem im Gebrauche geblie-
ben ist. Die Gleichung in der oben angegebeneu Form, bei welcher
die Entstehung jedes einzelnen Gliedes deutlich hervortritt, heisst bei
Harriot acquatio canonica, und das ist wohl das erste geschichtliche
Vorkommen des Ausdruckes einer canonischen Form. Bei der
aequatio canonica unterscheidet Harriot noch die acquatio canonica
jmmaria von der acquatio canonica secundaria, welche dadurch ent-
steht, dass durch eigens getroffene Wahl von &, c, d Glieder, welche
gleich hohe Potenzen von a enthalten, wegfallen, z. B. die Glieder
mit aa, wenn h = c -^ d. Sind Glieder, deren Gesammtcoefficient
nicht verschwindet, zusammengefasst und mit einfachem Buchstaben-
coefficienten oder mit einem Buchstaben coefficienten mit vorgesetztem
Zahlencoefficienten versehen, in welchem das Bildungsgesetz nicht
deutlich hervortreten kann, so nennt Harriot die Gleichung eine
aequatio communis, und ihre Auflösung beruht dann regelmässig
darauf, dass sie mit der canonischen Gleichung des gleichen Grades zu-
sammengestellt wird. Harriot vergleicht^) z.B. aaa — 3hl>a = 2ccc,
wobei c > 6 vorausgesetzt ist, mit der durch a ^= q -\~ r erfüllten
canonischen Gleichung aaa — ?>rqa= rrr -\- qqq. Ist nun hh = rq,
artis analyticae magistro, Exegetices, quasi dedaratoriae scu exJdbitoriae nomen
impositiun est.
^) Ärtis analyticae praxis. Sectio quinta. Propositio 1, pag. 79.
702 7G. Kapitel.
2ccc = rrr -\- (['pi, so ist der üebergang der zweiten dieser beiden
Gleicliungen in eine solche, in welcher nur r oder nur q vorkommt
und leicht daraus gefunden wii'd, ersichtlich, und man kann also auch
r -{- q, d. h. die Wurzel der vorgelegten Gleichung finden. Die bei-
gegebene Bedingung c > ?> führt zu c^> 1/, d. h.
+ 2,-3g3 + g6^4,3,y;
oder zu (— .^^ > 0,
4 ^4
was sicherlich wahr ist. Von negativen Gleichungswurzeln
will Harriot nichts wissen, nur positive haben für ihn einen
Sinn. Ja, er beweist sogar, dass Gleichungen nur positive Wurzeln
besitzen!^) Die Gleichung eee — dhhe = — - ccc — 21)hh sei, be-
hauptet Harriot, unmöglich, impossibilis est. Denn entweder müsste,
wenn die Gleichung möglich sein sollte, e ^^h oder e > Z) oder e <^h
sein. Die Annahme e = & führe zu ccc ^= 0, was unmöglich sei. Die
AnnaKme e > ?/ oder e =^1j -\- d führe zu ^hdd -\- ddd -\- ccc = 0,
was wieder unmöglich sei. Endlich die Annahme e < ?> oder e=^h ~ d
führe zu ddd — ohdd ^ ccc\ daher müsse d — 3& positiv, d y- oh
und um so mehr d^h sein. Die Annahme e = & — d schliesse aber
Z> > fZ ein, also sei auch hier ein Widerspruch vorhanden, der den
Beweis der Unmöglichkeit der Gleichung vollende, ein Beweis, der
offenbar nur dann, dann aber in der That richtig ist, wenn andere
als positive Wurzelwerthe ausgeschlossen sind. Eine zweite Abthei-
lung-j der Artis analyticae praxis führt die besondere Ueberschrift
Exef/etice mimerosa und behandelt die Auflösung von Zahlengleichungen.
Der Grundgedanke besteht darin, die unbekannte Grösse als Summe
zweier Theile zu betrachten, deren einer bekannt ist, worauf der
zweite näherungsweise gefunden wird. Lässt man dann ihre Summe
die Rolle des ersten Theiles spielen, so gewinnt man wieder einen
natürlich kleineren zweiten Theil und damit eine zweite Annäherung
u. s. w. So der wesentliche Inhalt eines Werkes, von dessen Ver-
fasser mau gewiss nicht wird behaupten wollen, er verdiene nicht
einen Platz in der Geschichte der Algebra, aber von dem man noch
weit weniger behaupten darf, er sei Bahnbrecher auf diesem Gebiete
gewesen, in dessen Werk man nicht hineinlesen darf, was nun und
nimmermehr darin enthalten war^).
Einen wirklichen Markstein in der geschichtlichen Entwickelung
der Lehre von den Gleichungen bildet dagegen die Geometrie von
^) Artis amihjticae praxis. Sectio sexta. Problema 1. Lemma pag. 89 — 90.
") Ebenda pag. 117—180. ^) Diesem Fehler xerüel John Wallis in seiner
Algebra von 1685. Wer seinen Bericht mit der Artis analyticae iwaxis ver-
gleicht, muss glauben, Wallis habe ein ganz anderes Werk vor Augen gehabt.
Zahlentheorie. Algebra. 793
Descartes, insbesondere wenn man, wozu es an Berechtigung nicht
fehlt, auch dasjenige dazu rechnet, was zur mitunter sehr nothwen-
digen Erläuterung von Anderen, Zeitgenossen und Schülern des Ver-
fassers, hinzugefügt worden ist. Die Geometrie erschien zuerst 1637
in französiischer Sprache'). Der jüngere Franciscus van Schooten
veranstaltete 1649 die Ausgabe einer lateinischen Uebersetzung, und
ihr folgte 1659 ein erneuter Abdruck mit zahlreichen Ergänzungen
von verschiedenen Verfassern in zwei Bänden^). Wiewohl der Titel
der in drei Bücher gegliederten Geometrie einen ganz anderen In-
halt vermnthen lässt, und wiewohl auch thatsächlich Descartes bei
deren Veröffentlichung vorzugsweise die geometrischen Gedanken ver-
breiten wollte, welche ihm schon Grosses geleistet hatten. Grösseres
in sichere Aussicht stellten, so ist die Bedeutung der Geometrie kei-
neswegs in ihnen allein zu suchen. Als eine etwas bunt gewürfelte
Vereinigung der verschiedenartigsten Untersuchungen stellt das Werk
sich dar, schwer zu verstehen, namentlich damals schwer zu verstehen,
als es erschien und dem Leser auf Schritt und Tritt ganz neue über-
raschende Dinge bot, die ihn schier zu verwirren geeignet waren.
Nicht als ob der Schriftsteller, welcher über das methodische Denken
geschrieben hat, nicht im Stande gewesen wäre, klar Erfasstes auch
fassbar für Andere auszusprechen, weit entfernt davon! Aber er
schrieb absichtlich dunkel. Er that es, wie er in einem seiner Briefe
sich einmal ausgedrückt hat, weil man sonst behauptet haben würde,
es sei weder Neues noch Bedeutendes an seinen Entdeckungen. Selbst-
verständlich war auch nicht Alles neu, aber Verbesserungen, Erwei-
terungen, Nutzbarmachung zu neuen Zwecken finden wir aller Orten
bei ihm, wie aus dem kurzen Auszuge ersichtlich werden wird, den
allein wir hier geben dürfen. Um bei dem Aeusserlichsten anzufangen,
nahm die Bezeichnung der Grössen bei Descartes die Gestalt an, welche
sie seitdem beibehielt. Statt der Vocale benutzte er die letzten
Buchstaben des Alphabetes, vorzugsweise und in erster Linie x,
sodann ?/, z zur Bezeichnung der Unbekannten, die ersten Buchstaben
a, h, c u. s. w. zur Bezeichnung der bekannten Grössen. Wie er ge-
rade auf diese Wahl kam, ist nirgend angedeutet. Die Annahme,
dass er das Bf früherer deutscher Werke, welches er auf seinen Reisen
z. B. bei Faulhaber in Ulm, kennen gelernt haben muss, irrig als
^) Ein Abdruck in den Oeuvres de Descartes (ed. Cousin) V, 313 — 428.
Spätere besondere Neudi-ucke der Geometrie erfolgten in Paris 1886 und 1894.
Eine deutsche Uebersetzung von Ludw. Schlesinger erschien Berlin 1894.
-) Da diese lateinische Ausgabe von 16.59 die unter Mathematikern weitaus ver-
breitetste ist, so citiren wir ausschliesslich nach ihr unter dem Titel: Descartes,
Geom. mit nachfolgender Angabe von Band und Seitenzahl.
794 76. Kapitel.
X gelesen und durch diesen Buchstaben zu wiederholen gedacht habe,
ist noch immer nicht ausgeschlossen, wenn auch auf die Möglichkeit
hingewiesen worden ist, Cataldi's X (S. 623) habe als Muster gedient
und sei in x übergegangen^). Die Potenzbezeichnung nahm bei
Descartes gleichfalls die Gestalt an, welche ihr bleiben sollte. Er be-
diente sich rechts erhöht stehender Exponenten. Den Exponenten 2
findet man aber bei Descai-tes nicht; statt dessen ist der quadrirte
Buchstabe zweimal geschrieben^), also aa, nie a'. Allgemeine Ex-
ponenten wie a"' schrieb Descartes noch nicht, und ebensowenig
negative oder gebrochene. Auch Wurzelexponenten über den Wurzel-
zeichen kommen bei ihm noch nicht vor. Die Quadratwurzel ist
durch ein einfaches Wurzelzeichen, die Kubikwurzel durch Hinzu-
setzung des Buchstaben C zum Wurzelzeichen angedeutet^)
Diese Kubikwurzel bringt Descartes bei Auflösung kubischer Glei-
chungen bei, eine Auflösung, deren Erfindung, wie er sagt, Car-
danus einem gewissen Scipio Ferren s zuschreibe. Wir erwähnen
dieses, weil hier die einzige Stelle der Geometrie ist, in welcher über-
haupt ein verhältnissmässig neuer Schriftsteller genannt ist. Sonst
begegnet man höchstens Namen wie Pappus, Apollonius, also
von Männern des Alterthums, welche als Vorgänger in der Algebra
natürlich nicht in Frage kommen. Die Gleichungen sind meistens auf
Null gebracht*), wie es vereinzelt schon bei Stifel vorkam. Eine
Neuerung von Descartes besteht in der Andeutung solcher Glieder,
die in dem Gleichungspolynome fehlen, durch ein Sternchen^):
wo ausserdem zweierlei zu beachten ist: der Coefficient 1, welcher
bei dem quadratischen Gliede sich findet, den aber Descartes nur bei
späteren Gliedern des Gleichungspolyuomes, nie bei dem ersten (hier y^)
schreibt, und das aus einer umgekehrten Yerschlingung der Buch-
staben ae entstandene Gleichheitszeichen jo.
Jede Gleichung kann, sagt Descartes, so viele unterschiedene
1) G. Wertheim in der Zeitschr. Math. Phys. XLIV. Histor.-liter. Abthlg.
S. 48. *) Genau die.selbe Gewohnheit hatte auch Gauss, dessen Meinung war, eine
Abkürzung müsse nur dann in Anwendung kommen, weim sie wirklich geringe-
ren Platz einnehme. Nun nimmt aa im Drucke nicht mehr Raum ein als a^,
also hat es bei der ersten Schreibweise zu verbleiben. ^) Descartes, Geom.
I, 93. *) Ebenda I, 41 — 42 erstmalig. '") Ebenda I, 71 erstmalig.
Zahlentheorie. Algebra. 795
Wurzeln oder Werthe besitzen, als ihr Grad anzeigt^). Aber, setzt
er auf derselben Seite hinzu, es kommt auch häufig vor, dass einige
dieser Wurzeln falsch oder kleiner als Null sind"). Und wieder an
einer anderen Stelle : Sowohl die wahren (positiven) als falschen
(negativen) Wurzeln sind nicht immer reell, sondern mitunter nur
imaginär, d. h. man kann in jeder Gleichung die Vorstellung von so
vielen Wurzeln, als ich gesagt habe, sich bilden, aber inzwischen
giebt es keine Grösse, welche unserer Vorstellung entspräche ^). Dieses
Vorkommen der beiden in Gegensatz zu einander gebrauchten Wörter
reell und imaginär ist das erste, welches wir bemerkt haben. Die
Sache selbst war keineswegs neu, und Descartes dürfte hier als Schüler
von Girard's Invcntioii nouvdle cn l'algehrc sich verrathen, welche
in Holland ihm unter allen Umständen nicht unbekannt geblieben
sein kann.
Noch weniger neu war es, dass das Gleichungspolynom als Pro-
duct binomer Factoren ersten Grades zu denken sei, dagegen zog
Descartes zwei neue wichtige Folgerungen, welche, so nahe sie ims
jetzt zu liegen scheinen, noch nicht gezogen worden waren. Es wird
hervorgehoben^), dass das Gleichungspolynom, summa aecßiationis,
einer Gleichung, welche mehrere Wurzeln besitzt, stets durch ein
Binomium ersten Grades theilbar sei, welches aus der Unbekannten
minus einem positiven Wurzelwerthe oder plus einem negativen
Wurzelwerthe bestehe, und dass derartige Divisionen den Grad der
Gleichung um ebensoviele Einheiten herabsetzen. Es wird ferner zu
wiederholten Malen hervorgehoben^), was Cardano (S. 530) nur leise
zu verstehen gab, dass die Wurzelwerthe einer Gleichung Theiler der
Gleichungsconstanten sein müssen. Descartes sagt zwar nicht, dass
er Gleichungen mit ganzzahligen Coefficienten und eben solcher Con-
stanten meint, und dass er dann auch nur an ganzzahlige Theiler
dieser letzteren denkt, aber die von ihm vorgeführten Beispiele dulden
keine andere Auffassung. Besonders deutlich ist die Erörterung der
Gleichung y<^ — Si/ — 124:y- — 64 = 0. Das letzte Glied, nämlich 64,
lasse sich ohne Bruch, sine fradione, durch 1, 2, 4, 8, 16, 32, 64
theilen. Man solle daher der Reihe nach den Versuch machen, jene
^) Descartes I, 69: Sciendum itaquc , quocl incog)nta qiiantitas in qua-
libet aequatione tot diversas radices seu diversos valorcs habere possit, quot ipsa
habet dimensiones. *) Ebenda I, 69: Verum saepe accidit, quod quaedam harum
radicum sint falsae, seu minores quam nihil. ^ Ebenda I, 76: Caeterum radices
tarn verae quam falsae non semper sunt reales, sed aliquando tantum imaginariae:
hoc est, semper qiiidem in qualibet aequatione tot radices quot dixi imayinari
licet; verum milla interdiim est qiiantitas, quae Ulis, qnas imaginamur, respondet.
*) Ebenda I, 69—70. ^j Ebenda I, 70 und deutlicher I, 77.
796 «"ß- Kapitel.
Gleichung durch eines der Binome y" — 1 oder y" +1, y^ — 2 oder
y^-\- 2, y'^ — 4 oder y'^ -\- 4 u. s. w. zu dividiren; mau werde finden,
dass sie durch y^ — 16 sich theilen lasse.
Weitaus am hervorragendsten ist freilich Descartes' Zeiche n-
regel. Wir haben (S. 5o9j gesehen, dass Cardano eine Behauptung
aufstellte, welche aus seiner undeutlichen Ausdrucksweise heraus-
geschält den Sinn besitzt, dass ein einmaliger Zeichenwechsel in einem
Gleichungspolynome das Merkmal einer einzigen positiven Wurzel
sei , während bei zweimaligem Zeichenwechsel entweder mehrere
Wurzeln positiv oder alle imaginär seien. Es ist möglich, es ist
vielleicht wahrscheinlich, dass Descartes, dessen Reisen, auf welchen
er stets Kenntnisse zu sammeln bestrebt war, sich auch über Italien
erstreckten, die Schriften Cardano's kennen lernte. Aber auch dieses
als Thatsache vorausgesetzt, war jedenfalls Descartes der erste, welcher
in dem erwähnten Cardano'schen Satze den Keim zu einer Verall-
gemeinerung sah, welche er folgendermasseu aussprach: So viele
Zeichenwechsel, so viele Zeichenfolgen ein Gleichungspoly-
nom besitzt, so viele positive, so viele negative Wurzeln
kann die Gleichung haben^). Descartes ist später wegen dieses
Ausspruches vielfach gescholten worden. Eine Behauptung warf man
ihm vor, sei kein bewiesener Satz, und überdies sei die Behauptung
nicht einmal wahr, da sie die Fälle imaginärer Wurzeln unerörtert
lasse. Beide Vorwürfe sind ungerecht. Der zweite scheitert an dem
Worte possint, welches Descartes in vorsichtigster Weise gebraucht.
Die Gleichung kann, sagt er, so und so viele positive, negative
Wurzeln besitzen, und das ist buchstäblich wahr. Das enthält über-
dies auch mit eingeschlossen, dass es höchstens so und so viele
Wurzeln sein können, denn man wird doch Descartes' possint nicht
so aufzufassen im Stande sein, dass der Wurzeln auch noch mehrere
sein können? Und der erste Vorwurf darf nicht Descartes, darf nur
der Zeit gemacht werden. Beispiele unbewiesen ausgesprochener Sätze
werden dem Leser mehr begegnen, wenn er nur in diesem Abschnitte
zurückblättert. Man hatte sich noch nicht gewöhnt, jede mathema-
tische Behauptung, auch wo sie nur gelegentlich auftrat, sofort mit
strengem Beweise zu versehen.
Noch weitere algebraische Sätze spricht Descartes eben so ge-
legentlich, eben so ohne Beweis aus-), wenn man nicht Ausführung
^) Descartes I, 70: Ex rßiihus etiam cognoscitur qiiot verue et quot fuhac
raclices in unaquaque Aeqatio'ue haberi possint. Nimirum tot veras haberi x>osse
qitot variationes reperiuntur signorum -{- et — ; et tot faJsas, qiiot vicibus ibidem
cleprehenclmüiir duo signa -j- vcl dno signn —, quae se invicem sequuntur.
-) Ebenda I, 74—75.
Zalilentheorie. Algebra. 797
an einzelnen Beispielen als Beweis gelten lassen will. Besitzt eine
Gleichung keine Gleiehnngsconstante , so ist 0 eine ihrer Wurzeln,
und der Grad der Gleichung kann mittels Division durch die Un-
bekannte herabgesetzt werden. Man kann auch umgekehrt durch
Multiplicatiou mit der Unbekannten die Gleichung im Grade erhöhen,
worauf sie keine Gleichungsconstante mehr besitzt. Man kann dann
weiter die Unbekannte als Summe einer neuen Unbekannten und
einer an sich beliebigen Zahl betrachten, um eine neue Gleichung mit
einer Gleichungsconstanten zu erhalten, und man kann dabei jene be-
liebige Zahl so bestimmen, dass ein absichtlich gewähltes Glied der
neuen Gleichung den Coefficienten 0 erhalte, d. h. fehle.
So entsteht aus x^ -\- ax'^ -\- hx -\- c = 0 die neue Gleichung
Ä"* -|- (^^^ + hx'-^ -\- ex = 0, aus dieser durch x = y -\- z die fernere
y^ -\- ay^ -{- ßy'^ + ^2/ 4" ^ = 0> ^"^cl endlich durch planmässige Be-
stimmung von s die Schlussgleichung y'^ -\- 2>y' -\- QV — r = 0, Der
Vortheil dieser Umwandlung, welche den Grad der Gleichung zwar
erhöht, aber ihn zur geraden Zahl macht, besteht darin^), dass
nunmehr eine Zerlegung in zwei Factoren gleich hohen
Grades angestrebt werden kann.
Umgekehrt ist freilich' jene Zerlegung, welche als eine Methode
wesentlicher Erniedrigung des Grades einer aufzulösenden Gleichung
aufgefasst werden kann, nur dann möglich, wenn es gelingt, zuvor
eine Hilfsgleichung aufzulösen. Für die Gleichung
if -\- py- ^ qy — r = 0
ist diese Hilfsgleichung
formell vom 6., eigentlich vom 3. Grade und liefert damit eine
neue Auflösung der allgemeinen Gleichung 4. Grades mit
Hilfe kubischer Gleichungen.
Wir haben schon (S. 795) darauf aufmerksam gemacht, dass
Descartes die InvenUon nouvelle en l'algchre zuverlässig kannte. Die
gleiche Ueberzeugung gewinnt man aus einem Briefe, welchen Des-
cartes unter dem 1. Februar 1640 an Jacob van Waessenaer
richtete-). Ueber die Ausziehung der Kubikwurzel aus einem aus
einem rationalen Theile und einer irrationalen Quadratwurzel be-
stehenden Binomium war zwischen Stampioen und dem genannten
Jacob van Waessenaer, einem in Utrecht wohnenden Anhänger
von Descartes, ein Streit ausgebrochen. Descartes spielte, wenigstens
') Descartes, Geom. I, 79 sqq. -) Veröffentlicht durcli H. Bierens
de Haan in der Zeitsclir. Math. Phys. XXXII. Hist.-liter. Abthlg. S. 163flgg.
Vergl. auch Bierens de Haan, Bomvstoffen etc. II, 383—4.33.
798 76. Kapitel.
hinter den Coulissen, eine Rolle in diesem Streite und versah seinen
Schüler mit Gründen, welche dieser zur Verwei'thung bringen könne.
In dem erwähnten Briefe ist jener Satz über K a -|- Yb = a -)- Yß
bewiesen, welchen wir bei Stifel, bei Girard auftreten sahen
(S. 789), und der in der Gleichung ]/«'- — h == a^ — ß seinen Aus-
druck findet. Hat Deseartes ihn vielleicht auch nicht bewusst von
Girard entlehnt, so hält es doch schwer, nicht an ein unbewusstes
Nachwirken des früher Gelesenen zu denken.
Mochte Jacob van Waessenaer damals noch als Anfänger zu
betrachten gewesen sein, der in einer ziemlich einfachen Sache der
Anleitung bedurfte, in einer um etwa 20 Jahre späteren Zeit finden
wir ihn mit Untersuchungen beschäftigt, welche an Deseartes an-
knüpfen, aber über ihn hinausgehen. Wir sahen, dass Deseartes dazu
kam, Probeversuche mit sämmtlichen positiv und negativ zu wählenden
Theilern der Gleichungscon staute zu empfehlen, ob man so eine Glei-
chungswurzel entdecke. Van Waessenaer gab ein Mittel an^), diese
der Zahl nach oftmals ausserordentlich vielen Versuche wesentlich ein-
zuschränken. Sei z. B. die Gleichung x^ — x^ — oOx -{- 72 = 0 vor-
gelegt, so giebt es 12 Theiler von 72, nämlich 1, 2, 3, 4, 6, 8, 9, 12,
18, 24, 3G, 72, welche alle positiv und negativ durchprobirt ein
24maliges llechnen beanspruchen würden. Van Wassenaer nimmt
statt dessen zunächst zwei Umformungen vor, die eine durch x = y -\- 1,
die andere durch .r = ^ ■ — 1 , und er vollzieht sie nicht einmal voll-
ständig, sondern begnügt sich mit der Auffindung der neuen Glei-
chungsconstanten, welche in dem einen Falle (bei der Gleichung in y)
1 — 1 — 30 -f- 72 = 42, in dem anderen Falle (bei der Gleichijng
in s) — 1 — 1 -f 30 + 72 = 100 wird.. Damit sind die Probezahlen
für y als 1, 2, 3, 6, 7, 14, 21, 42 und die für 2 als 1, 2, 4, 5, 10,
20, 25, 50, 100, jede sowohl positiv als negativ, gewonnen. Weil aber
X = y -}- 1 und x = z — 1, so entstehen zwei neue Reihen positiver
Versuchswerthe für x: aus den y die 2, 3, 4, 7, 8, 15, 22, 43, aus
den 2 die 0, 1, 3, 4, 9, 19, 24, 49, 99. Nur ic = 3 und .t = 4 kommen
gleichzeitig in allen drei Reihen möglicher Werthe von x vor, und
mit diesen Zahlen hat man also die Rechnung wirklich anzustellen,
welche alsdann zeigt, dass hier in der That W^urzelwerthe vorliegen.
Die Veröfi'entlichung dieses recht zweckmässigen Abkürzungs-
verfahrens fand, wie unser Citat erkennen lässt, in der zweiten
lateinischen Ausgabe der Geometrie von 1659 statt. Eine weitere
Ausdehnung desselben auf irrationale Wurzeln von einer gewissen
^) Deseartes, Georn. I, 307.
Zahlentheorie. Algebra. 799
Form ist um 1700 dem Hamburger Mathematiker Heinrich Meiss-
ner gehmgen ^).
Unter den Erläuterungen, welche der lateinischen Ausgabe der
Geometrie von 1659 beigefügt sind, rühren die zuerst gedruckten von
Florimond de Beaune-) (IGOl— 1652) her, der zugleich als der
erste französische Anhänger von Descartes zu nennen ist, welcher
dessen Geometrie studirte und bewunderte. Descartes, welchem die
Erläuterungen vor ihrer Veröffentlichung vorlagen, billigte dieselben
vollkommen, als seine Gedanken durchaus i'ichtig wiedergebend. Dabei
war de Beaune nicht Mathematiker von Beruf, sondern zu Anfang
Officier, später Rath am Gerichtshofe zu Blois, seiner Vaterstadt, wo
auch Descartes, mit welchem er seit 1626 in Verbindung stand, 1644
eine Zeit lang sein Gast war. In den Erläuterungen geht De Beaune
unter Anderem auf die gegenseitige Beziehung zwischen den beiden
Gleichungen
y^ + Py^ -\- qy — r = 0 und z^ + 2^^^ -f (p^ + 4>-)^- — g- = 0
(S. 797) näher ein^). Zwischen den beiden Unbekannten ?/ und 2
möge der Zusammenhang stattfinden:
y + ^y + Y^'^ 2^^~2z = ^ ^'^^'' '^' + T~"" + T^^ ^2z~ ^y-
Quadrirt man letztere Gleichung, so entsteht
oder
.'/' + ■?'/ + \ -?' + py- + Yi>-"' + \p^ = 11^. — 'ly + ^f
y' + py' + Qy + y ^' + ii'^' — 5" + t^'' = ^ •
Da aber y^ -\-py' + qy = '" gegeben ist, so geht die zuletzt erhaltene
Gleichung in
über oder nach Vervielfachung mit 4^^ in
Z^ + 2p3^ 4- (p2 + 4>>2 _ ^2 _ Q^
wie es bei Descartes sich findet. Kennt man erst 2 aus der letzteren
Gleichung, so ist es leicht, y aus der nach dieser Unbekannten nur
noch quadratischen Gleichung
■-> , r 1 o I 1 1 r\
r + ^y+Y^' + YP—2z = ^
zu finden. Man kann aber ausserdem jetzt auch ?/* +i>?/' -{- qy — »'
in zwei quadratische Factoreu zerfallen, deren einer
') Zeitschr. Math. Phys. XXXV. Hist.-liter. Abthlg. S. 180—181. -) Mon-
tucla II, 145. ^ Descartes, Geom. I, 137—139.
800 ''ß- Kapitel.
y^ + "'■y + Y '^- + yP — -^^
heissen muss, während der andere y- — zy -\- -,- ■«'^ + y i^ + |^ ist.
Fr an eisen s van Schooteu, welcher gleichfalls Erläuterungen
beigab, hat die Factorenzerlegung des Gleichungspolynoms 4. Grades
etwas anders eingeleitet^). Um x^ ■ — ])x^ — C[X -\- r = 0 auf zwei
quadratische Gleichungen zurückzuführen, setzt er
x'^ — px' — qx -\- r = [a^ -\- yx -{- s'jix^ — yx -j- v)
= X^ + (^ — ?/- + v)x^- + {vy — zy)x + vz,
und nun zerfällt diese Gleichung nach einem Gedanken, der offenbar
eine der ersten Anwendungen der Descartes'schen Methode
der unbestimmten Coefficienten durch einen anderen als ihren
Erfinder darstellt, in die drei neuen Gleichungen z ~ if -{- v = — p,
— zy -f- vy = — q, vz = r. Daraus ergebe sich, sagt Van Schooten,
ohne den Gang des Eliminations Verfahrens anzudeuten, der übrigens
bei den nach z und v linearen beiden ersten Gleichungen auf der
Hand hegt, z = -^ y- — -^ p + -^y, v = ^^ y- — ~ p — ^^y Ein-
führung dieser Werthe in vz^^r giebt nach weiteren Umformungen,
welche Van Schooten wieder dem Leser überlässt, die nach y- kubische
Gleichung y*^ — 2py^ + Q)^ — Ar)y^ — q^ = () ^ aus welcher die
Keuutniss von y folgt. Einsetzung der Werthe z und v in die vorher
angenommenen Factoren giebt denselben die Gestalt
und
, 1 o 1 q
— 2/^" + yr — . i> — ^^
Jeder dieser Factoren gleich Null gesetzt, lüsst endlich zwei Wurzel-
werthe von x entdecken.
De Beaune hat ausser jenen Erläuterungen zu bestimmten ein-
zelnen Stellen der Descartes'schen Geometrie auch eine Schrift De
liniitihus aequaüomim hinterlassen, welche gleichfalls Aufnahme fand-).
Sie hat einen Untersuchungsgegenstand ganz neuer Art. Sie fragt
nämlich, wenn auch nur in ganz besonderen Fällen, nach leicht be-
stimmbaren Grenzwerthen, zwischen welchen die Glei-
chungswurzel enthalten sein muss. Aus x'^ — Ix -\- nr = 0
folgt beispielsweise nr = Ix — x^, d. h. Ix — x^ muss positiv und
l > X sein. Andererseits folgt aber auch x^ = Ix — wr, d. h. Ix — nr
muss positiv und x ^ -j- sein. Bei der kubischen Gleichung
1) Descartes, Geom. I, 315. -) Ebenda II, 121—152.
Zahlentheorie. Algebra. 801
cc'^ -f~ Ix^ — nrx -f- w^ = 0
ergeben sich die Grenzen folgendermassen. Es ist x'^ -f- lx^ = m^x — n^
n^ . . 0 0
positiv , mithin a; > — ^ • Es ist aber auch .r^ -\- n^ = nrx — Ix-
positiv, mithin a; < -^ • Statt der letzteren oberen Grenze ist auch
eine anderweitige angebbar. Man kann nämlich das Positivsein von
Ix- -\- n^ = m^x — x^ als massgebend betrachten, woraus m^ > x^,
d. h. x < m hervorgeht.
Die Factorenzerlegung eines Gleichungspolynoms, mit welchem
nach Descartes De Beaune und Van Schooten, wie wir wissen, sich
beschäftigten, reizte auch einen zweiten holländischen Schriftsteller:
Johann Hudde^). Im Jahre 1628 in Amsterdam geboren und
unter dem 23. April in das dortige Taufbuch eingetragen, begab er
sich 1659 nach vollendetem Rechtsstudium nach Frankreich. Von dort
zurückgekehrt, trat er 1667 in die Verwaltung seiner Vaterstadt,
welcher er nicht weniger als 19 mal als Bürgermeister vorstand. Er
starb 1704. Schon im Juli 1657, also als Rechtsstudirender in einem
Alter von wenig über 29 Jahren, schrieb Hudde an Van Schooten
einen Brief: De redudione aequationum, welchen dieser abdrucken
liess^). Unter Reduction versteht Hudde die Zerlegung des
Gleichungspolynoms in Factoren. Dabei hat Hudde in der
XXI. Regula, 4. Exemplum ^) auch die Auflösung kubischer Glei-
chungen, allerdings in nicht wesentlich verschiedener Art als die
Italiener gelehrt. Ausgehend von x'"^ = qx -\- r setzt Hudde x = y -\- z
mithin x^ ^ y^ -\- 3 z p^ -\- ds^y -\- z^ =^ qx -\- r und zerlegt die Glei-
chung in zwei neue ^sy'^ -\~ ^z'y = qx und y^ -\- s^ = r. Die erstere
1
geht über in ozyx = qx oder y = , und durch Einsetzung
dieses Werthes verwandelt sich die zuvor in y^ = r — 2^ umgeformte
zweite Gleichung in ^;^— = r — s^. Daraus folgt
Weil aber y und s sich einzig dadurch unterscheiden, dass das vor-
^) Oeuvres eomplHes de Christian Huygens I, 514, Note 2. — D. J. Korte-
weg, Das Geburtsjahr von Johannes Hudde (Zeitschr. Math. Phys. XLI. Hist.-
liter. Abthlg. S. 22—23). Den Eintrag in das Taufbuch fand K. 0. Meinsma
und widerlegte dadurch eine frühere Vermuthung, nach welcher Hudde schon
1623 geboren wäre. *) Descartes, Geom. I, 407—506. ^) Ebenda I,
499—500.
Cantok, Geschichte der Mathem. 11. 2. Aufl. 51
802 76. Kapitel.
kommende Doppelzeichen einmal + und einmal ^ heisst, und man
nur der Summe p -\- ^ bedarf, so genügt es beidemal, das obere
Zeichen allein zu schreiben, und man hat
Ferner findet sich schon in diesem Briefe als X. Regula^) gelegent-
lich die Frage behandelt, wie man entscheiden könne, ob eine Glei-
chung zwei oder gar mehrere gleiche Wurzeln besitze, und die-
selbe sogenannte Hudde'sche Regel erscheint wieder, und zwar
bewiesen-), in einem zweiten Briefe vom Januar 1658, welcher die
Ueberschrift trägt: De maximis et mininiis.
Die Regel besteht in Folgendem. Man bildet eine beliebige
steigende oder fallende arithmetische Progression, unter deren Gliedern
auch die Null vorkommen darf, und setzt dieselbe unter die auf
einander folgenden Glieder des zu untersuchenden Gleichungspolynoms,
dessen etwa fehlende Glieder mit dem Coefficienten 0 geschrieben
oder sonstwie, etwa durch Sternchen, angedeutet werden. In dieser
Stellung multiplicirt man jedes Glied des Gleichungspoljnoms mit
dem gerade unter ihm befindlichen Gliede der arithmetischen Reihe
und vereinigt die sämmtlichen Producte zu einem neuen Gleichungs-
polvnom, welches wieder gleich 0 gesetzt wird. Die nothwendige
und hinreichende Bedingung dafür, dass die vorgelegte Gleichung
mehrfach auftretende Wurzeln besass, besteht alsdann in dem Vor-
handensein eines Gemeintheilers zwischen dem ursprünglichen und
dem zuletzt erhaltenen Gleichungspolynome.
Suchen wir den Beweis einem heutigen Leser etwas mundgerechter
zu machen, so sieht er folgendermassen aus. Es sei
x"" -\- a^a;'"-! + a^x"'-^- -{ + a„t-iOC -\- a,n
multiplicirt mit {x — &)^ = x^ — 2hx -\- h^ und das Product gleich
Null gesetzt, so wissen wir zum voraus, dass die so entstehende
Gleichung :
I. x^+-^ -f (a, — 2&)a;"'+' -\-{a.^ — 2a^h-\- ?r)a;'" -\
+ (f'm — 2a„,_i& -f- a„j_2&^)a^- + ( — 2ajnh + (im—ih'^)x
zwei gleiche Wurzeln x = h besitzen wird. Die darunter zu setzende
arithmetische Reihe heisst in ihren drei A ufangsgliedern (c, a -{- d,
cc-\-2d, in ihren drei letzten Gliedern u-\-nid, a -{- (m -\- l)d ,
a -{- (m -}- 2)d. Multiplication der Reihenglieder mit den Gliedern
^) Descartes, Geom. I, 433—439. *) Ebenda I. 507—509.
Zahlentheorie. Algebra. 803
der Gleichung I. in der vorbeschriebeiien Weise liefert die neue
Gleichung
IL «*-"' + 2 4- ((« 4- d)a, — (2a + 2d)h)x"'+'
+ ({a + 2d)a, — (2a + 4d)a,h + (« + 2d)h'^)x"' H
-}-((« + m ö) a„, — (2 a + 2 m d) a,,, _ 1 5 + (a + »^ d) a« _ o &') .r^
+ (— (2a + (2m + 2)ö)a,„'b + (a + (>» + l)ö)a„,_i &-)ic
+ {a + (w. + 2)d)a,„h^ = 0
und diese Gleichung ebenso wie die Gleichung I. ist durch x — h
theilbar. Die Ausführung der Division des Gleichungspolynoms IL
durch X — l) liefert nämlich den Quotienten
a.T"' + i + {[a + ö)a^ — (« + 2d)h)x"'
+ ((a + 2ö)a, — (a + 3d)a,h)x"'-' -\
+ ((a + mö) a,n — (« + {m + l)d) a„-J)) x
— (a + (m + 2)«5)a„,&.
Wurde dagegen
a-'"-)- rt^.r'"-^ -j- rt^a;'"^- + • • • + «,,,— la: + a,„
nur mit a; — ?> multiplicirt und dieses Product gleich Null gesetzt,
so wird, sofern über die Coefficienten « ganz frei verfügt werden
kann, die nunmehr entstehende Gleichung I'. keine zwei gleiche
Wurzeln x == h enthalten, dagegen durch x — b selbstverständlich
theilbar sein. Man behandelt sie genau so wie vorher d-'e Gleichung I.
Das Ergebniss ist alsdann eine neue Gleichung
ir. ax"' + ^ + (« + <^) («1 — ^)a;"' + (a- + 2d) (a^ — a^h)x"'-'^ -j
+ (a -f- (m — l)d)(a„,_i — a,„-^ih)x^
— (« + md')a,n — ihx — (« + ('>n + l)d)a„,b -= 0,
deren Gleichungspolynom nicht durch x — h theilbar ist. Die Aus-
führung der Division lässt nämlich gleich in den Anfangsgliedern des
Quotienten
ttx"^ + ((a + ö)a^—dh)x"'-^ + ((a + 2ö)a^ —da,h — ö¥)x"'-'' + • • •
erkennen, dass der Coefficient jeder folgenden Potenz von x immer
länger wird. Er besteht bei x'" aus einem, bei x^'^~^ aus zwei, bei x^
aus ))i -\- 1 Theilen , und diese können mit — h multiplicirt unter
keinen Umständen — (a -\-{m -j- l)ö)amb liefern, d. h. die Division
geht nicht auf.
Fermat's Namen in der Geschichte der algebraischen Unter-
suchungen auftreten zu sehen wird Niemand in Verwunderung setzen.
Es sind zwei hochbedeutende Aufgaben, welche er sich stellte, und
welche er mit einander in Verbindung brachte. Die erste ist die
51*
804 76. Kapitel.
des Rationalmachens von Gleichungen^). Fermat erläutert
zwar sein Verfahren nur an einem einzelnen Beispiele, aber es ist so
methodisch, dass es als Muster für das Verfahren auch in jedem an-
deren Falle dienen kann. Wir benutzen bei der Darstellung gleich
Fermat lateinische Initialen, A als Unbekannte, B, D als bekannte
Grössen, aber ungleich Fermat wenden wir Wurzelzeichen, Exponenten
und Gleichheitszeichen an. Die Gleichung
3 ,~r r;; ^ 3
y2A^ — A^ + y'A^ + B^A = D
sei also von den Assymetrien, wie die Irrationalitäten nach Vieta's
Vorgange genannt werden, zu befreien. Man bringt eine Wurzel-
grösse z. B. y2A^ — Ä^ allein auf eine Seite des Gleichheitszeichens
und ersetzt sämmtliche andere auf der entgegengesetzten Seite des
Gleichheitszeichens vorhandene Wurzelgrössen (hier nur die einzige
YA^ -\- B^A) durch einfache Buchstaben. Man gewinnt also zwei
Gleichungen
3,-
/Ä^~+WA=E und y2A' — A' = D — E.
Wäre etwa noch eine dritte Wurzelgrösse vorhanden, welche mit /
bezeichnet würde, so käme als dritte Gleichung die Definitionsglei-
chung von I hinzu, während in der zweiten Gleichung ein weiteres
Glied — I zur Rechten aufträte. Sämmtliche nunmehr vorliegende
Gleichungen lassen durch einfache Potenzerhebung sich rationalisiren.
In dem gegebenen FaUe genügt die Erhebimg auf die 3. Potenz,
welche folgende zwei neue Gleichungen liefert:
A' + B'A = I?, 2A' — A' = D' — '^D'E + 3DE' — E\
und die Aufgabe ist somit gelöst, wenn zwischen diesen Gleichungen
die Hilfsunbekannte E eliminirt werden kann. Das Rationalmachen
einer Gleichung, innerhalb deren n Irrationalgrössen auftreten, ist
folglich auf eine durchaus andere Aufgabe zurückgeführt, auf die der
Elimination von n — 1 Unbekannten zwischen n Glei-
chungen höheren Grades. Diese zweite Aufgabe behandelt Fer-
mat gleichfalls methodisch, allerdings zunächst unter der Voraus-
setzung w = 2, also so dass, wie in dem angeführten Beispiele, eine
Unbekannte zwischen zwei Gleichungen wegzuschaffen ist. Er ver.
fährt dabei folgendermassen ^) : Die Gleichungen werden so geschrieben,
^) Fermat, Varia Opera pag. 60 und in der neuen Ausgabe der Oeuvres
de Fermat (Paris 1891) I, 184—188. Die Darstellung in K 1 ü g e 1' s Mathema-
tischem Wörterbuche 11 , 953 ist ganz ausnahmsweise durchaus mangelhaft.
*) Ebenda pag. 58 — 59. Oeuvres I, 181 — 184: Nova secimclarnm et ulterioris
ordinis radicum in analyticis tisus.
Zahlentheorie. Algebra. 805
dass alle Glieder, welche die zu eliminirende Grösse enthalten, auf
der einen, alle, welche sie nicht enthalten, auf der anderen Seite des
Gleichheitszeichen stehen. Division mittels der die zu eliminirende
Grösse nicht enthaltenden Gleichungsseite bringt jede der beiden
Gleichungen auf die Form, dass die Einheit einem Ausdrucke gleich
kommt, welcher die zu eliminirende Grösse als heraustretenden Factor
besitzt. Gleichsetzung der beiden Einheitswerthe gestattet demnach
eine durch Division zu bewirkende Herabsetzung des Grades in Bezug
auf die zu eliminirende Grösse. Fortsetzung des gleichen Verfahrens
unter stetiger Anwendung der vorhandenen Gleichungen niedrigsten
Grades lässt schliesslich die zu eliminirende Grösse ganz in Wegfall
bringen. Das Beispiel Fermat's ist Ä^ -\- E^ = Z^ nebst
1 ermat findet 1 = yj _ ^^ und 1 = jyrä_^^, alsp ^s_^3 = N^—BA
Letztere Gleichung geht über m 1 = ^^ — i)(Z^ — A^) — ^
TP^ _4_ 7) TT
dieser Einheitswerth wird mit 1 ^^ jsf^—BA "^^^§1^^^®°- Dabei er-
scheint nach abermaliger Division durch E die neue Gleichung
E-\-D _ {N^ — BA)E— {Z^— A^}
N^— BA ~ D(Z^ — A^) '
welche die Auffindung von E gestattet. Einsetzung von dessen Werth
in E^-\-DE^N'^ — BÄ vollendet die Elimination, aber diese letzten
mit allgemeinen Buchstabenausdrücken mühseligen Ausführungen
schenkt Fermat sich und seinen Lesern. Zum Schlüsse der kurzen
Abhandlung deutet Fermat an, dass wenn drei Gleichungen mit drei
Unbekannten vorliegen, zunächst auf die Elimination einer Unbekannten
hingearbeitet werden müsse, so dass man noch zwei Gleichungen mit
zwei Unbekannten behalte, worauf das eben gelehrte Verfahren zur
wiederholten Anwendung gebracht eine Schlussgleichung mit einer
einzigen Unbekannten entstehen lasse, und das Gleiche gelte bei
noch mehr Gleichungen mit einer entsprechenden Anzahl von Un-
bekannten.
Was die Frage betrifft, wann Fermat diese algebraischen Unter-
suchungen anstellte, so ist mit Recht der 26. December 1638 als Zeit-
punkt augegeben worden, zu welchem er sie schon besass^), denn in
einem Briefe an Mersenne von jenem Tage spricht er bereits von
') Tannery, Sur la date des principales decouvertes de Fermat pag. 13
mit Bezugnahme auf Henry, Becherches sur les manuscrits de Fermat pag. 178
{Bullet. Boncamp. XII, 652).
806 77. Kapitel.
einer Curve, an welche er die Tangente ziehen könne, und welche
(wenn wir neuere Schreibart anwenden) die Gleichung
-./-^r", — s , T/r« 9 I i/ 9 1 1 /^^ — dx- 1 -1 /x* -t- b^x^
y = Ya' + .r- + Vh^ -x--\- Vcx-x- + |/ ^— + y -^7^,-
besitze. Er setzt hinzu, seine Methode genüge auch, wenn der Werth
der Ordinate hundert und noch mehr Grlieder enthielte, serait com-
posee de centinomies ou plus grand nombres de termes. Später am
20. August 1650 kam Fermat in einem Briefe an Carcavy^) auf
eine ganz ähnliche Tangentenaufgabe zu reden, in welcher die Curven-
gleichung 2., 3., 4. und 5. Wurzeln enthält. Er habe, sagt er dabei,
nicht zögern wollen mit der Uebersendnng seiner Methode generale
pour le dehrouillement des assymetries. Damals waren also die betref-
fenden Abhandlungen jedenfalls niedergeschrieben.
77. Kapitel.
Geometrische Gleicliungsauflösniigen. Analytische Geometrie.
Bei Schilderung der algebraischen Leistungen der unserer Be-
trachtung unterworfenen Zeit haben wir bisher eine Gattung von
Untersuchungen vernachlässigt, diejenigen, welche trigonometrische
und geometrische Lehren in den Dienst der Algebra stellen. Yieta
hatte bereits (S. 636) den irreductiblen Fall der kubischen Gleichungen
trigonometrisch behandelt. Es müsste Staunen erregen, wenn Männer,
wie die von uns in diesem Abschnitte behandelten, die aus Vieta's
Schriften die mannigfachste Anregung geschöpft haben, gerade an
diesen Dingen vorbeigegangen wären.
Girard in seiner Invention nouvelle en Valgebre löst die Gleichung
x^ = 13a; -f- 12 geometrisch wie folgt (Figur 144). Mit 1/-^ als
Halbmesser wird um ZZ"als Mittelpunkt ein Halbkreis beschrieben. Dann
13
wird 12 : -— = FG aufgetragen, welches
immer möglich sei, und der Bogen
GK mit Hilfe einer Hyperbel (denn
mit Zirkel und Lineal gehe es nicht)-
in drei gleiche Theile GJ, JL, LK
getheilt; FL ist alsdann eine Glei-
chungswurzel. Wird wieder um H mit
KL als Halbmesser ein Kreisbogen beschrieben, der FL in M und N
1) Henry 1. c. pag. 193 (XII,
Geonietrisclie Gleichlingsauflösungen. Analytische Geometrie.
807
schneidet, so seien — FN und — F3I die beiden anderen Gleichungs-
wurzeln. Ein Beweis, den Girard kaum andeutet, lässt sich ziemlich
leicht herstellen. Die Gleichung heisse x^ = px -\- q, und es sei
^ <^; der Halbmesser r des Halbkreises wird von der Länge 1/-^
3q
~ <i2r unter Voraussetzung der ange-
dass man die Richtigkeit der Bemerkungr
gewählt und FG = q : ~
gebenen Ungleichung, so
erkennt, FG, welches kleiner als der Durchmesser ist, könne als
Sehne eingezeichnet werden. Nun heisse der Winkel GFK = "^cp,
der Winkel XF^= 9). Es ist
Aber
demnach
und folglich
FG
FG
= 2r- cos 09), FL =^ 2r ■ cosfp.
cos 3 g) = 4 cos (p^ — 3 cos tp,
|/f (4cos9»■
l/f; («
cos 9)^
3 cos op) = —
6 cos (p) .
Nun ist weiter
Fi 3 FL'
b cos (p^ = —^ = — —
l/ft
b cos (p =
3 FL
-^FL.
1/|"
Die gefundene Gleichung geht dadurch in g = FL^ — p ■ FL über,
woraus FL = x ersichtlich ist. Zieht man die bei Girard nicht vor-
handene Hilfslinie HQ \\ KL, so ist leicht abzuleiten
i^i)/=2;-cosa20o
FN= 2r- cos (120'> -\-(p),
wodurch auch diese Wurzelwerthe sich rechtfertigen.
Nur sehr unwesentlich verschieden ist die Figur, unter deren
Zugrundelegung (Figur 145) Franciscus
van Schooten eben jene Gleichung
a;^ ^ 13 a; -f- 12, von welcher er sagt,
dass er sie Girard entlehne, zur Auf-
lösung bringt^). Der Kreishalbmesser
FLI ist wieder 1/^, die Sehne FG
wieder ^, der Kreisbogen GK ist in die
drei gleichen Theile GJ=JL = LK
getheilt und sodann FL = x gezogen.
Neu ist aber, dass nunmehr das gleich-
^) Descartes, Geom. Appendix de cubicarum aequationum resolutione I,
345 — 368, vergl. namentlich pag. 349.
808 77. Kapitel.
seitige Sehnendreieck L3IN mit L als Eckpunkt gezeichnet wird
und dadurch die Sehnen FM, FN zur Construction gelangen, welche
negativ genommen die beiden anderen Gleichungswurzeln sind. Auch
der Beweis ist bei Van Schooten anders angelegt als bei Girard,
nämlich alterthümlicher. Von irgend trigonometrischen Functionen
ist nicht Gebrauch gemacht, vielmehr sind noch weitere Hilfslinien
gezogen, welche ähnliche Dreiecke hervorbringen, und dann führen
die Proportionalitäten entsprechender Seiten zu dem gewünschten Er-
gebnisse.
Auch die Auflösung einer kubischen Gleichung mittels der
Durchschnittspunkte eines Kreises mit einer Parabel fehlt nicht in
dieser Literatur. Descartes hat sie gelehrt^) und Van Schooten
hat in seinen Erläuterungen gezeigt^), dass die Durchschnittspunkte
eines Kreises mit einer Hyperbel zum Auffinden der Wurzeln einer
vollständigen kubischen Gleichung führen, ohne dass man genöthigt
wäre, das quadratische Glied zuvor wegzuschaffen, wie Descartes es
thut. Aehnliches endlich lehren beide, Descartes und Van Schooten
für die geometrische Auflösung biquadratischer Gleichungen ohne
und mit kubischem Gliede^).
Demselben Gebiete gehören die Leistungen eines belgischen Schrift-
stellers an. Rene Fran9ois de Sluse"^) (1622 — 1685) stammt aus
Vise an der Maas zwischen Lüttich und Maastricht. Sein Vater
war Notar, Oheime von mütterlicher Seite waren kirchliche Würden-
träger. Einer derselben zog De Sluse um 1643 nach Rom, wo er
am CoUegium der Sapienza die vielseitigen Studien fortsetzte, welche
er in Lüttich begonnen hatte, und wo er den Titel eines Doctors
beider Rechte erwarb. Seit 1651 war er Domherr in Lüttich. Er
gab 1659 unter dem Titel Mesolahum eine Schrift heraus, welche die
Aufgabe der Einschaltung zweier geometrischer Mittel zwischen zwei
gegebenen Strecken und ebenso die Aufgabe der Dreitheilung eines
gegebenen Winkels mit Hilfe eines Kreises und irgend eines Kegel-
schnittes löste. Eine zweite Auflage des Mesolabum von 1668 brachte
als wesentliche Ergänzung die Erörterung, dass jene Aufgaben auf
kubische Gleichungen führten und deshalb ebenso wie alle ähnlichen
Aufgaben durch die benutzten Curven coustruirt werden könnten^).
1) Descartes, Geom. I, 85—95. ^) Ebenda I, 327. ^) Ebenda,
I, 85—95 und 325. *) Ueber De Sluse hat C. Le Paige eine umfassende,
alle einschlagenden Fragen behandelnde Abhandlung im Bulletitio Boncompagni
XVII veröffentlicht. Dort ist auch die Richtigkeit der Schreibart Sluse gegen-
über von Sluze festgestellt. Ueber die mathematischen Leistungen verbreiten
sich i^ag. 470 — 480. '") Ac problematum otnnium solidorum effectio per easdem
ciirvas.
Geometrische Gleichuugsauflösungeu. Analytische Geometrie. 809
Eine geometrische Aufgabe, welche algebraisch behandelt zu einer
biquadratischen Gleichung geführt hätte, ist in einem 1630 gedruckten
Werke, dessen Verfasser aber schon 1627 verstorben ist, behandelt.
Marino Ghetaldi, um ihn handelt es sich, ist uns (S. 653) als
Wiederhersteller einer Schrift des Apollonius bekannt geworden. Wir
hätten unter den eigentlichen Geometern ihn gleichfalls im Vorbei-
gehen nennen dürfen wegen seiner Vanorum prohlematum collcdio ^)
Ton 1607, welche geometrisch solche Aufgaben löst, an die Regio-
moutanus und Andere mit den Hilfsmitteln der Algebra heran-
getreten waren. Hier haben wir es mit seinem nachgelassenen Werke
De resolutione et cotnposUione mathematica^) zu thun. Es sind fünf
Bücher, von denen die vier ersten algebraischen und geometrischen
Behandlungen von Aufgaben gewidmet sinö, welche sämmtlich in
Gleichungsform gebracht den zweiten Grad nicht übersteigen und
sonderliche Schwierigkeiten nicht darbieten, auch neue Gedanken
nicht nöthig machten noch förderten. Das 5. Buch in vier Kapitel
getheilt hat einen anderen Charakter. Das 1. Kapitel beschäftigt sich
ausser mit der archimedischen Kronenaufgabe mit arithmetischen Pro-
gressionen, löst aber die hier auftretenden Aufgaben nicht nach den
damals längst bekannten Formeln, sondern nach Proportionen. Die
erste dieser Aufgaben verlangt z. B. die Herstellung sämmtlicher
Glieder der Progression, wenn deren Summe, das erste und das letzte
Glied gegeben sind. Auffindung der Differenz d mittels jener ge-
gebenen Grössen 5, a, t ist demnach erforderlich. Ghetaldi geht dazu
von der Proportion aus 2s : {a -\- t) = {t — a -{- d) : d, aus welcher
die weitere folgt (2s — a — t) : (a -\- t) =- (t — a) : d, und nun ist
die Aufgabe gelöst. Das 2. Kapitel hat es mit neun unmöglichen
Aufgaben^) zu thun, und Ghetaldi versteht darunter solche, die zu
Gleichungen mit nur imaginären Wurzelwerthen führen oder zu der
Wurzel 0, welche geometrischer Deutung unfähig ist. Zur letzteren
Gattung gehört die Aufgabe, eine gerade Linie so zu schneiden, dass
das Rechteck unter ihren Theilen mit dem Quadrate des Unterschiedes
der Theile so viel betrage, als die Summe der Quadrate der Theile.
Ist 2& die Summe, 2a der Unterschied der Theile, so heissen die
Theile selbst Ij -\- a und 1) — a, und es wird also verlangt
(h + a) -{h-a) + {2ay = (6 + af -^ {h - af
oder
&2 _|_ 3^2 _ 2h^ + 2a\ d. h. &2 = cv", und & = + a,
') Kästner III, 187—188. ^) Ebenda III, 188—195. — E. Gel eich in
Zeitschr. Math. Phys. XXVH, Supplementheft, besonders S. 199—214. ») Prohle-
inata impossihilia, ex quorum resolutionibus cognoscitur eorum impossibilitas.
810 77 Kapitel.
wodurch einer der Theile zu 0 wird, d. li. die Linie ist gar nicht
geschnitten. Zur anderen Gattung gehört die neunte Aufgabe, welche
als Gleichung 3x{a — x) = a^ heisst. Denn diese giebt
a . a / ^
Das 3. Kapitel vereinigt fünf eitle oder Scherzaufgaben^). Auch
unter diesem Namen sind zweierlei Gruppen vereinigt: Aufgaben, die
durch jede beliebige, und solche, die durch unendliche viele Annahmen
befriedigt werden-). Die erste Gruppe ist also dadurch gekennzeich-
net, dass sie auf identische, die zweite dadurch, dass sie auf unbe-
stimmte Gleichungen sich zurückführt. In die erste Gruppe gehört
z. B. die erste Aufgabe: Eine gegebene Strecke a derart zu theilen,
dass das Rechteck aus dfr ganzen Strecke und dem Unterschiede der
Theile nebst dem Quadrate des kleineren Theiles dem Quadrate des
grösseren Theiles gleich werde, denn
»■[(i+-^-)-(f-^)]+(f-^r=(i+-r
ist eine Identität. Andere Aufgaben sind unbestimmt, so die vierte:
Ueber einer gegebenen Grundlinie ein Dreieck zu zeichnen, dessen
beide anderen nSchenkel die halbe Grundlinie zum unterschiede haben.
Die Spitze des Dreiecks liegt auf einer Hyperbel, was aber Ghetaldi
nicht bemerkt zu haben scheint'*'). Das 4. Kapitel endlich enthält
acht Aufgaben, welche nicht in das Bereich der Algebra fallen^),
d. h. solche, welche Ghetaldi nicht in Gleichungsform zu bringen
wusste. Unter ihnen ist gleich die erste diejenige, welche wir mein-
ten, als wir von einer Aufgabe sprachen , die richtig angefasst zu
einer Gleichung 4. Grades hätte führen
müssen. Eine Seite eines gegebenen
Rhombus wird verlängert, dann soll
in dem entstehenden Aussenwinkel
eine gegebene Strecke so eingezeich-
net werden, dass ihre Verlängerung
in den Eckpunkt des Rhombus ein-
trifft, welcher dem Scheitel des Aussen-
winkels gegenüberliegt^). Ist (Figur 146) a die Seitenlänge des Rhom-
^) Problema vanuni seu nugatorium. ^) cum id . quod Prdblema fieri
juhet, quaciimque ratione fiat Problemati satisfit, vel cum Problema inßnitis modis
eonstrui potest. ^) Ist -2« die gegebene Grundlinie zugleich Richtung der Ab-
scissenaxe eines rechtwinkligen Coordinatensjstemes, dessen Anfangspunkt in der
Mitte der Gi-undlinie liegt, so heisst die Gleichung des Ortes der Dreiecksspitze
Vergl. Kästner DI, 190. ^) De resolutione et compositione problem^tnm quae
suh Algebram non cadunt. '") Eombo dato et uno latere producto aptare sub
Geometrische Gleichungsauflösungen. Analytische Geometrie. 811
bus, Ix, die Länge der eiazuzeichnenden Strecke MK, und wird
<^ BCD = a, BM = X gesetzt, so ist
KJ) = —, KC = a — BK=a ^ = -^-
und im Dreiecke CBK findet die Gleichung statt
\ X / ' \x -\- aj X -\- a
oder
(x^ — h^){x -f- «)^ == (2(a -(- x) cos a — a)ax^,
welche zu construiren bleibt^). Ghetaldi benutzt aber diesen Weg
nicht, wie er überall die Anwendung trigonometrischer Functionen
vermeidet, so sehr die Lösung der Aufgaben dadurch beschleunigt
würde. Ihm war offenbar, trotz Regiomontanus und Yieta, welche
er sorgsam studirt hatte, die Handhabung jener Functionen nicht
ganz geläufig. Er versuchte lieber, und so auch bei der Aufgabe»
von der wir gerade reden, eine geometrische Analysis in antikem
Sinne und Hess dann die Construction und deren Beweis folgen.
Fasst man die Leistungen Ghetaldi's mit denen von Girard, von
üescartes, von Van Schooten, von Sluse zusammen, über welche wir
hier neben einander berichtet haben, so erkennt man überall das Be-
streben, bald die Geometrie der Algebra, bald die Algebra der Geo-
metrie dienstbar zu machen, aber nirgend erhebt sich das Bestreben
höher als bis zur Construction gewisser Strecken, die in Gleichungen
als Unbekannte vorkommen. Am nächsten war Ghetaldi einem grossen,
jetzt mit Noth wendigkeit zu vollziehenden Fortschritte bei den un-
bestimmten Aufgaben des 3. Kapitels seines 5. Buches. Dort musste
er bei richtiger Fragestellung zu einer Gleichung zwischen zwei un-
bekannten Strecken gelangen, musste er dem geometrischen Sinne
dieser Gleichung nachforschen. Er hat die Frage nicht richtig ge-
stellt, und so entging ihm der Blick in ein von Oresme aus der
Ferne gezeigtes, aber noch niemals eigentlich betretenes Gebiet.
Glücklicher, denn etwas Glück gehört auch zu den grössten Ent-
deckungen, waren Fermat und Descartes. Jener dürfte den ent-
scheidenden Schritt früher unternommen haben, dieser veröffentlichte
früher seine unabhängig von Fermat gewonnenen Ergebnisse, und da
die Geschichte unwiderruflich die Veröffentlichungszeit als allein mass-
gebend betrachten muss, wo Erstlingsrechte zu vergeben sind, so
müssen wir zur Geometrie des Descartes von 1637 und deren geo-
anguJo exteriori magnitudine datam rectam lineam, quae ad oppositum angulum
pertingat.
') Ueber die Bedeutung der vier Wurzeln dieser biquadratischen Glei-
chung vergl. Kästner III, 192—193.
812 77. Kapitel.
metrischen Inhalt uns wenden. Er besteht, um ihn mit einem heute
allgemein verständlichen Namen zu kennzeichnen, aus der analy-
tischen Geometrie der Ebene mit einem fast verstohlen ge-
äusserten Gedanken einer analytischen Geometrie des Raumes.
Eine Schaar von unter einander parallelen Geraden wird gedacht,
welche auf einer zu ihr senkrechten Geraden gewisse Strecken von
einem angenommenen Anfangspunkte aus abschneidet. Endpunkte
der Parallelen liegen dann in irgend einer Curve, und wenn zwischen
den Strecken der geschnittenen Geraden und der durch sie und die
Curve begrenzten Länge der Parallelen eine von Punkt zu Punkt der
Curve sich nicht ändernde Gleichung besteht, so heisst diese die
Gleichung der Curve. Die Parallelen selbst heissen omnes ordi-
natim applicatae^), woraus die Namen Ordinaten und Appli-
caten entstanden, welche von nun an der analytischen Geometrie
angehören sollten. Erfunden hat Descartes diese Namen nicht. Lineae
ordinatae hiessen irgend welche Parallellinien schon bei den römi-
schen Feldmessern (Bd. I, S. 515) und auch die Wortverbindung
ordinatim appUcata ist in einem 1615 herausgegebenen Werke Kep-
ler's gebraucht^).
Von einer Begriffsbestimmung der analytischen Geometrie von
der Art, wie sie hier ausgesprochen worden ist, nimmt Descartes
allerdings so wenig seinen Ausgangspunkt, dass sie sich sogar nirgend
bei ihm ausdrücklich ausgesprochen vorfindet; man muss sie da und
dort aus seinem Verfahren herauslesen. Sein Gedankengang ist viel-
mehr folgender:
Das I. Buch beginnt mit der Behauptung, jede geometrische
Aufgabe laufe darauf hinaus, eine Anzahl von Strecken zu kennen.
Eine solche, an sich beliebig, muss dabei als Einheit angenommen
werden^). Buchstaben, welche alsdann für einzelne Strecken gewählt
werden, können in Ausdrücken in gleichen Dimensionen, aequemidUs
semper dimensionihus, vorkommen, aber uothwendig ist es nicht, weil
die Einheit immer zur Erklärung zur Verfügung steht, uhique suh-
intellegi potest, wo sich zu viele oder zu wenige Dimensionen finden.
Ist z. B. aus a^y^ — & die Kubikwurzel zu ziehen, so muss man sich
denken, a^J)^ sei einmal durch die Einheit dividirt, h zweimal mit
derselben multiplicirt'*). Mittels der für die Strecken eingesetzten
Buchstaben, seien es Stellvertreter bekannter oder unbekannter Werthe,
sind nach den Bedingungen der Aufgabe Gleichungen herzustellen,
^) Descartes, Geom. 1,38 und häufiger. ^) Kepler, Opera (ed.
Frisch) IV, 698: Sit a tactu B ad diametrum ordinatim applicata BA.
^) Descartes, Geom. I, 1: quae vocetur unitas ut eo commodius ad numeros
referatur, quamque communiter pro lihitu assumere licet. ^) Ebenda I, 3.
Geometrische Gleichungsauf lösungeu. Analytische Geometrie. 813
so viele an der Zahl, als Unbekannte vorkommen. Werden, trotzdem
nichts in der Aufgabe Enthaltene vernachlässigt wurde, weniger
Gleichungen als Unbekannte gefunden, so dient solches zum Beweise,
dass die Aufgabe keine durchaus bestimmte ist^). Nun werden zu-
nächst bestimmte Gleichungen zweiten Grades constructiv mittels des
Kreises und der Geraden gelöst, dann wird der Uebergang zur ersten
unbestimmten Aufgabe gemacht, zur sogenannten Aufgabe des
Pappus. Sie besteht (Bd. I, S. 423) darin, den geometrischen Ort
eines Punktes von der Beschaffenheit zu finden, dass, wenn man von
ihm Linien unter gegebenem Winkel nach gegebenen Geraden der
Ebene zieht, das Product gewisser dieser Verbindungsgeraden zu dem
Producte aller übrigen in einem gegebenen Verhältnisse stehe. Des-
cartes behandelt sie nach seiner Methode. Er findet, dass, wenn auf
einer der gegebenen Geraden ein Anfangspunkt A gewählt wird, der
von dem Durchschnittspunkte B mit der nach dieser Geraden ge-
zogenen Verbindungslinie CB von der Länge y die Entfernung x be-
sitzt, alsdann sämmtliche übrige Verbindungslinien Längen besitzen,
welche aus drei Theilen bestehen, einem Vielfachen von y, einem
Vielfachen von x und einem nur Bekanntes enthaltenden Theile,
jeder bald positiv bald negativ-). Daraus folgt aber, dass, wenn 2n
oder 2n — 1 Gerade gegeben sind, die Producte von n oder n — 1
Verbindungslinien den w**^" Grad nicht übersteigen und damit den
Grad der entstehenden Gleichung bedingen. Bei fünf Geraden ist
eine Gleichung 3. Grades zu erwarten. Nimmt man dabei y als be-
kannt an, so kann, weil die erste Verbindungslinie, von x unab-
hängig, ihre Länge einfach mit y bezeichnet, nur eine nach x quadra-
tische Gleichung auftreten, so dass der betreffende Durchschnitts-
punkt B auf der ersten Geraden mittels Zirkel und Lineal gefunden
Averden kann. Die Länge CB = y ist aber nicht bestimmt, es können
als solche andere und andere Werthe ins Unendliche gewählt werden,
und entsprechend finden sich unendlich viele Werthe x nebst unend-
lich vielen Punkten C, welche eine Curve bilden^). Wir brauchen
kaum besonders darauf hinzuweisen, dass dieses eine von den Stellen
ist, welche wir oben im Auge hatten, als wir sagten, man müsse
da und dort aus Descartes' Verfahren herauslesen, worin seine Me-
thode bestehe.
Im IL Buche giebt Descartes zunächst die Dreitheilung der
') Descartes I, 4. *) Ebenda I, 14. *) Ebenda I, 15: Adeoque si
in infinitum alia atque alia magnitudo sumatur pi'O linea y, invenietur quoque in
infinittim alia atque alia pro linea x, atque ita ohtinehitur infmitus numerus
imnctorum, cujusmodi est imnctum C, quorum ope quaesita curva linea descri-
hetiir.
814 77. Kapitel.
Aufgaben nach antikem Vorbilde an (Bd. I, S. 284). Ebene Oerter
waren ihnen Gerade und Kreis, körperliche Oerter die Kegelschnitte,
lineare Oerter alle übrigen Curven der Ebene. Descartes verlangt
dagegen, man solle die Curven nach dem Grade unterscheiden^). Man
bedürfe zu ihrer Herstellung nicht so weit hergeholter Mittel, wie
z. B. das Schneiden eines Kegels durch eine Ebene, vielmehr genüge
die Bewegung von zwei oder mehr Linien, die sich gegenseitig
treffen-). Dann solle man des Weiteren die wirklich mechanischen
Curven abtrennen, welche wie die Spirale, die Quadratix durch zwei
Bewegungen verschiedener Natur erzeugt werden, zwischen welchen
eine in genauen Zahlen ausgedrückte Beziehung nicht stattfindet^).
Offenbar ist damit die Unterscheidung zwischen algebraischen und
transcendenten Curven gemeint, wie der heutige an Leibniz
sich anlehnende Sprachgebrauch sich ausdrückt. Vielleicht war die
Aufgabe des Pappus für Descartes Veranlassung zu einer weiteren
Unterscheidung der algebraischen Curven, deren er sich bedient. Dort
sah er, dass, wenn 2n, beziehungsweise 2n — 1 Gerade gegeben
waren, ein Product aus n Strecken gebildet werden musste, welches
zu einem Producta gleicher Dimension entweder aus lauter Unbe-
kannten oder aus n — 1 Unbekannten und der Einheit in Verhältniss
trat. Jetzt im IL Buche unterscheidet er neben dem Grade, gradus,
noch das Geschlecht, genus, der Curven. Der 2n — 1*" und 2>^**'
Grad bilden ihm gemeinschaftlich das n^^ Geschlecht^). Dabei beein-
flusst die Wahl des geradlinigen Coordinatensystems, so verschieden
sie getroffen werden kann, das Geschlecht der Curven nicht ^). Noch-
maliges Zurückgreifen auf die Aufgabe des Pappus führt Descartes
nun dazu, eine gewisse Strecke y nr -\- ox — — rr^ näher zu unter-
suchen^). Kommt —X- in dem Radicanden überhaupt nicht vor, so
ist der Kegelschnitt, welcher als geometrischer Ort auftritt, eine
Parabel; hat jenes Glied das Vorzeichen -|-; so ist eine Hyperbel
entstanden, und endlich eine Ellipse, wenn das Vorzeichen — heisst.
Nach einigen weiteren Auseinandersetzungen gelangt Descartes zur
Aufgabe, in einem Punkte einer gegebenen Curve eine Senkrechte
^) Descartes, Geom. I, 17: Verum satis mirari non possum, quod non
ulterius progressi lineas hasce magis compositas in certos distinxerint gradus.
*) Ebenda I, 18. ^) Ebenda I, 18 — 19: Quandoquidem illas duobus motibus
describi imaginamur, qui a se invicem sunt diversi, nee ullam inter se relationem
habent, quae exacte mensurari possit. *) Ebenda I, 21. ^) Ebenda I, 22:
fieri potest, ut linea eiusdem generis esse appareat. Deutlicher war der fran-
zösische Wortlaut: on peut tousjours faire que la ligne paraisse de meme genre.
Oeuvres (ed. Cousin) V, 339. . «) Ebenda I, 29.
Geometrische Gleichlingsauflösungen. Analytische Geometrie. 815
zu der Curve oder ihrer Berührungsliuie, contingcns, zu ziehen^),
über deren Auflösung wir im 79. Kapitel berichten werden. Die
Anwendung der Methode der Normalenziehung wird unter Anderem
bei der Conchoide gemacht") und besonders bei einigen Curveu,
welche als die Descartes'schen Ovalen^) bekannt geblieben sind.
Es sind sogenannte Diakaustiken, d. h. sie haben die Eigenschaft,
dass alle von einem Punkte ausgehenden und auf sie auffallenden und
in Folge des Brechungsgesetzes gemäss einem gegebenen Brechungs-
exponenten abgelenkten Strahlen nach einem Punkte weiter geworfen
werden, in welchem sie sich vereinigen, so dass man gewissermassen
von Brennpunkten reden dürfte. Wie Descartes zu diesen Ovalen
gelangt ist, sagte er nicht. Am Schlüsse des IL Buches findet sich^),
was wir einen Gedanken über die analytische Geometrie des
Raumes genannt haben. Was über ebene Curven gelehrt wurde,
sagt Descartes ungefähr, ist leicht auf alle solche auszudehnen, welche
durch regelmässige Bewegung von Punkten im dreidimensionalen
Räume, in spatio trium dimensionum , entstanden sind. Man braucht
nur von jedem Punkte der Curve Perpendikel auf zwei zu einander
senkrechte Ebenen zu fällen, denn die Endpunkte dieser Perpendikel
bilden zwei Curven, je eine auf einer der beiden Ebenen, die man
nach der gelehrten Methode beide auf die Durchschnittslinie der
beiden Ebenen beziehen kann, und alsdann ist die dreidimensionale
Curve vollständig bestimmt. Sogar die Normale zur Raumcurve in
einem ihrer Punkte könne man so erhalten. Jenem Punkte entspricht
je ein Punkt in jeder der beiden ebenen Curven, also auch je eine
Normale an die betreffende ebene Curve, und Ebenen, welche durch
diese Normalen senkrecht zu den Curvenebenen gelegt sind, schneiden
sich in der gesuchten Normale der Raumcurve. In dieser Allge-
meinheit ist die Behauptung allerdings nicht richtig, vielmehr nur
dann zutreffend, wenn die Raumcurve eben ist"^).
Das m. Buch lässt sich fast als ein Lehrbuch der Algebra be-
zeichnen. Nachdem in den beiden ersten Büchern gezeigt worden
war, wie geometrische Aufgaben auf Gleichungen zurückgeführt
werden, erwächst das Bedürfniss, mit deren Lehre genau bekannt zu
sein , und desshalb setzt hier Descartes neben Anderem auch jene
Sätze auseinander, über welche im 76. Kapitel berichtet ist. Eines
Irrthums freilich machte er sich schuldig. Gleich zu Anfang des
III. Buches giebt Descartes als Vorschrift*^), man solle eine vor-
^) Descartes, Geom. I, 40 sqq. ^) Ebenda 1,49. ^) Ebenda 1,50: Expli-
catio quatuor generum novarum ovalium opticae inservientum. *) Ebenda I, 66.
°) Auf die Nothwendigkeit dieser Einschränkung machte uns H. P. Stäckel
aufmerksam. ^) Ebenda I, 67.
816 77. Kapitel.
gelegte Aufgabe niclit durch beliebige zweckdienliche Curven lösen,
sondern durch die einfachsten, welche man anwenden könne. Diese
Vorschrift, muss man denken, hatte er noch vor Augen, als er an
die Behauptung, nur zur Auflösung von Gleichungen 3. und 4. Grades
könne man Kegelschnitte verwenden^), später eine weitere unrichtige
Behauptung knüpfte, die sich kurz so aussprechen lässt: zur Auf-
lösung von Gleichungen 2n — V^"^ oder 2«**^" Grades bedürfe es einer
Linie n^^"- Geschlechtes^). So wurde sie wenigstens von gleichzeitigen
und von späteren Lesern^) verstanden und als irrig aufgefasst, wie
wir bald sehen wollen.
Die Geometrie kam, wie wir wissen, 1637 heraus. Vor ihrem
Erscheinen schrieb Fermat unter dem 22. September 1636 einen Brief
an RobervaP), welcher für das Vorhandensein des darin Enthaltenen,
bevor Fermat Einsicht in Descartes' Geometrie gewinnen konnte, be-
weiskräftig ist. Fermat beruft sich hier auf seine Methode De maximis
et minimis, welche Roberval durch einen Herrn Despagnet kennen
gelernt habe, welchem er, Fermat, sie vor sieben Jahren in Bordeaux
mittheilte. Wir kommen damit bis zum Jahre 1629 zurück, und da
die erwähnte Methode, welche wir im 79. Kapitel schildern, durchaus
auf analytisch-geometrische Betrachtungen sich aufbaut, so müssen
jene Grundbetrachtungen für Fermat spätestens 1629 vorhanden ge-
wesen sein. Veröffentlicht freilich hat Fermat seine Untersuchungen
erst nach 1637, in einer der betreffenden Abhandlimgen kommt
Descartes' Name wiederholt vor.
Die augenscheinlich älteste Fermat'sche Abhandlung über ana-
lytische Geometrie führt den Titel At locos planos et solidos isagoge^).
Fermat sagt in dieser sogen. Isagoge, dass, wenn er diese Erfindung
schon besessen hätte, als er vor langer Zeit die ebenen Oerter des
Apollonius wiederherstellte, er dort weit eleganter hätte verfahren
können ^j. Eine Zeitbestimmung ist damit so eigentlich nicht ver-
bunden, da man nicht weiss, wann jene synthetisch -geometrische
Schrift verfasst wurde. Ein Nekrolog Fermat's, vielleicht aus der Feder
Carcavy's, jedenfalls von diesem beeinflusst, behauptet, die Isagoge
sei geschrieben gewesen, bevor die Descartes'sche Geometrie gedruckt
war^). Aber gelte dieses auch nicht für denjenigen Wortlaut, in
welchem die Isagoge 1079 in den nachgelassenen Varia Opera er-
*) Descartes, Geom. I, 96: Cur problemata solida eonstrui non possint
absqiie sectionibus conieis, nee quae magis composita sunt, sine aliis lineis magis
composifis. *) Ebenda I, 106. ^ Jacobi Bernoulli Opera I, 343.
*) Fermat, Varia Opera' pag. 136. ^) Ebenda pag. 2—11. Oeuvres de
Fermat I, 91—110. ^) Varia Opera pag. 8. Oeuvres I, 103. ') Oeuvres
de Fermat I, 359—361.
Geometrische Gleichungsauflösungen. Analytische Geometrie. 817
schien, sei bei dieser letzten Niederschrift Fermat mit jener Geometrie
von 1637 bekannt gewesen, jedenfalls geht sie in wesentlichen Dingen
weit über Descartes hinaus. Nirgend hat Descartes die Herstellung
der Gleichung eines geometrischen Ortes so klar beschrieben, wie
Fermat gleich am Anfange der Isagoge es thut. Die Gleichungen,
sagt er, können in bequemer Weise hergestellt werden, wenn wir
zwei unbekannte Strecken unter gegebenem Winkel, zu welchem wir
meistens einen rechten Winkel wählen, aneinandersetzen und für eine
der beiden Strecken einen Anfangspunkt wählen '^). Diesen Anfangs-
punkt bezeichnet Fermat regelmässig mit N und die von ihm be-
ginnende Strecke mit A, die dazu senkrechte andere Strecke mit E.
Ihr Fusspuukt heisst Z, der Punkt des geometrischen Ortes, wo sie
endigt, J. Solche ein für allemal gewählten Bezeichnungen sind
mehr als blosse Bezeichnungen. Sie bilden einen Theil des metho-
dischen Verfahrens, und Niemand hat Fermat in dieser Beziehung
übertroffen. Man könnte alle seine Feststellungen als mustergiltig
rühmen, wenn er nicht allzusehr durch die Fesseln der Vieta'schen
Schreibweise beengt gewesen wäre. Statt des Gleichheitszeichens
schrieb er noch eyale, statt der rechts erhöhten Zahlenexponenten die
lästigen Anfangsbuchstaben der Potenzbenennungen. In diesen beiden
Unbequemlichkeiten sei es uns gestattet, uns von Fermat zu entfernen,
während wir im Uebrigen ihm genau folgen. Wir können alsdann
folgenden Inhalt der Isagoge angeben, den man mit unseren Aus-
zügen aus Descartes' Geometrie vergleichen mag.
DA = BE bedeutet eine durch den Anfangspunkt N gehende
Gerade. Z^ — DA = BE oder, indem Z" = DR gesetzt wird.
Biß — A)^BE bedeutet dieselbe Gerade unter Verschiebung des
Anfangspunktes. Fermat besitzt also ausdrücklich die Gleichung der
geraden Linie, welche man bei Descartes vergebens sucht. Die Glei-
chimg AE = Z- ist die einer Hyperbel auf ihre Asymptoten be-
zogen. E- = DA und BE^A- sind zwei Parabeln, welche nur durch
ihre Lagen sich unterscheiden, indem die Applicaten bald der einen,
bald der anderen von zwei zu einander senkrechten Richtungen
parallel sind. B^ — ^^ = E^ ist Kreisgleichung und auf eben diese
Form ist jede Gleichung, welche noch Vielfache von A und von E
enthält, zurückführbar, falls nur A- und E^ gleiche Coefficienten be-
sitzen, z. B. B- — 2BA — A^ = E^ -j- 2RE geht über in
P^ — (^ -f Bf = iE + Bf, wo P- = FC' + B- + B\
^) Commode autem possunt institui aequationes, si duas quantitates ignotas
ad datum angulum constituamus, quem ut pluritnum rectum smnemus, et alterius
ex Ulis positione datae terminus unus sit datus.
Cantoe, Geschichte der Mathem. 11. 2. Aufl. 52
818 77. Kapitel.
Ist dagegen ü^ — A- nicht gleich E", sondern steht zu E" in einem
gegebenen Verhältnisse, so ist damit die Gleichung einer Ellipse ge-
geben; die Gleichung der Hyperbel ist dagegen vorhanden, wenn
J} -j- B^ zu E'^ in gegebenem Verhältnisse steht. Das sind Ergeb-
nisse, welche in der Isagoge auf wenige Seiten zusammengedrängt
erscheinen.
Ein zweiter Aufsatz, als Anhang zur Isagoge bezeichnet^), zeigt
wie man mittels zweier Curven Gleichungen höherer Grade, in wel-
chen nur eine Unbekannte vorkommt, bewältigen könne. Es ist die
gleiche Aufgabe, welche wir in der Ueberschrift dieses Kapitels als
geometrische Glerchungsauflösungen bezeichnet haben und welche wir
noch vor der analytischen Geometrie zur Sprache brachten. Dorthin
würde also streng genommen Fermat's Anhang zur Isagoge auch ge-
hört haben, wenn ihm nicht das ganz abweichende elegantere Ver-
fahren seinen Platz an dieser späteren Stelle angewiesen hätte. Fer-
mat setzt regelmässig in der vorgelegten Gleichung jede der beiden
Seiten, die desshalb mit Geschick auszuwählen sind, einem und dem-
selben dritten Ausdrucke gleich, welcher mit beiden vorhandenen
Ausdrücken Gemeinth eiler besitzt, durch welche dividirt werden kann.
Sei etwa A^ -\- BA- == Z'B zu lösen. Fermat wählt als Vergleichs-
ausdruck BAE, und nun geht A'-j-BA' = BAE in A'-j-BA^BE
und Z^B = BAE in Z^ = AE über, d. h. Parabel und Hyperbel
schneiden sich in einem Punkte, dessen A die vorgelegte Gleichung
befriedigt. In einem anderen Falle sei A^ = Z'-A- — Z^D aufzulösen.
Fermat formt die Gleichung zunächst um zu
U- — B'f = {B' - Z'D)~ {2B^ — Z')A'
und nimmt dann N^E'- als Vergleichsausdruck, wo N- = 2B'- — Z^.
So werden eine Parabel A^ — B^ = NE und ein Kreis
-^." -A-±.
als die zur Lösung führenden Curven ermittelt. Ob Fermat Car-
dano's Schrift De Begula Aiwa gelesen und dort die Methode ge-
funden hatte, eine Gleichung unter Beiziehung einer Hilfsgrösse in
zwei Gleichungen zu spalten (S. 536), sei dahingestellt. Wahrschein-
lich ist es uns nicht, und jedenfalls ging Fermat nicht algebraisch
wie Cardano, sondern geometrisch zu Wege.
Der gleichen Methode bediente sich Fermat in einer ziemlich
viel späteren Abhandlung: Be solutione jyrohlematum geometricormn
per curvas simplicissimas et uniciiique prohlematum generi proprie con-
^) Appendix ad Isagogem Topicam continens solutionem problematttm soli-
dorum per loeos. Varia Opera pag. 9 — 11. Oeuvres I, 103—110.
Geometrische Gleichungsauflösiuigen. Analytische Geometrie. 819
venientes^). Sie muss 1660 entstanden sein, wie ans einem Briefe
Carcavy's an Huygens vom 25. Juni 1660 hervorgeht. Ein vom
9. März 1661 datirter Auszug findet sich heute noch in Leiden, in
der reichen Sammlung von Briefen an und von Huygens^). Permat
machte hier auf jenen Missgriff von Descartes aufmerksam, den wir
oben bereits berührt haben, und der darauf hinauslief, dass Descartes
nicht erkannte, dass zwei Curven, deren eine vom m**"", die
andere vom w*®° Grade ist, genügen, um eine Gleichung
vom ww*^"^ Grade zu lösen, während Fermat die volle Einsicht
davon hatte. Die Abhandlung ist also entschieden gegen Descartes
gerichtet, aber um so mehr lohnt es sich, einige Stellen wiederzugeben,
welche zeigen, wie Fermat wissenschaftliche Gegnerschaft übte. Man
möge sich überzeugen, beginnt die Abhandlung, dass auch ein Des-
cartes, wo es um geometrische Dinge sich handle, ein Mensch sei,
dass dessen Zurückführung von Gleichungen auf Curvendurchschnitte
mit einem Fehler behaftet sei. Wenn Fermat sich dann bei seiner
Richtigstellung an Descartes und alle Cartesianer wendet, so liegt die
Vermuthung nahe, er habe dieses desshalb gethan, weil in der mit
Erläuterungen versehenen lateinischen Ausgabe der Geometrie von
1659 an jenem Irrthume schweigend vorübergegangen ist, als ob gar
keine Veranlassung zur näheren Erörterung hier vorläge. Jene Ver-
muthung wäre gleichwohl wahrscheinlich unberechtigt, wie daraus
hervorgeht, dass in Fermat's Abhandlung überall die Seitenzahlen der
französischen Geometrie von 1637, nicht die der späteren Ausgaben
citirt sind. Er sei, setzt Fermat dann hinzu, von der Bewunderung
jenes übernatürlichen Genius so erfüllt^), dass er Descartes, wo er
fehlgehe, immer noch höher schätze als Andere, die auf richtigem
Wege wandern. Wir führen einige der Beispiele an, durch welche
Fermat sein Verfahren erläutert. Ä" = WB wird durch den Ver-
gleichsausdruck BA^I? auf zwei Curven 3. Grades A^ = BE^ und
B^ ^ A^E zurückgeführt. A^^ = B^^B geht mittels des Vergleichs-
ausdruckes BA^E^ in A^=BE und B^ = A^E, durch den Ver-
gleichsausdruck BA^E^ in A^ = BE^ und B^ = A^E über; man
bedarf also entweder einer Curve 5. und einer 3. Grades, oder zweier
Curven 4. Grades. Endlich A-'"'^ = B^^^B geht unter Anwendung des
Vergleichsausdruckes BA^^E^^ in eine Curve 17. Grades A^'^ = BE^^
und eine Curve 16. Grades B^^ = A^^E über.
Einen Versuch, die analytisch-geometrische Methode auf den Raum
^) Varia Opera pag. 110 — 115. Oeuvres I, 118 — 131. -) Oeuvres completes
de Huygens ni, 85 und 256. ^) Tanta me portentosissimi ingenii incessit
admiratio.
52*
820 77. Kapitel.
auszudehnen, wie wir ihn bei Descartes in geistreicher Andeutung
vorfanden (S. 815), hat Fermat nicht gemacht. Wohl hat er sich in
einem aus dem Jahre 1643 stammenden Briefe an Carcavy^) sogar
mit Oberflächen zweiter Ordnung beschäftigt, aber nicht in analy-
tisch-geometrischer Weise, sondern indem er, nicht ganz fehlerlos,
die Curven besprach, in welchen eine solche Oberfläche durch eine
Ebene geschnitten werde.
Der nächste Schriftsteller, den wir zu nennen haben, ist John
Wallis. Er gab 1655 einen Tractatus de sedionibus conicis nova
methodo expositis^) heraus, dessen neue Methode eben die der analy-
tischen Geometrie ist, deren Verbreitungskreis sich durch diese Ver-
öffentlichung entschieden erweiterte. In Wallis' Schrift über Kegel-
schnitte findet sich, was man zuletzt dort suchen würde, das heutige
Zeichen oo für unendich gross ^).
Die Zeitfolge führt uns wiederholt zur lateinischen Ausgabe der
Descartes'schen Geometrie von 1659, welche, wie wir mehrfach er-
innerten , auch Zuthaten anderer Verfasser enthielt. Wir haben
algebraisch Bemerkenswerthes daraus im vorigen Kapitel zu melden
gehabt-, Algebra war ein schon etwas geläufigerer Gegenstand der Be-
trachtung. Neuer, ungewohnter war die analytische Geometrie, und
wenn wir oben hervorhoben, die Erläuterer seien an der geometri-
schen Lösung von Gleichungen sammt den von Descartes begangenen
Irrthümern ahnungslos vorbeigegangen, so gilt das Gleiche von den
wichtigsten geometrischen Gedanken, welche wir zu bewundern hatten.
Die breiten Bettelsuppen der Notae breves von Florimond de
Beaune^), des Commentarii von Franciscus van Schooten^) ent-
halten kaum einen einzigen Brocken, den man herausfischen könnte,
aber, sind wir genöthigt hinzuzusetzen, ihre Leere ist den Verfassern
nicht allzuhoch anzurechnen; die grosse Menge, auch wenn die grosse
Menge der Fachgelehrten allein unter dem Worte begriffen ist, ver-
stand die Feinheiten der Geometrie noch nicht. Eine Ausnahme-
stellung nimmt die Bestimmung der Inflexionspunkte der Con-
choide durch Franciscus van Schooten^) ein. Dieser weiss, dass die
Gleichung, welche die Ordinate y eines Punktes der Conchoide mit
dem durch die Normallinie an jenen Funkt auf der Ordinatenaxe
abgeschnittenen Stücke r verbindet, vom 4. Grade in y ist, und dass
sie im Inflexionspunkte drei gleiche Wurzeln besitzen muss. Er
bildet also das Product (y — ey ■ (y — f) und setzt dasselbe Glied
^) Oeuvres de Fermat I, 111—117. -) Abgedruckt in Joliannis Wallis,
Opera mathematica (Oxford 1699) 1, 291—354. ^ Ebenda pag. 297: Esto oo
nota nunieri infiniti. ^) Descartes, Geom. I, 107 — 142. ^) Ebenda I, 147
—344. 6) Ebenda 1, 2.58—259.
lufinitesimalbetrachtungen. Kepler. Cavalieri. 821
für Glied in Uebereinstiinmung mit dem Gleiehungspölynome der
Gleichung 4. Grades , von welcher soeben die Rede war. So ge-
langt er zu
oder, weil im Inflexiouspunkte y = e sein muss, zu
if = — Zlf 4- 2ic-,
woraus der betreffende Werth von y zu berechnen sei. Etwas mehr
als die beiden schon Genannten leistete Johann de Witt in seinen
Elementa curvarum linearum^). Dieselben zerfallen in zwei Bücher.
Das erste Buch lehrt die Kegelschnitte als Ort des Durchschnitts-
punktes einer parallel verschobenen Geraden und des einen Sehenkels
eines um seinen Scheitelpunkt drehbaren Winkels kennen und steht
daher, so interessant es für die Lehre von den Kegelschnitten ist,
zur analytischen Geometrie in nur sehr loser Beziehung. Das zweite
Buch dagegen ist eine elementare analytische Geometrie der Ebene.
Die Gleichungen der geraden Linie, der einzelnen Kegelschnitte werden
der Reihe nach vorgeführt. Möglicherweise waren die Kegelschnitte
von Wallis nicht ohne Einfluss auf De Witt.
Eine wahrhaft reiche Ausbeute gewährten aber die analytisch-
geometrischen Methoden nicht den Schriftstellern, welche auf ele-
mentarem Boden verblieben, sondern nur denjenigen, welche sie zur
Grundlage einer höheren Curvenlehre machten, indem sie zu Be-
trachtungen sich aufschwangen, welche man sich gewöhnt hat, als
infinitesimale zu benennen.
78. Kapitel.
Inflnitesiuialbetrachtungen. Kepler, davalieri.
Wir sind in unseren Auseinandersetzungen dahin gelangt, die
Infinitesimalbetrachtungen in der Zeit von 1600 bis 1668 zu
schildern, wobei gleich die letzten Worte des vorigen Kapitels An-
lass geben, eine an sich naturgemässe Gegenseitigkeit anzukündigen.
Die Infinitesimalbetrachtungen konnten auf analytischer Geometrie
sich aufbauend eine höhere Curvenlehre stützen. Die analytische
Geometrie fand erhöhte Wirksamkeit, als sie thatsächlich schon vor-
handenen Infinitesimalbetrachtungen sich zugesellte. Jene Betrach-
tungen sind auch wirklich älter als die Geometrie Descartes' von 1637.
Nicht als ob wir auf die Contiuuitätsbetrachtungen zurückgreifen
^) Descartes, Geom. U, 159 — 340.
822 '78. Kapitel
wollten, welche seit dem XIV. Jahrhunderte an Namen und Begriff
des Contingenzwinkels sich knüpften. Wir meinen Untersuchungen,
welche einen viel weiter rückwärts liegenden Anknüpfungspunkt be-
sitzen. Wir meinen Körperausmessungen, welche, durch einen
zeitlichen Zwischenraum von nahezu 1900 Jahren von den Entdeckungen
Archimed's getrennt dennoch aus deren unmittelbaren geistigen
Fortwirkung ihre Entstehung herleiten.
Wir haben (S. 662) gesehen, dass Kepler 1596 in Graz seine
erste astronomische Schrift, das Mysterium cosmograpMcum verfasste,
in welcher von Sternvielecken die Rede war, dass er in der Har-
monice mundi von 1619 den Gegenstand weiter verfolgte. Wir haben
(S. 708) eine Gleichung zwischen einem Bogen und dessen Sinus be-
sprochen, welche Kepler 1609 in der Ästronomia nova aufstellte.
Dieses Werk ist in Prag verfasst und enthält auch die beiden so-
genannten ersten Kepler 'sehen Gesetze der Ellipticität der Pla-
netenbahnen und der Gleichheit der von den Leitstrahlen in gleichen
Zeiten beschriebenen Sectoren. Es erscheint nicht unangebracht, auf
die grosse mathematische Bedeutung der beiden Gesetze ein Streif-
licht zu werfen. Das erste zeigte, dass eine Ellipse bestimmt sei,
wenn man eine Anzahl von Punkten derselben kenne, das zweite
schloss den Begriff der Flächenbestimmung elliptischer Sectoren in
sich ein. Das dritte Gesetz von der Proportionalität der Quadrate
der Umlaufszeiten und der Würfel der grossen Axen der Bahnen ge-
hört der von Linz aus herausgegebenen erstgenannten Harmonice
mundi an. Dorthin war Kepler, welchen Lebensschicksale, an denen
er meistens unschuldig war, von Ort zu Ort trieben, seit 1612 über-
gesiedelt und hatte in der neuen Heimath sich wohnlich eingerichtet.
Damals war, erzählt Kepler in der Vorrede^) zu dem Buche, über
welches wir berichten wollen, ein reiches und vortreffliches Weinjahr
in Oesterreich gewesen, und Frachtschiffe hatten gefüllte Fässer ohne
Zahl die Donau hinaufgeführt, welche in Linz um ein Billiges zu
erstehen waren. Kepler kaufte einige Fässer , und als nun der Ver-
käufer mit einer Messruthe durch den Spund die Entfernung bis zur
entgegengesetzten Fasswölbung mass, um, ohne Rücksicht auf die
Art der Krümmung der Fassdauben oder sonstige Abmessungen,
daraus den Inhalt des Fasses zu entnehmen, war Kepler überaus er-
staunt darüber, insbesondere da er wusste, dass man am Rheine viel
umsichtiger zu Werke zu gehen pflegte und entweder den Inhalt des
Fasses, Krug um Krug, wirklich mass, oder, falls man eines Visir-
stabes sich bediente, mindestens eine ganze Anzahl von Messungen
^) Opera Kepleri (ed. Frisch) IV, 553—554.
Infiuitesimalbetraclitungen. Kepler. Cavalieri. 823
vornahm, statt mit der einzigen Spundtiefe sich zu begnügen. Drei-
tägiges Nachsinnen genügte für Kepler, die richtige Berechnung des
Fassinhaltes zu ermitteln. Länger freilich dauerte die Niederschrift
der Doliometrie, wie man vielfach das Werk nennt, welchem Kepler
die Ueberschrift Stereonietria doUoriim gab, noch länger währte es,
bis die Schrift gedruckt war. Kepler hatte beabsichtigt, sie in Augs-
burg zu verlegen, aber trotz der Fürsprache des gelehrten Marcus
Wels er weigerte sich der Drucker auf das Unternehmen einzugehen,
da einem lateinischen Buche solchen Inhaltes, wenn auch von einem
noch so berühmten Verfasser herrührend, die Verkauf lichkeit fehle.
Kepler sah nach 16monatlichem Zuwarten sich genöthigt, das Werk
auf eigene Kosten zu drucken und bediente sich dazu eines Linzer
Druckers, Hans Plank, bei welchem 1615 die lateinische Schrift,
1616 auch eine deutsche volksthümlichere Bearbeitung erschien, welche
aber in der Geschichte der Mathematik nicht entfernt die Rolle spielt,
wie das lateinische Werk, auf dessen Entstehung wir so weitläufig
eingehen zu dürfen glaubten, weil Kepler's Doliometrie die
Quelle aller späteren Kubaturen geworden ist.
Man kann die Aufgabe, welche Kepler in der Stereometria dolio-
rurn^) aufzulösen beabsichtigte, kurzweg als die der Bestimmung
des Rauminhaltes von Umdrehungskörpern bezeichnen, würde
aber damit der Methode, welche Kepler anwandte, ebensowenig ge-
recht werden wie den mancherlei hochwichtigen Zwischenbemerkungen,
welche er einstreute. Wir müssen desshalb auf Einzelheiten eingehen.
Die Eintheilung des Werkes ist folgende. Ein L Theil, Stereometria
Arcliimedea, beschäftigt sich mit Körpern, welche bereits Archimed
bekannt waren. Ihm schliesst ein Suj)plemcntum ad Ärchimedem sich
an, das der Betrachtung von neuen Körpern gewidmet ist, so dass
schliesslich nicht weniger als 92 Körper in Untersuchung genommen
sind -), von denen einige mit den Namen von Früchten, denen sie
gleichen, belegt wurden, so der apfelförmige, der citronenförmige, der
olivenförmige Körper. Den II. Theil bildet die Stereometria dolii
Äustriaci in specie, in welchem hauptsächlich von der sachdienlichen
Gestalt der in Oesterreich üblichen Fässer die Rede ist. Ein
III. Theil, Usus totius lihri circa dolia, lehrt, wie man in der Praxis
zu verfahren habe, um den Inhalt von Fässern zu bestimmen.
^) Opera Kepleri (ed. Frisch) IV, 551 — 646. Ueber den Inhalt der Dolio-
metrie und den deutschen Auszug vergl. Kästner III, 313 — 331. — Montucla
II, 29 — 31. — Chasles, Aperru hist. pag. 56 (deutsch 53). — Gerhardt, die
Entdeckung der höheren Analysis (1855), S. 15 — 18. — Gerhardt, Math.
Deutschi. S. 109—112. ^) Opera Kepleri IV, 582: Summa 87, quibus additae
figurae 5 ex circulo, veluti capita familiarum, efficiunt formas nonaginta et duas.
824 78. Kapitel.
Den Zugaug zur Körpermessung findet Kepler im I. Theile von
der Flächenausmessung aus, und zwar im 2. Satze ^) von der Quadra-
tur des Kreises aus. Archimed habe sich indirecter Beweisführung
bedient, deren Sinn aber auf Folgendes hinauslaufe. Die Kreisperi-
pherie hat so viele Theile als Punkte, also unendlich viele, partes
habet totidem, quot puncta, puta infinitas-^ jedes Theilchen ist als Basis
eines gleichschenkligen Dreiecks anzusehen, so dass innerhalb der
Kreisfläche unendlich viele Dreiecke zu unterscheiden sind, die sämmt-
lich mit ihren Spitzen im Kreismittelpnnkte zusammenstossen. Ein
einziges Dreieck mit dem Halbmesser als Höhe, der Kreisperi-
pherie als Basis besitzt also alle jene unendlich viele Dreiecksgrund-
linien aneinandergefügt, vmd über jeder derselben giebt es ein Drei-
eck mit dem Kreismittelpunkte als Spitze, welches einem jener frü-
heren gleichschenkligen Dreieckchen flächengleich ist. Folglich liefert
das ganze Dreieck die ganze Kreisfläche, id est triangidum ex omni-
hus Ulis constans aequdbit sectores circuli onmes, id est aream circuli
ex Omnibus constantem. In einem Analogieschlüsse , für welchen
Kepler auf Archimed verweist, der aber bei Archimed nicht vor-
kommt, wird im 3. Satze ^) auf den Cylinder und das ihm umschrie-
bene rechtwinklige Parallelopipedon das Verhältniss des Kreises zu
seinem Tangentenquadrate ausgedehnt, jene Körper stellten gewisser-
massen zu Körpern gewordene Flächen dar, sunt veluti quaedam plana
corporata. Auch eine Erweiterung des Zerlegungsgedankens des Kreises
auf die Kugel spricht der 11. Satz^) deutlich aus: Der Körper der
Kugel enthält nach Analogie dessen, was im 2. Satze ausgesprochen
wurde, der Möglichkeit nach unendlich viele kegelartige Gebilde,
potestate in se continet infinitos veluti cotios, welche mit ihren Spitzen
im Mittelpunkte der Kugel zusammentreffen und mit ihren Grund-
flächen, deren Stelle Punkte vertreten, quorum vicem sustinent puncta,
auf der Oberfläche aufstehen. Der 16. Satz zerschneidet den Kegel,
und hier tritt wieder eine figürliche Redensart auf, der wir im
3. Satze schon begegneten. Der Kegel wird nämlich erstlich ge-
schnitten durch eine Ebene, welche durch seine Spitze hindurchgeht
und ihn bis zum Grundkreise durchdringt, zweitens durch einen
dünneren Kegel, der die Spitze mit dem geschnittenen Kegel gemein
hat, und dessen Grundkreis ein Theil des Grundkreises dieses ge-
schnittenen Kegels ist. Legt man in beiden Fällen der Grundfläche
parallele Ebenen durch den Kegel, so zeigt jeder dieser Schnitte Ab-
theilungen, welche in gleichem Verhältnisse wie die Abtheilungen des
Grundkreises des geschnittenen Kegels stehen, denn der Kegel ist hier
1) Opera Kepleri IV, 557—558. -; Ebenda IV, 559. ^) Ebenda IV, 563.
Infinitesimalbetrachtungen. Kepler. Cavalieri. 825
gleichsam ein zum Körper gewordener Kreis, nam conus est hie veluti
ciraUtis cotjwratus ^), und ganz ähnlich wird im 17. Satze der gerade
Cylinder mit kreis- oder ellipsenförmiger Grundfläche ein zum Körper
gewordener Kreis, beziehungsweise Ellipse genannt, wenn die Schnitt-
ebene der Axe parallel läuft, dagegen eine zum Körper gewordene
Linie, veluti linea corporata, wenn die Schnittebene senkrecht zur
Axe steht ^).
Wir gelangen zu dem Supplementum ad ÄrcJmnedeni. Der erste
hier in Betracht gezogene Körper ist der Ring, cmntdus, dessen
Rauminhalt im 18. Satze dem Cylinder gleichgesetzt wird, welcher
den kreisförmigen Durchschnitt des Ringes als Grundfläche und als
Höhe die Kreisperipherie besitzt, welche der Mittelpunkt des den
Ring durch Umdrehung um eine feste Axe erzeugenden Kreises be-
schreibt. Die Umdrehungsaxe gehe (Figur 147) durch Ä, so wird
der Ring^) durch Schnitte, welche von
Ä ausgehen, in unendlich viele kleinste
Scheibchen zerschnitten, anmdo sedo
ex centro A in orbicidos iufmitos eosque
minimos. Diese Scheibchen sind nun
allerdings von ihrer eigenen Mitte aus
von ungleicher Dicke, um so dünner rig. ut.
je näher dem Punkte A, um so dicker
je weiter nach aussen. Das gleicht sich gegenseitig aus, und die
Dicke an der inneren Grenze E zusammen mit der an der äusseren
Grenze B haben als Summe das Doppelte der Dicke bei I , duplum
ejus crassitiei, quae est in orhicidorum medio. Allerdings, setzt Kepler
hinzu, sei ein solcher Schluss nicht immer zulässig und würde irre
führen, wenn nicht ein ganz symmetrisches Verhalten aller unter
einander überdies congruenten Scheiben, welche zwischen F und G
gebildet werden, einträte. Solches ist, ausser bei dem durch den in
Umdrehung befindlichen Kreis gebildeten Ringe, beispielsweise dann
der Fall, wenn ein Quadrat in drehende Bewegung gesetzt wird.
Interessanter in mancherlei Beziehung ist der im 20. Satze ^) erörterte
Apfel, d. h. der Umdrehungskörper eines Kreisabschnittes, welcher
grösser als der Halbkreis ist, um seine Sehne. Die gedrehte Figur
wird durch zur Sehne parallele Gerade in gleichbreite kleinste linien-
artige Stücke zerlegt, secetur area MBN lineis parallelis ipsi MN
in aliquot segmenta aequelata minima, quasi Unearia. Bei der darauf
folgenden drehenden Bewegung bildet das Theilchen nächst der Sehne
so gut wie keinen Raumj weil es die geringste Bewegung hat, "c?/m
1) Opera Eepleri I\\ 568. *) Ebenda IV, 570. ^) Ebenda IV, 583.
') Ebenda IV, 584—585.
826 78. Kapitel.
igitur figiira circa MN circumagitur, nihil fere creat areola MN,
quia minimum movctur. Die Bewegungsgrösse jedes folgenden Punktes
eines folgenden Theilchens ist durch eine Kreisperipherie gemessen,
welche als Gerade senkrecht zur Ebene der Anfangslage der gedreh-
ten Figur aufgetragen wird. Dadurch verwandeln die ringförmigen
Elementartheile des Apfels sich in cy linderartige, und deren Summi-
rung liefert den gesuchten Körperraum. Wird der um seine Sehne
in Drehung versetzte Kreisabschnitt kleiner als ein Halbkreis ange-
nommen, so entsteht statt des Apfels die Citrone^). Derselbe Ab-
schnitt kann aber auch um seine Höhe in Drehung versetzt werden
und bildet dann einen Kugelabschnitt. Der 25. Satz setzt dann
diesen Kugelabschnitt zu jener Citrone in Beziehung und meint, sie
schienen sich zu verhalten, videtur eam Imhere proportionem , wie die
halbe Sehne zur Höhe-). Dieses Ergebniss ist freilich falsch, und
Kepler giebt auch dadurch, dass er Anderen die Aufgabe vorlegt,
einen rechtmässigen Beweis zu führen, demonstrationem legiiimani
quaerant alii, ebenso wie durch das vorsichtige videtur zu verstehen,
dass er selbst nicht vollkommen überzeugt ist. Aber, meint er, was
ich nicht beweisen kann, darauf kann ich doch hinweisen, quod non
possum apodictice, comprobato dictice, und in diesem Sinne führt er
verschiedene Gründe an, deren erster jene mittelalterliche von Nico-
laus von Cusa, welchen Kepler übrigens nicht nennt, vielfach in
den Vordergrund gestellte Folgerungsweise ist: was bei dem Grössten
und bei dem Kleinsten einer Gattung Geltung habe, müsse auch in
den dazwischen liegenden Zuständen wahr sein. Die beiden äusser-
sten Fälle sind hier folgende. Erstlich sei der Kreisabscbnitt, welcher
durch Drehung die beiden Körper hervorbringt, der grösstmögliche,
ein Halbkreis, dann ist die halbe Sehne gleich der Höhe gleich dem
Kreishalbmesser, und Citronen- wie Kugelabschnitt gehen beide in eine
und dieselbe Halbkugel über. Ist aber zweitens der Kreisabschnitt
der kleinstmögliche, dann sind die beiden genannten Körper kaum
von den ihnen einbeschriebenen Kegelchen zu unterscheiden, welche
wie ihre Höhen, d. h. wie die vorgenannten Strecken sich verhalten,
aber auch hier misstraut sich Kepler mit Recht, denn er gesteht zu,
die Schlussfolgerung von dem absolut Kleinsten zu dem jenem Klein-
sten Nächststehenden sei nicht immer sicher, fafeor ab eo, quod est
absolute minimum, ad id, quod minimo proximum, non ubique tutam
esse collectionem.
^) Bei ihrer Besprechung im 21. Satze heisst es pag. 585 fast wörtlich
gleichlautend mit dem bei der Entstehung des Apfels gebrauchten Ausdrucke:
segmentum areolae in ipsum JOK terminans fere nihil creat, quia pene nihil
movctur. ^] Opera Kepler i IV, 594.
Infinitesimalbetrachtungen. Kepler. Cavalieri. 827
Als höchst merkwürdig wollen wir noch den 27. Satz des Sapple-
mentum^) hervorheben (Figur 148). In dem rechtwinkligen Dreiecke
ABC sei dei- Winkel B durch
die Gerade BN halbirt, so ist
AN : NC = AB: BG , d. h.
AN <C NC , und halbirt man
AC in 0, so liegt 0 zwischen
N und C. Nun lasse man BC
zur Berührungslinie eines durch
B hindurchgehenden Kegel-
schnittes werden, dessen Axe
A C ist, so hängt die Art dieses
Kegelschnittes nur noch von
der Lage seines Scheitelpunktes
auf der AC ab. Liegt derselbe zwischen 0 und C in V, so hat man
eine Hyperbel vor sich. 0 selbst ist Scheitelpunkt einer Parabel, N
eines Kreises. Durch die J und E zwischen N und 0, beziehungs-
weise zwischen N und A geht eine Ellipse, deren grosse Axe in dem
ersten, deren kleine Axe in dem zweiten Falle auf AC liegt. Die
Art einer Curve ist also hier bestimmt, indem von einer gegebenen
Berührungslinie der Ausgangspunkt der Untersuchung genommen ist,
oder mit anderen Worten: Kepler hat hier die erste inverse Tan-
gentenaufgabe gestellt.
Als Inhalt des zweiten Hauptabschnittes der Doliometrie be-
zeichneten wir den Nachweis, dass die in Oesterreich häufigste Fass-
gestalt zugleich die zweckmässigste sei. Nicht als ob irgend ein
Mathematiker die dortigen Böttcher jedesmal angewiesen hätte, gerade
dieser Abmessungen sich zu bedienen, denn wenn eine solche wissen-
schaftlich begründete Vorschrift vorhanden gewesen wäre, so sei un-
denkbar, dass sie nicht auch zu den am Rheine wohnenden Böttchern
gedrungen wäre und die dort übliche weniger sachdienliche Fass-
gestalt verdrängt hätte. Nein, die Natur lehrt mit Hilfe eines dun-
keln Gefühls ohne Bildung von Schlüssen die Geometrie^), sie hat
unsere Böttcher gelehrt, auf blosses Augenmaass hin und mit Rück-
sicht auf schönere Form, solis ocidis et speciei pulchrüudine ducti, die
geräumigsten Fässer herzustellen. Wenn aber, wie die hier ange-
führten Worte erkennen lassen, Kepler unter zweckmässiger Fass-
gestalt diejenige versteht, welche bei Verbrauch der geringsten Menge
von Fassholz den gi-össten Inhalt besitzt, so muss dieser zweite Ab-
^) Opera Kepleri FV, 598— .599. ^) Ebenda IV, 612: Quis neget, naturatn
instinctu solo, sine etiam ratiocinatione docere geometriam?
828 78. Kapitel.
schnitt wiederholt auf Fragen zu reden kommen, welche grösste und
kleinste Werthe betreffen, und welche den im V. Buche des Pappus,
auf welches Kepler sich ausdrücklich beruft^), behandelten iso-
perimetrischen Untersuchungen (Bd. I, S. 418) nahe stehen. In der
That sind fast sämmtliche Sätze dieses Abschnittes Maximal-
sätze, und ihre Beweise enthalten Bemerkungen, welche zeigen, wie
tief Kepler in die Natur grösster und kleinster Werthe eingedrungen
ist. Als Beispiel eines solchen Satzes führen wir den 4. Satz an ^),
der Würfel sei dem Inhalte nach das grösste Parallelopipedon, wel-
ches in eine gegebene Kugel einbeschrieben werden könne. Als Bei-
spiel jener Bemerkungen diene der 2. Zusatz zum 5. Satze, wo ge-
zeigt wurde, dass eine gewisse Ausdehnung sich bis zu einem ge-
wissen Punkte G erstrecken müsse. Andere Gestaltungen, heisst es^),
welche bis zu Punkten sehr nahe bei G diesseits oder jenseits sich
erstrecken, ändern nur wenig an dem Rauminhalte, der für ÄGC
der grösstmögliche ist. Einem grössten Werthe auf beiden Seiten
Benachbartes zeigt nämlich am Anfange nur unmerkbare Abnahme,
circiim maximum vero utrimque circumstantes decremenfa habent initio
insensihilia. Und kaum weniger bezeichnend sind andere Stellen^),
so dass man namentlich im Hinblicke auf die letzte derartige Stelle
im 27. Satze vollberechtigt ist, für Kepler die Kenntniss in Anspruch
zu nehmen, dass die Veränderungen einer Function dicht
beim Maximalwerthe verschwinden, denn deutlicher kann man
ohne Anwendung von Worten, welche der damaligen Zeit noch
fremd waren, sich doch wohl nicht ausdrücken, als wenn man sagt:
An solchen Stellen, wo der Uebergang von einem Kleineren zum
Grössten und wieder zum Kleineren stattfindet, ist der Unterschied
immer bis zu einem gewissen Grade unmerklich, in iis vero articulis,
in quihus a minori ad maximum iterumque ad minus fit mutatio, lege
aliqua ciradi, semper est aliquousque insensihilis illa differentia. Einen
Beweis freilich besass Kepler nicht für die von ihm erkannte That-
sache, darin ging er gar nicht so sehr weit über die Ahnung
Oresme's (S. 131), dessen Schriften Kepler wie Descartes wie
Fermat leicht gelesen haben kann, hinaus. Statt einer Begründung
müssen nämlich die drei von uns unübersetzt gelassenen Worte lege
aliqua circidi dienen, es geschehe nach einem Gesetze, welches vom
Kreise sich herschreibe. Kepler meint wohl das dichte Anschmiegen
der Berührungslinie des Ki-eises an den Kreisbogen, welches in der
^) Opera Kepleri IV, 607: Haec omnia Pappus habet libro quinto. ^) Ebenda
IV, 607—609. 3) Ebenda IV, 612. ") Ebenda IV, 622 lin. 11—14; 628
lin. 18—19; 634 lin. 9—12.
Infinitesimalbetrachtuiigen. Kepler. Cavalieri.
829
gerade damals noch lebhaftes Interesse erregenden Frage des Con-
tingenzwinkels seine Rolle spielte.
Wenn somit das Werk von 1615 als ein für die Entstehung der
Infinitesimalrechnung grundlegendes in dem Sinne gelten muss, als
die Zerlegung eines Raumes in Elementartheile und deren Vereinigung
zu einer Summe der Lehre von den bestimmten Integralen Vorgriff,
und als das Hauptmerkmal ausgesprochen war, welches mit dem Vor-
handensein eines Maximalwerthes verbunden ist, so war doch noch
keineswegs jeder Irrthum ausgeschlossen, wie wir z. B. oben an der
Vergleichung von Citronen- und Kugelabschnitt gesehen haben. Zur
vollständigen Würdigung Keplers reicht auch die Doliometrie nicht
aus. Man wird bei einer solchen immer den Astronomen Kepler als
der Beurtheilung unterworfen zu betrachten haben, dem seine Ver-
dienste um einzelne Theile der Physik wie der reinen Mathematik
zur grossen Zierde gereichen, ohne das Wesentlichste seiner Leistungen
darzustellen. Und auch wenn wir, wozu wir hier genöthigt sind, aus
dem angeführten Grunde auf eine zusammenfassende Würdigung
Kepler's verzichtend seine einzelnen reinmathematischen Arbeiten be-
sprechen, können wir noch nicht der Aufgabe uns zuwenden, die
Wirkung zu verfolgen, welche das Erscheinen der Doliometrie übte,
bevor wir noch zwei Einzelheiten aus anderen Schriften Kepler's er-
wähnt haben werden, welche gleichfalls bis zu einem gewissen Grade
der Infinitesimalrechnung angehören.
Dahin gehört erstlich die Rectification von Curven. Kepler
hat in der Astronomia nova von 1609 sich daran versucht. Der Um-
fang der Ellipse von den Axen 2a, 2h sei sehr nahezu, proxime,
gemessen durch 7c{a -\- h) ^).
Zweitens ist eine Untersuchung zu nennen, welche zur Auswer-
thung des bestimmten Integrals
Tsin (p ■ dcp = 1 - — cos (p
geführt hat^). Wir wissen, dass 1609
die Jahreszahl des Erscheinens der
Astronomia nova war. In ihr hat
Kepler eine Lehre von einem planeta-
rischen Magnetismus aufgestellt, ver-
möge dessen die magnetische Sonne S
(Figur 149) auf die magnetischen Pla-
^) Opera Kepleri EI, 401. *) Grünther, üeber eine merkwürdige Be-
ziehung zwischen Pappus und Kepler (Eneström's BibliotJieca mathematica 1888,
pag. 81-87).
830 78. Kapitel.
neten in der Weise einwirke, dass dem Pole P^ eine Anziehung, apjye-
tsntia, rt^, dem Pole Po eine Abstossung, fuga, a.^ zukomme, welche
von dem Winkel cp abhänge, den die Verbindungsgerade CS des
Planetenmittelpunktes und der Sonne mit der Planetenaxe P^ Po bildet.
Es kam Kepler darauf an, den Quotienten — in seiner Abhängigkeit
von (p darzustellen, so dass derselbe bei 95 = 90" den Werth 1 annehme.
Ohne ausreichende Begründung wird a^ = Ti{l — cob (p) , a^^l; {1 -{- cos cp),
mithin — = (tng -^j gesetzt, so dass, wenn ein a gegeben ist, das
andere von selbst folgt und also mit Auffindung von a^ der ganzen
Aufgabe Genüge geleistet ist; Maass der Stärke, fortitudinis , jenes
Winkels cp sei aber dessen Sinus, und so ergebe sich das ganze a^
als die Summe der Sinusse aller Winkel von 0 bis g?, und das ist
doch f sin cp ■ dcp. Zunächst nimmt Kepler cp = 90^ und lässt die
0
einzelnen Winkel gradweise zunehmen. Entnimmt man sin 1", sin 2^,...
sin 90'' den Sinustafeln und bildet ihre Summe, so entsteht 1, be-
ziehungsweise 1 — cos cp, oder, wie der Gewohnheit der Zeit ent-
sprechend gesagt wurde, der Sinusversus von cp. Das Gleiche bewahr-
heitet sich in einem anderen ähnlicher Rechnung unterworfenen
Sonderfalle, und daraus schliesst Kepler auf die Richtigkeit der all-
gemeinen Formel, ein Schluss, der sich, wie es in der Epitome von
1618 heisst ^), per niinieros et anatomiam circuli, d. h. durch Zahlen-
rechnung bei gleichmässiger Zunahme des Bogens rechtfertigt. Ob
Kepler den Satz durch Herumtasten an Zahlenbeispielen entdeckte?
Wer kann das nachträglich ergründen! Unmöglich scheint bei Kepler
keine derartige Vermuthung, da gerade in der Ästronomia nova die
Ellipticität der Marsbahn auf Grund zahlloser Rechnungen erschlossen
ist. Als Kepler die Ästronomia nova schrieb, hatte er, wie er an
der erwähnten Stelle seiner Epitome hinzufügt, Pappus noch nicht
gelesen. Später beschäftigte er sich eifrig mit diesem Schriftsteller,
auf den er, wie wir sahen, in der Doliometrie von 1615 sich berief.
Gestützt auf Pappus V, 36, d. h. auf den Satz, dass die Oberflächen
zweier durch unter einander parallelen Kreise begrenzter Kugelcalotten
derselben Kugel sich wie deren Höhen verhalten^), entwarf Kepler
einen anderen Beweis. Die Kräfte a^ und «^ denkt er sich nämlich
als den Oberflächen der von der Anziehung, beziehungsweise der Ab-
stossung beherrschten Kugelcalotten proportional, und bei der All-
gemeingiltigkeit des Satzes von Pappus macht es nichts aus, wie
^) Opera Kepleri IV, 407. ^) Pappus (ed. Hultsch) I, 406.
Infinitesimalbetrachtungen. Kepler. Cavalieri. 831
gering der Unterschied von je zwei Kugelcalotten gewählt wird. Man
kann die Kugeloberfläche in unendlich viele gleich breite Gürtel zer-
legt denken, deren jeder gewissermassen als Kreis ohne jede Breite
erscheint^). Die Summation solcher unendlich vieler Verhältnisse
entspricht dann der von ebensovielen Sinussen von Winkeln, die nicht
durch einzelne Winkelgrade, sondern in beliebig naher Aufeinander-
folge wachsen, und deren Summe liefert nicht nur beinahe, fere,
sondern ganz genau den Sinusversus. Das ist aber genau die Ver-
fahrungs weise der Zusammenfassung von Elementartheilchen, wie
Kepler sie in der Doliometrie sich angewöhnt hatte, um sie auch nach
1615 weiter zu üben.
Wir haben den Wirkungen nachzugehen, welche das Erscheinen
der Doliometrie hervorbrachte. Sie bilden, wenn auch nicht sehr
zahlreich, mit voller Gewissheit nachweisbar, immerhin einen Beweis
für die rasche Verbreitung der Schrift. Zuerst fand ein Gegner sich
ein. Alexander Anderson, den wir früher als einen Bearbeiter
Vieta'scher Manuscripte kennen gelernt haben, veröffentlichte schon
1616 seine Vindiciae Arcliimedis und verwahrte darin den genialen
Griechen gegen den Vorwurf, als ob seine Exhaustionsmethode irgend
etwas mit Kepler's Infinitesimalbetrachtungen gemein habe. Bewun-
dernd und zustimmend äusserte sich dagegen Henry Briggs, der zu
Anfang des Jahres 1625 seine 1624 gedruckte Ärithmetica logarith-
mica Kepler zuschickte und sie mit einem Briefe begleitete"), welcher
den in logarithmischer Rechnung erbrachten Zahlenbeweis enthielt,
dass wirklich der der Kugel einbeschriebene Würfel einen grösseren
Inhalt besitze, als ein nur wenig von der Würfelgestalt abweichendes
einbeschriebenes Parallelopipedon, dass also Kepler's 4. Satz im II. Theile
der Doliometrie richtig sei.
Ausser aller Beziehung zu Kepler's Doliometrie, ja man könnte
sagen, ausser aller Beziehung zu Infinitesimalbetrachtungen steht ein
Werk, welches wir im Vorübergehen hier nennen, weil bei dem
nächsten Schriftsteller, von welchem ausführlich gehandelt werden
wird, Erwähnung davon geschehen muss. Bartholomäus Souvey^)
(um 1577 — 1629), lateinisch Soverus, war aus Crisie unweit Frei-
burg in der Schweiz. Er studirte in Rom, lehrte dann in Turin,
später in Padua. Sein Versuch, eine Professur in Bologna zu er-
langen, scheiterte daran, dass er gedruckte Belege seiner wissenschaft-
lichen Tüchtigkeit nicht vorlegen konnte. Erst nach seinem Tode
^) Atqiü si sphaerica superficies intelUgattir divisa in zonas infinitas aeque
latas, erit quaelibet zona tit circulus aliquis latitudine carens. ^) Opera
Kepleri IV, 659—662. ^) Kästner III, 62—66. — Favaro im Bulletino
Boncompagni XV und XIX.
832 78. Kapitel.
erschien 1630 sein Tradatus de recH et curvi proportione. Dem Titel
nach sollte man ausgiebige Untersuchungen über Rectification von
Curven erwarten, und auf sie verweist auch ein im VI. (letzten)
Buche ausgesprochener Grundsatz : lineani curvam extencU posse.
Wesentlich Neues in dieser Richtung scheint sich aber nicht zu
finden. Hervorzuheben düi'fte sein, dass im V. Buche Figuren mit-
tels einer Parallelbewegung gerader Linien erzeugt werden, dass
im VI. Buche eine Spirallinie unter dem Namen spiralis quadrantis
durch einen Punkt erzeugt wird, der in gleichmässiger Bewegung den
Halbmesser eines Kreises durchläuft, während der Halbmesser in
gleichfalls gleichmässiger Bewegung einer Drehung um 90° unter-
worfen ist, eine Curve also, welche einen besonderen Fall der archi-
medischen Spirale (Bd. I, S. 291—292) darsteUt.
Eingehend haben wir uns nun mit Bonaventura Cavalieri^)
zu beschäftigen. Er gab seine Geometria indivisibilibus continuorum
nova quadam ratione promota zuerst 1635, dann in verbesserter Aus-
gabe 1653 heraus; zwischen beiden Veröffentlichungen erschienen
1647 Exercitationes geometricae sex. Das erstere werden wir, wie es
üblich ist, kurz als die Indivisibilien bezeichnen, ohne wohl eine
Verwechselung befürchten zu müssen, wo wir des gleichen Wortes
in einer geometrischen Bedeutung uns zu bedienen haben. Die In-
divisibilien also sind 1635 erstmalig im Drucke erschienen. Es
ist nicht unwichtig, die Entstehung des Werkes nach rückwärts zu
verfolgen, und solches gelingt bis zum Jahre 1626.
Am 21. März 1626 schrieb Cavalieri an Galilei^): „Was das
Indivisibilien werk betrifft, so wäre es mir sehr lieb, wenn Eure
Herrlichkeit sich so rasch als möglich daran hielte, damit ich auch
das meinige fördern könnte, an welchem ich mittlerweile feilen werde."
Und eine ähnliche Mahnung Hess er am 4. April folgen ^) : „Ich bin
daran, mein Werk über die Körper in Buchform zu bringen. Pater
Benedetto <Castelli> sagte mir, es würde sehr wohl aufgenommen
werden, wenn ich es italienisch {in lingua volgare) schriebe, und ich
.schreibe es mithin so und gebe Eurer Herrlichkeit davon Nachricht,
damit auch Sie mit Ihren Indivisibilien ähnlich verfahren oder, wenn
Sie es missbilligen sollten, mir Nachricht gäben, damit ich mich mit
Eurer Herrlichkeit in Einklang setze. Aber ich bitte dringend, machen
Sie sich rasch daran, damit ich so schnell als möglich Etwas von
') Kästner III, 205—209. — Montucla 11, 38—42. — Klügel, Mathe-
matisches Wörterbuch I, 415 — 428. — Gerhardt, Entdeckung der höheren
Analysis S. 18 — 27. — Marie, Histoire des sciences mathematiques et physiques
IV, 70 — 90. *) Venturi, Memorie e Jettere inedite finora o disperse di Galileo
Galilei 11, 96 (1819). ^) Campori, Carteggio GaUleano inedito (1881) pag. 243.
Infinitesimalbetrachtungen. Kepler. Cavalieri. 833
dem Meinigen zeigen und mich davon los an andere Gegenstände
machen kann."
Antwortschreiben Galilei's sind nicht bekannt^ und so können wir
aus diesen Briefstellen nur zwei Thatsachen entnehmen: erstens die,
dass im März 1626 die Niederschrift der Cavalieri'schen Indivisibilien
begonnen hat, welche gewiss noch vielfach umgemodelt wurden, bis
sie zu dem 1635 gedruckten lateinischen Werke wurden, von welchem
gesagt worden ist^), dass es den Preis der Dunkelheit verdiente,
wenn solche Preise vergeben würden; und zweitens die, dass Galilei
mit ähnlichen Untersuchungen beschäftigt war, von welchen aber
nichts an die Oeffentlichkeit gelangt ist. Wir werden auf diese
Thatsachen noch zurückkommen müssen.
Zunächst wenden wir uns zu dem Inhalte der Indivisibilien, wobei
wir bemerken, dass alle unsere Hinweise auf die IL vervollkommnete
Ausgabe von 1653 sich beziehen. Das Werk zerfällt in sieben Bücher,
deren allgemeine Inhaltsangabe durch Cavalieri's Ueberschriften ge-
liefert ist. Im I. Buche werden darnach-) elementare Sätze über die
Schnitte von Cylindern und von Kegeln vorausgeschickt, sowie auch
Sätze, von welchen in den nachfolgenden Büchern Gebrauch zu
machen ist. Im IL Buche ^) ist vorzugsweise vom Dreiecke und dem
Parallelogramme die Rede und von den durch sie erzeugten Körpern,
überdies wieder von Sätzen zur Anwendung in den folgenden Büchern.
Das III. Buch*) überliefert die Lehre vom Kreise und der Ellipse
und den von ihnen aus erzeugten Körpern. Aehnlicherweise ist das
IV. Buch^) der Parabel und ihren Körpern, das V. Buch^) der Hy-
perbel, welche aus einander gegenüberstehenden Schnitten, oppositis
secUonibus, hervorgeht und ihren Körpern gewidmet. Das VI. Buch '')
handelt von den Räumen der Spirale und ihrer Körper und von
einigen Folgerungen aus dem Vorangegangenen. Im VII. Buche ^)
endlich wird Alles, was in den vorhergehenden Büchern der Indivi-
sibilien bewiesen wurde, in anderer Weise und unabhängig von jenen
gezeigt.
Was sind nun, sollte man in erster Linie eine Antwort erwartend
fragen, die IndivisibiUen? Das Wort war seit Bradwardinus
(S. 120), vielleicht schon länger, in der Wissenschaft bekannt , aber
ein ganz klarer Begriff war damit nicht verbunden, und eine klare
Auskunft hat auch Cavalieri nie gegeben. Eine so grosse Anzahl
von Definitionen an die Spitze des ersten Buches gestellt ist, keine
^) Marie 1. c. IV, 90. *) ItulivisibiUen pag. 1. ^) Ebenda pag. 99.
*) Ebenda pag. 197. ^) Ebenda pag. 285. ^) Ebenda pag. 365. '') Ebenda
pag. 429. ^) Ebenda pag. 482.
Cajjtoh, GeacMohte der Mathem. U. 2. Aufl. 53
834 78. Kapitel.
erklärt jenes Wort^ welclies zudem im ganzen I. Buche nicht vor-
kommt.
Dagegen ist ein anderes wichtiges Wort, regida, ebendort in
seinem Sinne bestimmt. Bei jedem geschlossenen ebenen Gebilde,
figura, lässt eine Gerade als Berührungslinie sich denken, welche
einen Scheitel, Vertex, genannten Berührungspunkt mit dem Gebilde
gemein hat. Ihr parallel giebt es Gerade in beliebiger Zahl, endlich
wieder eine, welche die Figur berührt und ihr gewissermassen als
Abschluss dient. Sie wird die gegenüberliegende Tangente, tangens
opposita, genannt. Bei Körpern findet Aehnliches statt, sofern statt
des Wortes Gerade das Wort Ebene eingeführt wird. Regula heisst
nun^) jene erste Gerade, beziehungsweise erste Ebene, mit Bezug auf
welche die Begriffe des Scheitels und der gegenüberliegenden Be-
rührenden festgestellt sind. Der Gebrauch der Regula in der Ebene
ist folgender. Seien EO, JBC etwa zwei gegenüberliegende Tan-
genten. Durch die als Regula benutzte EO wird eine Ebene gelegt,
zu welcher eine Parallelebene durch BC vorhanden ist. Die erste
Ebene wird in paralleler Lage bewegt, bis sie mit der zweiten zu-
sammenfällt, eine Bewegung, welche als Fliessen bezeichnet wird.
Die Durchschnittsgeraden der bewegten oder fliessenden Ebene mit
der Figur, communes sectiones talis moti sive fluentis ptlani et figurae,
bilden die Gesammtheit der Geraden der Figur, omnes lineae
figurae"). Aehnlich ist der Gebrauch der Regula im Räume. Dort
wird die fliessende Ebene selbst in gewissen durch die Gestalt des
Raumgebildes bedingten Begrenzungen den Körper erzeugen, und Ge-
sammtheit der Ebenen des Körpers, omnia plana solicli^), heissen alle
ebenen Figuren, welche bei jener Bewegung entstehen. Ebene
'^ Figuren oder auch Körper stehen in demselben Verhält-
nisse wie die Gesammtheiten ihrer Geraden, ihrer Ebenen,
welche nach irgend einer Regula genommen wurden^).
Cavalieri ist sich der Schwierigkeit voll bewusst gewesen, welche
der Vorstellung einer solchen Gesammtheit anhaftet und damals in
ganz anderer Weise anhaftete als heute, wo wir an ähnliche Begriffs-
bildungen so sehr gewöhnt sind, dass wir, höchstens wenn wir be-
sonders darauf aufmerksam gemacht werden, den Widerspruch empfin-
den, der darin enthalten ist. Schon bevor er daher den erwähnten
Satz aussprach, suchte er seine Leser darüber zu beruhigen^). „Man
könnte, sagt er, Schwierigkeiten machen, wie der Anzahl nach unbe-
^) Indivisibilien pag. 3, Definitio E. *) Ebenda pag. 104. 3) Ebenda
pag. 105, "•) Ebenda pag. 11.S, Liber 11, propositio III. ^) Ebenda pag. 111,
Scholium.
Infiuitesimalbetrachtungen. Kepler. Cavalieri. 835
stimmte, indefinitac nnmero, Gerade oder Ebenen, welche von mir die
Gesammtheit der Geraden, der Ebenen genannt worden sind, in Ver-
gleich gebracht werden können. Daher erscheint mir der Wink noth-
wendig, dass, wenn ich die Gesammtheiten der Geraden, der Ebenen
eines Gebildes betrachte, ich nicht deren uns unbekannte Anzahl ver-
gleiche, sondern nur die Grösse, welche dem von eben diesen Ge-
raden^) eingenommenen Räume zukommt, und weil dieser Raum in
Grenzen eingeschlossen ist, so ist auch jene Grösse in denselben
Grenzen eingeschlossen, und man kann sie zuzählen, abzählen, ohne
ihre eigene Anzahl zu kennen. Solches aber genügt zu deren Ver-
gleichung, weil sonst die Rauminhalte der Figuren auch nicht unter
einander vergleichbar wären. Ein Continuum ist entweder
nichts Anderes als die Indivisibilien, oder es ist Anderes^).
Ist es nichts Anderes als die Indivisibilien, und deren Zusammenfas-
sung, congeries, lässt sich nicht vei-gleicheu, so ist auch das Räum-
liche oder das Continuum der Vergleichung unfähig, weil wir eben
gesagt haben, es sei nichts Anderes als die Indivisibilien selbst. Ist
dagegen das Continuum noch Anderes ausser den Indivisibilien, so
muss jenes Andere zwischen den Indivisibilien liegen. Wir haben
also ein Continuum, welches in Bestandtheile von noch unbestimmter
Anzahl zerlegbar ist, disseparahüe in qiiaedam, quae continuum com-
ponmd, numero adhuc indefmita. Zwischen je zwei Indivisibilien muss
Etwas von jenem Anderen liegen, welches ausser den Indivisibilien
zum Continuum gehört, denn derselbe Grund, welcher es zwischen
zwei Indivisibilien aufhebt, hebt es zwischen allen anderen auf. In
diesem Falle aber können wir Continuum oder Räume wieder nicht
mit einander vergleichen, weil eben das Zusammenzufassende und zu-
sammengefasst zu Vergleichende, nämlich was das Continuum bildet,
der Anzahl nach unbestimmt ist. Nun ist doch unerhört zu sagen,
in Grenzen eingeschlossene Continuen seien nicht vergleichbar, mit-
hin ist auch unerhört zu sagen, die Zusammenfassungen der Gesammt-
heiten der Geraden oder Ebenen zweier Raumgebilde seien nicht ver-
gleichbar, wenn auch das Zusammengefasste in seiner Anzahl unbe-
stimmt ist, weil dieses der Vergleichung der Continuen nicht im Wege
steht. Mag demnach das Continuum, oder mag es nicht aus den In-
divisibilien bestehen, die Zusammenfassungen der Indivisibilien sind
mit einander vergleichbar und stehen in einem Verhältnisse." Sehr
deutlich wird man diese weitschweifige Begründung nicht nennen
wollen, weil sie, wie wir schon oben betonten, gerade das nicht sagt,
^) Hier beschränkt sich Cavalieri auf omnes Uneae und lässt, offenbar
um nicht allzu schleppend zu werden, omnia plana bei Seite. ^) Man beachte
das plötzliche unvermittelte Auftreten des Wortes Indivisibilien!
836 78. Kapitel.
was zu wissen vorzugsweise noth wendig wäre, nämlich was Cavalieri
unter Indivisibilien verstehe. Und doch stützt er auf das Verhältniss
der im Unklaren verbleibenden Gesammtheiteu seine ganze Lehre.
„Um das Verhältniss zweier ebenen oder räumlichen Gebilde kennen
zu lernen, heisst es nur wenige Seiten später^), genügt es, das Ver-
hältniss der Gesammtheiten der von irgend einer Regula aus begin-
nenden Geraden oder Ebenen zu finden. Das ist das Fundament,
welches ich dieser meiner neuen Geometrie zu Grunde lege."
Wie geht nun diese neue Geometrie zu Werke? Im 15. Satze
des IL Buches^) soll bewiesen werden, dass der Inhalt ähnlicher
ebener Raumgebilde sich verhalte, wie die Quadrate gleichliegender
Seiten. Bei beiden Figuren werden einander entsprechende gegen-
überliegende Berührungslinien, bei beiden einander entsprechende der
Regula parallele Gerade gezogen, deren Länge proportional sein muss
der Länge entsprechender Zwischengeraden in einander ähnlichen
Dreiecken, die jeweils zwischen den beiden Paaren gegenüberliegender
Berührungslinien liegen. Die Gesammtheiten der Geraden der Figuren
verhalten sich also wie die Gesammtheiten der Geraden der Dreiecke,
die Figuren selbst wie die Dreiecke. Dass aber ähnliche Dreiecke
sich wie die Quadrate gleichliegender Seiten verhalten, wird alsdann
mittels des Durchgangs durch ein anderes Dreieck gezeigt (Figur 150).
Das dem grösseren Dreiecke ABC ähnliche kleinere Dreieck EBD
wird so auf ersteres gelegt, dass die
Winkel bei B sich decken, und dann
wird CE gezogen. Die Dreiecke ABC,
EBC haben gleiche Höhe. In beiden
können daher gleich viele, gleich weit
von einander abstehende Parallele zur
Grundlinie gedacht werden, die alle in gleichem Verhältnisse zu ein-
ander stehen, wie die Grundlinien AB, EB. Deren Gesammtheiten
stehen also in gleichen Verhältnissen oder AABC: AEBC=AB:EB.
Aber die Dreiecke EBC, EBD besitzen ebenfalls gleiche Höhen.
Unter gleicher Begründung kann man daher folgern
A EBC : AEBI) = BC:BB = AB: EB.
Also findet er durch Vereinigung beider Verhältnisse
AABC:AEBD = AB':EB'
nach einem Beweise, der von dem bei Euklid VI, 19 sich kaum anders
unterscheidet, als durch das neu auftretende Wort der Gesammtheiten
der Geraden. Nichtsdestoweniger weiss Cavalieri sich auf den Be-
^) Indivisibilien pag. 115, Corollarium. -) Ebenda pag. 127 — 131.
Infinitesimalbetrachtungen. Kepler. Cavalieri. 837
weis und uamentlich auf dessen ersten Theil, der das Verhältniss
ähnlicher Figuren überhaupt auf das ähnlicher Dreiecke zurückführt,
sehr viel zu gute^). Welcher Fortschritt, ruft er aus, gegen die
Methode früherer Schriftsteller! Dort musste für Dreiecke, Vierecke,
Kreise der Beweis gesondert geführt werden; die neue Methode ver-
einigt Alles in einen Satz. Ganz ähnlich wird alsdann im 17. Satze
des IL Buches ^) gezeigt, dass ähnliche Körper sich wie die Würfel
gleichliegender Seiten verhalten. Der 19. Satz^) behauptet, das Pa-
rallelogramm werde durch eine Diagonale in zwei Dreiecke zerlegt,
deren jedes halb so gross sei als das Parallelogramm (Figur 151).
Man betrachtet ÄF, CD als gegenüber-
liegende Tangenten, nimmt CB = FE
und zieht die Zwischengeraden BM, EH.
Sie sind einander gleich, gleich also auch
die Gesammtheiten der Geraden in den bei-
den Dreiecken GAE, FBC und gleich die
Dreiecke selbst. Mithin ist jedes die Hälfte rig. isi.
der Summe beider Dreiecke, d. h. des Pa-
rallelogramms. Immer noch im IL Buche, in dem 24. Satze ^), ge-
langt Cavalieri dazu, nicht mehr Gesammtheiten einfacher Geraden,
sondern solche der Quadrate dieser Geraden in Betracht zu ziehen.
Ein Parallelogramm und das dessen Hälfte darstellende Dreieck sind
die Figuren, deren Geraden gemeint sind. Omnia quadrata XMralMo-
grammi ad omnia quadrata cuiusvis trianguloriim per diametrum con-
stitutorum sunt in ratione tripla, d. h. die betreffenden Gesammtheiten
verhalten sich wie 3 : 1. Der Beweis, welchen Cavalieri giebt, stützt
sich rückwärts auf allzuviele vorhergehende Sätze, als dass es mög-
lich wäre, ihn kurz zusammenzufassen. Dass der Satz wahr ist, lässt
sich daraus entnehmen, dass, sofern a, h die beiden Seiten des Pa-
rallelogramms sind, die genannten Gesammtheiten sich als
/
kh'^x- -. __ hah-
und als
c
Jch^dx = kaW
f'
0
darstellen, wo Je von der Grösse der Winkel des Parallelogramms ab-
hängt. Weiter wird alsdann gefolgert^), dass jeder Cylinder das
Dreifache des Kegels von gleicher Grundfläche und Höhe sei
0
—147.
Indivisibilien pag. 133. ^) Ebenda pag. 133 — 145. ') Ebenda pag. 146
*) Ebenda pag. 15'J— 160. *) Ebenda pag. 185.
838
78.. Kapitel.
(Figur 152\ Die Diametralebene A CED zerschneidet die beiden
Körper in dem Parallelogramme ACED imd dem Dreiecke BEB,
welcüe als Erzeugende der Körper betrachtet
werden können. Da das Dreieck mit dem Pa-
rallelogramme gleiche Grundlinie und Höhe' be-
sitzt, kann der 24. Satz auf diese Figuren aus-
gedehnt werden. Parallelschnitte zum Grund-
kreise BEER schneiden Cy linder und Kegel in
Kreisen , welche sich wie die Quadrate ihrer
Durchmesser verhalten, d. h. wie die Quadrate
eines Paares von Geraden des Parallelogrammes
und des Dreiecks. Die Körper verhalten sich also wie die Gesammt-
heiten dieser Quadrate, und das ist wie 3:1.
Wir wollen nicht länger bei dem IL Buche verweilen, vielmehr
noch Weniges aus anderen Büchern berichten. Der 11. Satz des
III. Buches^) beschäftigt sich mit der Quadratur der Ellipse. Ist 2a
deren grosse, 2h deren kleine Axe und construirt man mit letzterer
als Durchmesser den eingeschriebenen Kreis, überdies das der Ellipse
umschriebene Rechteck und das dem Kreise umschriebene Quadrat,
so ist vorhergegangenen Sätzen leicht zu entnehmen, dass die Ellipse
,und der Kreis sich wie jenes Rechteck und jenes Quadrat, diese sich
wie die grosse und kleine Axe verhalten, dass also ah^t die Ellipsen-
Üäche darstellen muss. Des Weiteren sind im III. Buche jene Um-
drehungskörper von Kreisabschnitten auf ihren Rauminhalt geprüft,
mit welchen Kepler sich theilweise mangelhaft beschäftigt hatte.
Der 1. Satz des IV. Buches-) (Figur 153) spricht aus, dass ein Pa-
allelogramm AEHF, der Parabelab-
schnitt ECMH und das Dreieck ECH,
deren Lagenverhältnisse aus der Figur
einleuchten, sich wie 6:4:3 verhalten.
Man zieht .A"J/ || CG^ || EH. Vermöge
der Eigenschaften der Parabel ist
EH:NM=CE-':CN^
oder NO : NM = CE'- : CNK
Die Gesammtheit der NO verhält sich desshalb zur Gesammtheit der
NM. d. h. das Parallelogramm CG HE zu dem dreilinigen Räume,
triUneum, CM HE wie die Gesammtheit der Quadrate der Geraden
im Parallelogramm CGHE zu der der Quadrate der Geraden CN,
d. h. der Geraden im Dreiecke CHE. Deren Verhältniss war 3 : 1
mithin ist das erwähnte Trilineum ein Drittel des Parallelogrammes,
') Indivisibilien pag. 213. -) Ebenda pag. 285 — 286.
Infiuitesimalbetrachtungeu. Kepler. Cavalieri. §39
und das ergänzende Trilineum CM HG zwei Drittel desselben, wäh-
rend das Dreieck CHG dessen Hälfte ist. Da links von CG ähn-
liche Verhältnisse obwalten, so ist damit der Satz bewiesen. Mit
Uebergehung des ganzen V. Buches erwähnen wir den 9. Satz des
VI. Buches^), welcher die Quadratur der Archimedischen Spirale ent-
hält. Diese war, ebenso wie die Quadratur der Parabel, allerdings
schon von Archimed ermittelt (Bd. I, S. 289—290), es bedurfte
also keiner neuen Entdeckung, sondern nur eines neuen Beweises vom
Gesichtspunkte der Indivisibilien aus. Bei dem ohnedies verwickelten
Gegenstaude sei ohne Veränderung des Ganges der Darstellung, wie
Cavalieri sie giebt, eine etwas veränderte Ausdrucksweise hier ge-
stattet (Figur 154). Unter Fläche der Spirale wird der Raum ADCBA
verstanden, welcher begrenzt
ist durch die Spirale von H —^-—^E"
ihrem Anfangspunkte A bis ^^^ ^~^ZlII---^[ 'x K/^
zu B, wo die erste Umdrehung
des erzeugenden Leitstrahles
vollendet ist, und von dem
letzten Leitstrahle AB. Sie
kann als Unterschied zweier
anderer Flächen aufgefasst rig. 151.
werden , nämlich des mit
AB ^ R als Halbmesser beschriebenen Kreises 7t R^ und des Raumes
ABCBC^B^B, welcher Q heissen mag. Die Gleichung der Spirale
ist Q = k(p, wo Q den Leitstrahl, 9? das Längenmaass des Kreis-
bogens vom Halbmesser 1 bedeutet, welcher die vollzogene Drehung
des Leitstrahles bespannt. Da nun der Annahme nach cp = 2ji bei
Q = R wird, so ist R = 27ih , 7c = ~, q = ^, (p = ^^
9)9 = ^— =^ der Länge des Kreisbogens B'B, welcher als eine ge-
krümmte Indivisibilie des Raumes Q betrachtet werden kann. Nun
werde ein Rechteck EFGH mit der Grundlinie FG = 27tR und
der Höhe EF = R gezeichnet, dessen Inhalt demnach 2jtR- ist.
Innerhalb des Rechtecks mit E als Scheitel, EH als Axe, wird eine
durch G hindurchgehende Parabel y'^ == ax gezeichnet. Der vor-
geschriebenen Bedingung der Zeichnung gemäss ist R^ ^ a • 2nR,
u =^ ^— , also die Parabelgleichung if = -^ oder x = -~- ■ So oft
folglich y =^ Q, ist X gleich der Länge des Kreisbogens B'B. Man
kann aber x als Indivisibilie des Trilineums EEG JE betrachten, in
*) Indivisibilien pag. 436 — 439.
840 78. Kapitel.
welchem es alle Werthe von 0 bis 27tR annimmt, genau so wie der
Kreisbogen D'D im Räume Q. Die Gesammtheiten beider müssen
also gleich sein, d.h. Q = EFGJE neben 2jtR^ = EFGH oder
nR' = AEFG. Daraus folgt tcR- — Q = EJGE = der Fläche
der Spirale, deren Auffindung dadurch auf die Quadratur
eines Parabelabschnittes zurückgeführt ist. Letztere wurde,
wie wir oben sahen , als Drittel des Dreiecks EEG, d. h. als ——
erkannt, und ebensogross ist die Fläche der Spirale. Mit dem VI. Buche
ist dasjenige, was Cavalieri nach der Methode der Indivisibilien er-
örtert hat, abgeschlossen.
Er fühle selbst, erklärt die Vorrede zu dem sich anschliessenden
VII. Buche ^), dass dem Leser manche Zumuthungen gemacht worden
seien. Die Philosophen stritten sich herum über die Zusammen-
setzung des Continuums, über das Unendliche; die Vorstellung von
der Gesammtheit von Geraden oder Ebenen möge Manchen unfassbar
sein, sowie auch, dass die Meinung des Verfassers auf eine Zu-
sammensetzung des Continuums aus Indivisibilien hinauslaufe. Jene
Gesammtheiten seien am leichtesten negativ zu verstehen, nämlich
so, dass keine Gerade, keine Ebene ausgeschlossen sei. Auf alle Fälle
wolle er eine zweite Methode mittheilen, welche von jenen dem
Zweifel ausgesetzten Betrachtungen frei sei. Ihre Grundlage stellt
der 1. Satz des VII. Buches-) dar: Raumgebilde der Ebene wie
des Raumes sind inhaltlich gleich, wenn in gleicher Höhe
bei beiden geführte Schnitte gleiche Strecken beziehungs-
weise gleiche Flächen ergeben.
Die Dunkelheit der Cavalieri'schen Darstellung mag manche Leser
abgeschreckt, andere nur um so stärker angezogen haben, ähnlichen
Erfolg mögen die neuen Auffassungen gehabt haben, welche hier ent-
gegentraten, jedenfalls erhoben sich in ungleich stärkerem Maasse
als bei Keplers Doliometrie Stimmen gegen die Geometrie der Indi-
visibilien neben solchen, welche Cavalieri beipflichteten.
Als Gegner offenbarte sich Paul Guldin^) (1577—1643), der
in St. Gallen geboren war und als Goldschmiedgeselle anfing. Im
20. Lebensjahre trat er 1597 zu Freisingen gegen den Willen seiner
protestantischen Eltern in den Jesuitenorden ein und verwandelte bei
der Glaubensänderung seinen früheren Namen Habakuk in Paul.
Guldin's Obere erkannten seine grosse mathematische Begabung und
Hessen ihn in Rom weiter ausbilden, wo er später selbst als Lehrer
wirkte, bevor er zu gleicher Thätigkeit nach Wien, dann nach Graz
^) Indivisibilien pag. 482—483. ^) Ebenda pag. 484. ^) Gerhardt, Math.
Deutschi. S. 129—130.
Infinitesimalbetrachtungen. Kepler. Cavalieri. 841
geschickt wurde. Er veröffentliclite _eiu ans vier Bücliern bestehendes
Werk Centrobaryca, dessen 1. Buch 1635, das 2. Buch 1640, das
3. und 4. Buch 1641 erschien. Schwerpunktsbestimmungen in
vollständigerer Auswahl von Beispielen, als Guldin's Vorgänger (S. 695
— 696) sie geliefert hatten, bilden den Inhalt des 1. Buches. Im 2. Buche
findet sich die sogenannte Guldin'sche Regel, dass der Raum-
inhalt eines Umdrehungskörpers durch das Product der erzeugenden
Figur in den Weg ihres Schwerpunktes gemessen wird. Die letzten
Bücher verwenden diese Regel bei Körpern, welche von Kepler und
von Cavalieri untersucht worden waren, und das 4. Buch insbeson-
dere ist der Bekämpfung dieser Mathematiker gewidmet. Kepler
habe zu wenig Gewicht auf geometrische Reinheit und Genauigkeit
gelegt, habe sich auf Analogieen und Conjecturen verlassen, nicht
immer wissenschaftlich geschlossen und überdies Alles in dunkler
Weise vorgestellt. Viel schärfer war noch der Tadel, welchen Guldin
über Cavalieri aussprach. Ihm machte er den Vorwurf, als eigene
Erfindung veröfi"entlicht zu haben, was er aus den Schriften von
Souvey und Kepler entnommen habe.
Theils um diesen Vorwürfen zu begegnen, theils zur Erläuterung
der Indivisibilien schrieb Cavalieri seine Exercitationes geometricae
sex von 1647, auf deren Inhalt wir eingehen. Die Ueberschriften der
sechs Abhandlungen, aus welchen der Band besteht, lauten: I. De
lyriori methodo Indivisibüiimi; IL De ^posteriori methodo Indivisihilium;
III. In Paidum Guldimmi e societate Jesu dicta Indivisihilia oppugnan-
teni; IV. De usu eorundem Indivisihilium in potestatibus cossicis;
V. De usu dictorum Indivisihilium in uniformiter difformiter gravibus;
VI. De qiiihusdam proportionihus misceUaneis.
Die I. Abhandlung, der Hauptsache nach eine Erläuterung zum
IL Buche der Indivisibilien, vermeidet zwar streng genommen nicht
minder als jenes Werk eine wirkliche Definition des Wortes Indivi-
sibilien aufzustellen, aber sie erörtert deren Begrifi" immerhin etwas
deutlicher mit Hilfe eines Bildes^). Ebene Figuren seien als Gewebe
aus parallelen Fäden hergestellt zu denken, Körper als Bücher, welche
aus einander parallelen Blättern bestehen. Dabei sei allerdings ein
wesentlicher Gegensatz zu bemerken. Die Fäden des Gewebes, die
Blätter des Buches seien in begrenzter, finitmn, Anzahl vorhanden
und haben einzeln eine gewisse Dicke, crassitiem; die Geraden der
ebenen Figuren, die Ebenen der Körper dagegen seien in unbegrenz-
^)- Exercitationes Geometricae pag. 3: Hinc manifestum est figuras planus
ad instar telae parallelis filis contextae concipiendas esse: solida vero ad
instar librorum, qui parallelis foliis coacervantiir.
842 . 78. Kapitel.
ter, indeßiitum, Anzahl vorhauden und untheilhaft jeder Dicke, omnis
crassitiei expertia. Es giebt zwei Methoden der Indivisibilien, welche
zwar beide von jenen Geraden und Ebenen Gebrauch machen, aber
in verschiedener Weise ; die erste Methode benutze sie vereinigt, collec-
tive, die zweite einzeln, distrihutive^). Innerhalb zweier mit einander
zu vergleichender Figuren muss die Entfernung der als unter ein-
ander gleich nachgewiesenen Geraden in der einen wie in der anderen
Figur dieselbe sein-), aber davon, dass die Indivisibilien einer Figur
der Bedingung gleicher gegenseitiger Entfernung unterworfen wären,
ist keine Rede^J. Die Geraden sind, in Uebereinstimmung mit dem
im ersten Werke Vorgetragenen, auch Durchschnittslinien der gege-
benen ebenen Figur mit einer im Flusse begriffenen Ebene, planum
motum seu fluens^).
Man könnte die Frage aufwerfen, wesshalb eine solche Ent-
stehungsweise der durch eine sich fortschiebende Gerade vorgezogen
ist? Cavalieri äussert sich nicht darüber, aber vielleicht bestach ihn,
dass diese Auffassung ihm gestattete, den Satz von dem Verhältnisse
der Gesammtheiten von Quadraten der Geraden des Parallelogrammes
und des halb so grossen Dreiecks den Sinnen näher zu bringen^).
Besitzt die fliessende Ebene, welche man senkrecht zu den gegebenen
Figuren sich vorstellen darf, die Gestalt eines Quadrates derjenigen
Geraden, durch welche sie just hindurchgeht, so bilden alle diese
Quadrate über dem Parallelogramme ein Parallelopipedon, über dem
Dreiecke eine Pyramide, welche, da beide Körper von gleicher Höhe
und gleicher Grundfläche sind, ein Drittel des Parallelopipedons an
Rauminhalt besitzt.
Die II. Abhandlung wendet sich der im VII. Buche der Indivi-
sibilien gelehrten zweiten Methode zu und erläutert namentlich die
drei ersten Sätze jenes VII. Buches, ohne Dinge hinzuzufügen, welche
ein Verweilen gebieten.
Anders ist es mit der III. gegen Guldin und seinen Tadel ge-
richteten Abhandlung, in welcher Bemerkenswerthes enthalten ist.
Guldin war 1643 gestorben, die Erwiderung gilt also einem Todten,
und Cavalieri bedauert dieses^), sowohl weil die Wissenschaft an
Guldin etwas verloren habe, als auch, weil er selbst jetzt in seiner
Entgegnung einigermassen behindert sei. So sehr behindert, wie er
'■) Exercitationes Geonietricae pag. 4. *) Ebenda pag. 17, Nr. XV. ^) Wenn
ebenda pag. 3, Nr. III die Linien paraUelae, die Ebenen aequidistantia genannt
sind, so ist mit letzterem Worte auch nur Parallelismus der Ebenen gemeint,
wie aus anderen Stellen z. B. pag. 11 lin. 14 v. u. deutlich zu ersehen ist.
•*) Ebenda pag. 12, 16 und häufiger. ^) Ebenda pag. 52 — 55. ®) Ebenda
pag. 177.
Infinitesimalbetrachtungen. Kepler. Cavalieri. 843
angiebt, fühlte sich übrigens Cavalieri doch nicht', denn er geht in
seinen Gegenvorwürfen, wie wir sehen werden, ziemlich weit. Guldin,
sagt Cavalieri, beschuldige ihn, Kepler ausgenutzt und nur dessen
Erfindung aus dem Schatten in das Tageslicht gebracht zu haben.
Beide Auffassungen seien aber wesentlich verschieden^). Kepler setzte
aus kleinsten Körperchen grössere zusammen und Hess sie dabei an-
einanderstosseu, er, Cavalieri, sage nur, die ebenen Figuren verhielten
sich wie die Gesammtheiten paralleler Linien, die Körper wie die
Gesammtheiten gleichfalls paralleler Ebenen, xilana esse ut aggregata
omniuni linearum acquidistantium , et corpora tit aggregata omnium
planorum pariter aequidistantium. An späterer Stelle-) verwahrt sich
Cavalieri noch stärker, er habe nie gesagt, Körper und Gesammtheit
der Ebenen sei das Gleiche, nunqiiam aiäem ipse dixi, solidum et
omnia plana idem esse. Ferner solle er in der sogenannten zweiten
Methode der Indivisibilien Souvey ausgenutzt haben. Dieser Vorwurf
ist noch leichter zu entkräften^). Souvey's Schrift ist 1630 veröffent-
licht worden, die Indivisibilien waren 1629 so weit vollendet, dass
eine ganze Reihe namentlich angeführter Männer Einsicht von ihnen
erhalten konnte. Der Vorwurf,, andere Schriftsteller ausgenutzt zu
haben, sei freilich leicht gemacht. Könnte man nicht sagen, Guldin
habe seine Regel zur Bestimmung des Rauminhaltes von Umdrehungs-
körpern Kepler entnommen?^) Wenn letzterer den Ringinhalt als
Product eines Querschnittes in die Kreislinie, welche der Mittelpunkt,
gleichzeitig Schwerpunkt des Querschnittes, durchlaufe, zu berechnen
lehre, so sei das die Guldin'sche Regel, und Guldin's Begründung der-
selben weiche gleichfalls von derjenigen, welche Kepler (S. 841) am
angegebenen Orte ausspreche, kaum ab. Auch hier ist eine etwas
spätere Stelle^) zu vergleichen, wo statt Kepler's ein anderer Vor-
gänger Guldin's in der Person von Johann Antonio Rocca ge-
nannt ist, der zwei Jahre vor dem Erscheinen des zweiten Buches
von Guldin's Centrobaryca, mithin 1638, einen ganz ähnlichen Satz
mitgetheilt habe. Es spricht nicht für die Belesenheit der damaligen
Gelehrten, dass weder Cavalieri noch irgend ein Anderer die Rück-
verfolgung der Guldin'schen Regel bis zu Pappus fortsetzte, welcher
sie schon besass (Bd. I, S. 421), und dessen Schriften Guldin in an-
derem Zusammenhange anführt, also jedenfalls gelesen hatte. Einen
weiteren Vorwurf hatte Guldin der Methode Cavalieri's in der Richtung-
gemacht, dass sie zur Ableitung des Archimedischen Satzes von der
Gleichheit der Kucreloberfläche mit der vierfachen Fläche des Grössten-
^) Exercitationes Geometricae pag. 180. ^) Ebenda pag.
pag. 183. *) Ebenda pag. 183—185. ^) Ebenda pag. 230.
200. =*) Ebenda
844
78. Kapitel.
kreises nicht ausreiche. Die Richtigkeit dieses Vorwurfes gesteht
Cavalieri unbedingt zu^). Den Flächeninhalt gekrümmter Oberflächen
könne er mittels Indivisibilien nicht entdecken, das sei wahr, aber,
fragt Cavalieri weiter, einen Gegenvorwurf aus seinem Eingeständ-
nisse bildend, reiche denn etwa Guldin's vielgerühmte Schwerpunkts-
benutzung aus, jene Aufgabe zu bewältigen? Auch die ganze Schluss-
weise der Indivisibilien hatte Guldin bemängelt. Die Gesammtheit
der Geraden einer Figur sei eine Unendlichkeit, die der Geraden einer
zweiten Figur gleichfalls eine Unendlichkeit; zwischen Unendlich-
keiten finde aber ein bestimmtes Verhältniss nicht statt. Ganz richtig,
erwidert Cavalieri^), wenn einfach von Unendlichem die Rede ist,
woher es nur immer stamme, unrichtig aber, wenn von Unendlichem
gesprochen werde, welches mit Beziehung auf ein Endliches in Ver-
hältnisse eingehe. Diese Bemerkung ist ungemein interessant, da sie
zeigt, dass Cavalieri mit Bezug auf Unendlichgrosses denselben Unter-
schied zu machen wusste, der etwa zwischen einem Rechnen mit
Differentialien und einem solchen mit Differentialquotienten besteht.
Endlich bringt Cavalieri selbst eine Schwierigkeit zur Rede, die Guldin,
wenn er denn doch die Methode der Indivisibilien bemängeln wollte,
hätte hervorheben können, die ihm aber entgangen sei^) (Figur 155).
Die zwei ungleichen rechtwinkligen
Dreiecke ADS und GDH sollen mit
der gemeinsamen Kathete DU an-
einanderhängen. Zieht man K3I und
JL der Grundlinie AG parallel, so
zeigt sich KB=MF, JC=LE, kurz
jeder HD parallel gezogenen Geraden
in ADH entsspricht eine ihr gleiche
in GDH-^ die Gesammtheiten dersel-
ben müssen also gleich sein, d. h. die
ungleichen Dreiecke zugleich auch gleich sein. Das wäre doch wenig-
stens ein Einwurf von scheinbarer Gefährlichkeit gewesen, aber frei-
lich auch nur scheinbar, weil die Geraden BK, CJ, DH nicht in
derselben Entfernung von einander auftreten, wie die FM, EL, DH,
was in der ersten Abhandlung^) ausdrücklich als noth wendig hervor-
gehoben sei (S. 841).
In den Indivisibilien, in den drei ersten Abhandlungen der Exer-
citationes war die Beweisführung eine ungewohnte, aber bis auf ver-
hältnissmässig geringe Ausnahmen waren die Ergebnisse bereits be-
^) Exercitationes Geometricae pag. 194—195. -) Ebenda pag. 202.
3) Ebenda pag. 238—239. *) Ebenda pag. 17, Nr. XV,
Infinitesimalbetrachtungen. Kepler. Cavalieri. 845
kannt^ und man konnte fast als Vorwurf äussern, was Cavalieri in
der IIL Abhandlung einmal zu Gunsten seiner Methode sagte ^), man
könne Alles, was er mit Hilfe von Indivisibilien zeige, auch in die
Sprache Archimed's übersetzen, wenn man Umschweife nicht scheue.
Wesentlich neu dagegen war der Inhalt der IV. Abhandlung. Wir
haben (S. 837) gesagt, das was Cavalieri von der Gesammtheit der
Quadrate eines Dreiecks behaupte, sei in den Zeichen heutiger Mathe-
matik in Uebereinstimmung mit
In der gleichen Zeichensprache heisst der Gegenstand der IV. Ab-
handlung:
/ kb"x"
dx =
«+ 1
Cavalieri sprach die von ihm entdeckte Wahrheit zuerst 1639 als
letzte Aufgabe seiner in Bologna gedruckten Centiiria di varii prohlemi
per dimostrare l'uso e Ja facüita dei logaritmi nella Gnomonica, Ästro-
noniia, Geografia aus. In den Exercitationes erzählt er dann^), wie
er zu dem Satze gekommen sei. Eine Aufgabe aus Kepler's Dolio-
metrie veranlasste ihn, die Gesammtheiten der vierten Potenzen der
Geraden eines Parallelogrammes und des halb so grossen Dreiecks in
Verhältniss zu setzen, wobei er 5 : 1 fand. Er erinnerte sich, dass
die Gesammtheiten der Geraden selbst und die ihrer Quadrate in den
gleichen Figuren den Verhältnisszahlen 2 : 1 und 3 : 1 gehorchten.
Um keine Lücke zu lassen, untersuchte er noch die Gesammtheiten
der Würfel eben jener Geraden und fand ihr Verhältniss 4:1, und
nun begriff er bewundernd, ita ut deniqiie non sine magna admiratione
comprelienderim , dass jenes Zahlengesetz sich der natürlichen Zahlen-
reihe entsprechend fortsetze. Die Richtigkeit der Verallgemeinerung
hat Cavalieri niemals bewiesen. Die ersten Einzelfälle dagegen sind
von ihm streng durchgearbeitet worden. Er stützte sich dabei zum
Theil auf folgende von ihm erkannte Identitäten^):
«* + M = 2 (-±^)' + 2 (^)* + 12 (»4^)^ (!^)^
^) Exercitationes Geometricaz pag. 235. ^) Ebenda pag. 243—244.
3) Ebenda jmg. 269—271.
846 78. Kapitel.
Wir entnehmen ihm den Gang des Beweises für das Verhältniss 4 : 1
der Gesammtheiten der Würfel der Geraden im Parallelogramme und
im Dreiecke^). Zunächst seien einige Zeichen erklärt, welche bei
Cavalieri, wie wir fast überflüssigerweise bemerken, nicht vorkommen,
deren wir uns aber zur Abkürzung bedienen wollen (Figur Ibo). Um
die Summe der ?^*^" Potenzen aller Geraden in einer
^ ^-^ gegebenen Figur zu bezeichnen, schreiben wir
das Summenzeichen vor die m'" Potenz einer Ge-
raden und über das Summenzeichen die Figur,
auf welche die Summirung sich bezieht. Mithin
ACDF
ist ^, AF^ ^= Summe der Würfel aller Geraden
im Parallelogramme ÄCDF, und dafür kann
man, weil im Parallelogramme die Geraden sich nicht ändern, auch
ACDF ACF
ÄF -^ AF- schreiben. Ferner ist ^,' NH^ = Summe der Würfel
aller Geraden im Dreiecke ACF\x. s. w. Sind Producte wie NU HE
zu Summiren oder ähnlich gebaute, deren erster Factor dem Dreiecke
ACF, der zweite dem Dreiecke CDF angehört, so schreiben wir die
Figur, über welche hier der erste, beziehungsweise der zweite Factor
zu nehmen ist, oberhalb beziehungsweise unterhalb des Summenzeichens.
ACF
^ NHHE^ bedeutet also: solche Producte NR- HE' sollen durch
CDF
das ganze Parallelogramm ACDF derart gebildet werden, dass der
lineare Factor immer dem Dreiecke ACF, der quadratische dem
Dreiecke CDF angehört. Nach der Formel
(a + hf = a^-\- W + ?,a~h + 3a&2
ist nun leicht ersichtlich
ACDF ACF CDF ACF ACF
^AF' =^NH'-{-^HE-' + ?>^NH- HE'- + ^^NH' ■ HE.
CDF CDF
Andererseits
und da
so ist ein zweiter Werth von
^AF'= AF^ AF'
ACDF CDF
^ AF'- = ?j y HE\
^AF'=?jAF^HE'=^SyNEHE'=3y^NHHFJ-\-3^HE'
^) Exercitationes Geometricae pag. 273 — 274.
Infinitesimalbetrachtungen. Kepler. Cavalieri. 847
■iCDF
Die beiden Werthe von ^, ÄF^ sind einander gleichzusetzen, und das
ACF
beiden gemeinsame o ^, NH ■ HE- fällt dabei weg. Es bleibt
CDF
CDF ACF CDF ACF
3 2 HE' =^ NH' +^ HE' + 3^ NH' ■ HE.
CDF
ACF CDF
Aber offenbar ist ^ NH' =^ HE', diese Werthe können mithin
auch auf beiden Seiten noch weggelassen werden, und man behält
nur noch ^ HE' = o^ NH- • HE. Wegen der vollständigen
CDF
CDF ACF
Symmetrie der Figur muss ebenso ^ EH' = 3 ^ NH ■ HE" sein.
CDF
CDF
^ HE' =^ HN' haben wir bereits benutzt. ^ HE' =^ HE'
ist identisch wahr, und nunmehr lassen sämmtliche Glieder der ersten
ACDF CDF
Entwickelung von ^,' ÄF' sich durch ^^HE' ersetzen, so dass man
erhält:
ACDF CDF
^ÄF' = 4:^ HE'
und das ist der Satz, welcher bewiesen werden sollte.
Auch die V. Abhandlung, in a\ elcher Cavalieri Guldin's eigenstes
Gebiet der Schwerpunktsbestimmung betrat, enthält wesentlich Neues.
Man hatte stets nur Schwerpunkte homogener Figuren und Körper,
d. h. solcher von überall gleicher Dichtigkeit, untersucht. Cavalieri
ging darüber einen wesentlichen Schritt hinaus. Er fragte nach dem
Schwerpunkte solcher Gebilde, deren Dichtigkeit mit der Entfernung
von einer gewissen Anfangsgrenze zunimmt, eine Frage, deren Gleich-
berechtigung mit den Untersuchungen eines Galilei und Torricelli
über Ortsbewegung, mögen diese mit der Natur im Einklänge stehen
oder nicht, er beansprucht^). Man hat diese Aeusserung eines
Schülers von Galilei auffallend gefunden, und sie wäre es in der
That, wenn man nicht in Erwägung ziehen will, dass Cavalieri Ordens-
geistlicher war, und dass man nach den Erfahrungen, welche man
mit der Koppernikanischen Lehre gemacht hatte, nie wissen konnte,
ob die Curie nicht auch in Galilei's mechanischen Gesprächen von
1638 noch Glaubensgefährliches wittern werde.
^) Exercitationes Geometricae pag. 322.
848 78. Kapitel.
Die VI. und letzte Abhandlung mit iliren aus verschiedenen Ge-
bieten entlehnten Gegenständen weicht darin namentlich von der vor-
hergehenden ab, dass sie keine Indivisibilien anwendet. Wir wären
daher berechtigt, mit Schweigen darüber hinwegzugehen, wollten wir
nicht einer Aufgabe gegenüber eine Ausnahme machen, derjenigen
von der Aufsuchung eines Punktes, dessen Entfernungen
von drei gegebenen Punkten die kleinste Summe habe^).
Cavalieri zeigt zunächst, dass, wenn die drei Punkte in einer Geraden
liegen, der gesuchte Punkt derselben Geraden angehören müsse, und,
wenn die Punkte Eckpunkte eines Dreiecks sind, der Ebene des
Dreiecks. Er zeigt ferner, dass alsdann von dem gesuchten Punkte
aus die drei Dreiecksseiten unter dem gleichen Winkel von 120*^
erscheinen.
Wir haben über die beiden Hauptwerke Cavalieri's ausführlich
berichtet und uns, um den Gesammteindruck nicht zu stören, mit
keiner Zwischenbemerkung über Grund oder Ungrund der gegen den
Verfasser erhobenen Vorwürfe unterbrochen. Diese nothwendige Er-
örterung ist jetzt nachzuholen. Unzweifelhaft ist der Vorwurf auch
nur der leisesten Anlehnung an Souvey ohne jede Begründung, da
die von Cavalieri geltend gemachten Zeitdatirungen den schlagenden
Gegenbeweis führen. Etwas anders steht es mit den Beziehungen
Cavalieri's vielleicht auch Galilei's zu Kepler und dessen
Doliometrie. Kepler und Galilei standen in Briefwechsel; sie ver-
ehrten sich gegenseitig Bücher, und wenngleich aus den erhaltenen
Briefen nicht nachzuweisen ist, dass auch von dem Werke von 1615
ein Exemplar an den italienischen Fachgenossen geschenkweise ge-
langte, so ist doch beinahe ausgeschlossen, dass Galilei nicht von
dem Werke gehört, und wenn er davon hörte, es nicht gelesen
haben sollte, zumal, wie wir früher sahen, die Verbreitung der Dolio-
metrie rasch vor sich ging. Nehmen wir weiter an, dass mit Galilei,
vielleicht durch Galilei, auch Cavalieri das Buch kennen lernte, dass
Beide über den Gegenstand mit einander verkehrten, so begreift sich
die früher hervorgehobene beiderseitig gleichzeitige Beschäftigung mit
den Indivisibilien, deren in Cavalieri's Briefen vorkommender Name
(S. 832) Beiden geläufig gewesen sein muss. Warum Cavalieri Guldin
gegenüber nicht ruhig zugab, was eigentlich schon in der Vorrede
zu den Indivisibilien, wo von Kepler ausdrücklich die Rede ist,
mittelbar eingestanden war? Man kann sich verschiedene Erklärungs-
versuche bilden. Cavalieri behauptet in jener Vorrede, die eigentliche
Methode der Indivisibilien besessen zu haben, als er Kepler's Schrift
^) Exercitationes Geometrieae pag. 504 — 510.
Infinitesimalbetrachtungen. Kepler. Cavalieri. 849
und in ihr Beispiele zur Prüfung seiner Methode kennen lernte^).
Vielleicht ist dieses buchstäblich wahr, wenn, wie wir als möglich
aussprechen, Galilei es war, der Cavalieri die erste Anregung zu den
neuen Untersuchungen gab. Vielleicht wollte Cavalieri nur Guldin
kein Zugeständniss machen, weil dieser die geistige Beeinflussung als
einen geistigen Diebstahl dargestellt hatte. Vielleicht war er sich
selbst nicht ganz klar darüber, ob er Kepler etwas verdanke. Welchem
Forscher wäre es nicht schon begegnet, dass ihm bei eifrigem, er-
folgreichem Nachdenken über einen wissenschaftlichen Gegenstand
aus dem Gedächtnisse entschwand, was ihn veranlasste, gerade diese
Aufgabe zu behandeln? Das aber ist unter allen Umständen anzu-
erkennen, dass Cavalieri's Forschung von Erfolg begleitet war, dass
er einen gewaltigen Schritt über Kepler hinaus machte. Nicht darin
finden wir denselben, dass Kepler kleinste Raumelemente summirte,
während Cavalieri nur von einer Gesammtheit sprach, zu welcher
das betrefi'ende Raumgebilde in einem Verhältnisse stehe. Dieser
Unterschied ist mehr philosophisch als mathematisch. Wir sehen
den Fortschritt von Kepler zu Cavalieri vielmehr in zwei Dingen.
Erstens darin, dass Kepler's Raumelemente nicht immer einander
parallel waren, während Cavalieri an dieser Grundbedingung festhielt.
Zweitens darin, dass Cavalieri zu Gesammtheiten von Potenzen der
Geraden überging. Gerade dieses Fortschrittes war Cavalieri sich
deutlich bewusst. In der Vorrede zu den Indivisibilien macht er
darauf aufmerksam, dass, wenn man ein Rechteck und das halb so
grosse rechtwinklige Dreieck um die eine Rechtecksseite in Umdrehung
versetzt denke, die beiden Körperräume, Cylinder und Kegel, im Ver-
hältnisse von 3 : 1 stehen, und dass man dieses neu auftretende Ver-
hältniss aus den Eigenschaften der sich drehenden Figuren zu ent-
nehmen nicht im Stande sei. In der IV. Abhandlung der Exercitationes
vollends zieht er die etwas gewagte Verallgemeinerung des Satzes in
Betracht, er vergleicht Gesammtheiten irgend welcher Potenzen und
ist der Bewunderung voll über das Ercrebniss.
Dem Ursprünge eines anderen bei Cavalieri auftretenden Begriffes
können wir leicht nachgehen. Wenn er der Ebene, die der Regula
parallel sich fortschiebt, eine „fliessende" Bewegung beilegte, so ist
dieses offenbar Clavius (S. 556) oder Neper (S. 730) nachgebildet;
aber ob Cavalieri wusste, wesshalb gerade dieses die Continuität der
^) Cum ergo tarn expositam metiendarum figurarum novam, ac, si dicere
fas est, valde comiiendiosam methodum adinvenissem , foeliciter mecum actum esse
existimavi, ut haec solida, praeter illa Archimedea, mihi suppeditarentur , circa
quae illius vim ac energiam experiri liceret.
Caktor , Geschichtö der Mathem. II. 2. Aufl. 54
850 78. Kapitel.
Bewegung so deutlich schildernde Wort ihm in die Feder kam, ver-
mögen wir nicht zu sagen.
Ein Zusammentreffen Cavalieri's mit einem anderen Mathematiker
macht freilich grosse Schwierigkeit und wirft, je nachdem man es zu
erklären sucht, unter Umständen einen solchen Makel auf einen sonst
berühmten Schriftsteller, dass man zu einem Gesammturtheile über
denselben sich nur schwer entschliessen kann. Wir haben (S. 839)
gesehen, dass in den Indivisibilien von 1635 die Quadratur der Spiral-
linie durch eine Gleichsetzung des in Frage stehenden Flächenraumes
mit einem Parabelabschnitte gefunden wird. Dieselbe gewiss nichts
weniger als nahe liegende Methode findet sich in dem Oims geometricum
quaclraturae circuli et sectiomun coni des Gregorius von St. Tin-
een tius und führt dort den besonderen Namen Spiralis et imrabolae
symboUmtio^). Es genügt nicht, auf das Druckjahr 1635 der Indivi-
sibilien, auf dasjenige 1647 des grossen Werkes von Gregorius hin-
zuweisen, denn dieser Schriftsteller erzählt in der Vorrede zum ganzen
Wei-ke, dasselbe sei bis auf einen besonders genannten anderen Ab-
schnitt schon 1625 vollendet gewesen; er wiederholt dann in der Ein-
leitung zur Symbolizatio, er habe diese Methode 1625 in Rom dem
Pater Christoph Grienberger mitgetheilt, welcher sein Mitschüler
im Unterrichte durch Pater Clav ins gewesen sei. Aber andererseits
ist auch diese Erzählung nicht gegen jeden Zweifel gesichert, denn
Grienberger war seit 1636 todt und konnte die auf ihn bezügliche
Thatsache 1647 weder bestätigen noch Lüge strafen. Cavalieri da-
gegen starb im Erscheinungsjahre des Opus geometricum und kann
dadurch an der Abwälzung des auf ihn geworfenen Verdachtes ver-
hindert gewesen sein, er kann auch geschwiegen haben, weil er sich
schuldig fühlte. Hier tritt also unvermittelt, und wie uns scheint, un-
vermittelbar das Dilemma zu Tage: entweder Gregorius hat eine ge-
radezu lügenhafte Angabe gemacht, und dabei einen passenden Namen
zu einer von Cavalieri herrührenden Methode erfunden, oder Cavalieri
hat als sein Eigenthum vorgetragen, was er nicht erfand, was aber,
weil dabei, wenn auch kreisförmig gekrümmte Indivisibilien, immerhin
Indivisibilien in Anwendung kamen, sehr wohl seinem Geiste ent-
stammt sein konnte. Oder will man den dritten Ausweg für mög-
lich halten, dass beide Männer, jeder für sich, auf den fast sonderbar
zu nennenden Einfall kamen? Wir verzichten darauf, für das Eine
oder für das Andere oder für das Dritte uns zu entscheiden.
^) Opus geometricum pag. 664.
Descartes. Fermat
851
79. Kapitel.
Descartes. Fermat.
Wir wollten Cavalieri's Untersucliungen, welche mau ähnlich wie
die vorausgegangene Doliometrie Kepler's als Quadraturen und
Kubaturen bezweckend bezeichnen wird, im Zusammenhange vor-
tragen. Wir haben dadurch eine Anzahl von Jahren zwischen der
ersten Ausgabe der Indivisibilien und dem Erscheinen der Exer-
citationes zunächst übersprungen, welche für die Geschichte der In-
finitesimalbetrachtungen sehr fruchtbar waren. Kehren wir in die
nächste Zeit nach 1635 zurück, zum Jahre 1637, dem Druckjahre
der Geometrie des Descartes.
Dort ist zum ersten Male die Auflösung einer Aufgabe in die
Oeffentlichkeit getreten, welche von nun an Jahrzehnte hindurch nicht
aufgehört hat, die Mathematiker zu beschäftigen, der Tangenten-
aufgabe.
Descartes fasste sie etwas anders auf; für ihn war es die Nor-
malen aufgäbe^); er suchte solche Gerade, welche gegebene Curven
oder, was ihm für das Gleiche gilt, deren Berührungslinien in gege-
benen Punkten rechtwinklig durchschneiden. Er sagt eine allgemeine
Auflösung dieser Aufgabe zu und scheut sich nicht, es auszusprechen,
sie sei die nützlichste und allgemeinste nicht blos von denen, die er
kenne, sondern die er jemals innerhalb der Geometrie zu kennen ge-
wünscht habe-). Der Gedanke Descartes', wenn auch natürlich nicht
ist folgender^) (Figur 157 J.
Y
Di
der Wortlaut seiner Darstellung,
Normale an die Curve AB mit
der Gleichung F(x, y) = 0 im
Punkte M sei MN. Um A" als
Mittelpunkt wird mit einem be-
liebigen Halbmesser r ein Kreis-
bogen beschrieben, welcher die
gegebene Curve in den Punkten
Durchschnittspunkte muss man
mit Hilfe der Curvengleichung
einestheils, der Kreisgleichung anderntheils finden können, d. h. deren
Ordinaten M^F^, ^-[^P-i müssen als die Wurzeln einer quadratischen
1) Descartes, Geom. I, 40 sqq. -) Nee verebor clicere, Prohlema Jioc, non
modo eorum, qiiae scio, utiUssimum et generalissimum esse; sed etiam eorum, quae
in Geometria seire tinquatn desideraverim. *) Schon Montucla II, 130—131
hat die Methode gut -erfasst.
54*
Fig. ]57.
852 79. Kapitel.
Gleichung sich ergeben, in welcher r gleichfalls vorkommt. Fallen
die beiden Durchschnittspunkte M^ und ilf^ in M zusammen, d. h.
wird der Kreis zum Berührungskreise, so bleibt die erwähnte quadra-
tische Gleichung immer noch bestehen, aber mit zwei identischen
Wurzeln. Die Bedingung dafür, dass solches stattfinde, muss darin
bestehen, dass die linke Seite der Gleichung die Gestalt besitzt,
welche aus der Multiplication von y — e mit sich selbst hervorgeht^),
also y^ — 2ey -{- e^, und dieses erzwingt man dadurch, dass r einen
gewissen Werth annimmt. Kennt man diesen, so kennt man MN,
also die gesuchte Normale.
Als Beispiel mag die Parabel y^ = ax gewählt werden. Abscisse
von 'S sei 5, so ist die Gleichung des um iV mit dem Halbmesser r
beschriebenen Kreises {x — zf -\- y^ = r^. Man ersetzt x durch — ,
so wird ix ^)" + 2/^ = f-, beziehungsweise
folglich
2/2 = a^; _ _ 4- a |/ r^ + - — «0,
und ein einziges positives y erscheint nur, wenn r^ + x — az = 0,
r^ = az — ~- ist. Der Berührungskreis hat folglich die Gleichung
(x — zy-\-y- = az — ^, während der Berührungspunkt als Punkt der
Parabel die Gleichung y^ = ax bedingt. Man erhält also als weitere
Umformung
und damit den Punkt AT.
Descartes blieb bei dieser Darstellung seiner Methode nicht stehen.
In einem Mitte Mai 1638 geschriebenen Briefe deutete er noch eine
etwas andere Einkleidung des gleichen Gedankens an 2), d. h. des Ge-
dankens, die Auffindung der Berührungslinie einer Curve mit dem
Vorhandensein identischer Wurzeln einer Gleichung in Zusammen-
hang zu bringen (Fig. 158). Von der
Berührungslinie M^T als gegeben aus-
gehend zieht er von M noch nach einem
anderen Punkte S der Abscissenaxe
eine Gerade M.S), und diese schneidet
die Curve in einem Punkte M^. Die
Gleichung der Curve und die Lage von
1) Descartes, Geom. I, 45 lin. 24—28. ') Oeuvres de Descartes (ed.
Cousin) VII, 62—64.
Descartes. Fermat.
853
S auf der Abscissenaxe müssen genügen, um die beiden Ordinaten
MP und 3I^P^ zu Wurzeln einer Gleichung zu machen, welche nur
dann identisch werden, wenn S nach T fällt. So ist die Lage dieses
Punktes, ähnlich wie in der Geometrie die von N, von dem Ver-
schwinden einer gewissen Wurzelgrösse abhängig.
Descartes hat noch ein anderes Problem der Curvenlehre in seiner
Geometrie und in nachgelassenen Papieren berührt, das der Recti-
fication von Curven. In der Geometrie^) spricht sich Descartes
in ganz negativer Weise über diese Aufgabe aus. Ein Verhältniss
zwischen gei-aden und krummen Linien ist, sagte er, nicht bekannt
und wird Menschen nicht bekannt werden. In seinem Nachlasse da-
gegen findet sich eine Methode^), um in beliebiger Annäherung zwar
auch keine Rectification , aber das Entgegengesetzte derselben, eine
Arcafication einer gegebenen Strecke zu liefern (Figur 159).
Es handelt sich um die Auf-
findung des dem Quadrate \ gr, ~ ^
ahJif isoperimetrischen
Kreises. Zur Abkürzung
und Vermeidung von Miss-
verständuissen bezeichnen
wir die Fläche eines Recht-
eckes durch zwei einander
gegenüberliegende Eck-
punkte desselben mit einem
Horizontalstriche darübei-,
so dass z. B. hf die Fläche
von ahkf bedeutet. Nun suche man den Punkt c
dingung genüge:
Y = ac{ac — ah) = hg • hc = cg .
Ferner suche man den Punkt d, welcher der Bedingung genüge:
~ = ad(ad — ac) = ch • cd = dh
u. s. w. ins Unendliche. Man nähert sich dabei einem Grenzpunkte t,
dessen Entfernung at von a der Durchmesser des gesuchten Kreises
wird. Zugleich ist auch die Summe der Flächeninhalte aller immer
höher und schmaler werdenden Hilfsrechtecke bekannt. Sie ist mit
Einschluss des ursprüngliches Quadrates
welcher der Be-
^) Descartes
-443.
Geom. I, 40.
*) Oeuvres de Descartes (ed. Cousin) XI,
854 79. Kapitel.
W{i + i + {. + --) = YW-
Die Constrnction der Punkte c, d . . . ist sehr einfach. Man halbirt
ah in B, of iu C und zieht BC bis zum Durchschnitte G mit dem
um C als Mittelpunkt mit Ca als Halbmesser beschriebenen Kreise.
Dann ist BG ■ BD = BG{BG — ah) = Ba- = ^/ und folglich
BG=^ac. Weiter macht man aB' = —aB, aC = -^ac und zieht
B' C bis zum Durchschnitte G' mit dem um C als Mittelpunkt mit
Ca als Halbmesser beschriebenen Kreise, so ist
B'G'- B'B'= B'G\B'G'—ac) == J5V = ^
und folglich B' G' = ad u. s. w. Die Bedeutung der Annäherung
endlich ist folgende. Es ist ah=^—- Durchmesser des Kreises, dessen
regelmässiges Tangentenviereck die Seite ah besitzt. Der Kreis mit
dem Durchmesser ac besitzt ein regelmässiges Tangentenachteck von
der Seite — = -— • Zu dem Kreise mit ad als Durchmesser gehört
ein regelmässiges Tangentensechzehneck von der Seite —^ u. s. w. Jeder
neuen Länge entspricht, wenn man sie als Kreisdurchmesser wählt,
ein regelmässiges Tangentenvieleck von 2" Seiten, deren jede die Länge
—^ besitzt, wodurch augenscheinlich alle diese Tangeutenvielecke
isoperimetrisch werden, und die Gesammtlänge ihrer Seiten auf 4a6
bringen. Bei wachsendem n ist aber das Tangentenvieleck von 2"
Seiten schliesslich vom Kreise selbst nicht mehr zu unterscheiden.
In dem Briefwechsel von Descartes sind da und dort noch manche
Dinge enthalten, welche bei der damals allgemeinen Sitte, von der
wiederholt die Rede war, Briefe bei Fachgenossen herumzuzeigen und
mit Rücksicht darauf den Inhalt der eigenen Briefe genau zu über-
legen, sie sogar aufzusetzen , als veröffentlicht gelten dürfen und
darum als wissenschaftliches Eigenthum des Briefschreibers in fast
gleicher Weise beansprucht werden müssen, als wenn sie im Drucke
erschienen wären. Wir heben einige solcher Dinge hervor, welche
der höheren Curvenlehre angehörend hier den richtigsten Platz
finden, da sie mit Infinitesimalbetrachtungen eng verbunden sind.
Ein Brief vom 13. Juli 1638 enthält Schwerpunktsbestimmungen
und Quadraturen von Parabeln verschiedener Ordnung und
Kubaturen von deren Umdrehungskörpern ^). Beweise giebt Descartes
^) Oeuvres de Descartes (ed. Cousin) VII, 429 — 430.
Descartes. Format. 855
nicht. Er meint die Mühe, sie niederzuschreiben, wäre zu gross,
auch reiche die Mittheilung der Ergebnisse hin , weil Niemand zu
denselben gelangen könne, ohne die Beweise zu kennen. Hat Des-
cartes sich eigener Methoden bedient, ist er Ca valier i 's Spuren
nachgegangen? Wir möchten die letztere Vermuthung hegen, ins-
besondere dadurch unterstützt, dass auch eine andere Briefstelle auf
den gleichen Schriftsteller als Quelle wird gedeutet werden müssen.
Wir meinen eine Stelle aus einem Briefe an Mersenne^) vom
27. Juli 1638. Er handelt von der Quadratur der Cycloide, und
dort sagt Descartes, die Gleichheit zweier Figuren gehe schon daraus
hervor, wenn sie gleiche Grundlinie und Höhe besitzen, und wenn
alle Parallelen zur Grundlinie, die in beiden Figuren in gleicher Höhe
gezogen werden, einander gleich seien, ein Satz, der vielleicht nicht
von Jedem zugegeben wird, im tlicorcme qul ne serait peut-etre pas
avoue de toiis. Das klingt doch sehr, als wenn damals Descartes das
VH. Buch der Indivisibilien, welches dui-chaus auf jenem Satze be-
ruht, gekannt hätte.
Am 23. August theilte dann Descartes Mersenne auch die Tan-
gentenconstruction bei der Cycloide^) mit. Auf diese Curve
ist Galilei zuerst 1590 aufmerksam geworden^), und er hatte schon
daran gedacht, ihre Quadratur zu ermitteln. Er gab ihr auch den
Namen. Französische Gelehrte legten ihr andere Namen bei, den der
Rolllinie, Roulette, den der TrocJioide, und seit 1634 etwa hat die
Curve Jahrzehnte lang nicht aufgehört, die Gelehrten Frankreichs,
Italiens, Englands zu beschäftigen. Wir kommen auf die Geschichte
dieser Cycloide später noch zurück; gegenwärtig kümmert uns nur
die von Descartes in dem genannten Briefe gelehrte Tangenten-
construction (Figur 160j. Descartes zeichnet die Mittellage des rol-
lenden Kreises und von dem Cycloidenpunkte B aus, an welchen die
Berührungslinie verlangt wird, die
Gerade BN parallel zur Grundlinie
bis zum Durchschnitte N mit jener
Mittellage des Kreises. Dann ver-
bindet er NB und zieht B 0
welches die Normale an die Cy-
cloide wird. Descartes' Beweis
gründet sich auf die Eigenschaften
einer Curve, welche beim Rollen eines geradlinig begrenzten regel-
*) Oeuvres de Descartes (ed. Cousin) VII, 113 — 118, besonders pag. 117
zweites Alinea. -) Ebenda VII, 88—90. =>) Fabbroni, Vitae Italorum
doctrina exceUentium qui saeculis XVII et XVIII floruerunt (1778) II, 12. —
Favaro, Galileo Galilei e lo studio di Padova I, 34.
856 79. Kapitel.
massigen Vielecks entsteht, und welche unverändert bleiben, wenn die
Seitenzahl des Vielecks ins Unendliche wächst. Er setzt hinzu M,
diese Curven seien mechanische, von welchen in der Geometrie ab-
gesehen sei; daher sei nicht zu verwundern, dass die dort gegebenen
Regeln zur Tangentenziehung bei ihnen den Dienst versagen.
In dem gleichen Briefe^) bespricht Descartes die Curve, deren
Gleichung x^ -\- if = nxy ist. Sie hat später den Namen des Car-
tesischen Blattes* folium Cartesii, erhalten und vermag dadurch
Interesse zu erwecken, dass es vermuthlich eine der ersten, wenn
nicht die erste Schleifenlinie ist, mit welcher man sich beschäftigt hat.
Am 12. September 1638 finden wir Descartes im Besitze einer
>neuen Curve ^), der logarithmischen Spirale. Ihre Gleichung
schreibt er allerdings nicht an, aber er weiss, dass die Berührungs-
linien mit den von dem Anfangspunkte aus nach den Berührungs-
punkten gezogenen Leitstrahlen gleiche Winkel bilden.
Endlich erwähnen wir noch eine Stelle^) eines Briefes vom
20. Februar 1639 an Florimond de Beaune. Dieser hat, wie wir
uns erinnern (S. 820), Erläuterungen zu Descartes' Geometrie ge-
schrieben, welche er schon 1639 dem Verfasser des erläuterten Werkes
überschickte, denn in dem Briefe, von welchem wir gegenwärtig reden,
ist warmer Dank für die mitgetheilten Anmerkungen, an denen nichts
auszusetzen sei, ausgesprochen. De Beaune's Bi-ief muss aber noch
ein Weiteres enthalten haben, nämlich die Aufgabe: die Quadratur
derjenigen Curve zu finden, bei welcher die Ordinate sich jedesmal
zur Subtangente verhalte, wie eine gegebene Strecke zum Unterschiede
der Ordinate und Abscisse^). Das war, wenn man die von Kepler
behandelte Aufgabe über Kegelschnitte (S. 827) mitzählt, die zweite
überhaupt gestellte inverse Tangentenaufgabe, aber von ge-
schichtlich entschieden höherer Bedeutung als jene. Sie war nicht
auf eine bestimmte Gruppe von Curven beschränkt, deren besondere
Art nur ermittelt werden sollte, und vor Allem gab ihr der Umstand
Wichtigkeit, dass Descartes sie zu würdigen wusste. Die Eigen-
schaft, schreibt dieser, deren Beweis Sie mir zuschicken, scheint mir
so schön, dass ich sie der Archimedischen Quadratur der Parabel vor-
ziehe. Jener untersuchte eine gegebene Curve, Sie bestimmen die
Fläche einer nicht gegebenen Curve. Ich glaube nicht, dass es mög-
lich ist, eine allgemeine Umkehrung meiner Tangentenregel oder derer,
welcher Herr von Fermat sich bedient, und deren Anwendung in
1) Oeuvres de Descartes (ed. Cousin) VII, 93—94. «) Ebenda VE, 94-97.
3) Ebenda VII, 336—337. ^) Ebenda VIII, 105 sqq. ^) In der beute üb-
lichen Bezeichnung y -. -^ ^ a -. (y — x) oder a ^^ {y — x)y' .
Descartes. Fermat. 857
manchen Fällen leichter als die der meinigen ist, zu finden. Dann
geht Descartes auf einige Eigenschaften der De Beaune'schen Curven
ein, auf ihre Asymptote u. s. w. Da man aber den Brief, welcher
die Aufgabe und, dem Wortlaute der Antwort nach, auch zum min-
desten einen Theil der Auflösung enthielt, nicht besitzt, so ist nicht
zu unterscheiden, wie viel Descartes dem hinzufügte, was De Beaune
schon gefunden hatte.
Was wir hier den nicht sofort gedruckten Arbeiten Descartes'
zu entnehmen hatten, war keineswegs unwichtig und gereichte dem
Erfinder zur hohen Ehre. Gleichwohl müssen wir unserer Anerken-
nung eine gewisse Einschränkung geben. Descartes zeigte sich als
reich an Kunstgriffen, deren jeder einzelne für seine Genialität Zeug-
uiss ablegt. Methodisch ist er, abgesehen von dem Grundgedanken
der analytischen Geometrie und der Methode der unbestimmten Coef-
ficienten, welche geometrisch keine Verwerthung durch ihn fand, nur
bei der Auflösung der Tangentenaufgabe für algebraische Curven vor-
gegangen und an einen geistigen Zusammenhang zwischen den ver-
schiedenen Aufgaben, welche nachgerade eine höhere Mathematik dar-
zustellen anfingen, hat er zunächst wenigstens nicht gedacht.
Dazu erhob sich erst Peter von Fermat. Wir haben (S. 816)
gesehen, dass Fermat schon 1629 mit Maximal- und Minimal-
fragen sich beschäftigte, und dass er damals seine Methode einem
Herrn Despagnet in Bordeaux mitgetheilt hat. Wollte man aber
sagen, wozu nicht der leiseste Grund vorliegt, die Wahrheit dieser
erst sieben Jahre später in einem Briefe an Roberval ausgesproche-
nen Zeitangabe sei dem Zweifel unterworfen, der Brief selbst ist vom
22. September 1636, mithin jedenfalls geschrieben, bevor Fermat von
dem Inhalte der Descartes'schen Geometrie von 1637 Kenntniss haben
konnte. Kaum war dieses Werk erschienen, so schickte Fermat gegen
den 10. Januar 1638 durch Vermittelung von Mersenne seine Methode
an Descartes und zwar vermuthlich in der lateinischen Niederschrift,
welche später in den Varia Opera von 1679 als Methodus ad dis-
quirendum maximum et minimum nebst den weiteren Aufsätzen über
Tangenten und über Schwerpunkte, deren Ermittelung Fermat nur
als einen Sonderfall der Bestimmung grösster oder kleinster Werthe
betrachtet wissen wollte? veröffentlicht worden ist^). Später hat als-
dann Fermat eine französische Bearbeitung^) des Tangentenproblems
nachgeschickt, weil er entweder sich früher undeutlich ausgedrückt
^) Fermat, Varia Opera pag. 63 — 73 und Oeuvres I, 133 — 179 unter Auf-
nahme mancher noch ungedruckter Stücke. ^) Henry, Becherches sur les
manuscrits de Fermat pag. 184 — 189 {Bulletino Boncampagni XII, 658 — 663).
858 79. Kapitel.
oder Descartes die lateinische Ausdrucksweise falsch verstanden habe.
Am Schlüsse erklärt Fermat, er sei seit acht bis zehn Jahren im
Besitze seiner Methode, und seit fünf bis sechs Jahren habe er sie
verschiedenen Persönlichkeiten gezeigt. Demgemäss wäre als Datum
der französischen Niederschrift etwa 1638 zu vermuthen, was auch
damit übereinstimmt, dass die Tangente an die Curve ,r' -\- i/ = nxy
gesucht wird, mit welcher Descartes im Sommer 1638 sich beschäf-
tigte. Fermat hat seine Methode etwa folgeudermassen geschildert:
Man setze in dem zu einem Maximum oder Minimum zu machen-
den Ausdrucke statt der Unbekannten Ä die Summe zweier Unbe-
kannten A -\- E und betrachte die beiden Formen als annähernd
gleich, wie Diophant sage, adaequentur, ut loqiiitur Diophantus. Wir
unterbrechen hier für einen Augenblick unseren Bericht, um hervorzu-
heben, dass Fermat mit jenen Worten auf die TtaQLöorrjtog ayayri
des Diophant anspielt, von welcher dieser in der 12. und 14. Auf-
gabe seines V. Buches Gebrauch macht ^). Damit gewinnen wir die
zur Beurtheilung von Fermat's Geistesrichtung ungemein lehrreiche
Erkeuntniss, dass ihm auch die Infinitesimalbetrachtungen ein Aus-
fluss zahlentheoretischer Begriffsbildung waren. Ist die annähernde
Gleichsetzung vollzogen, so streicht man auf beiden Seiten, was zu
streichen ist und behält dadurch lauter mit E behaftete Glieder.
Theilt man durch E und streicht alsdann wiederholt, elidantur, die
E noch enthaltenden Glieder, so bleibt endlich die Gleichung übrig,
welche den Werth von A liefert, der das Maximum oder Minimum
hervorbringt.
In Zeichen geschrieben, welche Fermat und seine Zeit nicht
kannten, heisst die Vorschrift, man solle A aus
^F{A + E)- F{A^ _
L ' E J(£=o)~^
suchen oder aus
dA ~^-
Das erste Beispiel Fermat's verlangt B in zwei Theile zu zer-
legen, welche das grösste Product geben, die erste Annahme wählt
die Theile A und B — A, die zweite A -\- E und B — A — E. Man
muss also A{B — Ä) = {A -^ E){B — A — E) setzen oder
0 = E{B — 2A — E).
Nach Division durch E entsteht B = 2A -{- E. Nun didatur E, so
bleibt 2A = B, A = ^B.
^) Diophant (deutsch von Wertheim), S. 214.
Descartes. Fermat. <S59
Eine zweite Aufgabe^) verlangt Ä^(B — Ä) zu einem Maximum
zu machen. Die aufeinander folgenden Schritte der Auflösung sind:
Ä\B — A) = (Ä -\- E)\B — Ä — E) ;
E(2ÄB — ^Ä' + BE-^AE~ir') = 0;
2 AB — ?,A^ + EiB —'6A — E) = 0;
2AB — ^A^ = 0; .4 = |-jS.
Als drittes Beispiel^) entnimmt Fermat aus Pappus die Aufgabe^),
(Figur 161) eine Strecke OB, auf welcher zwei Punkte M, J gegeben
sind, in N so zu theilen, dass -^n^^ — ^^^ ein . . .
31N ■ NJ
0 M N J B
Minimum werde. Fermat setzt OM=B, j,. ^^^
MB = Z, MJ^ Cr, 31 N = A. Zum Mi-
nimum soll also ^ . ,J — TT — - werden. Hier sind die einzelnen
A{G — A)
Schritte :
{B -{- A)iZ - A) ^ (B + A-{- E)(Z - A- E)
A{G — A) (J. + E) {G- A- E) '
{B+A){Z—A){A+E){G—A—E)={B+A+E){Z—A-E)A{G—A)
E[BZ{G—E)-\-{BE-{-EG—EZ—2BZ)A-\-(G + B—Z)A'] = 0
BZ{G — E)-i- {BE + EG — EZ- 2BZ)A + (ö + B—Z)A' = 0
(Z—B— G) A^ + 2BZA = BGZ,
woraus endlich der Werth von A zu finden sei. Derselbe werde in
Uebereinstimmung mit der Behauptung von Pappus der Proportion
genügen: 031 • 31 B : OJ ■ JB = 31 N'- : NJ-. In der That schreibt
sich diese Proportion mittels der eingeführten Abkürzungen
BZ:(B-^G)- {Z— G) = A':(G — Af,
und aus dieser folgt Fermat's Gleichung.
Auf eine Begründung des Verfahrens darf man freilich sich nicht
Kechnung machen, und noch zwei Schwierigkeiten entgingen Fermat's
Beachtung, wie es scheinen möchte. Er unterschied nicht zwischen
grössten und kleinsten Werthen. Er wusste nicht, dass der erste
Differentialquotient den Werth Null annehmen kann, ohne dass ein
Maximum oder Minimum stattfände.
Einige dieser Maximalaufgaben Fermat's und zugleich einige seiner
Tangentenbestimmungen sind durch Herigone in dem Siipple-
mentum Cursus mathematlci in beiden Auflagen, der von 1642 und
der von 1644, im Drucke veröffentlicht worden^). Wir wollen Fer-
^) Varia Opera pag. 66. Oeuvres I, 140. ^) Varia Opera pag. 67. Oeuvres
I, 14-2. ^) Pappus (ed. Hultsch), pag. 756—758. Liber VII propositio 61.
*) Fermat, Oeuvres I, 171 Note 1. Auch Montucla II, 117 hat auf diesen
Abdruck aufmerksam gemacht.
860
79. Kapitel.
mat's Verfahren bei Lösung der Tangentenaufgabe wieder in die Sprache
späterer Mathematiker kleiden.
Sei F{x, y) =" 0 die Gleichung einer Curve, ihre propietas spe-
cifica, wie Fermat sich ausdrückt. Sei 31 der Berührungspunkt mit
den Coordinaten x \ y und P der Fusspunkt seiner Ordinate. Sei end-
lich MT die Berührungslinie, PT mithin die Subtangente A, auf
deren Auffindung es ankommt. Ein M benachbarter Curvenpunkt
M' mit den Coordinaten x \ y besitze den Fusspunkt P' der Ordinate,
und P' stehe von P nur um das Stückchen PJ ab. Weil x \ y und
X I y Curvenpunkte sind, muss F{x, y) = 0 und F{x', y) = 0 sein.
Ausserdem kann aber M' auch als Punkt der MT aufgefasst werden,
so dass AMPTc\) AII'P'T, und aus dieser Aehnlichkeit folgen
Beziehungen zwischen x', y, E, x, y, A, welche, wenn mau
•^(•^7 y) ^= ^(^'7 y) ^^ ^ ™^^ berücksichtigt , eine neue Gleichung
^{x, y, E, A)=0 entstehen lassen, bei welcher E als Factor her-
vortritt. Durch ihn dividirt man die Gleichung, lässt sodann die
Glieder weg, welche nach vollzogener Division noch E enthalten, und
gewinnt so endlich A = fix, y).
Im einzelnen Falle nimmt das Verfahren, ohne dass der Grund-
gedanke sich änderte, mitunter einen etwas verschiedenen Gang, wie
wir an dem Beispiele der C i s s 0 i d e ^)
kennen lernen wollen (Figur 162). Damit
an den Punkt H der Cissoide die Be-
rührungslinie HF gezogen werden könne,
soll DF^A berechnet werden. Als be-
j'^ kannt wird vorausgesetzt AB = Z,BG^N,
DU = R, und angenommen ist DE = E.
Ex proprietate specifica cissoidis weiss man
1) MD :DG = DG: DH und ähnlicher-
weise muss 2) NE:EG = EG:EO sein.
AVeil aber 0 auch als Punkt der HF zu
betrachten ist, muss weiter stattfinden
'S) EO : EF = DH: DE. Folgert man aus diesen Proportionen unter
nachmaliger Einführung der angegebenen Abkürzungen Gleichungen,
denen wir die gleichen Ordnungsziffern geben, wie die Proportionen,
aus welchen sie abgeleitet sind, sie führen, so ist 1) DMDH^^DG"-^
MD'^DH^^ = DG'- ADDGDH' = DG^- AD ■ DH'^ = DG^
oder endlich 1') ZR^=N\ Ferner ist 3) ^0 = ^^/^' oder 3')
B{A - E)
EO
Weiter hat man 2)
*) Fermat, Varia Opera pag. 69—70. Oeuvres I, 159—161,
Descartes. iermat.
861
NEEO = EG^; NE'EO'' = EG^', AEEGEO'-
AEEO'- = EG'
EG'
oder unter Benutzung von 3') auch (Z -|- E) — ^-^ — = (-^ — -^)^
beziehungsweise
2') A^R'Z+{A^R^ -~2AR^Z) E + {R'Z—2AR^) E'' + R'E'
= A^N' — SA'N'-E + 3A-NE' — A^E\
Wegen 1') fallen die ersten Glieder auf beiden Seiten von 2'), näm-
lich A^R^Z = A^N^, weg. Dann zeigt sich der Factor E, durch
welchen dividirt werden muss, und es entsteht:
A'R'- — 2AR'Z + {R'^Z — 2 AR') E + R^E'-
= — ^A^W' + '6A^NE — A'E\
Man elidirt wieder die mit E behafteten Glieder, so bleibt nur noch
A''R- — 2AR~Z
3^^V- oder
(i2^ + 3i\^^^2 = 2E-Z^ und A =
2R''Z
Nun benutzt man wieder 1') ZR^ = N'^ und gewinnt dadurch
2B^ZZ 2N'Z 2NZ
A =
~ N^ + SN^Z~ N+3Z
zu erfahren, ob Fermat, der bei An-
Man könnte begierig sein,
Wendung seiner Methode auf die Cissoide Wurzelgrössen aus dem
Wege gehen musste, aber auch
ihnen aus dem Wege zu gehen
wusste, bei nichtalgebraischen Cur-
ven einen Ausweg kannte, wo Des-
cartes (S. 856) das Unvermögen
seine Methode anzuwenden einge-
stand. Bei der Cycloide^) tritt
dieser Vorzug des Fermat'schen Ver-
fahrens in ein helles Licht (Figur 163).
Von dem Berührungspunkte R der
Cycloide geht die Berührungslinie
RB und die zur Grundlinie parallel
gezogene RD aus, beide bis zum Durchschnitte mit dem senkrechten
Durchmesser des rollenden Kreises in der Lage, wo der obere End-
punkt dieses Durchmessers zugleich Höhepunkt der Cycloide ist. Die
RD schneidet jene Mittellage des erzeugenden Kreises in ilf, und
dort ist die Berührungslinie 31 A an den Kreis gezeichnet. Ausser-
Fig. 163.
1) Fermat, Varia Opera 71—72. Oeuvres I, 162—165.
862 79. Kapitel.
dem ist von dem nahe bei D gelegenen Punkte E aus die EN
parallel zur Grundlinie gezogen. Proprietas specifica der Cycloide ist
RD =^ arc C 31 -{- 3ID, eine Behauptung, von deren Wahrheit man
sich leicht überzeugt. Nach heutiger Schreibweise ist, wenn P die
Bezeichnung des Fusspunktes der Ordinate von R giebt und HP = x,
CF = 2r, &rc MF=ra gesetzt wird, x=^ra — rsina. Mithin ist
RD = HF — X ^r (n — a) + r • sin a.
Dabei ist aber r {7t — a) = arc C3I, r • sin a ^ 31 D, also die Fer-
mat'sche Gleichungsform hergestellt. Die Abkürzungen, deren Fermat "
sich bedient, sind DB = Ä, DE=E (wie immer), DA = B, 31 A = D
31B = R, RB = Z, arc C03I=K Die erste Gleichung heisst
also 1) Z=^N-\-R Ferner ist.
NE = arc CO + OE = arc C3I — arc 71/0 + OE,
und bei der Kleinheit von BE fällt arc MO mit dem Tangentenstück
31 V und zugleich OE mit VE zusammen. Es ist also
NE = N— 3IV+ VE.
Da aus der Aehnlichkeit von Dreiecken RB : NE = BB : EB folgt,
so ist unter Einführung der schon gewonnenen Werthe
2) (N-j-R): (N— 3IV-J- VE) = A : (A — E).
Aber MV entspricht der Propoi-tion 31 V: 31 A = BE: BA und ist
T) W
folglich 3IV = ~j^- Die andere noch auszurechnende Strecke VE
entspricht der Proportion VE : MB = AE : BA und ist demnach
TJ /TD Jf^
VE = — ^— ^ . So geht die Proportion 2) über in
(N^R):{N-^^ ^S^^^ =A:{A-E)
und diese zur Gleichung umgebildet liefert nach Wegschaffiing des
Nenners B und Wegstreichung gleicher Grössen auf beiden Seiten
die einfachere Form E{RA + BA — BN — BR) = 0. Man lässt
den Factor E weg und erhält A = „ , ^ ' = -j^—. — ^ unter Mit-
° Ii -j- JJ K -\- JJ
benutzung von 1). Nun ist beim Kreise nicht schwer zu beweisen,
dass die Verbindungsgerade MC den Winkel AMB halbirt, dass
also A3I :B3I=AC: (JB. Daraus folgt A3I : AG = BM : CB,
ferner
(AM-{- MB) : {AC + CB) = B3I: CB
oder (AM + MB) :AB = BM: CB und XiT^i^ ^ "^' ^^ ^•
D^B = W' '^^^^"^ ^ = ^W^ °^^^^' ^^ • ^^ = BB:BB
und das findet statt, wenn RB || MC. Ersichtlich steht auf der 31 C
Descartes. Fermat. 863
die MF senkrecht. Dieser letzteren wird also die Normale an die
Cycloide in II parallel laufen müssen, und das ist die Construction
von Descartes, von welcher folglich die Fermat's nur als eine Um-
formung zu betrachten ist. Nach der Cycloide spricht Fermat noch
von der Conchoide^) und bemerkt, sie habe einen Inflexionspunkt
auf jeder Seite. Solche punda inflexionum besitzen, behauptet er, die
Eigenschaft, dass in ihnen der von der Berührungslinie mit der Ab-
scissenaxe gebildete Winkel ein Minimum sei, wie man leicht beweisen
könne, ut facile est dcmonstrarc. Wegen Rückbeziehungen im 89. Ka-
pitel ist es zweckmässig zu bemerken, dass Fermat's Abhandlung erst
1679 im Druck erschien.
In der französischen Darstellung, welche wir vermuthungsweise
in das Jahr 1638 verwiesen haben, ging Fermat in der Anwendung
der gleichen Buchstaben für gleiche geometrische
Dinge noch einen Schritt weiter. Er setzte-)
nicht bloss (Figur 164) ein für alle Mal die Sub-
tangente BD = A., die Entfernung der Ordinate
des Berührungspunktes von der benachbarten
Ordinate BF = E, sondern auch die Ordinate
des Berührungspunktes BÄ ^= _B und seine Ab-
scisse CB = B. Der Fusspunkt F der benach-
barten Ordinate hat demnach die Abscisse D — E
und sie selbst bis zum Durchschnittspunkte mit der Berührungslinie
gehorcht der Proportion FE : (Ä — E) =^ B : A, ist also regelmässig
FE = ^ und wird immer so, wie hier geschehen, genannt
werden^). Ist dieses geschehen, fährt Fermat fort, so ist gewiss,
dass der Punkt E der EF, weil er auf der Tangente liegt, ausser-
halb der Curve sich befinden wird, und daher wird die FE grösser
oder kleiner als die bis zur Curve reichende, von F ausgehende
Ordinate^). Sie ist grösser, wenn die Curve nach aussen gewölbt ist,
convexe en dehors, kleiner, wenn die Curve nach innen gewölbt ist,
convexe en dedans, denn die Regel genügt für alle Curven und be-
stimmt mit Hilfe der Gleichung der Curve, par la jyropriete de la
courhe, nach welcher Seite hin sie gewölbt ist. Wenn nun auch die
FE der von F bis zur Curve gezogenen Ordinate ungleich ist, so
betrachte ich sie nichtsdestoweniger als ihr gleich und vergleiche sie
*) Fermat, Varia Opera 73. Oeuvres I, 166. ^) Henry 1. c. pag. 184
(XII, 658). ^) Et de quehpie naturc qiie soit la courhe nous donneront toujours
les memes noms aux lignes CF et FE que nous venons de leur donner.
*) Fermat sagt überall Vappliquce, aber wir ziehen im Texte den jetzt ge-
bräuchlichen Namen vor.
864 79. Kapitel.
folglich durch annähernde Übereinstimmung, par a(^aequation, mit
der aus der Curvengleiehung ermittelten FJ. Nach der Ableitung
des allgemeinen Werthes von FE und der Erläuterung seiner eigent-
lichen Methode zeigt Fermat deren Anwendung ^) auf die Descartes'sche
Curve B'-\- D^^ NBB. Statt CF^ + FJ^ = N ■ CF ■ FJ wird
näherungsweise richtig CI'^ -\- FE^ ^^ N ■ CF • FE gesetzt, d. h.
Unter Wegschaffung der Brüche wird dann ausmultiplicirt und links
A^B^ _j_ j}X)i gegen rechts NÄ^BB weggelassen. Weiter wird durch
E dividirt, und dann erscheint
— dÄ'B'- — dÄ'B' + E(ßA'B + ^AB' — A^E — B^E)
• = — NA^BB — 2\^A'B + NA-BE.
Die Regel vei-langt, Alles was noch mit E behaftet blieb, wegzulassen.
So erhält man — 3A'D' — dA'B' = — NA'BB — NA'B, daraus
SAB' + dB' = NBB + NAB und endlich A = ^f^^Z^^'-
Als grossen Vorzug seiner Methode gegenüber der von Descartes
rühmt Fermat"), dass er die ursprüngliche Curvengleiehung sofort
benutze, ohne sie, was grosse Schwierigkeiten haben könne, und ver-
wickelte Wurzelausziehungen erheische, nach der Ordinate aufzulösen.
Dass man auch iuverse Tangentenaufgaben stellen könne, bemerkt
Fermat gleichfalls, spricht sich aber nicht über die Möglichkeit der
Lösung solcher Aufgaben aus^).
In der lateinischen Bearbeitung, welche,
wie wir wissen, älter ist und nach einer und
derselben Methode Maximalaufgaben und
Tangentenaufgaben umfasst, ist noch eine
dritte Quittung von Aufgaben behandelt, die
\-^ der Schwerpunktsbestimmung eines
Umdrehungsparaboloides*) (Figur 165).
Das Paraboloid sei durch Umdrehung der
Parabel CA V um ihre Axe AJ erzeugt, ein anderes wenig kleineres
durch Umdrehung der Parabel BAB um AN, wobei NJ=E ist.
Der Schwerpunkt des ersteren Paraboloides sei in 0, der des zweiten
in E, und AO = A. Ausserdem sei AJ=B. Fermat dehnt nun
*) Henry 1. c. pag. 185—186 (XII, 659—660). ^) Ebenda pag. 188—189
(XII, 662—663). ^) Ebenda pag. 189 (XII, 663) : On pourrait de suite chercJier
la converse de cette proposüimi, et la proprieU de la tangente etant donnee, ^
chercJier Ja coiirhe, ä qui cette propriete doit convenir. *) Varia Opera pag.
65—66. Oeuvres I, 136—139.
Descartes. Fermat. 865
eineu von Archimed für die Parabel bewiesenen Satz^) ohne Wei-
teres auf das Paraboloid aus, den Satz, dass die Schwerpunkte
ähnlicher Paraboloide deren Axen in gleichem Verhältnisse theilen,
dass also hier AO : AE = AJ : AN oder in den Abkürzungen
A:{A— OE) = B:{B— E), woraus OE = ~j^ ■ Die Körper-
räume der beiden Paraboloide stehen im Verhältnisse der Quadrate
ihrer Axen oder
vol. CA F: vol. BAR = AJ- : AN' = B' : (B — Ef,
woraus weiter
(vol. CA V— vol. BAR) : vol. BAR = {B- — {B — ^-) : (B — Ef.
Der Unterschied vol. CAV — vol. BAR stellt aber den Umdrehungs-
körper von CBR V dar, und dessen Schwerpunkt mag in M liegen.
Vereinigen sich die Umdrehungskörper von CBRV und von BAR,
so liegt deren gemeinsamer Schwerpunkt 0 von den einzelnen Schwer-
punkten M und E derart entfernt, dass die Entfernungen den Körper-
inhalten selbst umgekehrt proportional sind, d. h.
OM : OE = vol. BAR : vol. CB VR = {B — Ef : {2BE — E')
und
Ojr_ jB-E)^ {B-Ef.A-E
^"^ ~ 2BE ^ E^ i2BE - E'-} ■ B'
indem man den vorher gefundenen Werth von OE einführt. Je kleiner
E angenommen wird, um so näher muss 31 an J heranrücken, während
allerdings genau gesprochen 0M<. OJ bleibt; OJ^ selbst ist =B — A.
In angenähei-ter Gleichung ist aber B — A= (»bE — E ^) B ' ^^^^
nun verfährt man nach der oft benutzten Regel. Wegschaffung des
Bruches, Umstellung einiger Glieder, Division durch E liefert
2^3 — B-E -f 'dABE = ^AB' + AE\
Endlich lässt man fort, was noch E enthält und hat nur noch
2B^ = ?>AB\ mithin A = ^B.
Wir haben uns soweit mit Fermat's Untersuchungen, welche nach
heutigem Sprachgebrauche Anwendungen der Differentialrechnung zu
nennen sind, beschäftigt. Wir müssen seine Spuren auch in der
Integralrechnung verfolgen. Er hat hier der Aufgabe der Quadratur
und der Rectification von Curven sich zugewandt.
Em vor 1644 durch Vermittelung von Mersenne an Cavalieri
geschicktes Schriftstück-), welches als Beantwortung Cavalieri-
'y Be planonun aequilibriis Liber II, propos. T in Archimed (ed. Heiberg;
II, '210. -) Fermat, Oeuvres I, 195—198.
Caxtor, Geschichte der Mathem. II. 2. Aufl. 55
866
79. Kapitel.
scher Fragen bezeichnet ist und demgemäss wohl in einem ge-
wissen Zusammenhange mit der IV. Abhandhmg von Cavalieri's Exer-
citationes (S. 845) gestanden haben muss, wenn Cavalieri dort den
Namen Fermat's auch nicht genannt hat, giebt ohne Beweis Quadra-
turen von Parabehi verschiedener Ordnung und Kubaturen von Um-
drehungskörpern derselben', sowie Schwerpunktsbestimmungen eben
dieser Körper. Theoretisch ungleich bedeutsamer ist Fermat's Aufsatz
Troportionis Geometricae in quadrantis inßnitis imrcibolis et hyperholis
usiis'^) für die Lehre von den Quadraturen.
Fermat gründet sie auf einen sehr einfachen Satz von unend-
lichen geometrischen Progressionen mit fallenden Gliedern. Eine
solche besitze die Summe S, das Anfangsglied c und das zweite Glied
cq mit g < 1, dann ist (c — cq) : cq = c '. (ß — c) oder in Worten:
Die Differenz der beiden ersten Glieder, aus welchen man das Gesetz
der Progression ersieht, differentia terminorum progressionem con-
stituentium, verhält sieh zum zweiten Gliede wie das erste zur Summe
aller nachfolgenden. Die Wahrheit des Satzes folgt aus S = •
Sei nun eine auf zwei zu einander senkrechte Asymptoten bezogene
Hyperbel irgend welcher Ordnung gegeben, worunter Fermat
erklärt verstehen zu wollen, dass irgend welche Potenzen der Abscissen
sich umgekehrt wie irgend welche Potenzen der Ordinaten verhalten,
lithin Curven mit Gleichungen wie y'' =
Im besonderen
Falle soll y = '-^ sein. Die Aufgabe besteht darin, die zwischen der
Curve und ihrer Asymptote gelegene Fläche zu messen. Fermat zer-
legt dazu diese Fläche in gemischtlinige Viereckchen, welche klein
genug sind, um als Kechteckchen betrachtet zu werden, als deren
Fig. 166.
Höhe jeweils die links als Grenze dienende Ordinate gilt, und welche
überdies einzeln genommen eine fallende geometrische Reihe dar-
stellen, damit der obige Hilfssatz Anwendung finden könne. Solches
') Varia Opera ■pag. 44-
Oeuvres I, 255 — 285.
Descartes. Fermat. 867
geschieht, indem man die Grundlinien der ihrer Höhe nach rasch ab-
nehmenden Rechteckchen zAinehmeu lässt. Die Zunahme erfolgt nach
Maassgabe eines zweiten hier einzuschaltenden Hilfssatzes: Heisst eine
steigende geometrische Progression h, h (1 -{- a), b {1 -\- a)- n. s. w.,
so ist die Differenz irgend zweier unmittelbar auf einander folgender
Glieder das «-fache des kleineren der beiden Glieder oder
h (1 + «)•■+' — & (1 + «)'■ = «•/>(! + «)'■.
Nun seien (Figur 166) die von A aus gemessenen Abscissen die Glieder
einer solchen Reihe AG = x, AH = x{\ -\- a), AO = x (1 -\- af,
AM = X (1 -f- ß'''^ AR = X {1 -\- aY u. s. w. Unter Anwendung des
eben ausgesprochenen Satzes und unter Auswerthung der Ordinaten
EG, JH, NO, FM, SR u. s. w. findet man:
GH = ax, EG = ^^_,[^] GHEG='^,
HO =ax(l+a), JH^^^^^-^,, HO ■ JH=-y^^^,
OM = ax (1 + «)-, NO = -YTTl-^, ■
^(1 + a)^
MR=ax{\ + «n ^^^= ^(^+^0, MR.PM= ^f]^.,
u. s. w.
Jedes folgende Rechteckchen ist mithin das -— , — fache des vorher-
gehenden und der erste am Anfang ausgesprochenn Hilfssatz ist an-
wendbar; man hat nur c = — - und » = — -j — zu setzen, dann be-
deutet S die bei E G beginnende Fläche. Die Proportion lautet
alsdann
~x X (1 -\- a)) ' X {1 -\- a) X ' \ X )
und aus ihr folgt S = — (1 + «). Die beanspruchte Möglichkeit, die
gemischtlinio-en Viereckchen als Rechtecke betrachten zu dürfen,
nöthigt aber dazu, nicht etwa « = y ^^^ wählen, wie es um der deut-
licheren Zeichnung willen in unserer Figur geschah, sondern k so
klein zu nehmen als man immer kann, und dann wird 5 = — , indem
aa
verschwindet, evanescit et abit in niliilum.
Neben Hyperbeln irgend welcher Ordnung werden auch be-
liebige Parabeln der Quadratur unterworfen. Das Musterbeispiel
ist die semicubische ParabeP) .(Figur 167), deren Definition in der
^) Varia Opera pag. 48. Oeuvres I, 263.
868
79. Kapitel.
Proportion ÄB^ : JE^' = BC- : -EC^ enthalten ist. Die Cnrve er-
scheint bei Fermat gegen die Axe GB concav, während gewöhnlich
C zwar auch Anfangspunkt ist, aber CB als Axe der Curve gilt,
gegen welche dieselbe alsdann convex erscheint. Fermat verfährt
wie folgt, wenn wir seinen Schlussfolgerungen
genau nachgehen und nur die Bezeichnung etwas
übersichtlicher machen. Er nimmt auf BC
verschiedene Punkte, deren Entfernungen von
C in der Weise abnehmen, dass sie eine fallende
geometrische Reihe bilden, und die so nahe bei
einander liegen, dass gemischtlinige Vierecke
wie ABEJ, wie EJNO noch als Rechtecke
von den Seiten AB und BE, beziehungsweise
JE und EN betrachtet werden dürfen. Indem
er also etwa BC=a, VC = aq, RC = aq^,
. . . NC = aq^ ansetzt, nimmt er zwar 'Z < 1,
^'^ '*^'- aber nur sehr wenig von 1 verschieden. Unter
Benutzung dieser Werthe erkennt man sofort die Richtigkeit der
Proportion BC- : EC = BC^ : RC^ (d. i. a- : a\^ = a' : a'q''). Es
war aber BC- : EC- = ÄB^ : JE^ mithin ist
AB':JE' = BC':RC' und 1) AB : JE = BC : RC.
Ferner finden noch zwei Proportionen statt
2) BE : EN=BC : EC (d. i. (« — aq^) : (aq^ — af/) = a : aq')
und
o) BC : EC = RC : TC (d. i. a : aq"" = aq^ : aq').
Aber auch zwischen den Rechteckchen ABEJ und JENO findet
eine Proportion statt, welche unter allmähliger Anwendung von 1),
2), 3) folgende Gestalt annimmt:
ABEJ: JENO = ABBE:JE- EN= BC : EC ■ RC
= RC ■ BC : TC ■ RC = BC : TC = 1 : q%
und einem eben solchen Verhältnisse werden je zwei aufeinander-
folgende Rechteckchen unterworfen sein, die somit eine fallende geo-
metrische Reihe bilden, auf welche der erste Hilfssatz Anwendung
findet, und dieser lautet hier
ABEJ: JECG = (BC — TC) :TC=BT: TC.
Daraus folgt weiter
ABEJ:ABCJ=BT:BC = ABBT:ABBC = ABBT:ABCD,
also auch
ABCD:ABCJ=ABBT:ABEJ=ABBT:AB-BE = BT:BE.
Descartes. Fermat. 369
In BT sind 5 einander nahezu gleiche Streckenelemente, in BE deren
3, also verhält sich das Rechteck ABCI) zur Fläche ABCJ wie
5 : 3, und dabei ist 5 = 3 -[- 2 die Summe der Exponenten. Als all-
gemeine RegeP) findet man somit, dass wenn AB"':JE'" = BC":EC",
daraus ABCD : ABCJ = {m -\- n) : m folgt. Wir würden heute
sagen: aus jj'" = Ji'"—" x" folge jydx
xy)
Es lässt sich nicht verkennen, dass die Art, in welcher Fermat
mit nahezu gleichen Elementen umspringt, eine sehr kühne ist. Ist
die Gleichung der Curve verwickelter Natur, d. h. steht nicht x" allein
mit Constanten Coefficienten auf der ersten Seite, sondern
/.•/«-«^ä;"^ -f- AV"-"^-a;"^- + • • •,
so verwandelt Fermat die einzelnen Theile dieser Summe in Z"'~^ Vj,
l"" — ^ i\,, • ■ •, so dass ;//'" = V"-—'^ (i\ -\- v.^ -\- ■ ■ ■) = l'"—'^ V wird, und
nun sind verschiedene parabolische Räume einfacher Natur zu quadriren.
Nächst der Quadratur von Curven, für welche noch andere Um-
formungen als die soeben angedeuteten in Kraft treten, hat Fermat
auch mit Rectificationen sich beschäftigt. Die Abhandlung De
linearum curvarum cum lineis rectis comparatioiie^) erschien zu Per-
mat's Lebzeiten 1660 im Drucke als Anhang zu einem Werke des
Antoine de Lalouvere von Toulouse, dessen wir im 81. Kapitel
kurz zu gedenken haben. Schon am 25. Juni 1660 schickte Carcavy
das neu gedruckte Schriftchen an Huygens^), woraus man entnehmen
mag, wie rasch es bekannt wurde.
Fermat's Grundgedanke ist folgender (Figur 168). Es sei AH MG
ein Stück irgend einer gegen AF concaven Curve, eine Bestimmung^
welche Fermat in die Worte kleidet, die
Tangente solle die AF und auch die ^FG £^.^^=^ Ij
ausserhalb der Curve schneiden, in qua tan-
qentes extra curvam cum base AF et axe
FG concurrant. Eine solche Tangente sei ' JV? \ I I
JHK und von J, H und K aus werden
senkrecht zu AF die JBB, HC, KMB ^^ C D E F
gezogen, ausserdem von K aus die Tangente
KN, sowie paraUel zu AF von J, H, K aus die JX, HV, KT.
Fermat behauptet nun, es sei HJ <C arc HR, HK ^ arc H 31. Das
^) Varia Opera pag. 49. Oeuvres I, 26.5 : Canon vero universalis incle nullo
negotio elicietur. Patet nempe fore semper parallelogrammum BD ad figuram
AJCB ut aggregatum potestat%im applicatae et diametri ad exponentem potestatis
applicatae. ^) Varia Opera pag. 89 — 109. Oeuvres I, 211 — 254. ^) Oerivres
de Huygens III, 8.5.
K^^
V'—X
V irA
(ff
/
R
870
70. Kapitel.
erstere folgt daraus, dass HJ der senkrecht auf VB aufstehenden
HV näher liegt als die Sehne HR. welche selbst kleiner als^
der Bogen HB ist. Die zweite Behauptung folgt daraus, dass
HK -\- KN> &.VC H3IN 2i\?. denselben umfassend, die eine Strecke
KN <C arc 31 X nach Analogie der ersten Ungleichung, also der Rest
HK > arc H3I sein muss. Nachdem diese Ungleichungen feststehen,
wird (Figur 169) eine und dieselbe Curve ÄPH zweimal gezeichnet.
Auf ihrer Axe A G werden be-
^ liebig klein gewählte gleiche
'^ Stückchen abgemessen AB^^BC
= CD = DE = EF=FGvind
in jedem Theilpunkte errichtet
man eine. Senkrechte bis zum
Durchschnitte mit der Curve.
Xun werden in der ersten Zeich-
nung in ^4, P, ... 0 Tangenten
0, H Tangeuten nach links ge-
mit der benachbarten
A B C It E F G
A B C D E F G
nach rechts, in der zweiten in P.
zogen bis zum jedesmaligen Durchschnitte
Ordinate. Bei der gleichbleibenden Entfernung je zweier Ordinaten
ist ersichtlich BV = BY\ TZ= TZ', ...0J= OJ'. Nur AQ in
der ersten, HK in der zweiten Zeichnung treten vereinzelt auf, und
sie allein stören die volle Uebeinstimmung der in beiden Zeichnungen
zu bildenden Tangentensummen. Gleichwohl ist vermöge der be-
wiesenen Ungleichungen:
AQ^BV^ h 0J> arc vlil> PF' H \- OJ' + HK.
Bei der Nähe sämmtlicher Ordinaten kann aber unmöglich AQ um
Beträchtliches von HK sich unterscheiden. Um so eher ist es daher
gestattet, die eine oder die andere Tangentensumme als Curvenlänge
zu benutzen. Das ist die allgemein gehaltene Vorbereitung, welche
die Möglichkeit einer Rectification darzuthun
beabsichtigt.
Als besonderes Beispiel wird (Figur 170)
wieder die semicubische Parabel AJM be-
nutzt, bei welcher also, da AX die Axe der
Curve, wie Fermat sie zu zeichnen pflegte,
darstellt, die Proportion stattfindet
MX^ : JF' =^ AN- : AF'- oder y' = cx-,
wo y die Ordinaten MN, JF, . . . , x die
. . der Reihe nach bedeuten kann. Fermat be-
bei der Rectification keiner Abkürzungen, son-
Abscissen AX, AF,
diente sich allerdings
dern schrieb die Benennungen der einzelnen Strecken hin und ebenso
eine Strecke AD statt unseres c. In seiner Figur ist auch an 31 N
Descartes. Format.
871
uoch jenseits N ein Stück ^^A' =^ -~ AD = ~~ c angesetzt. In J
wird die Tangente JE gezogen und nach der Tangentenmetbode
die Subtangeute EF gesucht, welche als
sich erweist, d. b.
2EÄ ^AF. Mithin ist EF- = ~- x-
4
~ ^ , während JF" = ir und
4c' -^
JE'
if -\- -^ ist, sowie JE
^]/^l + ^- Wird statt der Länge
JE der ganzen Tangente bis zum Durchschnitte niit der Axe AN
nur das Stück JO bis zu dem Durchschnitte mit der sehr nahe bei
JH verlaufenden VG gesucht, so wird JO : JE = JQ : JF zu be-
nutzen sein. Daraus foleft
J0 =
JF
und
^^=V
■>/]A
+ ^ =
^4c
JO^'
^ + 1
' HX
HG^
4
NX
eine Gleichung, welche ohne weiteres als Proportion aufgefasst werden
kann. Es kommt aber darauf an, über die ganze Curve hin solche
Tangentenstückchen JO, beziehungsweise HG -y 1 -{- ~ zu sum-
miren (Figur 171). Fermat zeichnet zu diesem Zwecke neuerdings
die semicubische Parabel, theilt die Schluss-
ordinate EJ in beliebig viele gleiche Theile
EF = FG= ■■■ = HJ und errichtet in
jedem Theilpunkte eine Senkrechte bis zu
dem jenseits der Curve gelegenen Durch-
schnittspunkte mit der Tangente, welche an
den der vorhergehenden Senkrechten angehö-
renden Curvenpunkt gezeichnet ist. Endlich
macht man wieder
AD = c, JK
und bildet mit JK als Brennweite und K als
Scheitel die Apollonische Parabel KMN .. . Q,
deren Gleichung, unter Annahme der KE als Axe der | und unter
Bezeichnung der dazu senkrechten Ordinaten durch y], als
^ = 4 . ~ c-l = - c-l
erscheint. Wendet man die Buchstaben der neuen Figur, welche abgesehen
von den Abkürzungsbuchstaben x, y, c, |, r^ genau mit den von Fermat
M = lo
/
u
r
V
Ä
//
i
t
F
a
H
J K
A
M.
/
<r-i
^
)
IS'
Fig. 171.
872 7!). Kapitel.
hier benutzten übereinstimmen, gleichwie dieses bei der vorigen Figur
der Fall war, auf die oben bewiesene Proportion JO- : HG- = HX: NX
an, so geht sie über in ZV- : HJ- = HK : JK. Zugleich ist
HK : JK = HN^ : JJ\P. Durch Vergleichung beider Proportionen
erhält man ZV : HJ- = HN' : J3P und ZV: HJ=HN:JM.
Genau in gleicher Weise entsteht YT: GH= GO-.JM u. s. w.
Statt Proportionen kann man aber Gleichungen JM ■ ZV = HJ • HN,
JM ■ YT = GH ■ GOu.s.vf. bilden, und addirt man diese, so entsteht
J3I{ZV-\- YT-\--) = HJHN-\- GHGO-^--.
Die Einzelpro ducte rechts sind, je kleiner EF ^= FG = • =^ HJ
gewählt wurde, um so mehr in Uebereinstimmuug mit den Flächen
der gemischtlinigen Viereckchen HJ3IN, GHNO, . . ., ihre Summe
ist also die von der Parabel begrenzte Fläche EJ3IQ. Das Product
links ist J3I . arc AZE, und da JM = 2JK= -'- c und ebenso die
Fläche EJMQ bekannt ist, so ist die Rectification der semicubischen
Parabel erzielt, erzielt durch Zurückführung auf eine Quadratur, oder
in der Sprache der Neuzeit durch Zurückführung eines bestimmten
Integrals auf ein anderes. Fermat blieb übrigens bei dieser ersten
Rectification nicht stehen, sondern führte auch diejenige zahlreicher
anderer Curven auf sie zurück.
Eine Frage muss jetzt noch erörtert werden, bevor wir die zu-
letzt besprochenen beiden Abhandlungen verlassen, nämlich die nach
ihrer Entstehungszeit. Wir sind im Stande, sie ziemlich genau zu
beantworten. Ueber die Entstehungszeit der Abhandlung über Recti-
ficationen, von deren 1660 erfolgten Drucklegung wir schon wissen,
geben die Anfangssätze Auskunft, welche, nach verschiedenen Rich-
tungen von Interesse, hier mitgetheilt werden sollen: „Meines Wissens
haben die Mathematiker noch nicht eine rein geometrische Curve
einer gegebenen geradlinigen Strecke gleichgesetzt. Was von jenem
scharfsinnigen englischen Mathematiker jüngst gefunden und bewiesen
worden ist, dass die Cycloide die vierfache Länge des Durchmessers
des erzeugenden Kreises besitzt, das scheint nach dem Dafürhalten
sehr gelehrter Mathematiker nur unter Einschränkung hierher zu ge-
hören. Sie verkündigen als Gesetz und Ordnung der Natur, dass
eine Strecke, welche einer Curve gleich sei, nicht gefunden werden
könne, wenn man nicht voraussetze, eine andere Curve sei bereits
einer anderen Strecke gleich. Das sei bei dem vorgebrachten Bei-
spiele von der Cycloide der Fall, und wir können dieses nicht in
Abrede stellen. Die Bildungsweise der Cycloide selbst bedarf der
Gleichheit einer anderen Curve mit einer Strecke, nämlich der des
erzeugenden Kreises mit jener Strecke, welche alsdann Grundlinie der
Descartes. Fermat. 873
Cycloide wird." Fermat maclit sich dann diesem Einwnrfe gegenüber
anheischig, die semicubische Parabel zu rectificiren, und wir haben
sein Verfahren dabei ausführlich genug dargestellt.
Der Engländer nun, von welchem die Rectification der Cycloide
jüngst aufgefunden wurde, war Christoph Wren, und dessen Ent-
deckung drang, wie wir noch sehen werden, im October 1658 in die
Oeffentlichkeit. Die Fermat'sche Abhandlung muss also zwischen
diesem Zeitpunkte und dem 25. Juni 1660 (S. 869) verfasst worden
sein, etwa 1659. Später als sie ist die Abhandlung über die Quadra-
turen niedergeschrieben, denn in dieser wird die Quadratur der semi-
cubischen Parabel durch die Worte eingeleitet^"): von dieser Curve sei
in der Abhandlung T)e lincarum curvanim cum Ihieis rectis coni-
paratione die Rede. Viel später als jene ist sie aber nicht geschrieben,
wie aus einer zweiten Stelle^) geschlossen werden darf. Schwer-
punktsbestimmungen, sagt Fermat, Tangentenbeziehungen und deren
Abhängigkeit von der Methode der Maxima und Minima seien längst,
d. h. seit rund 20 Jahren 'den neueren Mathematikern bekannt ge-
geben, dudimi Geometris recentioribus innotuit hoc est ante viginti plus
minus annos. Wir wissen (S. 857), dass Fermat 1638 seinen Aufsatz
über die genannten Gegenstände an Descartes gelangen Hess. Die
Zeit von rund 20 Jahren kann mithin kaum länger als wieder bis
etwa 1659 ausgedehnt werden. Hatte Fermat inzwischen andere Ver-
suche auf dem gleichen Gebiete kennen gelernt, welche er anzuführen
sich nicht veranlasst sah, welche aber bewusst oder unbewusst ihn
in seinen eigenen Untersuchungen förderten? Darauf werden wir
antworten müssen, wenn wir noch andere Schriftsteller kennen ge-
lernt haben.
Fermat schickte, sagten wir, 1638 seine Abhandlung über Fragen
der Differentialrechnung an Descartes, der am 18. Januar dieses
Jahres gegen Mersenne über das erhaltene Schriftstück sich äusserte.
Das war indessen nicht die erste wissenschaftliche Begegnung beider
Männer, und wiewohl die Ereignisse, von denen wir eine Andeutung
geben müssen, weniger die Geschichte der Mathematik als die der
Mathematiker angeht, so dürfen sie doch nicht ganz übergangen
werden ^).
Der Band Descartes'scher Schriften, welcher um Juni 1637 die
Presse verliess, enthielt ausser der Geometrie noch andere Abhand-
lungen, darunter die Dioptrik. De Beaugrand, dessen Name uns
^) Varia Opera pag. 48 lin. 9. Oemires 11, 2G.3 lin. 14. *) Varia Opera
pag. 49 lin. 16—20. Oeuvres 1.266 lin. 14 — 16. ^) Gratien- Arnoul t,
Polemique de Descartes et de Fermat durant les anuees 1637 et 1638 in den Me-
moires de VAcademie des sciences de Tonlouse 1870, p. 383 — 401.
874
Kapitel.
mehr begegnen Avird, begierig, noch vor der eigentlichen Yeröflfent-
lichung die neue Lehre von der Lichtbrechung kennen zu lernen,
verschaflfte sich von Mersenne das Exemplar, welches Descartes zum
Zwecke der Erwerbung eines französischen Privilegiums diesem an-
vertraut hatte ^) und welches die ganze Dioptrik enthielt, und schickte es
an Fermat zum Lesen. Dieses erfuhr Mersenne und schrieb nun seiner-
seits an Fermat, Descartes hege den Wunsch, Alle, denen er sein Buch
als Geschenk zuschicke, möchten ihm ihre Bemerkungen darüber zu-
kommen lassen, und wenn er, Fermat, die Dioptrik auch nicht auf diesem
unmittelbaren Wege erhalten habe, so werde er doch gewiss gleichfalls
den Wunsch des Verfassers erfüllen. Die Absicht war, dass nicht schon
vor dem Erscheinen der Dioptrik Bemängelungen laut würden, und
diese Absicht wurde erreicht. Fermat schickte kritische Bemerkungen
in erheblicher Anzahl ein, aber wenn auch der Geschichte der Physik
die eigentliche Aufgabe zufällt, diejenigen Streitigkeiten zu schildern,
welche jetzt schon über die Dioptrik zwischen Fermat und Descartes
entstanden, wir dürfen nicht verschweigen, dass Fermat wenigstens
anfangs im Unrecht war, und dass man es Descartes kaum verübeln
kann, wenn er am 18. Januar 1638 Mersenne auftrug, Fermat zu
sagen, er möge ihm fernerhin nicht so unverdaute Dinge vorlegen.
Damals war aber Descartes gerade in Besitz der Abhandlung
über Maxima und Minima gelangt, und, wie es im Leben so häufig
vorkommt, er Hess sich dieser Abhandlung gegen-
über den gleichen Fehler in erhöhtem Grade zu
Schulden kommen, den Fermat gegen seine Dioptrik
begangen hatte. Bei der Dioptrik handelte es sich
immerhin um Theorien, welche Naturerscheinungen
zu erklären bestimmt waren, und über solche
Versuche war und ist Meinungsverschiedenheit un-
vermeidlich. Bei der Lehre von den grössten und
kleinsten Werthen handelt es sich um eine mathe-
matische Aufgabe, die gelöst oder nicht gelöst,
richtig oder unrichtig aufgefasst, verstanden oder
missverstanden v\^erden musste, wenn es darüber
zum Zwiste kommen sollte. Descartes verstand
noch Fermat's geistreiche Auflösung derselben-),
sei immer eine Maximalaufgabe,
eine Curve sei die längste
Man
Fig. 172.
weder die Aufgabe,
Die Taugeutenaufgabe, m.einte er,
denn (Figur 172) die Berührungslinie EB an
Gerade, welche von E aus an die Curve gezogen werden könne.
^) Tannery im Bulletin Darhoux XXVIII, 62. -; Montucla II
lo'J — 140 stellte sich in dieser Frage schon ganz richtig auf Fermat's Seite.
Descartes. Ferinat. 875
dürfe nicht mit dem Einwände kommen, es sei EP ^ EB, denn auf
EP liege der Curveupimkt S näher bei E als P. Daher sei hier
_E'*S' als die von E nach der Curve gehende Strecke zu betrachten,
und sie sei kleiner als EB. Wolle man aber Fermat's Methode der
grössten Werthe auf EB anwenden, so komme Unrichtiges.
Mersenue schickte diese Einwürfe nicht an Fermat, sondern gab
sie Roberval und Pascal zu lesen, d. h. Etienne Pascal, dem
Vater des damals 14% Jahr alten Blaise Pascal, und diese beiden
Freunde Fermat's beeilten sich, Descartes über das Missverständniss
aufzuklären, welches darin bestand, dass Descartes leugne, die von E
nach P gezogene Gerade sei als Entfernung des Punktes E von einem
Curvenpuukte aufzufassen. Weitere Briefe wurden von beiden Seiten
gewechselt, ohne dass Descartes seinen Irrthum einsah, oder dass er
in der recht schwachen Meinung, welche er von Fermat's Fähigkeiten
äusserte, wankend geworden wäre. Votre conseiller de Mhiiniis und
ähnlich nennt er ihn in den an Mersenne gerichteten Briefen.
Im Juli 1638 schrieb endlich Fermat, der Hetzereien durch
Mittelpersonen müde, selbst an Descartes, und wir gehen vielleicht
nicht irre, wenn wir annehmen, die französische Niederschrift seiner
Tangentenmethode (S. 857) sei diesem Briefe beigelegen. Wir schliessen
es aus Descartes' Antwort vom 22. Juli 1638,, in welcher von dem
letzten Verfahren zur Tangentenbestimmung, la ■ derniere faron dont
voiis uses pour trouver les tangentes des lignes courbes, die Rede ist.
Dieses sei sehr gut und würde seinen Widerspruch nicht hervor-
gerufen haben, wenn Fermat es gleich auf solche Weise erläutert
hätte. Noch ein Brief von Descartes an Fermat aus dem Monate
September hat sich erhalten, in welchem er dem früheren Gegner das
Lob grössten Wissens in der Geometrie spendet^). Ob das wirklich
ernst gemeint, ob es höfliche Redewendung war, über welche Des-
cartes als feiner Stylist in reichem Maasse verfügte, das ist hier
nebensächlich und braucht nicht untersucht zu werden. Verdient
war das Lob, auch wenn das engere Wort Geometrie durch das all-
gemeinere: Mathematik ersetzt gewesen wäre. Verdient wäre das
gleiche Lob von Fermat in Bezug auf Descartes ausgesprochen worden.
Man kann über die persönliche schriftstellerische Liebenswürdig-
keit von Fermat und Descartes, wenn wir dieses Ausdruckes uns be-
dienen dürfen, abweichender Meinung sein; man kann Neigung und
Abneigung zwischen Beiden ungleich verteilen, und wir machen
z. B. kein Hehl daraus, dass uns Descartes immer eine wenig an-
^) Je n'ai jamais connu 2)crsonne, qui ni'aü fait jxiraitre qu'il sut tant qite
vous en geometrie.
876 80. Kapitel.
genehme Persönliclikeit gewesen ist, während Fermat uns stets sym-
pathisch war, aber darüber muss Einstimmigkeit herrschen, dass inner-
halb der Zeit, welche dieser letzte Abschnitt des Bandes behandelt,
kein grösserer Mathematiker als Descartes und Fermat gelebt hat.
Vielseitigkeit und Grossartigkeit der Entdeckungen gehen bei ihnen
Hand in Hand, und synthetische wie analytische Geometrie, Zahlen-
theorie wie Algebra, endlich und keineswegs am wenigsten die Lehre
von den Infinitesimalbetrachtungen müssen die Namen der grossen
Zeitgenossen mit dem Lorbeer wohlverdienten Ruhmes in ihrer Ge-
schichte aufzeichnen. Ob auf dem einen Blatte, vielleicht dem der
Algebra, Descartes, auf dem anderen, vielleicht dem der Infinitesimal-
betrachtuugen, jedenfalls dem der Zahlentheorie, Fermat obenan steht,
das hat für die Gesammtwürdigung beider Geisteshelden keine Be-
deutung.
80. Kapitel.
Roberval. Torricelli.
unter den Gelehrten, deren Briefwechsel mit Descartes und mit
Fermat von uns erwähnt wurde, kam der Name Roberval wiederholt
vor. Giles Personnier^), latinisiert Personerius (1602 — 1675),
ist in einem Dorfe Roberval unweit von Beauvais im nordwestlichen
Frankreich geboren und nahm von seinem Geburtsorte den Beinamen
Persone de Roberval an, der allmählig in Roberval allein über-
ging. Mit 25 Jahren kam er nach Paris, wurde bald Professor der
Philosophie am College St. Gervais daselbst und erhielt später die
mathematische Professur am College Royal auf drei Jahre, welche An-
stellung ihm dann regelmässig nach Ablauf dieser durch die Satzungen
der Anstalt vorgeschriebenen Frist wieder erneuert wurde. Roberval
selbst hat in einem fast mehr als groben Briefe an Torricelli eine
Geschichte seiner mathematischen Entdeckungen gegeben, welche wir
zunächst, ohne noch deren Glaubwürdigkeit zu prüfen, einfach an-
nehmen wollen^).
Roberval will 1628 durch Pater Mersenne auf die Trochoide,
wie Roberval sie .nennt, auf die Cycloide, wie wir zu sagen fortfahren,
aufmerksam gemacht worden sein. Untersuchungen über diese Curve
^) Montucla II, 49—51. — Poggeiidorff II, 665. — Marie, Histoire des
Sciences mathematiqties et physiques IV, 112. — Tannery im Bulletin Darboux
XXVin, 63. ^jRoberval's Schriften, darunter auch der Brief an Torri-
celli, sind vereinigt in dem VI. Bande der Memoires de VAcudemie Eoijale des
Sciences in der Ausgabe von 1730. Wir citiren Mem. Acad. Sei. VI mit nach-
folgender Seitenzahl.
Roberval. Torricelli. 877
überstiegen damals seine Kräfte, und volle sechs Jahre dachte er nicht
mehr daran. Gegen 1G34 erfand er die Lehre vom Unendlichen?
doctrinam infiniti, welche ungefähr das Gleiche war wie Cavalieri's
Methode 'der Indivisibilien \), freilich mit einem kleinen Unterschiede^).
Cavalieri betrachtete die Indivisibilien jeder Oberfläche nach Maass-
gabe unendlich vieler Linien, die eines Körpers nach Maassgabe un-
endlich vieler Flächen, und desshalb wurden Vorwurfe gegen Cavalieri
erhoben, als meine dieser, die Oberfläche, der Körper beständen wirk-
lich aus Linien, aus Flächen. Er, Roberval, habe sich davor gehütet.
Ungleichartiges mit einander in Vergleich zu bringen. Für ihn be-
stehe die Linie aus unendlich vielen oder der Zahl nach unbestimmt
vielen Linien, ex infimtis seu indefmitis niimcro lineis, die Oberfläche,
der Körper, der Winkel aus unendlich vielen Flächen, Körpern,
Winkeln. Da habe Mersenne ihm die Cycloide ins Gedächtniss zurück-
gerufen und dabei angedeutet, er werde wohl absichtlich ihrer Unter-
suchung sich enthalten haben, weil die Schwierigkeit ihn zurück-
geschreckt hätte, und nun sei ihm mit Hilfe der Indivisibilien sehr
leicht geworden, was ohne dieses Hilfsmittel sehr schwer aussah.
Das Jahr 1634 ist demnach dasjenige, in welchem Roberval die
Quadratur der Cycloide ermittelt haben will.
Nachdem er die Lehre vom Unendlichen genügend ausgebildet
hatte, wandte er sich der Tangentenaufgabe zu. Zuerst fand er durch
die Kraft der Analyse^), vi Analyseos, eine Methode, welche viel
später als allgemein anwendbar sich erwies, damals aber noch nicht
in solchem Lichte erschien, und besonderen Kunstgrifi'en legte er
keinen Werth bei. Die Cycloide gab ihm dann Gelegenheit, auf die
Zusammensetzung von Bewegungen zu achten, und nur einer solchen
Gelegenheit bedurfte es, damit er aus der Zusammensetzung der Be-
wegungen eine allgemeine Methode ableitete. Um 1(336 habe er diese
in die Oeffeutlichkeit gebracht. Ein Herr Du Verdus aus Bordeaux
habe die Vorlesungen nachgeschrieben und Viele eine Abschrift davon
genommen^). Auch hieraus ist ein Ergebniss und zwar, wie wir
glauben, ein zweifaches zu entnehmen, erstens dass Roberval zwei
Tangentenmethoden besessen haben will, zuerst eine Methode, von
deren genaueren Schilderung er Abstand nimmt, welche ihm nicht
allgemein genug war, dann eine andere, welche auf die Bewegungs-
1) Mem. Acad. Sei. VI, 366. *) Ebenda VI, .368—369. ^) Ebenda
VI, 370. *) Occasio satis fiiit, ac propositionem universalem tangentium inde de-
ductam vulgarimus circa annum 1636. Exstanf adhiic et circumferufitur hac de
re lectiones nostrae a nobiUssinio D. du Verdus nostro discipulo collectae, alqiie a
multis exscriptae.
878 80. Kapitel.
lehre sich gründete, und zweitens, dass er von dieser letzteren Methode
seit 1636 kein Geheimniss gemacht haben will.
Noch weitere Arbeiten entstanden in Folge seines Briefwechsels
mit Fermat, dessen Eröffnung Carcavy 1635 vermittelte. Fermat
wies ihn auf Spirallinien höherer Ordnung hin und hiess ihn Arbeit
auf die Auflösung der gestellten Aufgaben zu verwenden, wie er,
Fermat, es auch gethan habe. In der Arbeit bestehe ja hauptsäch-
lich das Vergnügen. Roberval folgte der Mahnung und fand nun
die Quadratur aller Parabeln beliebiger Ordnung. Fermat schlug so-
dann Schwerpunktsbestimmungen vor, und auch hier gelang es Rober-
val, zur Lösung der Aufgabe vorzudringen. Fermat hatte der Analyse
sich bedient^); illc quidem ad analysim recurrit, und seine Methode
war, wie es bei analytischen Erfindungen meist der Fall ist, sehr
versteckt, sehr fein, sehr elegant. Seine, Roberval's, um einige Monate
jüngere Methode sei einfacher und allgemeiner. Aus diesen Bemer-
kungen heben wir hervoi-, dass Roberval auf Fermat's Schwerpunkts-
bestimmungen das gleiche Wort der Analysis bezieht, welches er
nur drei Seiten früher zur Kennzeichnung seiner ersten Tangenten-
methode gebrauchte, dass also auch dort von analytischen Betrach-
tungen ausgegangen worden sein wird und man sich nicht versuchen
lassen darf, an jener ersten Stelle Analysis etwa durch Analyse der
Bewegungserscheinungen zu übersetzen.
Lassen wir diesem Auszuge aus Roberval's Briefe an Torricelli
seine eigentlichen Leistungen folgen und zwar zuerst die Quadratur
der Cycloide. Roberval hatte ihren durch den dreifachen Erzeu-
gungskreis hergestellten Betrag 1634 Merseune mitgetheilt. Im fol-
genden Jahre 1635 fanden Fermat und Descartes unabhängig von
einander Beweise dieses Satzes, welche, wie sie keinerlei Aehnlichkeit
mit einander besitzen, auch von dem Roberval'schen Beweise sich
unterscheiden. Roberval hat seinen Ideengang in der Abhandlung
De Trochokle ejusqiie spatio niedergelegt -j. Er bedient sich dabei
einer zweiten Curve, . welche er erfunden hat, und welcher er den
Namen trochoidis comes oder socia beilegt^), der ins Französische als
compagne de la cycloide übersetzt worden ist (Figur 173). Die Ent-
stehung dieser Curve AV'VH ist folgende. Von jedem Funkte E'
des zur Grundlinie senkrechten Durchmessers AC des Erzeugungs-
kreises in seiner Anfangslage wird parallel zur Grundlinie die E'V
gezogen, welche den ersten Erzeugungskreis in B schneidet. Nimmt
man auf ihr JE"F'== £i\c AB', so ist V ein Punkt der Gefährtin der
Cycloide, welche, wie man leicht erkennt, jenseits HF sich in einem
1) Mein. Acacl Sei. VI, 373. -) Ebenda VI, 295—345. ^) Ebenda VI, 302.
ßoberval. Torricelli.
879
zu ÄV'VH symmetrisch-congruenten Aste bis nach L fortsetzt.
Roberval bedient sich nur dieser geometrischen Definition, ohne sie
in die Formelsprache der analytischen Geometrie zu kleiden. Mit
Benutzung derselben findet mau Folgendes. Der Halbmesser des er-
zeugenden Kreises heisse r, der Centriwinkel AEB' heisse a, und
X I tj seien die Coordiuaten von V bezogen auf AL als Abscissen-
axe, AC als Ordinatenaxe. Nun ist x = rK, y = r — r-coso; und
bei Verschiebung des Coordiuatenkreuzes nach dem neuen Anfangs-
punkte V, wobei VP die neue Abscissenaxe ist undll?^ die neuen
Coordinaten bezeichnen, ist sofort
)] = !j — /• = — r • cos cc = — r • sm l ~ aj = r ■ sm \cc — ■ — i ,
oder endlich, indem r als Einheit gewählt wird, rj = sin |, so dass
Roberval als Erfinder der Sinuslinie betrachtet werden muss. Wie
nun die Gefährtin der Cycloide zu deren Quadratur führt, ist ebenso
sinnreich als einfach. Der Raum AR'RHF, welcher die halbe
Cycloideufläche bildet, besteht aus zwei Theilen, erstens der halben
Fläche der Gefährtin AV'VHF und zweitens dem zwischen beiden
Curven befindlichen Räume AB,' RHVV. Man braucht nur die
Gerade AVH gezogen zu denken, um zu erkennen, dass die beiden
Abschnitte, welche diese Gerade mit der Gefährtin bilden, und von
denen der eine obere ihrer Fläche angehört, der andere untere nicht,
einander congruent sind, dass also AV'VHF =^ ^ AG HF , d. h.
dem erzeugenden Kreise gleich. In- dem von beiden Curven be-
grenzten Räume ist immer B'V'^=E'B'. Unter Festhaltung der
oben eingeführten Bezeichnungen ist nämlich E' B' = r ■ sin a,
ausserdem E' V'= ra und , weil Fi' ein Punkt der Cycloide ist,
E' B' == ra — r • sin cc, mithin
B'V'^ E' V'—E'B' = r • sin a = E' B' .
Der Raum AB' BHVV besitzt also in gleicher Höhe lauter gleiche
Parallelen zur Grundlinie wie der Halbkreis ACBB', dem er folg-
880 80. Kapitel.
lieb, flächengleich ist, und damit ist der Satz bewiesen, dass die ganze
Cycloidenfläche dem dreifachen erzeugenden Kreise gleich ist. Wir
wiederholen, dass Roberval 1634 Mittheilung davon an Mersenne ge-
langen Hess, dass auch Descartes und Fermat den Satz kennen lernten.
Im Jahre 1637 vollends sprach ihn Mersenne gelegentlich in einem
Druckwerke aus^).
Roberval hat in einer anderen Abhandlung, in seinem Traue des
Imlivisihles auch ein Stück einer gekrümmten Oberfläche der Messung
unterworfen, mithin eine sogenannte Complanation zu Wege ge-
bracht. Dort ist nämlich gezeigt -j, dass ein Kreis, der mit einer
dem Durchmesser eines geraden Kreiscy linders gleichen Zirkelöfi'nung
auf der Oberfläche dieses Cylinders beschrieben wird, genau die Fläche
des Quadrates des Cylinderdurchmessers besitzt.
Wir kommen nun zu Roberval's Tangentenbestimmung, einer
ungleich bedeutenderen Leistung als was wir bisher auseinanderzu-
setzen hatten, da es hier um eine wahrhafte Methode sich handelt.
Wir entnehmen sie der Abhandlung Ohservations sur la composition
des mouvemens et sur le moyen de trouver les touchantes des lignes
coiirhes'^), welche allerdings nicht von Roberval selbst herrührt, son-
dern von seinem Schüler Du Verdus, dessen Name uns aus Rober-
val's Brief an Torricelli bekannt ist. Im Jahre 1668 theilte Rober-
val die Abhandlung mit einigen Verbesserungen, aber nicht allen,
deren sie bedurft hätte, der Academie mit*). Schon vorher, nämlich
1644, hatte Mersenne eine Andeutung des von Roberval ersonnenen
Verfahrens in seinen Cogitata Fhysico-Mathemaiica veröffentlicht^).
Der Schüler Roberval's spricht es als ein Axiom aus, dass eine
Kraft, welche einen beweglichen Punkt zwingt, eine Kreisbahn zu
beschreiben, in der Senkrechten zu dem Durchmesser, an dessen
Endpunkt der bewegliche Punkt sich gerade befindet, ihre Wii'kung
ausübt^). Daran schliesst sich der erste Lehrsatz: Wenn ein beweg-
licher Punkt zwei Bewegungen unterworfen ist, deren jede geradlinig
und gleichförmig ist, so verläuft die aus beiden zusammengesetzte
Bewegung wieder geradlinig und gleichförmig und, wenn auch von
beiden verschieden, in der gleichen Ebene mit ihnen, so dass die
von dem beweglichen Punkte beschriebene Gerade Dia-
1) Montucla II, 54. *) Mem. Äcad. Sei. VI, 241—253: Tracer sur un
cylindre droit im espace egal ä un quarre donne, et ce d'un seid trait de Compas.
^) Ebenda VI, 3—67. ") Ebenda VI, 2: 11 est vray qu'en 1668 M. Boberval
revit cet ouvrage avant cßie de le lire dans V Academie Boyale des Sciences, mais il
n'y mit pas la derniere main. ^) Jacoli, JEvangelista Torricelli ed il metodo
delle tangenti detto metodo del Foberval im Bidletino Boiicompagni VIII, 274 —
275. '') Mem. Äcad. Sei. VI, 5.
Roberval. Torricelli
881
gonale eines Parallelogrammes ist, dessen Seiten sich zu
einander wie die Geschwindigkeiten der beiden gegebenen
Bewegungen verhalten^). Jenes Axiom und dieser Lehrsatz er-
möglichen es, die Entstehung jeder Curve, vorausgesetzt, dass sie
durch fortschreitende oder drehende Bewegung erzeugt wird, auf zwei
geradlinige Bewegungen von gegebener Richtung und gegebenem
Verhältnisse, wenn auch nicht gegebener absoluter Grösse zurückzu-
führen, und die Diagonale des aus ihnen gebildeten Parallelogrammes
ist die Berührungslinie an die Curve"). Als erstes Beispiel ist die
Parabel behandelt^) (Figur 174). In jedem ihrer Punkte E ist die
nach dem Brennpunkte Ä gerichtete EÄ gleich der Entfernung des
Fusspunktes J der Ordinate von E von dem festen Punkte B. Die
Kräfte, welche die Parabel erzeugen, sind also EÄ und die ihr gleiche,
B ff
Fig. 174.
Fig. 17E
parallel zu AB gezogene EH. Bei zwei gleichen Kräften halbirt
die Diagonale ihres Parallelogrammes den von beiden eingeschlossenen
Winkel, also ist die Halbirungslinie EC des Winkels HEA die Be-
rührungslinie der Parabel. Sei ferner (Figur 175) die Berührungs-
liuie an den Punkt F einer Ellipse gesucht^). Die Brennpunkte der
Ellipse sind A und B. Man weiss, dass AF und BF gleich blei-
bende Summen besitzen, wo auch F auf der Elli
liege:
also die Entfernung des Punktes F von A (oder B) ab, so nimmt
die von B (oder A) um ein jener Abnahme gleiches Stück zu. Die
bewegenden Kräfte sind also entweder in den Richtungen FA und
FC oder in denen FB und FD zu erkennen und sind jedenfalls
von gleicher Grösse. Die Berührungslinie halbirt daher den Winkel
AFC, beziehungsweise BEB. Ein anderes Beispiel liefert die Curve,
welche Limaron de Monsieur BaschaV') genannt wird. Es ist der Ort
derjenigen Punkte aller von einem und demselben Peripheriepunkte
1) Mem. Acad. Sei. VI, 6. ''') Ebenda VI, 22. ^) Ebenda VI, 23.
*) Ebenda VI, 27. ^) Ebenda VI, 23 lin. 8. Bei Gelegenheit der Tangenten-
ziehung auf pag. 35—40 ist nicht der volle Name des Erfinders der Curve ge-
nannt, sondern nur von dem LimuQon de M. P. die Rede.
Cas:tor, Geschichte der Mathem. U. 2. Aufl. 5G
882
80. Kapitel.
eine.s Kreises ausgehenden Sehnen, welche von dem zweiten Durch-
schnittspnnkte der Sehne mit der Kreislinie gleichweit entfernt sind;
es ist mithin eine Kreis conchoide. Wenn Pascal als Erfinder der
Curve bezeichnet ist, so kann darunter nicht Blaise Pascal verstanden
sein, welcher zu Ende der dreissiger Jahre gewiss noch nicht ge-
nügend Mathematiker war, um Derartiges zu versuchen, sondern nur
der Vater Etienne Pascal^), von welchem wir wissen, dass er mit
Curvenlehre sich befasste, dass er sogar (S. 875) gemeinsam mit
Roberval in den Streit über die Lehre von den grössten und klein-
sten Werthen eintrat. Die Cycloide ist erst das elfte Beispiel, an
welchem die Methode der Tangentenziehung zur Ausübung gelangt^)
(Figur 176). Die beiden Bewegungen, welche dem Cycloidenpunkte E,
der zugleich ein Punkt des erzeugenden Kreises in der Lage OEN
ist, angehören, sind erstens eine Bewegung im Sinne des Kreises,
also gemäss dem ersten Axiome in dessen Berührungslinie EP^
zweitens eine Foi-tbewegung mit dem Kreise parallel zur Grundlinie,
also in der Richtung EM. Weil die Grundlinie der Kreisperipherie
gleich ist, müssen beide Bewegungen in jedem Augenblicke von gleicher
Grösse sein, und die Diagonale ihres Parallelogrammes halbirt folglich
den durch ihre Richtungen gebildeten Winkel FEM, d. h. EH ist
die gesuchte Berührungslinie. Dass dieselbe durch den Peripherie-
punkt 0 des erzeugenden Kreises hindurchgehen müsse, ist weder
ausdrücklich gesagt, noch in der der Abhandlung beigegebenen Figur
beachtet'^), wo die EH die ON unterhalb 0 schneidet. Roberval,
beziehungsweise dessen Schüler, scheint also diese Eigenschaft der
Cycloide nicht gekannt zu haben. Dagegen war ihm die sogenannte
gedehnte oder verlängerte und ebenso die sogenannte verkürzte
Cycloide bekannt, und er lehrte ihre Berührungslinien finden.
^ ^) Diese Bemerkung nihrt von Herrn P. Tannery her, der sie uns brief-
lich mittheilte. *) Mem. Acad. Sei. VI, 58—63. ^ Ebenda Figurentafel VIII
zu pag. 66, Figur 1. Im Traue des Indivisibles pag. 211 dagegen, wo die Auf-
gabe wiederkehrt, ist der Eigenschaft zwar auch nicht gedacht, aber die Figur
(^Ta'fel XV zu pag. 214, Figur 3) ist wenigstens etwas richtiger.
Eoberval. TorricolH. 883
Endlich ist es auch Roberval gewesen, welcher die Kubatur
der beiden Umdrehungskörper der Cycloide vollbrachte, des-
jenigen, bei welchem die Grundlinie, und desjenigen, bei welchem die
mittlere grösste Ordinate Umdrehungsaxe ist. Diese Untersuchungen
sind ebenso wie die Rectification der Cycloide in der von uns
schon angeführten Abhandlung De Trochoiäe ejusque spatio enthalten.
Roberval will alle diese Dinge zwischen 1635 und 1640 entdeckt und
mit Ausnahme der Rectification kein Geheimniss aus ihnen gemacht
haben. Mittheilungen seien in seinen Vorlesungen, in gelehrten Zu-
sammenkünften, im Privatverkehre mit gelehrten Freunden gemacht
worden^). Die von ihm einzig verschwiegen gehaltene Rectification
habe viele Jahre später ein geschickter Engländer ebenfalls zu Wege
gebracht").
So Roberval's Darstellung, und, wenn man ihr vollen Glauben
beimessen dürfte, hätte Roberval eigentlich die ganze höhere Curven-
lehre geschaffen. Cavalieri veröflentlichte zwar die Indivisibilien,
die er längst kannte, Wren die Länge der Cycloide, die ihm nicht
entgangen war, unbewusste Aneignungen dessen, was ihm gehörte;
ein Schriftsteller dagegen habe sich ofienen Raubes an ihm schuldig
gemacht, und dieser sei Torricelli.
Pascal, der Sohn des nahen Freundes Roberval's, machte sich
einfach zum Sprachrohre dieses schweren Vorwurfes'^), und, was die
Gehässigkeit des Angriffe? noch steigert, er that es im November
1658, also elf Jahre nach Torricelli's Tode, und das war derselbe Pas-
cal, dessen physikalische Erfolge auf die Erfindung des Barometers
durch Torricelli sich gründeten, derselbe Pascal, der die Grösse des
italienischen Gelehrten noch 1651 in einem Briefe an Herrn von Ri-
beyre ganz und voll anerkannte*). Wir müssen zusehen, welches
Verbrechen Torricelli eigentlich begangen haben soll, und ob wir es
einem Manne von derjenigen geistigen Bedeutung, die wir (S. 699
— 700) an Torricelli kennen gelernt haben, zutrauen dürfen.
Torricelli gab 1644 ein mathematisches Sammelwerk, Opera
Geometrica, heraus^). Dasselbe beginnt mit zwei Büchern De solidis
sphaeralihus, dann folgen zwei Bücher De motu und hierauf De dimen-
sione paraholae und De solido liyperholico cum Äppendicihiis de Cycloide
et Cochlea. Im 18. Satze des 1. Buches De motu stellt sich Torri-
celli'die Aufgabe, ^ine Berührungslinie an einen Punkt der Parabel
zu ziehen und löst sie mit Hilfe des Parallel ogrammes der
"■) Mem.Acad. Sei. TL, 342 ^) Ebenda VI, 344. ^ Pascal III, 338—339.
^) Ebenda HI, 7G — 77. ^) Jacoli, EvangeliMa Torricelli eä il metodo delle
tcuigenti detto metodo del Roberval im BuUe\i}w Boncompagni XII, 265 — 304.
5G*
884 80. Kapitel.
Kräfte. Seine Lösung ist, wenn auch nicht dem Wortlaute nach^
doch dem Gedankeninhalte iiach, folgende^; (Figur 177). Sei cha
die Parabel von der Gleichung iß ^ px und /'
ihi- Brennpunkt, mithin fb = ^- Sei ausser-
dem cd = ce = X, de = 2x. Der die Parabel
beschreibende Punkt war erst in &, dann in a
df c
-p. ^-- und gelangte dorthin, indem er einer doppelten
Bewegung unterworfen war, deren eine parallel
mit cd, die andere senkrecht zu cd zu denken ist. Wäre der Weg
von h nach a ein geradliniger gewesen, so hätte er die geradlinige
Diagonale des Parallelogrammes der beiden genannten Bewegungen
dargestellt, und es wäre auch weiter diese Diagonale eingehalten
worden, die Entfernung jedes folgenden Punktes der Diagonale von
der Axe cd hätte sich nach dem Verhältnisse da : fh gerichtet.
Nun ist bei y- =px auch y. ^ = 2x :y, also lässt statt da : fh das
Verhältniss ed : da sich einsetzen, welches bei der Parabel die Verhält-
nissgrösse der mehrgenannten beiden Bewegungen kundgiebt, und
welches die Diagonale ea zur Folge hat, die somit die verlangte Be-
rührungslinie ist. Wenn, setzt Torricelli hinzu, dieser Beweis ein be-
sonderer für die Parabel ist, so kann man ihn doch für jeden Kegel-
schnitt verallgemeinern, indem man gleiche Bewegungen eines Punktes
beachtet, der in gleicher Weise auf jeder vom Brennpunkte aus ge-
zogenen Linie — Torricelli meint damit offenbar die Ordinate hf des
Brennpunktes — sich bewegt. Bei der Archimedischen Spirale führe
ein ähnliches Verfahren zum Ziele. Er habe den kleinen Satz einmal
unter Freunden mitgetheilt und derselbe habe sich des brieflich aus-
gesprochenen Lobes des berühmten Galilei zu erfreuen gehabt-).
Auch die Berührungslinie an die Cycloide könne man mittels des einen
Satzes finden, was am Schlüsse des Bandes ohne Beweis kurz berührt
werden solle, ebenso wie die Körper der Cycloide und deren Schwer-
punkte.
Unzweifelhaft ist Torricelli's Methode, mag man von deren An-
wendung im Falle der Parabel denken, wie man will, der Roberval's
nahe verwandt. Man hat nun, da die Jahreszahlen des Druckes der
Mersenne'schen Cogifata inhysico-mathematica und der Ton-icelli'schen
Opera geometrica übereinstimmend 1644 lauten, noch etwas näher
^) Jacoli, Evangelista Torricelli ed il metodo delle tangenti detto metodo
del Soherval im Bulletino Boncompagni XJI, 268 — 269. -) Quae propositiun-
cida cum olim inter amicos a me vulgata fuisset Clar. Virum Gcdileum meruit
habere laudatorem, ut extant ipsius enistolue apud me.
Roberval. Tomcelli. 885
untersucht, in welchen Monat jede der beiden Veröffentlichungen zu
setzen ist. Die letzte Druckerlaubniss der Opera geometrica ist vom
9. April 1644; an einer Stelle spricht Torricelli von einer halbjährigen
Unterbrechung seiner Arbeiten, omissa per integrum semestre libellorum
ciira; fällt also, was nicht geradezu gesagt ist, dieses halbe Jahr in
die Zeit während des Druckes, so gelangt man etwa zum October
1644 als Zeit der eigentlichen Ausgabe^). Daneben ist ein Brief
Torricelli's vom 1. Mai 1644 zu beachten, in welchem er Mersenne
berichtet, zwei seiner kleinereu Schriften seien fertig gedruckt-). Das
waren aber doch wohl die beiden ersten, also auch die De motu,
welche den in Frage kommenden Satz enthält. Nun die Cogitata.
Bei ihnen ist ein Zweifel nicht möglich. Peracta haec est impressio
die 15 Septemhris 1644 heisst es am Schlüsse^), und wenn vom Ende
des Druckes bis zur Versendung nur wenige Wochen gerechnet wer-
den, so kommen wir gleichfalls zum October 1644. Die beiden Bücher
gelangten demnach so gut wie gleichzeitig an die Oeffentlichkeit,
jedenfalls so nahe beieinander, dass es ausgeschlossen ist, dass Torri-
celli aus dem Buche von Mersenne oder Roberval aus dem Buche
von Torricelli seine Methode entnehmen konnte. Letzterer Vorwurf
ist überhaupt nie erhoben worden. Wenn aber ersterer auch in
nichts zerfällt, worauf stützt sich dann Roberval's schwere Anklage
geistigen Diebstahls gegen Torricelli?
Pascal erzählt es uns*). Es handelt sich gar nicht um die
Tangentenziehung, bei welcher die Verwandtschaft der beiderseitigen
Gedanken einen Zweifel an Torricelli's Unabhängigkeit allenfalls hätte
entstehen lassen können, sondern um den Plächenraum der Cycloide.
Im Jahre 1638 habe De Beaugrand alle von Roberval entdeckten
Sätze über die Cycloide und Fermat's Methode der grössten und
kleinsten Werthe an Galilei geschickt, ohne den eigentlichen Erfin-
der zu nennen, weil er damit wahrscheinlich die Meinung hervorrufen
wollte, als sei Alles sein Eigenthum. Er habe diese irrige Meinung
noch dadurch gestützt, dass er statt von der Trochoide oder Roll-
linie zu reden, den Namen der Cycloide benutzte, den er sich aus-
gedacht hatte. Als nun Galilei und De Beaugrand beide gestorben
waren, und Torricelli unter den Papieren des Ersteren den Brief des
Letzteren fand, habe er geglaubt, sich Alles aneignen zu können mit
alleiniger Ausnahme der Erfindung der Cycloide, welche er Galilei
zuwies, dem sie aber ebensowenig angehörte als ihm das Uebrige.
Als Pascal 1658 diese Erzählung veröffentlichte, von welcher er
") Jacoli 1. c. pag. 269—270. ^ Ebenda pag. 271. ^-j Ebenda pac
^) Pascal m. .338.
886 80. Kapitel.
nicht sagt, wie er selbst sie in Erfahrung gebracht habe , war von
allen betheiligten Personen einzig Roberval am Leben. Dieser muss
also wohl Pascal's Zuträger gewesen sein. Wer hätte es auch selbst
in früherer Zeit, als De Beaugrand, als Torricelli lebten, sein sollen"?
De Beaugrand, auf welchen der Erzählung gemäss ein recht empfind-
licher Flecken fällt? Oder Torricelli, der Angeklagte? Nachträglich
wenigstens behauptet Pascal, habe Torricelli Alles eingestanden, und
die Briefe seien vorhanden^). Wo, bei wem sie vorhanden seien, ob
er selbst Einsicht davon genommen habe, darüber bleibt Pascal die
Erklärung schuldig.
Jedenfalls ist niemals ein Brief Torricelli's von Roberval oder
einem seiner Freunde veröffentlicht worden, dessen Datum 1644 oder
noch später wäre. Nur ein Brief Torricelli's an Roberval über die
Cycloide ist unter Roberval's gesammelten Abhandlungen veröffent-
licht'^). Er ist am 1. October 1643 geschrieben, mithin bevor die
Opera geometrica ausgegeben wurden. Sehen wir zu, was er enthält.
Galilei habe vor 45 Jahren (das war also 1598) der Cycloide ihren
Namen gegeben; er habe versucht, deren Fläche zu messen und sich
dazu unter anderem auch einer Wage bedient, auf welcher er die
materielle Cycloidenfläche und ebenso den materiellen erzeugenden
Kreis abwog, appensis ad libellum spatiis figiirarum materialibus.
Immer sei die Cycloidenfläche weniger als dreimal so schwer als der
Kreis gewesen, und darauf habe Galilei seine Versuche aufgegeben,
weil er vermuthete, es handle sich um ein incommensurables Ver-
hältniss, ob iiicommoisurahilitatis suspicionem. Später habe er, Torri-
celli, die Cycloidenfläche wider alles Hoffen, ja fast ohne darnach zu
suchen, gefunden, und fünf verschiedene Beweise dafür ermittelt.
Wie man die Berührungslinie an die Cycloide ziehe, habe Viviani
ihm gezeigt, lieber Umdrehungskörper der Cycloide besitze er nichts,
quoad solida nihil Iiabeo. Auch ein Brief von Roberval an Torricelli,
über welchen wir schon berichtet haben, ist in jener Roberval'schen
Sammlung gedruckt. Ein Datum ist ihm nicht beigegeben , aber da
in ihm die Stelle vorkommt ac tmn demum anno 1645 ad id aninnmi
applicuistis, so muss er später als 1645 geschrieben sein. Anderer-
seits ist ein Brief Torricelli's vom 24. August 1647 an den nach-
maligen Cardinal Michelangelo Ricci bekannt^), demzufolge er
*) Mr. Roberval s'en plnignit donc ä Torricelli par unc lettre qu'il lui en
ecrivit la meme annee (16.44), et le P. Mersenne en mime temps, mais encore plus
severement: il lui donna tant de preuves, et imprimees et de toutes sortes, qu'il
Vobli(jea d'y domier les mains, et de ceder cette invention ä M. de Boberval,
comme il fit par ses lettres, que Von garde ecrites de sa main, du meine temps.
-) 3Iem. Acad. Sei. VI, 359—361. ^i Jacoli 1. c. pag. 282.
Roberval. Torricelli. 887
damals von einem beleidigeuden oifeneu Briefe Roberval's gehört, ihn
aber noch nicht zu Gesicht bekommen habe. Folglich ist jeuer
gedruckte Brief Roberval's vermuthlich vom Frühjahre 1647. Rober-
val's Papiere enthielten also keinen früheren Brief von Torricelli,
keinen solchen von Torricelli aus dem Jahre 1644, welche zu Rober-
val's Gunsten hätten gedeutet werden können, denn wie sollte man
sonst den fehlenden Abdruck erklären? Auch in dem gedruckten
Briefe von 1647 ist von Eingeständnissen aus dem Jahre 1644 oder
aus späterer Zeit, von denen Pascal 1658 unter Roberval's Einflüsse
als vorhanden sprach, keine Rede. Gab es denn gar keine Zeile
Torricelli's, die veröffentlicht hätte werden können, und die jeuer
Pascal'schen Anklageschrift als Begründung dienen konnte?
Es gab allerdings Briefe aus dem Jahre 1646, aber sie wurden
von anderer Seite bekannt gemacht. Nachdem Pascal 1658 die An-
klage erhoben, kam 1659 aus England eine Antwort, von der wir
noch reden werden, und eine zweite 1663 aus Italien. Sie führte
die Ueberschrift: Letfera a Filaleti di Timauro Antiate della vera
storia della cicloide e della famosissima esperienza delV argento vivo^),
und ihr Verfasser war Carlo Dati (1619—1679), ein Schüler
Torricelli's. Er theilte darin einen Brief Roberval's an Torricelli
vom 1. Januar 1646 mit und ebenso die Antwort Torricelli's vom
7. Juli 1646.
Roberval behauptet hier, vor zehn Jahren, mithin zu Anfang des
Jahres 1636, in öffentlicher wie vertraulicher Weise gelehrt zu haben,
wie man Tangenten durch Zusammensetzung von Bewegungen sich
verschaffe. Er habe damals das Verfahren an hervorragenden Bei-
spielen geprüft, an der Quadratrix, der Cissoide, der Conchoide, der
Spirale und vielen anderen Curven. Besonders leicht gestaltete sich
die Auffindung der Berührenden an Cycloide und Spirale, weil diese
Linien durch Zusammensetzung einer geradlinigen und einer kreis-
förmigen Bewegung entstehen, welche beide gleichförmig sind, und
deren Geschwindigkeitsverhältniss in jedem Punkte der Curve defi-
nitionsgemäss gegeben ist. Das stimmt also so weit mit Roberval's
späteren Behauptungen überein, wie kaum anders erwartet werden
konnte.
Torricelli erwidert, er gestehe zu, dass er vor noch nicht so
vielen Jahren jene Beweisführungen entdeckt habe, aber er habe sie
nicht minder selbständig entdeckt, als dies von irgend einem Anderen
vorher oder nachher geschehen sei. Stimme sein Verfahren irgendwie
mit dem der Franzosen überein, so sei er darüber in voller Gemüths-
^) Auszüge aus der ungemein seltenen Schrift bei Jacoli 1. c. pag. 2S0 sqq.
8S8 80. Kapitel.
ruhe, und das sei ilim die Hauptsache. Er sei sieh bewusst, Alles
aus sich heraus gefunden zu haben; wer ihn kenne, werde das gleiche
Zutrauen zu ihm haben; was Andere glauben, berühre ihn nicht.
Das wonnige Gefühl, Richtiges erfunden zu haben, um dessenwillen
allein er in Forschungen sich einlasse, werde ihm Niemand rauben.
Um Ruhm, der nur durch Zank und Streit zu erwerben wäre, küm-
mere er sich nicht. Er sei bereit, alle jene Sätze irgend wem, wer
sie nur wolle, zuzugestehen, unter der einzigen Voraussetzung, dass
man sie ihm nicht unrechtmässigerweise entreissen wolle. Und weiter
unten fährt Torricelli fort, er habe vor mehreren Jahren die aus der
Bewegungslehre stammende Tangentenmethode erfunden, ohne dass
ihm dabei Licht oder Hilfe von Anderen geworden sei. Er habe
mit Freunden davon geredet. Später sei er zu den Sätzen über die
Cycloide- gelangt und habe auch sie Freunden mitgetheilt, bevor sein
Buch herauskam. Plötzlich, ohne dass er es erwartet habe, sei die
Botschaft eingetroifen, Alles sei vorher bereits durch Roberval er-
funden. Wenn dem in Wahrheit so sei, dann freilich können die
Sätze nicht ferner als sein Eigenthum gelten, wiewohl vielleicht kein
Sterblicher jemals zu solchem Zugeständnisse sich herbeilassen würde.
Sehet daraus, schliesst die Stelle, wie eines feinen Mannes würdig ich
handle, indem ich abtrete, was mit gleichem Rechte mein wie Euer
ist, da jeder von uns es selbständig erfand, abgesehen von einem
kleinen Zeitunterschiede, wenn ein solcher vorhanden war.
Das klingt jedenfalls ganz anders, als Roberval gegen 1658 es
Pascal erzählt haben muss, und man begreift, warum Roberval's
Freunde diesen Brief Torricelli's, wenn er in seinen Papieren sich
vorgefunden haben soUte, nicht zum Drucke beförderten, denn er
hätte die Behauptung von einem Eingeständnisse Torricelli's, in un-
rechtmässiger Weise zu seinem Wissen gelangt zu sein, geradezu Lügen
gestraft. Wenn wir so einer mindestens ungenauen Berichterstattung
Roberval's auf die Spur gekommen sind, wenn wir früher (S. 711)
schon einmal sahen, dass es Roberval nicht darauf ankam, noch 1655
den Satz von der Fläche des sphärischen Dreiecks für sich in An-
spruch zu nehmen, den Girard 1629, Cavalieri 1632 im Drucke
veröffentlicht hatte, so lohnt es sich, die vorher bei Seite geschobene
Untersuchung aufzunehmen, ob denn Roberval dort überall bei der
Wahrheit geblieben ist, wo er die Zeitpunkte seiner eigenen Erfindungen
genau bestimmte^).
Roberval will also die Tangente als Diagonale des Parallelo-
grammes der die Curve erzeugenden Kräfte zu Anfang 1636 erkannt
') Jacoli 1. c. pag. 283 — 284 hat diese Untersuchung geführt.
Roberval. Torricelli. 889
haben. Aber am 11. October 1G36 schrieb er an Fermat^), er habe
die Tangeuten an mehrere Curven gefunden, und er bringt deren
Construction in Zusammenhang mit der Quadratur. Das sieht doch
nicht nach mechanischen Betrachtungen aus! Der Wortlaut: Pour
les tmigentes de la conchoide, je les ai considerees il y a longtemps,
comme etans determinations d'equations qiiarre-quarrees stimmt viel
eher zu jener vis Änalyseos (S. 877), mittels deren Roberval seinem
gedruckten Briefe an Torricelli gemäss, welchen wir auf das Früh-
jahr 1647 bestimmt haben, schon 1634 die Tangente verschiedener
Curven gefunden haben will. Weitere für Roberval's Versuche, die
Cycloidentangente zu bestimmen, wichtige Stellen sind in Briefen
von Descartes nachgewiesen worden-), welche wir ihrer Zeitfolge
nach erwähnen. Am 23. August 1688 schrieb Descartes an Mer-
senne^), er freue sich ungemein über dessen Mittheilung, dass keiner
seiner Mathematiker, auch nicht Roberval, die Cycloidentangente
zu ziehen wisse. Descartes knüpfte daran die Mittheilung seiner
eigenen Auflösung dieser Aufgabe (S. 855), welche somit die erste
ttberhauijt gegebene war, welcher dann die von Fermat (S. 861) auf
dem Fusse folgte. Schon am 25. September 1638 war sie im Besitze
von Descartes, der an diesem Tage seine Bewunderung der Fermat-
schen Ableitung in die früher (S. 875) von uns erwähnten Worte
kleidete, er habe Niemand gekannt^ der auf ihn den Eindruck ge-
macht hätte, so viel wie Fermat von Geometrie zu verstehen. Bei
der Cycloide, fuhr Descartes fort*), ist es nicht leicht, die Regeln an-
zuwenden, welche bei anderen Curven zum Ziele führen, und Herr
von Roberval, der die Aufgabe stellte, und der zweifellos
auch einer der ersten Geometer unseres Jahrhunderts ist,
hat eingestanden, die Auflösung nicht zu kennen, auch
kein Mittel zu wissen, zu ihr zu gelangen. Freilich hat er
seitdem auch gesagt, er habe die Auflösung gefunden, aber das ge-
schah folgenden Tages, nachdem er erfahren, dass wir beide ihm
Lösungen zugeschickt hätten. Am 8. October 1638 äussert sich Des-
cartes gegen Mersenne abermals in ähnlicher Weise ^). Roberval
mache sich bis zu einem gewissen Grade lächerlich, indem er glauben
machen wolle, er habe die Cycloidentangente gerade am folgenden
Tage erfunden, nachdem er erfahren, dass Descartes' Auflösung bei
Mersenne angelangt sei. Wieder einen Monat später in einem Briefe
an Mersenne v^om 15. November 1638 macht sich Descartes über vier
bis fünf verschiedene aber stets unrichticre Versuche Roberval's die
^) Fermat, Varia Opera pag. 140. *) Montucla II, 56. ^) Oeuvres
de Descartes (ed. CousinVVIT, 88. *) Ebenda VII, Sß. '-) Ebenda VII, 449.
390 80. Kapitel.
Cycloidentangente zu ermitteln lustig^), und sogar noch am 30. April
1639 bricht er in Lachen aus-), il faut que je rie, dass Mersenne ihm
jetzt schon fünf oder sechs stets von einander verschiedene Tangenten-
zeichnungen für die Cycloide zugeschickt habe, welche sämmtlich mit
Fehlem behaftet gewesen seien. Nun mag ja zu Robervars Gunsten
diesen Bemängelungen seiner Constructionen durch Descartes nicht
unbesehen Recht gegeben werden wollen, aber Eines geht aus Rober-
val's wiederholten Versuchen unwiderleglich hervor: dass er vor
April 1639 nicht im Besitz der Anwendung der Methode
des Kräfteparallelogrammes auf die Cycloidentangente ge-
wesen sein kann, also auch wahrscheinlich überhaupt nicht im
Besitze jener Methode, welche, wie Roberval am 1. Januar 1646 sehr
richtig an Torricelli schrieb (S. 887), bei keiner Curve leichter als bei
der Cycloide in Anwendung trete.
Damit fällt aber die gegen Torricelli erhobene Anklage,
soweit sie sich (S. 885) auf die Tangentenziehung hätte be-
rufen können, zusammen, denn De Beaugrand konnte un-
möglich 1638 an Galilei schicken, was frühestens 1639 vor-
handen war. Die Untersuchung hat somit festgestellt, was bei dem
fast von keinerlei Makel betroffenen Charakter Torricelli's zu ver-
muthen war, dass diesem .gerechterweise ein Vorwurf, die Tangenten-
methode Roberval's sich widerrechtlich angeeignet zu haben, nicht ge-
macht werden kann, dass vielmehr beide, Roberval und Torricelli,
selbständig und wahrscheinlich ziemlich gleichzeitig auf den geist-
reichen und an sich eines Eigenthumstreites wohl würdigen Gedanken
gekommen zu sein scheinen. Was aber die Auffindung der Cycloiden-
fläche betrifft, so ist zwischen den Methoden Roberval's und Torri-
celli's so wenig Verwandtschaft nachweisbar, dass von einer Ent-
wendung unmöglich die Rede sein kann. Ob De Beaugrand Galilei
überhaupt Etwas mittheilte, und wie viel es gewesen sein kann, lässt
sich bei dem Fehlen jeglichen Beweisstückes nicht mehr ermitteln.
Wir haben (S. 884) aus Torricelli's Opera geometrica nur seine
Tangentenmethode erwähnt und sind wegen des darüber entstandenen
erbitterten litterarischen Streites längere Zeit bei ihr stehen geblieben,
aber auch Anderes ist noch erwähnenswerth ^). In der Abhandlung
De solido Jiyperbolico ist der Satz ausgesprochen, dass, wenn (Figur 178)
CF die Asymptote der Hyperbel ÄE ist, der Umdrehungskörper des
unendlichen bei AB anfangenden Flächenstückes zwischen Hyperbel
und Asymptote um die Asymptote als Drehungsaxe dem Cylinder
M Oeuvres de Descartes (ed. Cousin) YIII, 16. -) Ebenda VIII, 115.
3) Montucla II, 90.
Robei-val. Tomcelli, 891
gleich sei, welchen das Keehteck ÄBCD bei seiner Umclrehung um
B(J b ervorbringe. Ein für die Zeit seiner Entstehung sehr merk-
würdiger Satz wird auch aus der Abhandlung De motu projecforuiu
angeführt^). Torricelli habe gewusst, dass, wenn man aus einem und
demselben Punkte mit einer und derselben
Anfangsgeschwindigkeit Körper in die
Höhe werfe und nur den Winkel, unter
welchem sie geworfen werden, jeden mög-
lichen Werth annehmen lasse, die Scheitel-
punkte aller dieser Wurfparabeln eine
neue Parabel zum geometrischen Orte
haben. Torricelli hat somit zuerst den
Begriff der einhüllenden Linie geahnt,
wenn auch keineswegs deutlich erkannt. In seinen Untersuchungen
über die Cycloide machte er sich eines Irrthums schuldig. Er hielt
den Umdrehungskörper der um ihre grösste Ordinate gedrehten Cy-
cloide fälschlich für — des umschriebenen Cyliuders, während Roberval
18
die Raumbestimmung dieses Körpers richtig stellte. Torricelli hat
auch, wie bemerkt worden ist"), die logarithmische Spirale, viel-
leicht auch die logarithmische Curve, jedenfalls aber die Recti-
fication der logarithmischen Spirale gekannt.
Gleich Torricelli hatte auch ein englischer Schriftsteller, den wir
hier erwähnen müssen, Castelli zum Lehrer. Er nannte sich
Richard White^) und mit latinisirtem Namen Ricardus Albius
Anglus. Er ist 1590 geboren, hat sich aber, da die Gesetze seiner
Heimath Katholiken aus den öffentlichen Schulen fernhielten, bis
1626 nicht mit Wissenschaft beschäftigen können. Dann besuchte er
Frankreich und Italien, wo er Philosophie, später auch während zweier
Jahre Mathematik trieb, worauf Familienangelegenheiten ihn nach
England zurückriefen. Ein 1648 von ihm in Rom herausgegebenes
Buch hat einen sehr langen, mit den Worten Hemisphaerium dissedum
1) Heller, Geschichte der Physik II, 106. -) Gino Loria, Evangelista
Torricelli e la prima rettificazione di una curva in den Rendiconti della B. Acca-
demia dei Lincei. Sitzung vom 5. December 1897. ^) Dass der richtige eng-
lische Name White ist, lässt schon die Uebersetzung in Albius vermuthen.
Vergl. auch Graesse, Tresor des livres rares et precieux VI*, pag. 442. Ein
älteres englisches biographisches Sammelwerk hat statt White den Druckfehler
Gohite, und dieser Irrthum ist in zahlreiche andere Werke übergegangen. In
einem Briefe von De Sluse an Huygens (abgedruckt in der grossen Gesammt-
ausgabe von Huygens 11, 450) ist der Vorname von White als Thomas ange-
geben. Eine Anmerkung der Herausgeber nennt als dessen Lebensdauer die
Jahre 1588—1680. Sollten zwei Brüder White gelebt haben?
892 •'^l- Kapitel.
beginnenden TiteHj. Es betrachtet Oberfläelie und Rauminhalt von
verschiedenartigen Kugelabschnitten, ausserdem auch die Oberfläche
eines schiefen Kreiskegels. Hat ein gerader Kreiskegel die Seite s
und .sein Grundkreis den Halbmesser r, so ist bekanntlich :trs das
Maass seiner gekrümmten Oberfläche, oder auch tt^^, wenn q- = rs.
Die Obei-fläche ist also einem Kreise gleich, dessen Halbmesser geo-
metrisches Mittel zwischen dem Halbmesser des Grundkreises und der
Seite des Kegels ist. Beim schiefen Kegel giebt es unendlich viele
Kegelseiten paarweise in je einer durch die Kegelspitze und den
Mittelpunkt des Grundkreises hindurchgehenden Ebene gelegen, und
das arithmetische Mittel aller dieser Seiten muss statt s in die beim
geraden Kreiskegel giltige Formel eingesetzt werden. Zwei Paare
von Seiten zeichnen sich aus, erstens das Paar, welches in der Ebene
liegt, die durch die senkrechte Höhe des Kegels hindurchgeht, zweitens
das Paar, welches in der zur genannten Ebene senki'echteu Ebene
sich befindet. Das erste Paar besteht aus der grössten und kleinsten
Seite, das zweite Paar ist das einzige gleichseitige. Die Summe des
ersten Paares ist die grösste, die des zweiten die kleinste der über-
haupt möglichen Summen. Den vierten Theil dieser vier ausgezeich-
neten Kegelseiten nimmt White als das arithmetische Mittel aller
Kegelseiten. Geometrisch bewiesen sei es allerdings nicht, aber so
lange nicht bewiesen werde, dass die Vorschrift falsch sei, halte er
sie für richtig. Bequemer kann man sich eine Beweisführung in der
Mathematik gewiss nicht machen.
81. Kapitel.
Wallis. Pascal. De Sluse. Hiidde.
Van Heuraet.
Von ungleich grösserer Bedeutung als der auf Strenge keinerlei
Anspruch erhebende Versuch, von welchem am Ende des vorigen
Kapitels anhangsweise die Rede war, ist das grosse Ojms geometricnm
des Gregorius a Sto. Vincentio, welches wiederholt unsere Auf-
merksamkeit auf sich gezogen hat, zuletzt (S. 850 j als wir von der
Quadratur der Spirale sprachen, welche durch Gleichsetzung ihrer
Fläche mit einem Parabelabschnitte sowohl in gedruckten Schriften des
Gregorius als Cavalieri's ermittelt ist. Diese Quadratur der Spirale
^) Kästner IE, 215 — 218. Dort ist aus der Von-ede des Buches das Wenige
zusammengestellt, was wir von den Lebensverhältnissen White 's angeben
konnten.
Gi-egorius a Sto. Vincentio. Wallis. Pascal. De Sluse. Hudde. Yan Heuraet. 893
war aber keineswegs der einzige Schritt in das Reich des Infinitesi-
malen, welchen Gregorius in jenem 1647 gedruckten Opus geoii/etricum
wagte. Er bediente sich meistens einer besonderen Methode, welche
den Namen Ductus plani in planum führt, und deren Erörterung
unsere nächste Aufgabe ist^).
^ Ducere heisst bekanntlich Multipliciren, und von einer Multipli-
cation von Flächen ist im VII. Buche, welches die erwähnte besondere
Ueberschrift besitzt, die Rede; an einen kinematischen Begriif, ein
Hinübergleitenlassen einer Ebene über eine andere, ist nicht zu
denken. Gregorius selbst giebt die Erklärung-): ,,Ich nenne Ductum
plani in planum die Bildung jedes Körpers, welcher aus zwei Ober-
flächen mit derselben oder mit gleicher Basis entstanden ist." Ueber-
mässig klar wird man diese Ausdrucksweise so wenig nennen wollen,
als das ganze Opus geometricum. Die nähere Auseinandersetzung ist
folgende. Gregorius denkt sich (Figur 179) zwei Figuren AB CD und
7
r
EFG, bei welchen AB = EF ist, und stellt die zweite derart senk-
recht zur ersten, dass EF mit AB zusammenfällt. In gleichen Ent-
fernungen werden nun lauter Zwischenlinien EG und JH gezogen,
welche bei der angegebenen Stellung der beiden Figuren zu einander
einen rechten Winkel mit einander bilden, der durch neue in G und
H errichtete Senkrechte zu einem Rechtecke sich ergänzt. Die Recht-
'winkligkeit ist zwar, sagt Gregorius, nicht nothwendig, jede andere
gleiche Neigung thäte es auch, aber bei senkrecht zu einander ge-
wählten Figuren macht sich die Sache leichter. Jene sämmtlichen
Rechtecke, von welchen jedes durch das Product der z.wei Senkrechten
EG mal JII gemessen wird, bilden einen Körper, und das ist eben
der corpus ortum ex ductu plani in planum. Sind die beiden Figuren,
^) Auszüge aus dem Opus geometricum bei Kästner III, 225 — 247. Der viel-
fach missverstandene Ductus plani in planum ist zutreffend behandelt bei
AVeissenborn, Die Principien der höheren Analysis in ihrer Entwickelung von
Leibniz bis auf Lagrange (18.56) S. 70 — 73, und bei Marie, Histoire des sciences
mathematiques et physiques HI, 188 — 193. *) Opus geometricum pag. 704—705.
894
81. Kapitel.
welche gemeinsam den Körper erzeugen, einander vollkommen gleich
und in gleicher Lage, so nennt man den Körper einen corpus ex dudu
superfkiei AB in se, einen Körper, könnte mau allenfalls sagen, den
die betreffende Figur mit sich selbst erzeugt. Von ihm ist der Wechsel-
B
B
X^
7
B
\
fj
\i
« 1
/i
^\
B
/
X —
— y.
Fig.
weise mit sich selbst erzeugte Körper, corpus ex ABC ductum in se
subalterne, zu unterscheiden, welcher dann entsteht, wenn die gleichen
Figuren nicht in gleicher Lage mit einander in Verbindung treten.
Bei den diesen Definitionen beigegebenen Abbil-
dungen (Figur 180 und 181) sind die mit einander
in Verbindung tretenden Figuren mit den gleichen
Seiten an einander gesetzt, ohne durch perspek-
tivische Zeichnung den entstehenden Körper irgend
hervortreten zu lassen. Bei den an die Definition
sich anschliessenden Sätzen dagegen sind an einer
und derselben Abbildung beide Darstellungen regel-
mässig vereinigt: die Figuren erscheinen neben
einander, und zugleich treten die Körper auf, z. B. wo (Figur 182) aus
der Selbsterzeugung eines rechtwinkligen Dreiecks eine Pyramide
A
T
Fig. 181.
\
H Gl
1
B
\
\
\ h
A
.w A
^
:^^
K^
Fig. 182.
mit quadratischer ^Grundfläche entsteht, während die wechselweise
Selbsterzeugung eben jenes rechtwinkligen Dreiecks eine Pyramide
Gregoriiis a Sto. Vincentio. Wallis. Pascal. De Sluse. Huclde. Van Heuraet. 895
dreieckiger Grundfläche hervorbringt, welche, wie Gregorius beweist^),
die Hälfte der erstereu Pyramide ist.
Gregorius geht im Allgemeinen darauf aus, Körper bald auf eine,
bald auf andere Weise durch dieselben Figuren erzeugen zu lassen
und dann Zahlenbeziehungen zwischen jenen verwandten Körpern zu
entdecken.
Ein ziemlich allgemeiner Satz in dieser Beziehung ist z. B. fol-
gender-). Es sollen drei Figuren gegeben sein, die sämmtlich eine in
allen drei Figuren gleich lange Strecke als Theil ihrer Begrenzung be-
sitzen. Im Uebrigen soll die Begrenzung beliebig aussehen und nur
dem Gesetze gehorchen, dass die in gleichen Höhen errichteten Senk-
rechten auf jener gleichen Strecke in den drei Figuren fortwährend
stetige geometrische Proportionen bilden. Wird alsdann durch die
erste Figur in Verbindung mit der dritten ein Körper erzeugt und
ein zweiter Körper durch die zweite Figur mit sich selbst, so müssen
beide Körper gleichen Rauminhaltes sein. Der Beweis wird durch
Einbeschreibung sehr dünner Parallelopipeda in beide Körper geführt,
worauf die Bemerkung folgt, die Anzahl solcher Parallelopipeda könne
so gross genommen werden, dass die Körper ganz von ihnen erfüllt
(wörtlich: erschöpft) würden, parallelopipeda Uta ita posse multiplicari
iit Corpora ipsa, quibiis Inscribuntur, exhauriant.
Vielleicht ist dieses das erste Vorkommen des Wortes exhaurire
in geometrischem Sinne, aus welchem man dann das Wort Ex-
haustionsmethode für das entsprechende schon bei Euklid und
Archimed vorkommende, aber nicht besonders benannte Verfahren ab-
geleitet hat.
An geometrischer Strenge ist diese Abtheilung des Werkes des
Gregorius den Indivisibilien Cavalieri's, mit welchen man am
ersten geneigt sein dürfte, Vergleichungen anzustellen, wohl über-
legen. Dagegen ist die Anwendbarkeit der Indivisibilien entschieden
eine reichhaltigere und fruchtbarere gewesen, und eine gegenseitige
Einwirkung, welchem von beiden Schriftstellern man nun Kenntniss
der Leistungen des Anderen zutrauen wollte, ist hier so gut wie aus-
geschlossen.
Erfüllte der Ductus plani in planum das VII. Buch des Opus
geometricum, so darf auch aus dem VI. der Hyperbel gewidmeten
Buche ein Satz nicht unerwähnt bleiben^). Wenn, sagt dort Grego-
rius, eine Hyperbel zwischen ihren Asymptoten gezeichnet ist, und
parallel zur einen Asymptote Gerade zwischen der Hyperbel und der
*; Opus geometricum pag. 70-S. ^) Ebenda pag. 738—739. ^) Ebenda
pag. 597.
896 81. Kapitel.
anderen Asymptote gezogen werden, welche jeweils gleiche Flächen-
theile in den entstehenden gemischtlinigen Vierecken begrenzen, so
bilden jene Geraden eine geometrische Progression. Das ist offenbar
die Wahrheit von der Quadratur der auf ihre Asymptoten be-
zogenen Hyperbel durch Logarithmen, welche hier entdeckt
ist, aber ohne dass Gregorius sich dabei des Wortes Logarithmen be-
dient hätte.
Das Opus geometricum hat einen sichtlichen Einfluss auf ein
vier Jahre später erschienenes Buch von Tacquet, dem Antwerpener
Ordensgenossen von Gregorius, ausgeübt. Dessen Cylindricormn et
ammlarium l'ibri quatuor^) bieten zahlreiche Beispiele von Körper-
inhalten, welche zwar nach der Methode der Lidivisibilien berechnet
werden können, und von Manchem so berechnet worden seien, aber
ohne dass damit den Anforderungen mathematischer Strenge genügt
wäre, welche er, Tacquet, stelle. Er ziehe es vor, die zu messenden
Räume zwischen zwei Summen von Cylindern oder ähnlichen Ge-
bilden einzuschliessen, die theils Grösseres, theils Kleineres als jene
Körper liefern, ihnen aber dabei beliebig nahe gebracht werden
können. Das Wort exhauriri, dessen Tacquet sich bei dieser Gelegen-
heit bedient, zeigt den von uns angekündigten Einfluss des Opus
geometricum. Ebendarauf weist die von Tacquet angewandte Redensart
ducitur perpencUculariter (oder wenn nicht rechtwinklig ductiis obliquus)
hin, welche bei ihm freilich statt der multipHcativen Bedeutung eine
kinematische angenommen zu haben scheint, welche wir im Sinne
des Gregorius noch zurückweisen mussten.
Das gleiche Jahr 1651, in welchem Tacquet's Buch in Antwerpen
erschien, war auch das Druckjahr eines mathematischen Werkes eines
Toulouser Genossen des Jesuitenordens, des Antoine Lalouvere^)
(1600 — 1664). Der Name kommt auch in der Form De la Loubere
vor, als Lalovera und noch in anderen aber ähnlichen Schreib-
formen. Seine erste mathematische Schrift von 1651 führt den Titel
Elementa tetragonismica, seil demonstratio quadraturae circuli et hyper-
holae ex datis ipsorum centris gravitatis^). Es scheint ein gewisser
Muth dazu zu gehören, diese und die späteren Schriften Lalouvere's
zu lesen. Der Grundgedanke ist der der Umkehrung der Guldin-
schen Regel. Wenn der Inhalt eines Körpers, worunter immer ein
Umdrehungskörper zu verstehen ist, bekannt ist, wenn auch der
^) Kästner III, 266—275. — Mansion, Besume du cours d'analyse infini-
tesimale (1887) pag. 288. -) Poggendorff I, 1501. — Tannery, Pascal et
Lalouvere in den Memoires de la societe des scienees pliysiques et naturelles de
Bordeaux T. V (3^ Serie). =') Montucla 11, 77. — Tannery 1. c. p. 6—8 des
Sonderabzugs.
Gregorius a Sto. Viucentio. Wallis. Pascal. De Sluse. Hiuldn. Van Ileuraet. 897
Schwerpunkt seines Querschnittes gegeben ist und damit zugleich der
von diesem Schwerpunkte während der Umdrehung beschriebene Kreis,
dann ist auch der Inhalt des Querschnittes Ergebniss eines einfachen
Divisionsexempels. Das Auffallendste ist, dass Lalouvere den Guldin-
schen Satz unabhängig entdeckt haben will. Guldin's Name und An-
sprüche seien ihm erst nachträglich aus Cavalieri's Exercitationes be-
kannt geworden. Von der Entdeckung durch Pappus weiss Lalouvere
wieder nichts oder will nichts davon wissen. Lalouvere gehört auch
zu den Mathematikern, welche mit der Cycloide sich beschäftigten.
Im August 1G58 veröffentlichte er eine kleine Schrift De cycloide
mit der Raumbestimmung des Umdrehungskörpers der Cycloide um
ihre Grundlinie. Am 15. September theilte er brieflich die Rech-
nung mit, welche ihm das Ergebniss geliefert habe, aber sie war
irrig, und schon am 21. September zog er sie als solche wieder zurück
Das eigentliche Verfahren Lalouvere 's war eben, trotzdem es auf dem
gleichen Gedanken wie die Elementa tetragonismica beruhend von
selbst zur Uebersetzung in eine Rechnung geführt haben müsste, in
der Form altgeometrisch und Lalouvere selbst ein ungeübter und un-
sicherer Rechner. Der Hauptsache nach geometrisch war desshalb
auch seine 1660 erschienene Geometria promota in VII de cycloide
lihris, welchen als Anhang Fermat's Abhandlung über Rectificationen
von Curven beigegeben war (S. 869). Die in der Geometria promota
veröffentlichten Dinge waren allerdings richtig, aber Lalouvere's Dar-
stellung derselben kam zu spät, um ihm das Erfinderrecht zu ver-
schaffen, denn nunmehr war das Alles schon seit einem Jahre bekannt.
An Quadraturen hat auch der spätere Bischof von Gap DeLyonne^)
in einer Jugendschrift sich versucht, die 1654 durch Leotaud heraus-
gegeben wurde, welcher uns selbst aus dem mit Gregorius von St.
Vincentius und dessen Schülern über die Kreisquadratur geführten
Streite (S. 716) bekannt ist. Lyonne's Amoenior curvilineorum con-
templatio beschäftigt sich hauptsächlich mit den Mondchen des Hippo-
krates und Figuren ähnlicher Entstehungsweise, deren genauer Flächen-
raum bestimmt wird.
In Italien, von wo aus, wie bei aller Anerkennung der Verdienste
Kepler's zugestanden werden muss, durch Cavalieri der wesentliche
Anstoss zur allgemeinen Behandlung infinitesimaler Fragen gegeben
worden war, hat die neue Lehre ausser durch Torricelli nur durch
einen Schriftsteller noch Erweiterung gefunden. Es war das Stefano
degli Angeli'^) (1623—1697), Professor der Mathematik in Rom,
dann in Padua. In der Ueberschrift seiner Werke nannte er sich
1) Montucla 11,76. °) Kästner 111,212—215. — Poggendorff I, 40— 47.
Oantor, Geschichte der Mathem. II. 2. Aufl. Ü7
898 81. Kapitel.
Ordinis Jesuatoruin S. Hieronymi in Veneta Provincia Definitor Pro-
vincialis, er war demnach Ordensgenosse Cavalieri's und nicht Jesuit,
wie mitunter irrig angegeben ist. Schon 1654 schrieb er De inßnitis
pardbolis, worunter Curven von der Gleichung y'^ = h^-''^ x verstanden
sind, und in seinem Miscellanemn hyperholicum et paraholicmn von
1659 ist denselben Curven Aufmerksamkeit zugewandt. Insbesondere
ist das Tangentenproblem für dieselben gelöst, nachdem Cavalieri die
Quadratur veröffentlicht hatte. Analytische Geometrie im Sinne von
Descartes und Fermat findet man bei Angeli nicht. Gleichwohl ist
durch ihn vermuthlich ein Wort in den mathematischen Sprachschatz
eingeführt worden, welches gerade in der analytischen Geometrie sich
als zukunftsreich bewährt hat. um nämlich anzugeben, dass in der
Parabel y = h''^"" x die Subtangente aus zwei Stücken bestehe, von
denen das jenseits vom Scheitel gelegene das n — 1 - fache des dies-
seits vom Scheitel, also innerhalb der Curve, befi.ndlichen Stückes sei,
fs« = ^ ^ nx = X -\- {n — l)x],
spricht er von dem Verhältnisse des Theiles des Diameters ausserhalb
der Parabel ad partem abscissam ab ordinatim applicata versus ver-
ticem. Wir kennen keine ältere Benutzung des Wortes Abscisse in
lateinischen Originalschriften. Vielleicht kommt das Wort in Ueber-
setzungen der Apollonischen Kegelschnitte vor, wo Buch I Satz 20
von ccTCOTe^voiisvaig die Rede ist, wofür es kaum ein entsprechenderes
lateinisches Wort als abscissa geben möchte.
Der Ueberschrift nach ist man geneigt, hier auch die Exercitatio
geometrica de maximis et minimis von 1666 zu nennen, welche Car-
dinal Ricci ^) (1619 — 1692) zum Verfasser hat. Es scheint indessen,
als wenn dort nur antikgeometrische Untersuchungen angestellt wären ^).
Noch weniger als in Italien sind in Deutschland Fortschritte in
der Infinitesimalrechnung gemacht worden, wie sich aus den Zeit-
verhältnissen leicht begreift. Kepler 's Doliometrie war im denk-
bar ungünstigsten Augenblicke erschienen. Wüthete doch
1618 bis 1648 in weitverbreiteten Gegenden Deutschlands der ent-
setzliche von seiner Dauer benannte Krieg. Hat man doch fast mehr
Anlass zur Verwunderung darüber, dass während jener Zeit einzelne
Persönlichkeiten, wie Schwenter und Faulhaber, wissenschaft-
lichen Sinn besassen und Aufbewahrenswerthes leisteten, als darüber,
dass nach Aufhören des Krieges noch zwei Jahrzehnte verstreichen
mussten, bis in dem materiell und geistig ausgesogenen Lande ein
^)MoD.tuclaII, 91. — Fabbroni, Vitae Italorum doctrina excellentium II.
^ Vergl. Davido Besso, Sopra tin opuscolo di Michelangelo Ricci. Roma 1893,
Gregorius a Sto. Viucentio. Wallis. Pascal. De Sluse. Hiidde. Van Heuraet. 899
Matliematiker ersten Ranges erschien, Leibniz, bis zu dessen Auf-
treten wir diesen Band fortführen. Der Wissenschaft selbst erwuchs
durch das Brachliegen im einzelnen Lande kaum Schaden. Seit sie,
dem nationalen Gebiete entrückt, Weltwissenschaft geworden war,
fand sie bald da, bald dort Förderer und Förderung und wurde damit
unabhängiger von politischen Begebenheiten, welche nachgerade auf
hören, einen Einfluss von der Bedeutung zu üben, dass es unentbehr-
lich wäre, ihre Geschichte mit der Geschichte der Wissenschaften zu
vermengen. Was Franzosen leisteten, während der dreissigjährige
Krieg Deutschland verheerte, haben wir gesehen. England litt ähn-
lich wie Deutschland unter dem Gräuel blutiger Kämpfe, aber es
waren wenigstens nicht fremde Heere, die dort ihre vernichtenden
Schlachten schlugen, und als Cromwell gestorben und das Königthum
wieder eingesetzt war, erholte die englische Wissenschaft sich ver-
hältnissmässig schnell. Eine ganze Anzahl von Mathematikern trat
dort auf. Ihre Untersuchungen griffen in fast alle Theile unserer
Wissenschaft ein, auch in das Gebiet der Infinitesimalrechnung.
Vor allem haben wir bei John Wallis zu verweilen. Schon
seine analytisch-geometrische Darstellung der Kegelschnitte von 1655
(S. 820) gehört bis zu einem gewissen Grade hierher, da in ihr die
ludivisibilien Cavalieri's bewusste und erfolgreiche Anwendung fanden,
aber ganz besonders hervorragend war die gleichfalls 1655 gedruckte
Arithmetica Infinitorum^). Inhalt des Werkes ist die Auffindung von
Quadraturen und Kubaturen, also wesentlich das Gleiche, was die
Aufgabe von Cavalieri's ludivisibilien bildet. Auch darin zeigt sich
Uebereinstimmung, dass bei den Quadraturen der durch eine Curve,
durch die Abscissenaxe und eine Schlussordinate begrenzte Raum in
seinem Verhältnisse zu dem Rechtecke aufgesucht wird, dessen Seiten
die Schlussordinate und die Abscissenaxe sind, dass es bei den Kubaturen
auf das Verhältniss der Umdrehungskörper der beiden erstgenannten
ebenen Figuren ankommt. Endlich ist die Methode so weit überein-
stimmend, dass die Summe gewisser Potenzen aller einzelnen Ordi-
naten einestheils, die der Schlussordinate anderntheils zur Herstellung
jenes Verhältnisses ihre Hilfe bieten müssen. Hiermit und mit dem
bei Cavalieri und bei Wallis übereinstimmend richtigen Endergebnisse
mancher Untersuchungen ist aber die Aehnlichkeit abgeschlossen.
Die grosse Verschiedenheit liegt darin, dass, während Cavalieri be-
müht war, seine Ableitungen so geometrisch als irgend möglich zu
^) Johannis Wallis, Opera mathematica I, 355 — 478. Auszüge bei Mon-
tucla II, 348 — 353. — Marie, Histoire des sciences mathematiques et physiqiiefi
IV, 149 — 165. — Ball, History of the study of matJiematics at Cambridge
pag. 41 — 44. — Reiff, Geschichte der unendlichen Reihen S. 6—13.
57*
900 «1- Kapitel.
gestalten, Wallis mit vollem Bewusstsein rechnerisch verfuhr und
schon durch den gewählten Titel Arithmetica Infinitorum auf dieses
Bestreben hinwies. Wir würden sagen: Wallis knüpfte an eine Inte-
grationsmethode Kepler 's an (S. 830), wenn wir nicht bezweifelten,^
dass er dieselbe kannte.
Soll z. B. gezeigt werden^), dass die Summe 3. Potenzen aller
Ordinaten sich zu der gleicher Potenzen der Schlussordinate im Drei-
ecke wie 1 : 4 verhalten, was Cavalieri ausgesprochen hatte, so führt
Wallis den Beweis dadurch, dass er mehr und mehr 3. Potenzen
ganzer Zahlen von der 0 anfangend bildet und nun das gesuchte
Verhältniss bei wachsender Anzahl der gewählten Glieder darauf
prüft, ob wirklich 1 : 4 herauskommt. Er findet aber:
0 -f 1 _ £ , JL 0 + 1 + 8 ^ J_ I Jl 0 + 1 + 8 + 27 ^ i I 1
1 + 1 ~ 4 ' 4 ' 8 + 8 + 8 ~ 4 •" 8 ' 27 -f 27 -|- '27 -f 27 4 ~l~ 1-2 '
u. s. w. bis
0 + 1 + 8-1 1-216 ^ J_ _i J^
216 + 216 + 216 -|- • • • + 216 4 "^ 24 '
Der Bruch, um welchen — übertrofieu wird, hat zum Nenner oifenbar,
ut pateif stets um 4 zunehmende Zahlen und wird stetig kleiner, so
dass er endlich kleiner als jeder beliebige angebbare Werth wird, und
wenn man bis ins Unendliche die Versuche ausdehnt, geradezu ver-
schwindet-). Aehnlicherweise werde man, fährt Wallis in den nach-
folgenden Lehrsätzen fort, die Verhältnisszahl bei der Summe 4., 5.,
G. Potenzen finden; sie sei 1:5, 1:6, 1:7 u. s. f. Denn, sagt er,
der Versuch zeigt, dass die durch Induction gefundenen Verhältniss-
zahlen diesen stetig näher kommen, so dass der Unterschied kleiner
als jeder angebbare wird, und bei Fortsetzung des Verfahrens ins
Unendliche verschwindet^).
Man wird nicht verkennen, dass ein Stehenbleiben bei blosser
Induction ohne Ableitung einer allgemeinen Formel, welche derselben
als Stütze dient, dass ein kühl ausgesprochenes patet, es ist offenbar,
nicht mit den heutigen Anforderungen mathematischer Strenge in
Einklang zu bringen sind. Mau wird ebensowenig verkennen, dass
Wallis zur Anstellung seiner Versuche überhaupt erst überging, nach-
1) Wallis, 02)era I, ;^82 Prop. XXXIX Lemma und Prop. XL. -) Cum
autem crescente numero terminorum excessus ille super rationem suhquadruplam
ita continue mimmtur, ut tandem quolibet assignabili minor evadat (ut patet) si
in infinitum procedatur, prorsus evanitmus est. ^) Ebencfa I, 383 Prop. XLIII
Lemma: Facto enim experimento patebit ratiwies inductione reperias ad has con.
tinue propius accedere ita ut dijferentia tandem evadat quavis assignabili minor;
udeoipie in infinitum conti nuata evanescet.
Gregorins a Sto. Yincentio. Wallis. Pascal. De Sliise. Hudde. Van Heiiraot. 901
denij mau darf sogar getrost sagen, weil er die zu ersvarteuden Er-
gebnisse voraussah. Cavalieri, Fermat, Roberval, Torricelli
hatten mehr oder weniger unabhänorior von einander gezeigt, dass,
sofern m nur eine ganze positive Zahl war, das Verhältniss der Summe
xler y«*^" Potenzen der in arithmetischer Reihe wachsenden Zahlen zu
der ebenso oft, als Glieder vorhanden waren, genommenen 7>i*®" Po-
tenz der grössten Zahl sich als 1 : (m -f- 1) erweise, und nun machte
Wallis, der allerdings seiner bestimmten Aussage^) nach Cavalieri's
Schrift nicht gelesen hat, aber deren Inhalt aus dem von Torricelli
gegebenen Berichte kannte, nachträglich die hierdurch herausgeforderten
Versuche!
Aber man wird ebensowenig Wallis das Verdienst absprechen,
die heute noch übliche Form des Grenzüberganges erfunden
zu haben. Das Wort, der Unterschied werde kleiner als jeder nur
angebbare, quavis assignahüi minor, hat erst das Verständniss einer
Grenze als eines Werdenden zu erzeugen vermocht, und es würde
hochbedeutsam hervortreten, wäre selbst Wallis im Uebrigen bei den
schon bekannten Ergebnissen stehen geblieben.
Nun machte er aber über seine Vorgänger hinaus einen gewaltigen
Schritt, indem er eine Kühnheit der Induction an den Tag legte,
welche, an und für sich nicht gerechtfertigt, durch die ihr entnom-
menen Ergebnisse die Entschuldigung des Erfolges gewinnt. Wenn
bei der w/*®" Potenz der Bruch — .-^ , bei der m -\- 2^*"" Potenz der
m -[- 1
Bruch - — r~r — |— , bei der ;;/ + n'*"" Potenz der Bruch'- — ; r— auf-
??! -|- 2 » -f- 1 ' ' m .+ « + 1
tritt, so ist m-\-n das arithmetische Mittel zwischen m und m-\-2n
und gleichzeitig der Nenner m -\- n -\- 1 das arithmetische Mittel
zwischen den Nennern nt -f- 1 und m -{- 2n -f- 1- Das arithmetische
Mittel zwischen m -\- 1 und m -|- >? -f 1 ist nun in -\- — -\- 1 , folg-
lich wird der Bruch sein, welcher bei Untersuchung der
» + I + 1
»^ + 2 *"" P°^^"^ (f^^ Mittel zwischen m und m -f- n) entsteht, auch
wenn n keine gerade Zahl ist, d. h. auch wenn es um Quadratwurzeln
sich handelt, und ganz allgemein ist die Geltung der Verhältnisszahl
1 : (m -\- 1) davon unabhängig gemacht, ob m ganzzahlig oder nicht.
Bei m = — entsteht das Verhältniss 2:3; bei »i = ~ entsteht 3:4-
bei m = — entsteht 10 : 11 und so fort-J, et sie deinceps. Sogar den
1) Wallis Opera I, 357. ^) Ebenda I, 390 Prop. LIV.
902 ^1- Kapitel.
Fall, dass m irrational wird, schliesst der kühue Neuerer mit ein :
Sin Index supjionatur irrationaUs, puta "|/3, erit ratio ut 1 arf 1 +1/3
etc., d. h. auch bei m = j/3 ist die Proportion
h = n
noch immer wahr!
Wie wird nun die Sache, wenn n aus den positiven Zahlen aus-
scheidet? Wallis^) sagt nicht geradezu, es sei a~^ = — , d. h. er be-
nutzt noch nicht negative Exponenten, so wenig er ausdrücklich
p, ,
a^ = yaP schreibt, aber in seinen Schlüssen hat er dieses Bewusst-
sein, welches, wie die Leser dieses Bandes wissen, durch Jahrhunderte
vorbereitet war , klar an den Tag gelegt. Wird m = — 1 , so geht
in — oder oo über. Cum enim primus terminus in serie Fri-
»» + 1 0
manorum, d. h. der ersten Potenzen der auf einanderf olgenden Zahlen,
sit 0, primus terminus in serie reciproca, d. h. in der Reihe der reci-
proken Zahlen, erit oo vel infinitus: sicut in divisione, si divisor sit 0,
quotiens erit infinitus^). Wir machen auf das hier, wie in der Ab-
handlung über die Kegelschnitte (S. 820) auftretende Unendlichkeits-
zeichen aufmerksam, auf die nebenbei auftretende Bemerkung, der
Divisor 0 bringe den Quotienten oo hervor, ohne dass von der Grösse
des Dividenden dabei die Rede wäre, auf die Wortverbindung der
reciproken Reihe, series reciproca. Wallis spricht auch von reci-
proken Potenzgrössen^). Wie die Indices der directen Reihe
aufsteigend 1, 2, 3 . . . sind, so haben die ihnen reciproken Grössen
die entgegengesetzten negativen Indices, indices contrarios negativos,
-1,-2,-3...
Wallis gelangt dabei zu dem von ihm allerdings nicht ver-
standenen Satze des Ueberganges vom Positiven zum Nega-
tiven durch das Unendlichgrosse hindurch*). Sein Miss-
verständniss besteht darin, dass er meint, — wachse fortwährend, wenn
a um je eine Einheit abnehme, und dieses Wachsen habe keinen Ab-
schluss bei a = 0. Wallis meint also, es sei
u. s. w., es seien die negativen Zahlen mehr als unendlich.
») Wallis, Opera I, 395 Prop. LXIV. «) Ebenda I, 405 Prop. XCI.
3) Ebenda I, 407 Prop. CI, SchoUum. ') Ebenda I, 409 Prop. CIV.
Gregoriiis a Sto. Vinoentio. Wallis. Pascal. De Sluse. Hudde. Vau Heuraet. 903
Wir haben auf einige formelle Neuerungen hingewiesen, mit
welchen Wallis vorging. Ihm gehört auch das Wort Interpolation
an: zwei Reihen können leicht interpolirt werden, interpolar i possimt^),
indem man beliebig viele Stellen einschiebt. Ferner ist bei Wallis
der Name der hypergeometrischen Reihe anzutreffen^); er ver-
steht darunter die Reihe, deren Glieder
. 1 A -| 3 5 ^357
1 • 3 • 5 • • • (2 w -f- 1)
2 • 4 ••• 2w
heissen, deren allgemeines Glied also
Mit ähnlich gebauten Ausdrücken hat Wallis zu thun, wo er
an die Aufgabe herantritt, die Quadratur des Kreises zu ermitteln
und dabei die berühmte, seineu Namen führende Factoreufolge
(S. 766) auffindet^). Ersetzt man die Bezeichnung von Wallis durch
die der heutigen Mathematik, ohne von seinem Gedankengange ab-
zuweichen, so ist die Fläche — des Kreisquadranten vom Halbmesser 1
1
durch das Integral / ]/l — x^ dx dargestellt , das Quadrat des Halb-
0
messers durch 1. Das Verhältniss dieses Quadrates zu jener Fläche
ist also
4:7t = l: f(l —xydx.
0
Jenes Integral ist aber enthalten in der allgemeineren Form
r -
0
und nicht minder in der allgemeineren Form
1 — x^' )^ dx.
/(■
Aus der ersteren entsteht es durch A = 1, aus der zweiten durch
^ = 1, aus der noch zusammengesetzteren Form
*) Wallis, Opera I, 443 Prop. CLXX. In Prop. CXC (I, 463) kommt statt
interpolatio das Wort intercalatio vor, dessen man sich sonst vorzugsweise in der
Chronologie (Schaltmonat, Schalttag) bediente. ^) Ebenda I, 466 im 4. Alinea.
^) C a y 1 e y , The ' investigation hy Wallis of his expression for ti in dem
Quarterly Journal of Mathematics XXIII, 165 sqq. zeichnet sich keineswegs durch
Klarheit aus. Vorzuziehen sind die Darstelluncren hei Marie und beiReiff a.a.O.
904 81. Kapitel.
/(
1 _ ^/M -^ dx
durch gleichzeitige Annahme von A = 1 und fi = 1 . Geradzahlige
Werthe von A gestatten die Potenzirung unter dem Integralzeichen
auszuführen, wodurch zwar mehrgliedrige Ausdrücke auftreten, deren
einzelne Monome aber nach den Regeln, über die wir berichtet haben,
un
d die als
1
/ x'" dt
dx = — r
, ^ ■»■ +
sich zusammenfassen lassen, integrirt werden können. Da ferner für
Wallis bereits der Satz vorhanden war, den wir heute dahin aus-
sprechen, das Integral einer Summe sei gleichbedeutend mit der Summe
der Integrale, so findet er eine ganze Anzahl von Werthen der Function
l—x^Pdx
/(■
bei A = 0, 2, 4, 6, 8 und ^ = — 1, 0, 1, 2, ... 8, von welchen die
bei jLt = — 1 erscheinenden allerdings falsch sind. Ist gleichzeitig A
und ^ grad, so haben die Integrale eine sehr symmetrische Gestalt?
und Wallis nimmt nach derselben Induction, von welcher er fort-
während Gebrauch macht, an, diese Symmetrie müsse erhalten bleiben,
auch wenn A ungrad gewählt wird. Kurzum Wallis beabsichtigt eine
Interpolation, welche den doppelten Zweck erfülle, einen Mittel werth
zwischen zwei Ausdrücken zu finden, der als Werth zwischen beiden
enthalten in der Form mit der Bauart beider übereinstimme. Diesem
Doppelzweck rückt er allmählig dadurch näher, dass ein Factor, der
als Quadratwurzel geschrieben die Symmetrie stört, allmählig beseitigt
wird, und dieses geschieht, indem der Radicand der Einheit näher
gebracht wird, während andere Factoren daneben erscheinen, die in
das allgemeine Gesetz passen. Schliesslich erscheint
4 3-3-5-5-7.7--
^ 2-4-4-6.6S--
mit im Zähler und im Nenner ins Unendliche fortgesetzten Factoren-
folgen^).
Wenige Jahre nach der Arithmetica Lnfinitorum gab Wallis 1659
eine Schiift heraus^), welche den umfangreichen Titel führt: Tradatus
duo. Prior de Cycloide et corporibiis inde genitis. Posterior episto-
laris, in qua agitur de Cissoide et corporibus inde genitis et de cur-
1) Wallis, Opera I, 469 Prop. CXCI. -) Ebenda I, 489—569.
Gregorius a Sto. Vincentio. Wallis. Pascal. De Sluse. Hudde. VanHenraet. 905
varum tum Unearum EvQ^v6st^ tum superficienmi nXarvöfia. Auf
die Veranlassung zu dieser Schrift^), welche, bevor sie gedruckt
erschien, schriftlich und zwar vermuthlich in wenigstens theilweise
anderem Wortlaute Verbreitung gefunden hatte, kommen wir sogleich
zurück. Was den Inhalt betrifft, so setzt er sich zunächst aus den
wichtigsten Sätzen über die Cycloide und über deren je nach Wahl
der Umdrehungsaxe verschiedenartige Umdrehungskörper zusammen.
Als Anhang folgen sodann-) die in Freundeskreisen seit Juli 1658
bekannt gegebenen Untersuchungen von Christoph Wren, über
die Tangente der Cycloide und namentlich über deren Rectification,
welche von allen Seiten ihm als Erfindung zugestanden worden ist
(S. 873). Die Rectification vollzog Wren ganz anders als Fermat
und auch ein holländischer Mathematiker Van Heuraet es thaten.
Diese führten jedenfalls ohne von Torricelli's früheren Arbeiten
(S. 891) Kenntniss zu haben die für sie neue, vielfach in ihrer Aus-
führbarkeit angezweifelte Aufgabe der Rectification auf die schon
lange bekannte und für mannigfache Curven erfolgreich durchgeführte
Quadratur zurück. Wren dagegen schloss die Curve in zwei säge-
förmige Linienzüge, poly(jona serrata, ein, von welchen der innere
kleiner, der äussere grösser als ein Gegebenes bleiben musste, wäh-
rend der Unterschied beider verschwindend klein wurde. Noch vor
Wren's Arbeiten soU William Neil (1637—1670) bereits 1657 die
Rectification der cubischen Parabel vollzogen haben. So behauptete^)
wenigstens Wallis 1659, so wiederholte er in einem 1673 in |den
sogenannten Philosophical Transactions, den Mittheilungen der Lon-
doner königlichen Gesellschaft der Wissenschaften, zum Abdrucke
gebrachten Briefe. Auch Neil's Rectification besteht in der Zurück-
führung auf eine Quadratur. Eine Möglichkeit der Rectification hatte
übrigens auch Wallis selbst bereits in der Arithmetica Infinitorum
behauptet, und auf diese Stelle machte ein weiterer Anhang der Schrift
von 1659 aufmerksam.
Diesen Anhang bildet ein Brief an Huygens. Zuerst besprach
Wallis in demselben die Anfeindungen Torricelli's, welche er
ebenso verurtheilte , wie es später 1663 Carlo Dati that (S. 887).
Torricelli sei gewiss kein litterarischer Dieb an Roberval's geistigem
Eigenthum gewesen, und wenn Roberval's Landsleute fortwährend
auf Briefe pochten, in welchen Torricelli Roberval's Erstlingsrechte
anerkenne, so beweise diese Anerkennung nur die Unbefangenheit
des edeldenkenden Mannes. Auf ein Geständniss aber, dass Torricelli
1) Montucla 11, 68—70. ^ Wallis, Opera I, .533—541 ^) Ebenda
I, 551—553.
906 81. Kapitel.
von jenen Untersuchungen gewusst habe, lasse sich die Sache nicht
zuspitzen. Dann wendet sich Wallis zu dem von Huygens ent-
deckten Satze, dass der von der Cissoide und ihrer Asymptote ein-
geschlossene Flächenraum das Dreifache des erzeugenden Kreises sei^),
und liefert dessen Beweis durch die Arithmetica Infinitorum, d. h.
einen Beweis durch Interpolation von Zahlenreihen. Diese Aus-
einandersetzung führt weiter zu Rectificationsversuchen. Hier gedenkt
er^), bevor er Neil's Verdienste hervorhebt, dessen, was er seiner Zeit
im XXXVIII. Satze der Arithmetica Infinitorum^) angedeutet habe. Die
Sehnen einer Curve, heisst es dort ungefähr, sind stets Hypotenusen
rechtwinkliger Dreiecke, deren Katheten Stücke von Abscissen und
Ordinaten der Curve sind. Vermöge der Gleichung der Curve kann
daher jene Sehne als von dem Abscissenstücke abhängig oder zu ihm
in einem gewissen Verhältnisse stehend betrachtet werden, und da
die Summe der Sehnen um so genauer mit' der Curve zusammenfällt,
je kleiner die einzelne Sehne ist, so kommt auch die Rectification
auf die Gedankenfolge der Arithmetica Infinitorum zurück. Wir
würden heute die letzte Behauptung in die Worte kleiden, es komme
auf die Integration der Gleichung
o-^+m
an. Es ist wirklich auffallend, dass Wallis dieser die Aufgabe un-
mittelbar ins Auge fassenden Methode, von welcher die von Wren
benutzte nach unseren darüber gegebenen Andeutungen nur so un-
wesentlich abweicht, dass eine Abhängigkeit Wren's von der be-
treffenden Stelle der Arithmetica Infinitorum gar nicht ausgeschlossen
ist, selbst wieder den Rücken kehrt, wo er in der Fortsetzung des
Briefes an Huygens die Ausstreckung, svQ^vvaiq^ der Curven, die
Ausbreitung, TtXarva^og^ der Oberflächen, worunter aber nur Quadra-
turen ebener Figuren zu verstehen sind, sich zur Aufgabe stellt. Da
ist es immer wieder eine Zurückführung von Rectificationen auf
Quadraturen, genauer gesagt die Führung des Nachweises, dass eine
Curvenlänge zu einer Strecke sich ebenso verhalte, wie eine Curven-
fläche zu einem Rechtecke, welche angestrebt wird. Wir können
nicht umhin, auch auf Fermat's Rectification (S. 872) nochmals hin-
zuweisen. Fermat wusste in derselben von Wren's Rectification der
Cycloide. Wenn er diese Kenntniss, wie sich zeigen wird, auch aus
einem Briefe Wren's an Pascal schöpfte, so hat er doch muthmass-
lich Wallis' Schrift von 1659 gelesen. Sein erster Nachweis von der
Möglichkeit einer Rectification ist im Charakter Wren's, seine Aus-
') Wallis, Opera I, 545. ") Ebenda I, 550. ^) Ebenda I, 380—381.
Gregorius a Sto. Vincentio. Wallis. Pascal. De Sluse. Hudde. Van Heuraet. 907
führimg der Rectification verlässt die eingeschlagene Bahn wieder mit
der gleichen Folgewidrigkeit, wie Wallis sie übte.
Wir haben zugesagt, auf die Veranlassung zur Veröffentlichung
der Schrift De Cycloide zurückzukommen. Auch die Erfüllung dieser
Zusage führt uns zurück nach Frankreich und zu einem Schriftsteller
aus dem engsten Roberval'schen Kreise, zu Blaise Pascal. Seine
Erfindung einer Rechenmaschine, seine Arbeiten über die Kegel-
schnitte, über das arithmetische Dreieck mit den verschiedenen An-
wendungen desselben auf Wahrscheinlichkeitsrechnung, auf Zahlen-
theorie u. s. w. fallen sämmtlich vor Ende August 1654. Es folgte
eine in mathematischer Beziehung unfruchtbare Unterbrechung. Im
September 1654 wandte Pascal in Folge von Ereignissen, welche voll-
ständig zu ermitteln noch nicht gelungen ist, von der Mathematik
sich ab. Ganz andere Gedanken waren es, welche ihn ausschliesslich
beschäftigten, welche ihn mit Männern gleicher Richtung in enge
Verbindung brachten, und welche ihren schriftstellerischen Ausfluss
in den vom Januar 1656 bis Juni 1657 erschienenen, gegen den
Jesuitenorden gerichteten Provinzialbriefen hatten. Von da an etwa
mögen die alten mathematischen Neigungen Pascal's wieder hervor-
getreten sein, und in schlaflosen Nächten zu Anfang des Jahres 1658
erfolgreiche Untersuchungen über die Cycloide hervorgebracht haben.
Im Juni 1658 traten dieselben in Gestalt eines namenlos veröffent-
lichten Preisausschreibens^) in die Oeffentlichkeit. Galilei und Torri-
celli, hiess es dort (S. 885), hätten mit der Cycloide sich beschäftigt.
Gewisse Fragen seien aber noch immer unerledigt, und deren Beant-
wortung werde nun zur Wettbewerbung ausgeschrieben. Sei (Figur 183)
Z ein beliebiger Punkt der Cycloide und von ihm aus parallel zur
Grundlinie ÄD eine Gerade ZY bis zum Durchschnitte mit der Axe
CF gezogen. Man verlangt nun zu wissen: die Fläche CZY und
deren Schwerpunkt; Rauminhalt und Schwerpunkt der Umdrehungs-
körper von CZY sowohl um ZY als um CY; endlich die Schwer-
1) Pascal m, 322 sqq.
n08 Sl- Kapitel.
punkte der vier Körperstücke, welche entstehen, wenn man die beiden
genannten Umdrehungskörper je durch eine durch die jedesmalige
Drehungsaxe hindurchgehende Ebene schneidet. Die Sonderfälle sollten
dabei hervorgehoben werden, dass Z mit A und JB zusammenfalle, Y
also mit F und mit G (dem Mittelpunkte der Axe (jF\ Man ver-
lange nur, dass die Methode der Ermittelung richtig und deutlich
nachgewiesen werde, ob dabei etwa Rechenfehler unterlaufen, komme
nicht in Betracht. Fernere Bedingung sei, dass die Lösung vor dem
1. October 1658 erfolge. Als Preis wurden 60 spanische Dublonen
ausgesetzt, welche bei Herrn von Carcavy niedergelegt seien und von
welchen dem ersten Einsender 40, dem zweiten 20 ausbezahlt werden
sollten. Sollte überhaupt keine preiswürdige Lösung am 1. October
vorhanden sein, so werde der Preisausschreiber seine eigenen Auf-
lösungen veröffentlichen, deren dann Jeder als Ausgangspunkt zu
weiteren Untersuchungen sich bedienen könne. Am 7. October 1658
folgte eine Erklärung^), der Zeitpunkt der Einsendung sei nun vorüber,
und nur die zeitweilige Abwesenheit des Herrn von Carcavy ver-
hindere, dass mit der Prüfung der eingegangenen Bewerbungsschriften
begonnen werde. Darauf aber, was einige auswärtige Gelehrte be-
ansprucht hätten, dass man die Ankunft ihrer Arbeiten abwarte, so-
fern sie nur den Nachweis einer vor dem 1. October erfolgten Ab-
sendung beibrächten, weil sonst die Pariser Gelehrten zu sehr bevor-
zugt seien, könne man sich nicht einlassen. Die Bedingungen des
Preisausschreibens seien nun einmal so, wie sie seien, und müssten
eingehalten werden. Auch wegen der gestatteten Rechenfehler wurden
neue Einschränkungen gemacht. Darunter seien nur nebensächliche
Irrthümer zu verstehen, nicht aber solche, welche einen wesentlichen
Einfluss ausüben. Die eigenen Auflösungen des Preisausschreibers
seien zur Zeit schon in den Händen der Herren von Carcavy und
von Roberval und würden nach Prüfung der Eingänge veröffentlicht
werden. Zunächst werde aber in einigen Tagen die Histoire de la
Roulette erscheinen, welche berichten werde, wie und durch wen die
ersten Untersuchungen über die in Frage stehende Curve zu Stande
gekommen seien. In der That folgte die angekündigte Schrift-) unter
dem 10. October. Es war jene Verherrlichung Roberval's und Schmähung
Torricelli's, von welcher wir schon früher gehandelt haben. Torri-
celli soll, wie wir in aller Kürze wiederholen, gar nichts geleistet
haben, Roberval soll alles gefunden haben: die Quadratur der Rou-
lette, wie die Curve jetzt fortwährend genannt wird, während der
Name der Cycloide verbannt ist, die Tangente, die Kubaturen der
1) Pascal III, 328—333. -) Ebenda III, 337—343.
Gregorius a Sto. Vincentio. Wallis. Pascal. De Sluse. Hiuklo. Van Heuvaet. 909
beiden Uindreliungskörper, erst dessen um die Grundlinie, dann dessen
um die Axe. Ausserdem habe Roberval auch die verlängerte und ver-
kürzte Roulette in Untersuchung genommen. So weit sei die Forschung
etwa 1644 gewesen und habe dann 14 Jahre geruht. In diesem Zeit-
punkte sei der Preisausschreiber, der von geometrischen Dingen sich
seit lange abgewandt hatte, durch einen Zufall ihnen wieder näher
getreten, und er habe sich Methoden zur Auffindung von Quadraturen,
Kubaturen, Rectificationen, sowie von Schwerpunkten von Körpern,
ebenen und gekrümmten Flächen und Curven gebildet, welchen wenig
Dinge entschlüpfen möchten. Diese Methoden habe er an den Rou-
letten geprüft und bewährt gefunden, worauf er sein Preisausschreiben
in alle Weltgegenden schickte! Die eingegangenen Lösungsversuche
würden dermalen geprüft, aber es seien auch Sendungen eingetroffen,
welche, wenn auch nicht die Beantwortung der gestellten Fragen,
doch Interessantes enthielten. Darunter wird die gedruckte Abhand-
lung Lalouvere's und ein Brief Wreu's besonders hervorgehoben.
Erstere enthalte nichts als die Entdeckungen Roberval's, nur anders
dargestellt, was aber keine Schwierigkeit bereite, denn es sei immer
leicht, einen schon bekannten Satz anders zu beweisen. Die Recti-
fication der Roulette durch Wren dagegen sei neu und sehr schön.
Einen Beweis habe allerdings Wren nicht mitgeschickt. Fermat
habe einen solchen sofort gefunden. Roberval habe das Gleiche
geleistet, und zwar sobald man ihm von der Sache sprach, die ihm
nicht neu gewesen sei, denn er besitze eine sehr schöne Rectifications-
methode, die er nur noch nicht habe der Oeffentlichkeit übergeben
wollen.
Unter dem 25. November 1658 erschien das Urtheil des Preis-
gerichtes ^). • Es hatte sich nur mit zwei Arbeiten zu beschäftigen.
Die Verfasser, welche zunächst noch nicht genannt wurden, waren
Lalouvere und Wallis. Beiden Verfassern könne ein Preis nicht
zuerkannt werden. Lalouvere hatte nur ohne Begründung der an-
gewandten Methode eine Rechnung eines der aufgegebenen Fälle
eingereicht, er hatte dann in wiederholten Briefen vom September,
October, November die Mangelhaftigkeit seiner Rechnung zugestanden,
ohne sie zu berichtigen, und damit habe er selbst sein Urtheil ge-
sprochen. Wallis hatte seiner Bewerbungsschrift, das Manuscript der
1659 gedruckten Abhandlung De Cycloide (S. 907), gleichfalls berich-
tigende Briefe nachfolgen lassen, hatte am 30. September noch ge-
fragt, ob man nicht auch eine solche Lösung als befriedigend be-
trachten würde, welche der richtigen nahe käme, und dadurch den
Pascal III, 349- .^52.
910 81. Kapitel.
Beweis eigenen Misstrauens gegen seine Ergebnisse geliefert. In der
That seien dieselben mit Irrthümeru behaftet, welche nicht als blosse
Rechenfehler, sondern als Denkfehler, als Fehler des Verfahrens sich
kennzeichneten. Er berücksichtige z. B. nicht, ob die Entfernung der
unendlich vielen Oberflächen, welche er zu Hilfe ziehe, unter einander
die gleiche sei oder nicht u. s. w. Da man der gedi-uckten Abhand-
lung von Wallis diesen Vorwurf nicht machen kann, so stammt daher
die oben ausgesprochene Vermuthung, er habe bei der Veröffentlichung
mehr als nur Nebensächliches abgeändert. Eine letzte Streitschrift,
denn dazu waren Pascal's fortwährend ohne Unterschrift veröffent-
lichten Aeusserungen nachgerade geworden, bildet die Fortsetzung der
Geschichte der Roulette ^J vom 12. December. Sie ist gegen Lalouvere
gerichtet und wirklich vernichtend für ihn, da sie an der Hand von
Vorschlägen, welche man demselben gemacht hatte, und auf welche
er nie einging, den Nachweis fühi't, dass seine Ansprüche auf Er-
haltung des Preises so unbegründet als möglich seien, dass er sich
nicht im Stande gefühlt habe. Richtiges zu liefern. Nicht gesagt ist
aber, dass Pascal selbst über die Cycloidenangelegenheit Briefe mit
Lalouvere gewechselt hatte, in welchen ein ganz anderer durchaus
anerkennender Ton herrschte -j, nicht gesagt, dass am 8. December
eine kurze aber scharfe Gegenerklärung von Lalouvere erschienen war,
welche den anonymen Verfasser der Geschichte der Roulette einen
Verleumder nannte^). Dadurch sind Pascal's Zornesergüsse ziemlich
erklärt, wenn auch nicht genügend gerechtfertigt. Auszüge aus den
erwähnten Briefen Pascal's an Lalouvere hat dieser in seiner Geo-
metria promota von IGGO (S. 897 ) der Oeffentlichkeit übergeben.
Endlich kamen nun im Januar 1659 Pascal's Abhandlungen, aber
sie kamen nicht unter dessen eigenem Namen, wenn die gewählte
Maske ihn auch nicht lange verbarg. Die Provinzialbriefe hatte
Pascal mit Louis de Montalte unterzeichnet, und uns ist kein
Zweifel, dass dieser Name gewählt worden war, um an den auf hohem
Berge, auf dem Puy-du-D6me, angestellten Barometerversuch zu er-
innern, über welchen Pascal seinen ersten Streit mit Mitgliedern des
Jesuitenordens geführt hatte. Aus Louis de Montalte wurde jetzt
durch blosse Buchstabenversetzung Amos Dettonville, und unter
diesem Namen sind die Schriften verfasst, deren Vorgeschichte wir
ausführlich zu schildern genöthigt waren, und auf die wir jetzt selbst
einzugehen haben.
' *) Pascal m, 352—357. ^) Tannery, Pascal et Lalouvere in den Mc-
moires de la Societe des Sciences physiques et naturelles de Bordeaux T. V
(3. S^rie) pag. 11 — 15 des Sonderabzuges. *) Ebenda pag. 20 des Sonder-
abzuges.
Gregorius a Sto. Vincentio. Wallis. Pascal. De Sluse. Iludde. Yan Heuraet. 911
Wir müssen zurückgreifen auf das Jahr 1G54. Damals schickte
Pascal (S. 753) seine Abhandlungen über das arithmetische Dreieck
und dessen Anwendungen an Fermat und erhielt zur Antwort, auch
Fermat habe Aehnliches gefunden. Zu jenen Anwendungen zählten
wir, als wir von diesem Austausche von Mittheilungen sprachen, auch
die Auffindung der Summen von Potenzen der aufeinander-
folgenden Zahlen. Bei Fermat bildete sie die Grundlage seiner
Quadraturen von Parabeln jeder Ordnung, bei Pascal verknüpfte sie
sich gleichfalls mit infinitesimalen Betrachtungen. In dem Aufsatze
Potestatum numericarum sunima^) erklärt Pascal, der Znsammenhang
der Potenzsummen mit der Ausmessung von krummlinig begrenzten
Flächenstücken, spatim'utn ciirvüineorum dimensiones, sei Jedem ersicht-
lich, der einigermassen mit der Lehre von den Indivisibilien vertraut
sei, und kurz darauf spricht er den Satz aus: in continua quantitate,
quotlihd quantitates ciiius vis generis quantitati superioris generis additas
nihil ei superaddere. Dass man ihn recht verstehe, erklärt er dann
diesen Ausspruch dahin, dass Punkte zu Strecken, Linien zu Flächen,
Flächen zu Körpern hinzugefügt werden können, ohne sie zu ver-
ändern, dass auch bei Zahlen niedi'igere Potenzen höheren gegenüber
vernachlässigt werden können. Hatte Pascal also auch wirklich für
einige Jahre mit der Mathematik gebrochen, so brauchte er den Faden
nur an jener Stelle wieder anzuknüpfen, bis zu welcher er 1654 vor-
gedningen war, um sofort in den brennenden Tagesfragen auf dem
Laufenden sich zu befinden. In der That ist die Lehre vom Gleich-
gewichte am zweiarmigen Hebel, mit welcher der Brief von
Dettonville an Carcavy-) beginnt, eine unmittelbare Anwendung einer
Art von arithmetischem Dreieck (Figur 184). Sind von A nach
B und C die Entfernungen 3 und 2, und
hängen an allen Punkten ganzzahliger
Entfernuncren Gewichte in der Grösse der - . o n q
~ 4 0 3 9 8
auf der Figur beigeschriebenen Zahlen, so j.,j„ ^^^
findet bei Unterstützung des Punktes A
Gleichgewicht statt, weil 1 • 3 -f 2 • 5 + 3 • 4 = 1 • 9 + 2 • 8 und die
Wirkung des Gewichtes p in der Entfernung l durch Ip gemessen
wird. Die Summe l-3-|-2-5-|-3-4 kann man aber auch schreiben
3 + 5 + 4
+ 5 + 4
+4
^) Pascal in, 303—311. Die im Texte angeführten Stellen gehören S. 310
und 311 an. ") Ebenda III, 364 — 385. Ein guter Auszug aller Infinitesimal-
untersuchungen PascaVs bei Marie, Histoire des sciences mathematiques et phy-
suiues IV, 189—229.
912 ^1- Kapitel.
und diese Summe soll die be*i 3 anfangende Triangularsumme
von 3, 6, 4 heissen. Gleichgewicht findet also statt, wenn die
Triangularsumme der von dem Unterstützungspunkte nach beiden
Seiten vorhandenen Gewichte dem Unterstützungspunkte zunächst an-
fangend eine und dieselbe ist. Im Unterstützungspunkte selbst darf
natürlich auch noch ein Gewicht von beliebiger Grösse vorhanden
sein. So findet also auch wieder (Figur 185) bei Unterstützung von
A Gleichgewicht statt, wenn abermals die
B F E A 1) C beisfeschriebenen Zahlen den Grössen der
I I I I I I "
y ^ ^ - y y in den einzelnen Punkten aufgehängten
Fig. 185. Gewichte entsprechen. Nun bilde man
etwa von C anfangend die Triangular-
summe aller Gewichte 1.8 + 2-9 + 3-5 + 4-4 + 5-0-f6-7=99
und die einfache Summe aller Gewichte 8-f-9 + 5-[-4 + 0-j-'ii = 33,
so ist die erstere Summe das Sovielfache der zweiten, als es wieder
von C anfangend bis nach Ä, dieses selbst mitgezählt, Punkte giebt.
Es ist natürlich, dass der Satz auch richtig bleiben muss, wenn man
beide Summen von B aus bildet. Pascal giebt einen Beweis, dessen
eigenthümliche Form verständlicher werden dürfte, wenn wir ihn
vorher in allgemeine Buchstaben übersetzen. Die Gewichte mögen
vom gewählten Anfangspunkte an gerechnet ^j^, p^, ...p/^-^-r-i heissen,
und Pf, hänge am Unterstützungspuukte. Die Triangularsumme jener
Gewichte ist
l-Pi-\-2p^-\ h ^Pfc + (^ + 1) p,.+i -\ \-(ii-\-v~l) Pf,+,-i .
Wegen des vorhandenen Gleichgewichtes ist
oder
0={n—l)p,-\-(ii- 2)2x,-\--\-l-iiu-i+Opf—lpf,+i {v—l)pf,+,-t .
Wird dieser den Werth nicht verändernde Ausdruck zur obigen
Triangularsumme addirt, so geht dieselbe in
f* (ih +lh-\ h P,u+r-l)
über, womit der Satz bewiesen ist. Pascal schreibt nun in dem ge-
gebenen Zahlenbeispiele
7 0 4 5 9 8,
7 ü 4 5 9 ,
7 0 4 5,/ I ■
7 0^4
7 0
Gregorius a Sto. Viucentio. Wallis. Pascal. De Sluse. Hudde. VauHeuraet. 913
Aber das durch den Horizontalstrich abgetrennte kleine Dreieck
7 0 4
7 0
7
beträgt wegen des vorhandenen Gleichgewichtes so viel wie
8 9, . 8
8 oder Wie ^g.
Setzt man dieses Dreieckchen rechts von dem Diagonalstrich, so ent-
steht ein Rechteck
7 0 4 5 9 8
7 0 4 5 9 8
7 0 4 5 9 8
aus drei gleichen Zeilen, und, sagt Pascal^), wenn diese Beweisform
auch ungewöhnlich ist, so ist sie kurz, klar und hinreichend für
Solche, welche in der Kunst des Beweises bewandert sind. Bildet
man in den allgemeinen von uns benutzten Buchstaben die bei P/.i+r—i
anfangende Triangularsumme der Gewichte, so muss sie
V (ih +lh-\ h Pf^+r-l)
liefern. Die beiden von rechts und links anfangenden Triangular-
summen verhalten sich also wie ft : v oder, wenn man die Zahl der
Zwischenpunkte so vermehrt, dafs sie stetig aufeinander folgen und
jit und V unendlich gross werden, wie die Entfernungen des Unter-
stützungspunktes von den beiden Endpunkten der Strecke. Dadurch
bestimmt sich aber der Unterstützungspunkt, d. h. der Punkt, bei
dessen Unterstützung Gleichgewicht eintritt, oder der Schwerpunkt
der mit Gewichten beschwerten Strecke.
Der Satz lässt sich auf höhere Raumgebilde ausdehnen, deren
Theilchen man als auf die Punkte einer Geraden wirkend betrachten
kann, welche senkrecht zu parallelen, die Ober- j-
fläche begrenzenden oder theilenden Ebenen
steht. Man erfährt alsdann, in welcher Zwischen-
ebene der Schwerpunkt der Oberfläche liegt.
Wenn (Figur 186) die durch T hindurch-
gehende Ebene den Schwerpunkt der Oberfläche
YCFOZ enthält, so verhält sich TO:TA
wie die Triangularsummen der Theile der
Oberfläche, deren erste bei B, die zweite bei
C ihren Anfangspunkt hat. Man kann näm-
lich die Flächentheile als Gewichte betrachten,
welche in den Punkten der Strecke OA wirksam sind. Desshalb brauche
man nicht Scheu zu tragen^), die Sprache der Indivisibilien zu ge-
Fig. 186.
^) Pascal ni, 367 Avertissement.
Cantor, Geschichte der Mathera. U. 2. Aufl.
Ebenda III, 37'J.
58
914 81. Kapitel.
brauchen und von der Summe der Ordinaten u. s. w. zu reden. Man
müsse nur den richtigen Gedanken damit verbinden. Wie hier Flächen-
theilchen als Gewichte auftreten, so sei dort von Linien oder viel-
mehr kleinen Rechteckchen die Rede, deren Grundlinien beliebig kleine
Stücke der Axe der Figur sind.
Ausser den Triangularsummen bildete Pascal auch Pyramidal-
summen ^), welche die Summe von je um ein Element abnehmenden
Triangularsummen sind. Aus Ä^ B, C entstehen die Triangularsummen
lA-{-2B-\-^C, lB-\-2C, IC;
aus diesen die Pyramidalsumme IJ. -|- 3J?+ 6C, wo der Coefficieut
des w*^° Elementes ^'^^"tJ ist, wie n dessen Coefficieut in der ersten
Triangularsumme ist. Zieht man die Triangiilarsumme beliebig vieler
Elemente von ihrer verdoppelten Pyramidalsumme ab, so ist in dieser
Differenz das w*^ Element mit dem Coefficienten 2 *^^**"'" - — -2
2
behaftet. Eine Triangularsumme verhält sich aber zur Pyramidal-
summe wie eine Indivisible, weil sie um einen Grad niedriger ist^)
und kann vernachlässigt werden. Man erkennt hier das Zurückgreifen
auf den Satz der Potestakim niimericaruni summa, wenn Pascal sich
auch auf diese frühere Arbeit nicht beruft. Das Ergebniss lautet
dahin, dass die doppelte Pyramidalsumme gegebener Elemente als
Summe dieser Elemente, je weil mit dem Quadrate ihrer Orduungs-
ziffer vervielfacht erscheint.
Die Triangularsumme gegebener Elemente stellt sich dar als ein
Körper, welchen Pascal owz/fc^ nennt ^), ein Wort, welches, verschiedene
Bedeutungen in der französischen Sprache hat,
z. B. Grabstichel, und an dessen Schneide dachte
Pascal muthmasslich (Figur 187). Eine Figur
BAC, die aus zwei zu einander senkrechten
Geraden und einer Curve besteht, nennt Pascal
ein trilignc in augenscheinlicher Nachahmung
des Cavalieri'schen triUneum (S. 838). Man
bildet nun etwa von A C anfangend die Trian-
gularsumme aller Ordinaten des dreilinigen
Raumes. Die zu summierenden Zeilen stellen sich als Ebenen dar,
die in B beginnen und unten durch zu AC parallele, aber B immer
näher rückende Gerade abgeschlossen werden. Denkt man diese Ebenen
als unendlich dünne prismatische Körperchen aufeinander gelegt, so
1) Pascal III, 376. ^) Ebenda III, 377: La somme triangulaire n'est qii'un
indivisible ä l'egard des sommes pyramidales puisqu'il y a une dimension de moins.
3) Ebenda III, 379.
Gregorius a Sto. Vincentio. Wallis. Pascal. De Sluse. Hndde. Van Henraet. 915
entsteht das Onglet GABB, begrenzt von drei Ebenen ABC, ABB,
ABC und einer eylindriscLen Oberfläche BGB. Man kann es auch
so entstanden denken, dass über dem Triligne ABC ein gerader
Cylinder von der Höhe BB = BA errichtet ist und nun eine Schuitt-
ebene durch BAC hindurchgelegt wird, welche mit ABC einen Winkel
von 45** bildet. Denkt man sich genau dieselbe Construction auch
nach unten, wo ein Onglet GABB' entsteht, so setzen beide sich
zum Doppelonglet BGAB' zusammen, und dieses steht zu dem halben
Umdrehungskörper von A CB um A C in eigenthümlichen Beziehungen.
Eine der Ebene BAB' parallel gelegte, durch einen Punkt A^ der
AG hindurchgehende Ebene schneidet das Doppelonglet in einem
gleichschenklig-rechtwinkligen Dreiecke B^A^B^, dessen Flächeninhalt
— A^B^^ ist. Dieselbe Ebene schneidet den erwähnten halben Um-
drehungskörper in einem Halbkreise vom Halbmesser A^B^, dessen
Flächeninhalt „ ^i ^^ "^ X -^i A' ^ ^^^- Letzterer Schnitt ist also das
—fache des ersteren, und da das gleiche Verhältniss bei jedem Parallel-
schnitte obwaltet, so ist der genannte halbe Umdrehungskörper das
—fache des Doppelonglet^). Pascal macht überdies noch auf andere
Beziehungen beider Körper zu einander aufmerksam und beweist die
selben. Ihre gekrümmten Oberflächen, ihre Schwerpunkte u. s. w. treten
dabei in Frage. Die Onglets dreiliniger rechtwinkliger Figuren sind
damit in den Vordergrund der Betrachtungen gerückt, und mit ihnen
beschäftigt sich eine besondere Abhandlung^). Gleich zu Anfang der-
selben stellt Pascal wieder einen neuen Begriff, den der Adjungirten
der dreilinigen Figur, Vadjointe du triligne, auf, und dieses dürfte das
erste Vorkommen des Wortes adjungireu in der Mathematik sein
(Figur 188). Ist eine dreilinige Figur ABC links
von einer Geraden AB gelegen und durch diese,
durch die zu ihr senkrechte AG und durch die Curve
BG begrenzt, und bildet man rechts von AB unter
Zuhilfenahme der zu ihr senkrechten BK und irgend
einer Curve AK eine zweite dreilinige Figur, so
heisst diese der ersteren adjungirt. Wird nun die ad-
jungirte Figur ABK durch Umfalzen in eine solche Lage gebracht,
dass ihre Ebene senkrecht zur Ebene der ABC sich befindet, zieht
man aus jedem Punkte B der AB senkrecht zu AB die selbst unter
rechtem Winkel an einander stossenden BF, BO und vollendet aus
») Pascal m, 380. -) Ebenda III, .385—403.
916
81. Kapitel.
ihnen ein Rechteck, so entsteht ein Körper, den Pascal als triligne
multiplie par Ja figiire adjointe bezeichnet, hier sein Studium des
Gregorius von St. Vincentius verrathend, nach dessen dudus plani
in planum der Ausdruck offenbar gebildet ist. Der Rauminhalt dieses
Körpers ist aber auch einer zweiten Zerlegung in parallele Schnitte
fähig. Wie man die erstgenannten Ebenen parallel zu AC führte,
kann man sie auch parallel zu AB führen. Der Körperinhalt ver-
ändert sich selbstverständlich nicht, er wird nur in andersartige Ele-
mente zerlegt, ein Verfahren, dessen die spätere Integralrechnung sich
mit Vorliebe bedient hat und noch bedient. Man hat desshalb auch
die nicht sehr leicht verständliche Sprache Pascal's in die Zeichen der
Integralrechnung zu übersetzen versucht^) und dadurch nachgewiesen,
dass Pascal mit der sogenannten theilweisen oder partiellen In-
tegration,
/ 21 • dv = UV — I V • du ,
bekannt war, wenn er auch genöthigt war, den gegenwärtig allgemeinen
Satz vielleicht in ein Dutzend von besonderen Sätzen zu theileu.
Auch die übrigen Abhandlungen PascaFs aus dem Jahre 1659 sind
wesentlich von Aufgaben der Integralrechnung erfüllt, bei deren
Lösung Pascal immer wieder vermöge des Mangels an einer all-
gemeinen Bezeichnung schwerfällig von einer Sonderuntersuchung zur
anderen fortschreiten musste, innerhalb dieser Einengung aber die
Auflösungen wirklich lieferte. Ohne über alle diese Abhandlungen
zu berichten, begnügen wir uns, deren Ueberschriften anzugeben""):
Frojyrietes des smnmes simples triangiäaires et pyramidales. Traite des
sinus du quart de cercle. Traite' des arcs de cerele. Petit traite des
solides circulaires. Traite general de la roulette. Dimension des lignes
courhes de toutes les roidettes. De l'escalier, des triangles cylindriques
et de la spirale autour d'un cöne. Egalite des lignes spirale et para-
holique. Von diesen Aljhandlungen ist die Dimension des lignes courhes
de toutes les roidettes mit einer besonderen Wid-
mung an Huygens, die De Vesealier u. s. w. mit
einer eben solchen an De Sluse versehen. Der
Traite des sinus du quart de cercle^) beginnt mit
einem Lemma, welches (Figur 189) die Aehn-
lichkeit der Dreiecke EKE und AID betont.
Diese Figur ist, wie im 98. Kapitel gezeigt wer-
den wird, von folgewichstigster Einwirkung auf
Leibniz gewesen.
1) Marie 1. c. IV, 202— 215. ^ Pascal 111,403—464. ") Ebenda 111,409.
Gregorius a Sto. Vincentio. Wallis. Pascal. De Sluse. Hudde. Van Heuraet. 917
So sehr Huygens selbst es verdient, auch wegeu seiner vielfach
bahnbrechenden Leistungen in der Curvenlehre, mithin als Mitarbeiter
auf dem Gebiete der Infinitesimalbetrachtnngen ausführlich behandelt
zu werden, so kann dieses doch nicht innerhalb dieses Bandes ge-
schehen. Sein Horologium oscillatorium, in welchem die zahlreichsten
und wichtigsten Entdeckungen sich vorfinden, wurde erst 1673 ver-
öffentlicht, fällt also über die Grenze hinaus, welche wir uns ge-
steckt haben.
Anders verhält es sich mit De Sluse^). Seine mathematischen
Leistungen der Oeffentlichkeit zu übergeben, zögerte er ungemein,
doch ist Manches und keineswegs Unbedeutendes in Briefen nieder-
gelegt. Das Cycloiden-Preisausschreiben, welches ihm durch Carcavy
zugeschickt worden war, ohne dass der Name des Preisstellers dabei
genannt worden wäre^), veranlasste ihn, an Pascal, mit welchem er
ohnedies schon einige Briefe gewechselt hatte, darüber zu schreiben.
Am 2. August 1658 erweiterte er dabei sehr wesentlich^) den Begriff
der Cycloide. Dieses Namens bediente De Sluse sich fortwährend
und nicht des Wortes Roulette, welches das Preisausschreiben ja auch
noch nicht kannte. De Sluse denkt sich eine ganz beliebige Curve,
welche längs einer Geraden mit gleichförmiger Geschwindigkeit fort-
geschoben wird, während ein Punkt gleichfalls mit gleichförmiger
Geschwindigkeit die Curve durchläuft. Der Ort, welchen der genannte
Punkt bei seiner doppelten Bewegung auf und mit der Curve be-
schreibt, heisst ihm Cycloide, in welchem Verhältnisse auch die beiden
Geschwindigkeiten zu einander stehen mögen. Von dieser Beschrei-
bungsart au.sgehend, gelangt De Sluse zu einander gleichflächigen,
gemischtlinigen Dreiecken, welche den Trilignen Pascal's nahe verwandt
sind, wie De Sluse selbst in einem Briefe vom 29. April 1659 bemerkt^).
Eine Auflösung des Tangentenproblems für algebraische
Curven^), deren Gleichungspolynom in Gestalt einer rationalen ganzen
Function gegeben war, scheint De Sluse seit 1652 besessen zu haben.
Sie besteht in Folgendem. Die Gleichung der Curve heisse f{x,y) = 0,
wo X die Abscisse, y die Ordinate der Curve bedeutet, und a sei die
Subtangente. Man schreibt sämmtliche Glieder von f{x, y), in
welchen der Buchstabe x vorkommt, links, sämmtliche Glieder, in
welchen der Buchstabe y vorkommt, mit entgegengesetztem Vorzeichen
rechts hin. Glieder, welche x und überdies y enthalten, werden auf
^) Correspondence de Rene Framjois de Sluse j)u,hliee poiir Ja premiere fois
et precedee d'une introduction par M. C. Le Paige im BulJetino Boncompjagni
XVII (1884) und C.Le Paige im Bulletin de l'Institut archeologique Liegeois XXI,
532—549 (1888). ^) Bulletino Boncompagni XII, 499. ^) Ebenda XII, 501.
*) Ebenda XII, 507. ^) Ebenda XII, 477—478, 605, 607.
918 81. Kapitel.
beiden Seiten Stellung finden müssen. Die Grlieder rechts werden,
jedes für sich, mit dem Exponenten der in ihnen vorkommenden Potenz
von y vervielfacht. Ebenso verfährt man links mit dem Exponenten
der in jedem Gliede verkommenden Potenz von x und ersetzt dabei ein
X in jedem Gliede links durch a. Schreibt man nun ein Gleichheits-
zeichen zwischen beide nach dieser Vorschrift veränderten Glieder-
gruppen, so hat man eine nach a lineare Gleichung, aus welcher diese
Grösse sich ergiebt. Ist z. B.
^«+1 — ex« + hif = 0,
so wird zunächst
otf-^^ — 6'^" — htf
angesetzt und daraus
{ii -\- 1) rtJt;" — «aca;"~^ = — uhif
gebildet, nebst
a _ »^/
ncx^-'^ — (H+ l)a;"
Die Curve
_py2 ^ 2qxy' + sx' + ^ = 0
dagegen veranlasst den Ansatz
2(ixif + sx^ — py" — 2qxy^
und daraus
also
2ciaif -f- '^Lisx^ = — ^py^ — dqxy^,
Die erste Curve, welche wir hier als Beispiel gewählt haben, ist
eine sogenannte Perle ^), deren allgemeine Gleichung
Jjyn =(c — xyx"'
hier für den Sonderfall p = 1, m ^^ n in's Auge gefasst wurde.
Diese Perlen sind von De Sluse zuerst untersucht worden, der die
Quadratur des Kreises mit ihrer Hilfe für möglich hielt, beziehungs-
weise eine Abhängigkeit der Quadraturen beider Curven von einander
behauptete.
Wir haben (S. 808) des Mesolabum von 1659 gedacht, in welchem
De Sluse die Aufgabe behandelte, zwischen zwei Grössen zwei geo-
metrische Mittel einzuschalten, und der zweiten Auflage dieses Werkes
von 1668, in welcher De Sluse die früher bei Lösung jener besonderen
Aufgabe brauchbaren Mittel als zur Behandlung jeder kubischen Glei-
chung tauglich erkannte. Diese zweite Auflage des Mesolabum besitzt
noch einen Anhang mit der Ueberschrift: Verschiedenes, Miscellanea^).
^) Bulletino Boncompagni XII, 472. -) Ebenda XII, 475—476.
Gregorins a Sto. Vincentiü. Wallis. Pascal. De Sluse. Hiulde. Van Heuraet. 919
Neben anderen nicht uninteressanten Dingen lindet man in den Mis-
cellaneen die erste allgemeine Untersuchung von Inflexionsp unkten
von Curven und von solchen Curven, welche die untersuchten gerade
in ihren Inflexiouspunkten schneiden. Diese und andere Betrach-
tungen verschafften dem Werke unter den Zeitgenossen die höchste
Anerkennung. Sj)ätere Leistungen von De Sluse sind von geringerem
Belang.
Es bleibt uns nur noch übrig, auf die Ausgabe der Descartes-
schen Geometrie von 1659 zurückzugreifen und die darin zum Ab-
drucke gebrachten, nicht von Descartes herrührenden, auf die höhere
Curvenlehre bezüglichen Abhandlungen zu besprechen. Sie gehören
zwei holländischen Mathematikern an: Hudde und Van Heuraet.
Wir haben an die Methode von Johannes Hudde zur Erkennung
der mehrfachen Wurzeln einer Gleichung (S. 802), welche in einem
Briefe vom Juli 1657 niedergelegt ist, nur zu erinnern. Im Januar
des folgenden Jahres 1658 entstand ein zweiter Brief Hudde's über
Maximal- und Minimalwerthe, De Maximis et Minimis'^). Er
wendet zur Bestimmung der grössten und kleinsten Werthe genau das
gleiche Mittel an, welches in dem früheren Briefe zur Ermittelung-
gleicher Gleichungswurzeln geführt hatte, nämlich die Multiplication
der einzelnen Glieder des Ausdruckes, welcher einen grössten oder
kleinsten Werth annehmen soll, mit Zahlen, welche eine arithmetische
Progression bilden, und zwar, meint er, könne man füglich als solche
Factoren die Exponenten der Potenzen von x in den einzelnen
Gliedern wählen, wobei vorausgesetzt ist, dass der zu behandelnde
Ausdruck erstlich rational ist und zweitens kein x im Nenner enthält.
Ist dagegen eine gebrochene Function zu untersuchen, so weiss Hudde
offenbar nur dann Rath, wenn der Nenner ein Monom ic" ist, und
wenn es dann genügt, den Zähler für sich zu untersuchen. Auch an
Fälle, in welchen mehrere Veränderliche vorkommen, die durch Glei-
chungen mit einander verbunden sind, wagt er sich heran und eliminirt
mittels der betreffenden Gleichvmgen die störenden überzähligen Un-
bekannten. Einen Beweis seiner Methode giebt Hudde nicht. Zur
Verdeutlichung unserer Schilderung lassen wir zwei von Hudde's Bei
spielen folgen. Erstlich soll
(3a — h) x^ — "~- (- a^ö
Maximum werden. Hudde vervielfacht die Glieder mit 3, 1, 0. Diese
Zahlen bilden freilich keine arithmetische Progression, aber der Ver-
fasser macht darauf aufmerksam, dass in dem vorgelegten Ausdrucke
1) Descartes, Geom. I, 507—516.
920 81. Kapitel.
streng genommen auch das Glied Ox" vorkomme, Avelches mit dem
unter den Multiplicatoren fehlenden 2 zu vervielfachen sei. Das Er-
gebniss der Multiplication ist
3(3« -&).^B_ 1^ = 0, (9a-Sh)x^='^,
und damit begnügt sich Hudde. Zweitens soll ^ = — y — y Maximum
werden, während bekannt ist i/ — nyx -{- x^ = 0 und v — x = y.
Man setzt y aus der letzten Gleichung in die beiden vorhergehenden
ein und findet
X = ^ -{- z , v^ — ?>v'x -\- Svx^ = vnx — nx^.
Nun wird der Werth von x aus der ersten neuen Gleichung in die
zweite eingesetzt und damit
— «;B — j nv^ + 3/^i' + nz^ = 0
erhalten. Das Gleichungspolynom vervielfacht Hudde mit der fallenden
3 1
Progression 3, 2, 1, 0, so dass — v^ — - nv^ -\- ?>z'^v = 0 entsteht
und -4^ = ^ '^y — T y'- Der so gewonnene Werth von z- verändert
die vorher zwischen v und z gewonnene Gleichung in v^ = — n^, ein
Ergebniss, welches vollständig richtig ist. Hudde behauptet in einer
Nachschrift^), auch darüber geschrieben zu haben, wie man Max i mal -
werthe von Functionen mehrerer Veränderlichen finde, wenn
zwischen ihnen keine Gleichungen gegeben sind, doch ist das Alles,
was wir von dieser hochbedeutsamen Erweiterung der Aufgabe wissen.
Dass Hudde's Verfahren in dem Falle einer einzigen Veränderlichen
noch an denselben ünvollkommenheiten leidet, welche dem von Fermat
anhaften, dass es nämlich unentschieden lässt, ob Maximum oder
Minimum eintritt, dass es versagt, wenn mehrere Ableitungen der unter-
suchten Function als nur die erste verschwinden, dass es überdies
nur bei ganzen rationalen Functionen anwendbar ist, erkennt man
sofort. Hudde scheint, wenn man einer Aeusserung Leibnizens
volles Vertrauen schenken darf^), auch mit der ungemein wichtigen
Aufgabe sich beschäftigt zu haben, die Gleichung einer Curve aus
gegebenen Punkten derselben zu ermitteln, er soll sich sogar gerühmt
haben, im Stande zu sein, die Gleichung der Umrisse des Bildnisses
irgend einer Persönlichkeit herzustellen.
Heinrich van Heuraet ist (S. 905) der Erfinder einer Recti-
ficationsmethode^), welche er in einem Briefe vom 13. Januar 1659
^) Descartes, Geom. I, 516. ^) Montucla H, 150. ^) Descartes,
Geom. I, 517—520.
Gregorius a Sto. Vincentio. Wallis. Pascal. De Sluse. Hudde. Van Heuraet. 921
beschrieben hat. Er verwandelte die Frage nach der Länge einer
Curve in die nach dem Flächenraume einer zweiten Curve, führte also
die eine Aufgabe auf eine zweite zurück, deren Auflösung zwar auch
nicht allgemein gegeben war, aber doch schon in so zahlreichen
Fällen, dass man jene Zurückführung als einen Fortschritt zu be-
zeichnen hatte (Figur 190). Nach Van
Heuraet ist die Fläche ALK MB gleich
dem Rechtecke, dessen Seiten eine Con-
stante a und die Länge der Curve EDF
sind, wenn nur auf jeder Ordinate KDC
der beiden Curven die Proportion statt-
findet a:KC=DC: DN, wo DN die
Normale der auf ihre Länge zu unter-
suchenden Curve EDF im Punkte D ist.
Von der Richtigkeit dieser Behauptung
überzeugt man sich am leichtesten unter Anwendung neuerer Hilfsmittel.
Wir setzen OC = x, DC=^y, KC= Y, alsdann ist DN=yyi-\-y''
und die Proportion heisst
Fig. 190.
Daraus folgt Y
a:Y=,j:yYr+^.
/T -|- y'^ und
wenn beide Integrationen zwischen denselben Absei ssen, etwa beide
von OÄ bis OB, vollzogen werden. Van Heuraet's Erfindung steht
nicht allein. Wir haben Zurückführungeu von Rectificationeu auf
Quadraturen auch bei Fermat, bei Neil ausführen sehen. Die Ver-
öffenthchung Van Heuraet's ist unzweifelhaft die älteste, und ein
Anlehnen an die beiden anderen Schriftsteller steht bei ihm ganz
ausser Frage. Auch das Umgekehrte möchten wir nicht behaupten.
Weit eher vermuthen wir den gemeinsamen Keim aller dieser Ver-
wandlungen der Betrachtung einer Curve in die einer anderen in der
durch Cavalieri zuerst zum Abdrucke gebrachten Vergleichung der
Spirale mit der Parabel.
Ein kurzes Ueberdenkeu des in den vier letzten Kapiteln 78
bis 81 Zusammengestellten lässt Eines klar hervortreten: dass das
halbe Jahrhundert von 1615 — 1668 als das der Erfindung der
Infinitesimalrechnung benannt werden darf. Aufgaben der In-
tegralrechnung wurden zuerst behandelt. Aufgaben der Differential-
rechnung folgten. Dann lösten beide Gattungen von Aufgaben in
buntem Gemische sich ab. Und bunt wie die Aufgaben mischt sich
die stammliche Zugehörigkeit der Männer,, welchen die gewaltigen
922 Sl- Kapitel.
Fortschritte verdankt werden. Von Deutschland nach Italien, von
dort nach Frankreich, nach den Niederlanden, nach England haben
wir den Gedanken wandern sehen, an den gleichen Orten haben wir
neue Gedanken begrüssen dürfen. Zweierlei ist aber aus dem Ge-
wirre der Aufgaben, aus dem Gewühle der Mathematiker unzweifel-
haft zu erkennen. Erstens, dass die Franzosen es waren, welche
die eigentlich leitende Rolle spielen, und dass insbesondere Fermat
als derjenige zu bezeichnen ist, der in der Differentialrechnung, Pascal
als der, der in der Integralrechnung am erfolgreichsten thätig war.
Zweitens, dass ein innerer Zusammenhang zwischen allen behandelten
Aufgaben doch nur Wenigen, am meisten vielleicht Fermat ein-
leuchtete, welcher auch den ersten Anlauf dazu nahm, eine einheit-
liche Bezeichnung einzuführen, der nur ein wesentlicher Mangel an-
haftete: dem Fermat'scheu E war nicht anzusehen, wovon es
als Veränderung auftrat.
Das war also das Gebiet, welches nunmehr die Thätigkeit der
hervorragendsten Mathematiker forderte und in Anspruch nahm. Es
musste, wenn wir so sagen dürfen, gezeigt werden, dass der AVortlaut
der scheinbar so verschieden klingenden Aufgaben schliesslich einer
Sprache angehörte. Es musste dieser Sprache eine geeignete Schrift
zur Verfügung gestellt werden.
Zwei Männer waren es vornehmlich, welche diesen Fortschritt
der Wissenschaft an ihren Namen knüpften, und welche deshalb ver-
dienen, in ähnlicher Weise am Ende dieses zweiten Bandes aufzutreten,
wie Leonardo der Pisaner und Jordanus Nemorarius am Ende des
ersten Bandes. Sie gehörten nicht mehr Frankreich au, sei es, dass
man dort, seit Fermat's Arbeiten bekannter wurden, glaubte, dieser
habe in der Bezeichnung schon Genügendes geleistet, sei es, dass der
französische Geist dem Formalen sich weniger anpasst. Jedenfalls ist
es England und Deutschland, wo inzwischen die Männer der Zu-
kunft heranwuchsen, für welche das Jahr 1668 und das darauf folgende
1669 Wendepunkte ihres Lebens bilden.
1666 erschien in Leipzig die Doctordissertatiou von Gottfried
Wilhelm Leibniz. 1668 knüpfte er Beziehungen zu einflussreichen
Persönlichkeiten an verschiedenen Orten an, welche für seine Lauf-
bahn von grösster Bedeutung wurden. 1669 wurde Isaac Newton
Professor der Mathematik in Cambridcre.
Eegister.
A.
Abacus für eine Person gehalten 124.
.Ahälard 54.
Abgekürzte Multiplicatmi 618 — 619.
Abschneiden von Körpern (abscindere)
342. 343.
Abscisse (das Wort) 898.
Absurde Zahlen = negativ 442.
Äbü'l Wafä 83. 296. 298.
Abnndans 61.
.Accademia dcl Cimento 661.
Accentuirung von Zahlen 8.
Adaequare 858. 864.
Adjointe du triligne 915.
Adjungicrcn 915.
AdpUcare 631.
Aegidius Eomanus 121.
Acgi/phr 12. 27. 92. 452. 592.
AvhnJiildeitspunlte 590.
Afstiinafioncs 536.
.4/^0 547.
Agrimensorisches 38. 95. 234—236. 343.
416. 417. 562. 812.
Ahmed Soh)i des Jusuf 16. 67. 77. 114.
317. 376.
AJimes 27. 92.
Aiguülon (Franz von) 693. 695.
Ailly (Peter von) 172. 173.
Akademie, Pariser 675. 679. 681.
Albattäni 111. 272. 275.
Albert von Sachsen 101. 143—149. 192.
317.
Alberti (Leone Battista) 292. 293. 294.
307. 467. 468.
AlbcHus Magnus 96.
Alhins (Ricardus) 891—892.
Alchiiarizmi 33. 34. 72. 158. 239. 246.
484.
Alcuin 362.
Alexander (Andreas) 423.
Alexander der Grosse 641. 642.
Älfarabi 61.
Älfons X von Leon 177. 187. 385.
Alfraganus 59. 256. 260. 261. 262. 409.
Alfred 261. 263.
Algebra und Almuchabala 32. 308. 321.
Algebra abgeleitet von Geber 165. 431.
Algebra des Frater Fridericiis von 1461
239.
Algebraische Curven 814.
Algebraische Geometrie 536. 567. 568.
584. 585. 591. 785. 806—811. 816.
818—819.
Algobras, eine Persönlichkeit 249. 250.
423. 440. 6"41
Algorisme frangais 91 — 92.
Algorithmus linealis 222. 385.
Älgus 88.
Aliza, Regulti 532. 536. 537.
Alkclsddi 243.
Al'Karchi 10. 32. 34. 85.
AI Käschi 47.
Almagest 7. 140. 182. 185. 210. 255. 256.
Ahhanach 164.
Alnasatvi 85.
Alsted (Johann Heinrich) 719.
Amirucio (Georg) 453—454.
Analogieschlüsse empfohlen 664.
Analysis 630.
Analytische Geometrie der Ebene 811 —
821.
Analytische Geometrie des Raumes 812.
815. 819. 820.
Andalo di Negro 165.
Anderson (Alexander) 585. 608. 634.
655. 831.
Angeli (Stefano degli) 897—898.
Angles s. Robertus Anglicus.
Anhaltin (Chi-istian Martini) 713.
An Nairizi 117.
Anthonisz (Adriaen von Metz = Metius)
599.
Antilogarithmen 726. 742.
Antiphon 594.
Antobola = Ellijise 679.
Antonius Andreas 121.
Anzahl der Durchschnittspwnkte zweier
Curven 819.
Apfel 825. 826.
Apianus (Peter) 60. 225. 401—405. 410.
428. 433. 449. 453. 475. 518.
Aiwllonius 98. 132. 259. 261. 263. 283.
456. 480. 553. 558. 571. 590. 653. 654.
655. 656. 660. 661. 662. 794. 809.
816. 898.
924
Register.
ccTtogrifia 245.
Äporisma 245. 246. 247.
Apotome 595.
Applicaten 812.
Apuleius 217. 222. 248. 385. 642.
Aqnilonius s. Aiguillon.
Aqiiinas 238. 284. 422.
Äquiiio s. Thomas von Aquino.
Araber 3. 4. 8. 9. 10. 16. 22. 27. 30.
31. 42. 44. 63. 67. 70. 73. 80. 99. 100.
117. 129. 130. 155. 206. 240. 243. 262.
264. 294. 307. 308. 328. 385. 388.
563. 578. 585. 597. 642.
Aratoribus (Gabriel de) 482.
Aratus 408.
Archimed 43. 77. 82. 99. 116. 132. 183.
192. 209. 210. 259. 261. 263. 276. 317.
331. 373. 406. 451. 455. 457. 458. 514.
515. 524. 525. 549. 553. 559. 563. 570.
584. 585. 592. 593. 596. 598. 599. 642.
653. 660. 761. 822. 823. 824. 831. 839.
843. 845. 849. 856. 865.
Archimenides 77. 116.
ArcJiipendnlum 38. 331.
Archytas 82.
Arcufication 192. 193. 383. 853—854.
Arcus Pictagorae 5. 34.
Arcus tanqens 185. 275.
Ardiifter (Johann) 670.
Argelati 669.
Aristaeus der Aeltere 662.
Aristarch 553.
Aristoteles 7. 54. 56. 61. 119. 128. 210.
245. 259. 261. 317. 569. 655. 685. 696.
Arithmetik von Treviso 302—305.
Arithmetisches Breieck PascaVs 750 —
754. 756—757. 911—913.
Arithmetische Heihe s. Reihen (arithme-
tische) und Reihen (arithmetische
höherer Ordnung).
Armand von Beauvoir 121.
Arte maggiore 321.
Articulus 8. 64. 88. 94.
Arzachel 183.
Asamm 10.
Aschbach 143. 149. 391. 392. 393. 394.
As Sidschzi 82.
Assymetrie = Irrationalgrösse 804.
Asymptoten 456. 571. 857.
Atclhart von Bath 100. 110. 261. 263. 277.
Athelstnne 102. 263.
Auerbach s. Stromer.
Aufgabe des Pappus 813. 814.
Aufgaben in Briefen gestellt 238. 281 —
286. 774—776. 777. 786—787. 854—
857. 907—910.
Aufgabensammhmg von Pamiers 359. 767.
Aufsetzen von Körpern (elevare) 342. 343.
AufsteigeMe Kettenbrüche 10. 18. 165.
315.
Aureolus (Petrus) 121.
Auria (Giuseppe) 557.
Autolykus 558.
Aynscom (Franciscus Xaverius) 717.
Azari 328.
B.
Sachet de Mesiriac (Claude Gaspard)
655. 767—768. 771—773. 776. 779. 780.
Baco (Roger) 56. 96. 97. 98. 99. 100.
113. 118. 122. 125.
BacoYithorp (Johaim) 113. 121.
Baculus s. Jacobsstab.
Baldi (Bernardino) 306. 307. 547—548.
557.
Baliani (Giovanni Battista) 698. 699.
Ball s. Rouse Ball.
Balsam 660.
Baltzer 683.
Bamberqer Bechenbuch 221 — 227. 228.
230. 231. 357.
Bankir 216.
Banneicitz s. Apianus.
Barbaro (Ermolao) 219.
Barlaam 262.
Barocius s. Barozzi.
Barometer 699. 883. 910.
Barozzi (Francesco) 553. 571 578. 579.
692.
Barthelemy de Bommans 361.
Bartsch (Jacob) 741—742.
basis = Cosinus 601.
Basis e der natürlichen Logarithmen
727. 736.
Basis von Bürgi's Progresstafeln 727.
Basis von Neper's Logarithmentafeln 730.
Basis 10 von Logarithmentafeln. 737. 738.
Basyngstoke (Johannes von) 100.
Bauvorschriften 452. 465,
Bayle 681. 754.
Beaugrand, De 873. 886. 890.
Beaune (Florimond de) 799—801. 820.
856—857.
Beauvoir s. Annand von Beauvoir.
Beeckman (Isaac) 683.
Befestigungskunst 468. 573. 574. 687. 693.
Befreundete Zahlen 350. 446. 685. 771.
Behd Eddin 10.
Behaim (Martin) 289. 386.
Behr s. Ursinus.
Beldomandi (Prodocimo de') 186. 204
—209. 223. 229. 310. 477.
Bellovacensis s. Vincent de Beauvais.
Bencivenni (Zuchero) 165.
Benedetti (Giovanni Battista) 565 — 568.
584. 587.
Benedictis s. Benedetti.
Bergau (R.) 582.
Beriet 420. 422. 423.
Bernecker (Hans) 423.
Bernegger (Matthias) 690. 709. 746.
Bernelinus 207.
Bernhard, Stiftsschüler von Hildesheim
174.
Register.
925
BernouUi (Jacob) 81G.
Berthelot 516.
Beriraiid 747.
BeräJirunijsaufgahe des Apollmvius 590.
598. U59.
Berührungslinie s. Tangentenproblem.
Bessarion 185. 210. 255. 256. 257. 264.
Besso (D.) 898.
Bestimmte Integration 829—831. 837.
845. 869. 872. 900. 903—904.
Bettini (Mario) 770.
Bewegungsgeometrie 82 .
Beweis aus der üumöglicbkeit des Vor-
handenseins unendlich vieler immer
kleiner werdenden Zahlen 105. 778 —
781.
Beweis von n auf n -j- 1 749. 752. 756
—757.
Beyer (Johann Hartmann) 619. 620.
Biagio da Parma 165—166. 203. 204.
317. 393.
Biancani (Giuseppe) 651 — 652. 655.
B/a«c/?mi (Giovanni) 180. 256. 263. 264.
273. 280. 281. 282. 284. 287. 290.
Bibliothek von Bamberg 221.
Bibliothek von Basel 63. 67. 77. 86. 89.
110. 144. 152. 173.
Bibliothek von Berlin 739.
Bibliothek von Bern 143.
Bibliothek von Bologna 308.
Biblothek von Cambridge 86.
Bibliothek von Dresden 67. 86. 241.
243. 246. 642.
Bibliothek von Erfurt 60. 86. 126. 127.
Bibliothek von Florenz 100. 165. 660. 661.
Bibliothek von Göttingen 612. 642.
Bibliothek von Gottweih 302.
Bibliothek von Krakau 313.
Bibliothek von Leipzig 250.
Bibliothek von Mailand 7. 86. 295.
Bibliothek von Melk 259.
Bibliothek von München 86. 101. 151.
181. 185. 235. 237. 238. 289. 314.
338. 589. 601. 619. 701.
Bibliothek von Nürnberg 262. 279.
Bibliothek von Oxford 60. 86. 96. 123. 127.
Bibliothek von Paris 6. 86. 98. 295.
BiWzofM; von Rom 7. 86. 91.111.114.155.
Bibliothek von Seitenstetten 127.
Bibliothek von Siena 7.
Bibliothek von St. Gallen 128.
Bibliothek von Thorn 60.86. 113. 118.128.
Bibliothek von Venedig 86. 143.
Bibliothek von Wien 64. 86. 124. 240.
260. 289. 424.
Bibliothek von Wolfenbüttel 7. 552.
Bienewitz s. Apianus.
Bierens de Haan 571. 591. 592. 596.
597. 598. 599. 606. 612. 713. 743. 786.
787. 797. 801.
Bigollo 6.
Bigotiere s. Vieta.
Biliotti (Antonio) dell' Abaco 164.
Billin gsley (Henry) 554.
Billy (Jaques de) 785 — 786.
Binomialcoef'ficienten 433. 434. 444. 445.
523. 524. 532. 610. 611. 640. 721.
751—754.
Bion (Nicolas) 672.
Biot 702.
Biquadratische Gleichungen s. Gleichun»
gen 4. Grades.
Biridanus 111.
Blancanus s. Biancani.
Blar (Albert von Brudzewo) 253.
Bocaccio 156.
Böschenstein (Johann) 420.
Boethius 61. 94. 101. 123. 136. 165. 172.
207.228.261.262. 315. 317.350.416.525.
Bombelli (Rafaele) 541. 551. 621—625.
626. 627. 628. 644. 763.
Bonaccio 5. 6.
Bonatti 35.
Boncompagni (Füi-st Baldassare) 5. 35.
46. 50. 58. 127. 143. 164. 228. 302—
305. 336. 497. 547. 612.
Borelli (Giacomo Alfonso) 661.
Borgen beim Subtrahiren mit Erhöhung
des Subtrahendus 10. 165. 206. 222.
311. 348. 418.
Borgi (Piero) 305—306. 399.
Borrel s. Buteo.
Bosse (Abraham) 672. 675. 678.
BoueUes s. Bouvelles.
Bcuillau (Ismael) 659. 675.
Bouilles s. Bouvelles.
boullier 220.
Bouvelles (Charles de) 379—385. 387.
524. 525. 542. 563. 591
Bovillus s. Bouvelles.
Bradwardinus 111. 113—120. 123. 134.
138. 143. 166. 167. 191. 239. 278.
317. .386. 387. 393. 685. 833.
Bragadino (Domenico) 306.
Brahe (Tycho) 456. 604. 642. 643.654. 712.
Bramer (Benjamin) 691. 692. 693. 725.
Brancker (Thomas) 777.
Brassine 657.
Braunmühl (A. von) 265. 454. 578. 605.
692. 693. 707. 712.
Brechtel (Stephan) 612.
Bredan (Simon) s. Biridanus.
Brendel (Georg) 691.
Brennlinie = Parabel 460.
Breusing 288. 516. 579. 608.
Brewer 96. 97. 98. 99.
Briefmaler (Hanns) 237.
Briggs (Hemy) 733. 738. 743. 744. 745.
746. 747. 831.
Briggs'sche Logarithmen 737. 738. 743
—748.
Brille 190.
Brodordnung 422. 472. 476—477. 478.
520.
926 Register.
Bronkhorst (Jan) s. Noviomagus. Cardanische Ätifhängung 516.
Broscius s. ßrozek. Cardano (Hieronimo) 47. 345. 441. 442.
Brouncker (Lord) 721. 765—766. 777. 447. 482. 483. 484—510. 511. 512.
Brozek (Jobamies) 685—686. 711. 515. 516. 520. 523. 531. 532—541.
Bruchrechnen in besonderen Schriften 542. 560. 562. 566. 571. 608. 613. 614.
gelehrt 89. 93. 126. 127. 152. 621. 622. 625. 628. 646. 768. 794. 795.
Brucker 122. 818.
Brudzewski s. Blar. Carmen de algorismo 90.
Brüche 10. 11. 12. 13. 15. 65. 66. 164. CarteUi zwischen Ferrari und Tartaglia
165. 207. 223—224. 239. 301. 315. 490—493. 690.
316. 349. 350. 396. 401. 418. Cartesim s. Descartes.
Bruhns 401. 472. 555. Cartographie 391. 410—411. 453. 608.
Bryson 104. 563. 695. 737.
Buchdruck 215. 290. 291. 542. Casati (Curtio) 669. 670.
Buchführung 49. 157. 328. 348. 395. 396. Castelli (Benedetto) 699. 710. 832. 891.
620—621. casus 37. 83. 267. 285.
Buchstaben 9. 10. 17. 61. 63. 64. 68— cata 15. 16. 39. 67.
72. 206. 242. 243. 343. 396. 427. 441. Cataldi (Pietro Antonio) 596. 623. 761
564. 631. 632. 634. 635. —763. 765. 771. 794.
Buchstahenconstruction 294. 344. 466. Catani 481.
Bu^hstahenfoJge , griechisch-arabische 9. Cautelen 426.
31. 36. 80. 105. 265. Cavalieri (Bonaventura) 676. 709—711.
Buchstabenfolge, lateinische 31. 36. 80. 713. 832—850. 855. 865. 866. 877.
105. 153. 265. 883. 888. 892. 895. 897. 898. 899. 900.
Buckley (William) 480. 758. 901. 921.
Bürgi (Joost) 617—619. 643—646. 648. Cavalieri's Satz über Gleichheit von
663. 688. 691. 725—729. 739. ßaumgebilden 840. 855.
Buffon 219. Cayley (A.) 903.
Bugia 4. 5. Cecco d'Ascoli 165.
Bulaeus 56. Celtis (Konrad) 391. 392. 393.
Bunderl 393. census 34. 158. 239. 240.
Burbach s. Peurbach. centiloquium 403. 404.
Burleigh (Walter) 120. 121. centrum = Halbmesser 237.
Bussole zur Feldmessung benutzt 515. centruz 237.
Buteo (Johannes) 383. 384. 556. 561— cero 310.
563. 591. Ceulen s. Ludolph van Ceulen.
Byllion 348. Chaldäer 308. 321. 410.
Chasles (M.) 60. 67. 73. 94. 101. 113.
Q 220. 295. 309. 379. 452. 459. 568. 586.
589. 657. 658. 659. 673. 674. 677. 678.
cambi 225. 681. 684. 685. 707. 708. 823.
Camerarius (Joachim) 409. 455. 548. chata 16.
Camerer (J. W.) 590. Cliiarini 329.
Campanus 98. 100—106. 110. 114. 115. Chinesen 26. 217. 220.
116. 145. 146. 147. 167. 192. 208. jjwpts 10.
228. 259. 260. 261. 277. 278. 281. (Jhristen und Juden abicechselnd zu ord-
282. 338. 339. 365. 366. 387. 515. nen 362. 501. 768. 769—770.
533. 551. 554. 556. 563. 780. Cliristmann (Jacob) 597. 603.
Campori 832. Christmann (W. L.) 590.
Canacci (Rafaele) 100. 165. 250. Christoforo Colombo 385.
Cancer (Johannes) s. Cusanus. Clironologie 596.
Candale (Fran9ois de Foix -) 554. 555. Cryppfs (Johannes) s. Cusanus.
556. Chrzaszczeicski 674.
Canon 207. 221. 227. 321. 322. 357. Clmqiiet (Nicolas) 347—364. 371. 372.
Canon sexagenarum 376. 387. 397. 403. 432. 600. 614. 767.
Canonische Gleichungsform 791. Ciermans (Johann) 719—720. 724.
Cantagallina s. Baldi. cif)-a 64. 89. 94. 418.
Capocci (Raniero) 46. 50. Circulatur des Quadrates 144. 383. 384.
Capra (Baldassare) 689. 690. 464. 525.
Crtra/«?<e/ (Johann y Lobkowitz) 771.783. circulus 64. 89. 418.
Carcavy (Pieire de) 675. 758. 759. 786. Ciruelo (Pedro Sanchez) 386-387.
787. 806. 816. 819. 820. 878. 908. 911. Cisojanus 445.
917. Cissoide 860—861. 887. 904. 906.
Register.
927
Citrone 826. 838.
Clavius (Christoph) 451. 452. 548. 555
—557. 560. 57U— 581. 591. 596. 643.
653. 667. 687. 692. 713. 730. 849. 850.
Clersellier (Claude) 683.
Clichtovaeus (Jodocus) 88. 379.
coadjuteur 678.
Coefficient, das Wort 632.
Coefßcienten der Gleichung und, Glei-
chungswurzehi 505. 637. 639. 640. 789.
Colüte 891.
Coignet (Michel) 687. .
Coincidenzen 188. 189. 192. 195—197.
Colangelo 695.
Colla 485—489. 495. 509. 511.
Collegium poetaruvt et mathematicorum
391. 392.
Collimitiana 393.
Collimitiits s. Tannstetter.
coJumna 613.
Comhinationen , die 18 . des Ahmed 16.
17. 67. 376.
Combinatorik 314. 480. 522. 532. 562.
752. 753. 758. 771.
Commandino (Federigo) 547. 553. 555.
570. 571. 578. 585. 687. 695. 698.
compagne de la cycloide 878.
Comphmation 830—831. 843. 844. 880.
,892.
CompuUis 94. 96. 101. 165. 175. 305.
359. 445.
Conchoide 584. 815. 820. 863. 887. 889.
congruiim s. numeri congrai.
Conrad (Hans) 423.
consolare 304. 324.
Contingenzwinkel 77. 104. 120. 167. 533
—535. 554. 559—561. 586. 687. 822.
829.
Contrapunkt 204—205.
Convergenz, das Wort 718.
Convexität und Concavität von Gurren
863. 868.
Coordinaten 130—132. 813—814.815.817.
coraustus 236. 343. 416. 582.
Cordonis (Mattheus) 291.
coriscanon 10.
Cornaro (Giacomo Aloise) 690.
cornicularis 586.
corporatus 824. 825.
cosa 158. 234. 240. 316. 355. 403. 441.
Cosinus, das Wort 604.
Cosinus und Sinus gemeinschaftlich auf-
zuschlagen 474.
Cosinussatz der ebenen Trigonometrie 605.
Cosinussatz der sphärischen Trigonometrie
643.
Cossali 503. 507. 509.
Costard 16.
Cotton (Robert) 555.
counters 218. 219. 478.
Creizenach (W.) 770.
Cremonensis (Carolus Marianus) 580.
Crüger (Peter) 742.
Crueze == Winkelkreuz 152.
cuento 387. 388.
Culm s. Geonietria Culmensis.
Culminationspunkte \on Curven 131. 828.
Curtius (Jacob) 643.
Curtze (M.) 9. 26. 39. 57. 60. 61. 67.
73. 80. 81. 82. 90. 98. 101. 102. 105.
110. 111. 112. 113. 116. 117. 118. 120.
127. 128—137. 151. 152. 182. 183.
235. 237. 239. 240. 250. 259. 260. 263.
280. 289. 291. 313. 314. 399. 410. 424.
436. 450. 471. 472. 590. 601. 617, 642.
700. 770.
Cusanus 180. 186—203. 211. 239. 260.
276. 277. 282. 365. 382. 469. 563. 598.
705. 826.
Cycloide 202. 382. 855—856. 861—864.
872. 873. 878—880. 882. 883. 884.
885—890. 9.05. 906. 907—910. 917.
Cyclometrie 591—600. 712—718.
Cyclometrische Formeln 200 — 201 .
Czebreyn 241. 250. 423.
Czerny 175. 180. 255.
Dacien (Petrus tou) s. Petrus Philomeni
de Dacia.
Da Coi s. Colla.
Bagomari (Paolo) dall' Abaco 164. 165.
316.
Dannreuther 656.
Dante 156. 327.
Danti (Giovanni) 165.
D'Araujo d'Äzevedo 388.
Dasypodius (Conrad) 553.
Dati (Carlo) 887. 905.
Daviso (Urbano) 710.
De Backer 651. 652. 653. 659.
Decimalbrüche 178. 182. 275. 305—306.
399. 404. 583. 584. 604. 615—620. 627.
629. 644. 727. 733—734. 743. 745.
Decimale Theilung der Winkelgrade 185.
743. 746.
Decker (Ezechiel de) 744 — 745.
Declamationen 409.
Dee (John) 477. 554—555.
Definitionen scholastischen Charakters
73. 118—120.
De la Hire (Philippe) 674. 676. 678.
Delambre 700.
De la Pene (Jean) 549.
De la Boche (Estienne) 371—374. 392.
614.
Del Ferro (Scipione) 346. 447. 468. 482
—484. 491. 493. 503. 512. 513. 531.
537. 542. 623. 625. 794.
Delisches Problem s. Würfel Verdoppelung.
Del Monte (Guidobaldo) 548. 568. 575.
687. 698.
Denifle 53. 57. 58. 59. 345.
Denis 393. 395.
Desargues {Gfirard) 673. 674—678. 679. 681.
928
Register.
Desargues' Satz 678. 679.
Bescartes du Perron (Rene) 655. 673.
675. 681. 682—684. 713. 714. 749—
> 750. 776. 779. 780. 784. 786. 787. 793
—798. 799. 800. 808. 811—816. 819.
820. 828. 851—857. 858. 861. 873.
874. 875. 876. 880. 889. 898. 919.
Descartes' Ovale 815.
descente infinie, das Wort 778.
Bescriptive Geometrie 676.
Bespagnet 816. 857.
BettonviUe (Arnos) 910.
Biakatistik 815.
Biametralzalü 435.
Bickstein (S.) 686. 712.
Bieterich 671.
differentia 10.
Biff'erenzzeichen 631.
Bighy (Kenelm) 786—787.
Bignität 524. 623. 626.
dignitas 61.
Bingk = cosa 240.
Biokies 458.
Bionysodorus 458.
Biopliant 42. 63. 260. 262. 263. 264.
286. 287. 551—552. 557. 614. 629.
630.631. 634. 655. 657. 767. 771. 772.
773. 774—776. 780. 785. 786. 858.
Birichlet 774.
Bisciission der Curven 2. Grades 814.
Bistanzmesser 561.
Bividiren von Brüchen 12. 66.
Bividiren üherivärts 65. 89. 304. 313. 419.
Bividiren unterwärts 313. 403. 519.
Bivina proportione s. Paciuolo.
Birina proportio = goldener Schnitt
341. 377.
Boctor angelicus s. Thomas von Aquino.
Boctor illuminatus s. LuUus (Raimundus).
Boctor invincibilis s. Occam (Wilhelm
von).
Boctor mirabilis s. Baco (Roger).
Boctor profundus s. Bradwardinus.
Boctor resohitus s. Baconthorj) (Johann).
Boctor singularis s. Occam (Wilhelm
von).
Boctor solemnis s. Gändavensis (Hen-
ricus).
Boctor suhtilis s. Duns Scotus.
Boctor universalis s. Thomas von Aquino.
Boliometrie 823—829. 848—849.
Bmningo de Guzman 57.
Bo))iiiticus de Ciacasio Parisiensis 127.
12.S. 151. 152. 153. 154. 239.
Bominicus Hispanus 35. 36. 41. 166.
Bominicaner 55. 57. 58. 59. 86. 93. 94.
96. 99. 121. 238. 387.
Bonuubruderschaft 391.
Bon Henrique der Seefahrer 386.
Bonizo 3.
Boppelmayr (Joh. Gabriel) 251. 254 —
256. 257. 274. 281. 406. 422. 453. 454.
455. 456. 466. 469. 582. 612. 683. 691.
Boppelte Gleichungen 786.
Bau (Joh. Pietersen) 620.
Brehom = Dreieckshöhe 152.
Brechsler 398.
Brei Brüder 80. 81. 82. 110. 568.
Breieck 37. 38. 39. 51. 83. 208. 236.
330—335.
Breiecke mit mehrfachem Winkel aus
solchen mit einfachem zu bilden 633.
634.
Breieckszahlen 430. 448. 500. 743.
Brei fache Gleichungen 786.
Breitheilung des Winkels 80. 81. 82.
104. 105. 281. 285. 286. 463. 585.
636. 806—808.
Bresdener Algebra 243—248. 347. 355.
357. 358. 372. 397. 423.
Breydor/f 678.
Brobisch 228. 229. 236.
Bschäbir ihn Aflah 262. 265. 404.
Bualität 571.
Bucange 61.
ducere unterschieden von multiplicare
519. 631. 893.
Buchesne (Simon) 591—593. 598. 599.
600.
Buctus plani in planum 893 — 896. 916.
Bürer (Albrecht) 430. 436. 439. 449.
455. 459—468. 475. 525. 542. 550.
563. 573. 575. 580. 667. 678. 694. 761.
Bühring 569.
Buhalde 217.
Buhamel (Jean Baptiste) 659.
Buhamel (Pasquier) 549.
Buns Scotus 113. 121. 252.
e S.Basis e der natürlichen Logarithmen.
JEcusa s. Cusanus.
Echelles (Abraham von) 661.
Edelgestein s. Gemma Frisius.
Egesippus 294.
Eid eine Vorlesung gehört zu haben
140. 141. 142.
Eierlinie = Ellipse 460.
Einhüllende 891.
Einmaleins 8. 91. 179. 207. 208. 222.
229. 348. 349. 376. 413. 476. 478. 497.
Einsundeins 8. 476.
Eisenhart 419. 722.
Elchatayn (Regula) 27. 318.
eleviren (beim Linienrechnen) 400.
Elferprobe 11.
Elias Misrachi 229. 413—414.
Eliminationsproblrm bei Gleichungen
höherer Grade «04—805.
Ellipsenconstruction 460. 568. 574. 575.
578—579.
Elmuain 103. 153. 235. 292.
Elmuharifa 103. 153. 235. 292.
Eneström (G.) 88. 91. 114. 126. 386.
583. 592.
Register.
929
Engel (Fr.) 556. G61. GG5.
Ennen 616.
Entgegengesetzte Zahlen 230. 319.
inccvaXuybßdvsLV 248.
Epicrjdoide 461. 678.
Eqiiaciones s. Kapitel.
Eratosthenes 457.
Erlendssön (Hauk) 126.
Erman 684.
Ermolao s. Barbaro.
Ernesti 248.
Ernst von Baiern 616.
Errarcl (Jean) de Barletluc 596.
erraticus 8.
Eugippus 294.
J^Mii/d 5. 11. 37. 47. 60. 61. 73. 74. 75.
76. 77. 78. 84. 95. 98. 101—105. 117.
140. 141. 142. 146. 172. 228. 251. 252.
253. 254. 259. 261. 262. 309. 315. 317.
320. 341. 346. 451. 499. 524. 525. 528.
549. 559. 564. 565. 566. 655. 656. 657.
761. 780. 836.
Euklidausgabe, älteste lateinische 101.
102.
Euklidansgabe des Atelhart 74. 102. 103.
110. 116. 153. 263. 277.
Euklidausgabe des Campanus 101 — 106.
110. 116. 147. 153. 208. 234. 235. 259.
281. 291. 292. 339. 394. 430. 439. 515.
554. 556. 557. 631. 780.
Euklidausgabe des Theon 74. 147. 439.
554. 556. 557.
Euklidausgaben seit US2 290—292. 308.
338—341. 365—366. 394. 406. 409.
455. 480. 488. 514. 515. 548—551.
554—557. 656. 657. 658. 661. 761.
Euklid von Megara vei^wechselt mit dem
Mathematiker 102. 261. 262. 292. 339.
365. 556.
Euler 429. 684. 727. 774.
Euler's Polgedersatz 684.
Eutokius 261. 263. 457. 458. 536. 571.
Ecesham (Walter) 120.
Exempeda 294.
exhaurire 895. 896.
exponens, das Wort 432.
Exponenten 623. 626. 643. 644. 794.
Exponentialgleichung 325. 326.
extrahere 10.
F.
Fabbroni 855. 898.
Faber Stapulensis s. Lefevre.
Factoren folge, unendliche 595. 766. 903
—904.
Fallgesetze 697. 698. 699. 700.
Falscher Ansatz, doppelter 27 — 30. 234.
240. 318. 319. 351. 411. 412. 413.
431. 478—479. 507. 604. 646—647.
Falscher Ansatz, einfacher 21. 22. 35.
70. 318. 351. 411. 412. 431.
Fasbender 471.
Faulhaber (Johann) 611. 670—671. 672.
683. 691. 746. 748. 749. 753. 793. 898.
Favaro (A.) 166. 204—208. 687. 689.
709. 762. 831. 855.
Feldmessung 36. 38. 112. 113. 127. 128.
152. 153. 171. 288. 292. 301. 481. 515.
525. 580. 589. 666—670. 686.691. 705.
Feliciano 481. 525.
Fellöcker 687.
Fermat (Pierre de) 657—659. 674. 677.
696. 753. 755. 756. 757. 758. 759. 773
—781. 784. 785. 787. 803—806. 811.
816—820. 828. 857—876. 878. 880.
885. 889. 897. 898. 901. 905. 906. 909.
911. 921.
Fermat' scher Lehrsatz 111.
Fernel (Jean) 378—379.
Ferrari (Ludovico) 482. 484. 490—494.
495. 509. 512. 513. 515. 517. 527. 529.
535. 538. 541. 566. 569. 622. 625. 626.
638. 690.
Ferreus s. Del Ferro.
Fibonaci 6. ,
Figuren in ungewohnter Lage 92.
Filius Bonacii 6. 7.
Finaeus (Orontius) 375—378. 389. 392.
415. 523. 525. 542. 561. 563. 571. 591.
598.
Finck (Thomas) 604. 703.
Eine (Fran9ois) 375.
Fine (Oronce) s. Finaeus.
Fingerrechnen 8. 140.
Finke 57. 58.
Fischblase 462.
Fläche des sphärischen Dreiecks 709.
711. 888.
Floridus 483. 484. 486. 487. 491. 495
512. 513.
fluere 91. 556. 730. 735. 8;U. 842. 849.
Flussates s. Candale.
Focus 663.
Focus caecus 664.
Folium Cartesii 856. 858. 864.
Fontana 497.
Fontes 98. 379. 385. 436. 549. 611.
Forcadel (Pierre) 549. 611.
forma 120—122. 129—131.
Fortolfus 136.
Foster (Samuel) 585.
Fra Luca di Borgo Sancti Sepulchri 317 .
Franciskaner 55. 96. 98. 113. 121.
Franck 651.
Franco von Lüttich 80. 101. 592.
Franke 685. 686.
Frater Fridericus 116. 239. 240.
Freher 549.
Frenicle de Bessy (Bernard) 777. 779.
780. 783—784.
Freytag 82.
Friedlein (G.) 410.
Friedrich II 6. 7. 40. 41. 42. 53. 54. 55.
Friscobaldi (Filippo) 371.
Frizzo 164.
Cantor, Geschichte der Mathem. II.
Aufl.
930
Resrister.
Frobesius (Joli. Nicol.) 652.
Frontinus 38. 228. 230. 236. 237.
Fünfsatz 16. 17.
Füller 171.
Furtenbach (Josef) 672.
G.
Gabellinie = Hyperbel 460.
Gänsefuss = pes anseris 341.
galea 313.
Galgemayr (Georg) 691.
Galilei (Galileo) 660. 689. 690. 691. 696
—698. 699. 710. 711. 832. 847. 848.
849. 855. 884. 885. 886. 890. 907.
Galle (Jean) 724.
Gamiczer 582.
Gandavensis (Henricus) 113. 120. 191.
Ganega 37.
Ganzzahlige Auflösungen unbestinunter
Gleichungen 772.
Gassendi 254.
Gauss 777. 794.
Gaza (Theodor von) 256.
Geber 165. 250. 404.
Gebrochetie Exponenten 133. 356. 357.
Gechauff 406.
Gegenbauer (L.) 7.
Geheimschriftentzifferung 583.
Geiger (L.) 413. 455. 769.
Gelachim 305.
Gelcich (H. E.) 222. 653. 809.
Gellibrand (Henry) 745—746.
gelosia 312.
Gematria 447.
Gemeintheiler 9. 11.
Gemeintheiler algebraischer Ausdrücke
389. 627—628.
Gemeinvielfache 11.
Geminus 652.
Gemma-Frisius (Cornelis) 597.
Gemma-Frisius (Rainer) 410—413. 449.
475. 549. 597. 614.
Gemunden (Johann von) 174 — 179. 180.
181. 211. 2.54. 393.
Geiwue Messung ermöglichende Vorrich-
tungen 389. 579—580. 692.
Genocchi (Ang.) 44. 46. 47. 105. 506.
Geometria arithmeticalis 237.
Geometria Culmensis 150 — 154.
Geometria deutsch 450 — 452. 461. 465.
Geometria peregrinuns 668. 686.
Geometria practica 239.
Geometrie frangaise 91. 92. 93.
Geometrische Aufgaben algebraisch gelöst
52. 330—335.
Geometrische Behandlung von Gleichungen
s. algebraische Geometrie.
Georg von Ungarn 387.
Gerbert 38. 127. 184. 237.
Gerhard von Cremona 36. 39. 77. 80.
82. 110. 117. 158. 240. 262. 265. 404.
Gerhardt (C. J.) 175. 177. 181. 217. 228.
238. 240. 243. 391. .395. 396. 398. 399.
424. 431. 452. 459. 626. 648. 679. 682.
719. 725. .739. 740. 742. 823. 832 840.
Ger man 671.
Gesammtheit der Geraden u. s. w. 834.
Geschichte der Mathematik 261 — 262.
393. 410.1545—548.556. 651—653.668.
Geschlecht einer Curve 814. 816.
Gesellschaftsrechnung 18.
Gesetz der grossen Zahlen 538.
Gesetz der Homogeneität 630. 812.
Ghaligai 100. 481.
Gherardi (S.) 165. 346. 482. 495. 510.
513. 518. 541.
Ghetaldi (Marino) 640. 653—654. 656.
809—811.
Ghiherti 293.
Ghirlandajo 294.
Giesing 431. 436.
Giesuald 725. 726. 728. 729.
Gietermaker (Claus) 713.
Giordani (E.) 490.
Giotto 156. 294.
Girard (Albert) 572. 573. 656. 657. 665
—666. 684. 706. 708. 709. 787—790.
795. 797. 798. 806—807. 811. 888.
Glaisher 581. 591. 736. 737. 738. 740.
743. 745. 746. 747.
Glauburgk (Adolf von) 430.
Gleichheitszeichen 479. 552. 629. 656.
721. 788. 791. 794.
Gleichung auf 0 gebracht 441. 507. 644. 794.
Gleichung gesetzloser Curven zu. finden 920.
Gleichungen 1. Grades mit einer Unbe-
kannten 22. 49. 241.
Gleichungen 1. Grades mit mehreren
Unbekannten 52. 69. 70. 322. 427.
428. 441. 444. 785.
Gleichungen 1. Grades, unbestimmte 19.
23—25. 26. 48. 49. 286. 287. 361.
428. 429. 771—773.
Gleichungen 2. Grades mit einer Unbe-
kannten 34. 72. 158. 159. 160. 233—
234. 239. 241—242. 245—246. 321 —
322. 3.58. 481. 635. 639.
Gleichungen 2. Grades mit mehreren
Unbekannten 68. 69. 72. 326—327. 499.
Gleichungen 2. Grades, unbestimmte 33.
46. 164. 286. 287. 288. 361. 610. 634.
777. 779. 786. 810.
Gleichungen mit mehr als einer Wurzel
34. 160. 322. 358. 427. 442. 505. 644.
Gleichungen mit mehr als 3 Gliedern
161. 162. 324. 359. 505. 538.
Gleichungen 3. Grades 46—48. 73. 160.
161. 167. 284. 285. 286. 323. 426. 427.
443. 447. 483—495. 498. 503—505.
511—513. 530. 531. 536—539. 541. 542.
622. 623. 624. 625. 626. 636. 637. 638.
639. 794. 797. 801—802. 806—808.
Gleichungen 3. Grades, unbestimmte
361, 611.
Register.
931
Gleichungen 4. Grades 160. IGl. 162.
167. 323. 324. 442. 508—510. 622. 625.
638—639. 797. 799 — 800. 808. 811.
Gleichungen von höherem als 4. Grade
160. 162. 536. 605—606.
Gleichmigsansatz 440. 441. 444. 498.
Gleichungsconstante als Prodnct der
Wurzeln 536. 648. 795. 796. 798. 799.
Gloskowski (Mathias) 686.
Godefrotj (A. N.) 666.
Goethals (Heinrich von) s. Gautlavensis.
Goldene Zahl 305.
Golius 660.
Gorini (Paolo) 774.
Gosselin (Guillaume) 613.
Gosselin (Pierre) 613.
Graaf (Abraham de) 713.
Grad einer Curve 813. 814. 816. 819.
Grade Linie, ihre Gleichung 817. 821.
Grässe 584. 891.
Gramm (J. P.) 48.
Grammateiis s. Schreiber.
Grassmann 674.
Grauen- Ar noult 873.
Graunt (John) 760—761.
Gravelaar (N. L. W. A.) 603. 721. 733.
Gregor XIII. 555.
Gregorius von St. Vincentius s. St. Vin-
centius.
Gregory (David) 555.
Gregory (James) 717 — 718.
Grenzübergang 901.
Gresham (Thomas) 738.
Grienherger (Christoph) 662. 850.
Grösser und kleiner, Zeichen dafür 656.
721. 787. 791.
Grynaeus (Simon der ältere) 405. 546.
550. 553.
Grynaeus (Simon der jüngere) 550.
Guarini 256.
GüntJier (S.) 53. 73. 79. 90. 124. 126.
141. 142. 173. 175. 180. 181. 202. 216.
222. 228. 229. 237. 247. 251. 252. 254.
257. 277. 288. 379. 380. 382. 388. 391.
392. 394. 395. 400. 402. 404. 413. 436.
450. 452. 453. 459. 463. 472. 581. 582.
589. 662. 665. 666. 671. 685. 692. 705.
707. 720. 733. 763. 768. 829.
Guidobaldo s. Del Monte.
Guijeno (Juan Martinez) s. Silicius.
guisa (ad majorem guisam und ad mi-
norem guisam) 8. 14. 15.
Giddin (Paul) 696. 840. 841. 842—844.
847. 896. 897.
Guldin'sche Begel 841. 843. 896. 897.
e^Mnfer (Edmund) 604. 691. 743. 744.746.
Gunter's Scale 743. 746.
Gutschoven 692.
hace 575.
Hagen (Aug.) 293.
Halhircn 64. 84. 88. 95. 156. 174. 178.
181. 206. 229. 239. 310. 337. 350. 396.
401. 411. 418. 419. 420. 443.
Hallervord 669.
Halliwell (J. 0.) 94. 102. 110. 112. 171.
Hanison 603. 703.
HanJcel (H.) 47. 139. 140. 157. 777.
Hardeivinus Teutonicus 56.
Hardy (Claude) 655.
Harmonisch - geometrisches Mittel 717 —
718.
Harriot (Thomas) 790—792.
Harsd^irfer (Georg Philipp) 770.
Hartfelder 406. 408. 409. 415. 421.
Hartmann (Georg) 454.
Hartwig 149.
hasam 10.
Haumann (C. G.) 590.
Heben gesunkener Schiffe 516.
Hebenstreit (Johann Ba^stista) 670.
Hedraens (Benedict) 692.
Heiberg 77. 99. 101. 457. 514. 585.
Heilbronner (Job. Christ.) 60.
Heincze, Kinderlehrer 173.
Heinrich von Hessen s. Langenstein.
Heinrich von Navarra 559.
Heller (Aug.) 190. 295. 387. 514. 699. 891.
Hehnrcich (Andreas) 641.
Henisch ((leorg) 651.
HenricHs Hassianus s. Langenstein.
Henricus modernus s. Gandavensis.
Henrion (Denis) 746.
Henry (Ch.) 91. 92. 93. 657. 673. 758.
774.775.776.778.805. 806. 857.863. 864.
Herigone (Pien-e) 656. 720. 859.
Herlinus (Christian) 553.
Heron von Alexandria 37. 73. 82. 93.
99. 153. 163. 235. 330. 345. 373. 388.
451. 456. 553. 557. 630. 669. 785.
Hervagius 409.
Herivarth von Hohenburq (Hans Georg)
721—722.
Heuraet (Heinrich van) 905. 919. 920—921.
Hexagramma mysticum 680.
Heyd 4.
Hilfswinkel in der Trigonometrie 643.
Hipler (F.) 473.
Hippokrates 198.
Hirschvogel (Augustin) 449. 666.
Hoechstetter 670. 672.
Hoefer 637.
Holybush 87.
Hohßvood 87.
Holzmann (Wilhelm) s. Xylander.
Hommel 579.
Homologie 678.
Horcher (Philipp) 688.
Horem s. Oresme.
Hostus (Mathäus) 548.
Hudde (Johann) 801—803. 919—920.
Hudde'sche Begel zur Erkennung mehr-
facher Gleichungswurzehi 802 — 803.
919
59*
932
Register.
Hugo Physicus 57.
Huillard-BrehoUes 42.
Hulsius (Levinus) 688.
Hultsch (Fr.) ;^7. 330. 558.
Eunrath 39. 583. 584. 620.
Husivirt (Johannes) 417 — 419.
Huygens (Christian) 711. 715. 716—717.
747—748. 758—760. 766. 819. 869.
891. 905. 906.
Huygens (Constautiu) 656. 715. 917.
Hydraulik 699 — 700.
Hydrostatik 577—578.
Hydrostatisches Paradoxon 577. .
Hyperbelfläche und Logarithmen 715.
Hyperbel höherer Ordnung 866—867.
Hypotenusa 668.
Hypsikles 39. 259. 263. 341. 551. 660.
I.
Ibn Alhaitam 97. 98.
Htn Esra 247. 769—770.
Identische Gleichungen 810.
imaginär und reell, die Wörter 795.
imaginäre Gleichungswurzeln 360. 502.
508. 788. 795. 809—810.
inauratura 92.
Inder 5. 8. 9. 23. 34. 35. 37. 49. 69. 83.
183. 193. 231. 232. 298. 301. 383. 384.
397. 464. 592. 707.
Index s. Stellenzeiger.
Indirectes Verhältniss 14. 16.
Indische Regel für Sehnenvielecke 83.
260. 298.
Indivisibilien 120. 832. 833. 835—840.
841—847. 848. 850. 877. 880. 883.
895. 913.
infilgare 165. 315.
Infinitcsimalhetrachtungen 821 — 922.
Inflexionsj)nii/:t 820. 863. 919.
Instrumeiition Albyon 111.
intercaliren, da.s Wort 903.
Interpolationsverfuhren 273. 274. 728.
729. 732. 742.
interpoliren, das Wort 903.
Inverses Tangentenproblem 827. 856. 864.
Involution 659. 677. 678.
irrational 117. 133. 134. 147. 438.
Irreductibler Fall der kubischen Glei-
chung 489. 537. 586. 625. 628. 636. 806
—808.
Isaak hen Salomo Israeli 247.
Isaak ben Salomo ben Zadik ihn Alcha-
dib 247.
Isidorus 94.
Isoperimetrische Figuren 116. 144. 146.
209. 580. 828. 854.
J.
Jacob (Pancraz) 581.
Jacob (Simon) 469. 581—582. 587. 589.
609—611. 726.
Jacob von Cremona 209. 210. 259. 261.
Jacob von Soest 58.
Jacob von Speyer 280. 287. 290.
Jacobsstab 288—289. 417.
Jacoli 143. 713. 880. 883. 884. 885. 886.
887. 888.
Jäger (E. L.) 328. 620.
Jakubowski 686.
Jamitzer (Wenzel) 582. 663.
Jamnitzer s. Jamitzer.
Jetons 218.
Joachim (Georg von Lauchen) s. Rhäticus.
Joannes de Monteregio 254.
Joannes Pragensis 175.
Jöcher 384.
Jöstel (Melchior) 712.
Johannes Francus 254.
Johannes Germanus 254.
Johann von Gemunden s. Gemunden.
Johannes von Landshut 399.
Johannes von London 98.
JohannesiwnLunas. Johannes von Sevilla.
Johannes von Palermo 41. 42. 46. 47. 48.
Johannes von Sulisbury 56.
Johannes von Sevilla 10. 178.
Jonas (Justus) 431.
Jonquieres (Fauke de) 683.
Jordanus Nemorarius 3. 53—86. 88. 89.
102. 105. 114. 116. 118. 124. 137. 156.
174. 177. 178. 203. 205. 206. 227. 228.
229. 238. 246. 250. 259. 260. 262. ,288.
317. 337. 364. 376. 423. 469. 491. 492.
51S. 547. 549. 610. 613. 652. 669. 922.
Jordanus Saxo 57. 58. 59. 86.
Josephsspiel 362. 501. 768. 769—770.
Jost 247.
Josteylio 711.
Jouy 559.
Juden 229. 247. 289. 305. 328.
Jumeau (Andre) 775.
Junge (Johannes) 626. 648.
Jungingen (Konrad von) 150. 151.
Jungius (^Joachim) 672.
K.
Kahbala 115.
Kästner (Abraham Gotthelf) 87. 98. 105.
122. MO. 149. 180. 182. 183. 184. 263.
273. 275. 276. 290. 309. 337. 341. 342.
343. 364. 375. 376. 377. 379. 387. 388.
393. 394. 396. 399. 401. 404. 410. 419.
420. 431. 449. 452. 456. 459. 463. 468.
476. 480. 519. 522. 547. 548. 550. 553.
554. 557. 558. 561. 571. 572. 573. 578.
579. 580. 582. 593. 596. 597. 598. 601.
602. 603. 609. 612. 613. 620. 641. 654.
655. 656. 664. 665. 666. 670. 672. 673.
685. 687. 688. 690. 691. 692. 693. 695.
696. 701. 704. 705. 707. 708. 709. 711.
712. 714. 717. 719. 726. 733. 739. 740.
741. 742. 743. 745. 748. 770. 790. 809.
810. 811. 831. 832. 892. 893. 896. 897.
Register.
933
Kalb (üdalrich) 399.
Kdlenderreform 9(5. 101. 125—126. 172
—173. 187. 258. 260. 393. 555.
Kap f er (Jobs) 173.
Kapitel (24) = Gleichungsfälle 241. 242.
246. 423. 424. 426. 429. 441. 446.
Kaps 397.
Kaufmann (G.) 53. 56. 94.
Keqelsclmitte 345. 456. 673—674. 676—
678. 679—681. 817. 818. 820. 821.
Kegelschnittzirkel 578—579. 692. 693.
Kepler (Jobannes) 618. 644. 654. 662—
664. 676. 684. 708. 722. 729. 739—
741. 812. 822—831. 838. 841. 843. 845.
848. 849. 856. 898. 900.
Kepler'sche Aufgabe 708. 822.
Kepler'sche Gesetze 822.
Kepler' s Stereometria doliorum s. Dolio-
metrie.
Kettenbrüche 622. 669. 762—766.
Kettenbrüche, aufsteigende s. Aufstei-
gende Kettenbrüche.
Kettenlinie 698.
Kettensatz 15. 18. 233. 399.
Kewitsch 727. 736.
KJieil (P.) 49. 306. 620.
Kinematik 893. 896.
Kinner von Löwenthurm (Aloysius) 716.
Kircher (Athanasius) 684 — 685.
Klammern 624. 627. 787.
Kitigel (Georg Simon) 15. 687. 693. 721.
724. 726. 733. 739. 771 . 787. 790. 804. 832.
Kabel (Jacob) 419—420. 443. 449.
Körperverhältnisse des Menschen 293.
294. 343. 468. 516.
Kolross (Joannes) 420.
Kopperlingk s. Koijpernikus.
Koppernikns (Nicolaus) 346. 419. 469.
470—472. 473. 474. 475. 597. 603. 703.
Korteweg 656. 715. 801.
Kräfte durch Linien dargestellt bll.
Kraft (Johannes) 611.
Kristan von Prachatic 179. 208.
Kröl (Martin) de Premislia 253.
Krümmungskreis 663.
Kubaturen 822. 823—826. 838. 840. 841.
842. 843. 851. 855. 866. 883. 884. 886.
890. 891. 892. 899. 905. 907. 908. 909.
Kubiktvurzel 31—32. 39. 47. 65. 66. 85.
89. 92. 206. 314—315. 354. 388. 396.
403. 444. 481. 499. 523. 621.
Kubikwurzel aus Binomien 446. 624 —
625. 789—790. 797—798.
Kubikzahlen 60. 91. 179. 323. 354. 418.
476. 581.
Kubische Gleichungen s. Gleichungen
3. Grades und Irreductibler Fall.
Kugelschnitt 458.
Kummer IIA:.
Kimisperger 254.
Kutta (W. M.) 493. 526.
L.
Labiles Gleichgewicht 578.
Labosne 767.
Lacher 394.
La Faille (Charles de) 696. 715.
Lagrange (Louis) 568.
La Hire s. De la Hire.
Lalouvere (Antoine de) 869. 896—897.
909. 910.
Lampcrtico 579.
Langenstein (Heinrich von) 143. 149. 150.
Lansbcrge (Philip van) 700. 703.
Lantmcsscr = Messer = Landmesser 150.
Lassivitz (K.) 97. 118. 569.
latitudines 122—123. 130—132. 140. 141.
142. 166. 254.
latus 613. 641. 647.
Lauchen (Georg Joachim von) s. Rhäticus.
Lauf er (Hans) 218.
Lauremberg (Joh. Wilhelm) 666.
Lautere Brüder 293.
Lax (Gaspar) 387.
Layci mensores 150.
Leeuwen (Cornelis van) 713.
Lefevre (Jaques) 60. 364—366. 392.
Leibniz (Gottfried Wilhelm) 656. 679.
682. 683. 719. 725. 751. 814. 899. 916.
920. 622.
Leonardo von Pisa 3 — 53. 54. 55. 61.
63. 65. 73. 75. 77. 84—86. 96 117.
157. 158. 165. 166. 167. 203. 205. 206.
208. 227. 240. 250. 272. 287. 288. 309.
314. 315. 330. 337. 338. 362. 376. 388.
397. 418. 428. 434. 481. 484. 499. 506.
547. 652. 787. 922.
Leotaud (Vincent) 687. 716. 897.
Le Paige 231. 616. 688. 705. 706. 724.
808. 917.
Leurechon (Jean) 768. 769.
Levita (Elias der Deutsche) 769.
Levi ben Gerson 112. 289. 579.
Liber theorumacie 237.
Libri (G.) 3. 6. 7. 59. 100. 126. 155. 157
—165. 203. 293. 295. 305. 309. 325.
327. 329. 341. 343. 345. 481. 490. 514.
547. 557. 558. 566. 567. 568. 570. 578.
621. 657. 761. 762.
Licht (Balthasar) 399. 401.
Ligner es (Jean de) 126.
linel = Höhe 92.
Lineriis (Johannes de) 126. 152. 207.
Linienrechnen 216—220. 221. 222. 248.
249. 387. 396. 399. 400—402. 416. 420.
421. 422. 443—444. 478. 609. 610. 611.
Lionardo da Vinci s. Vinci.
Liveriis (Johannes de) 126.
Logarithmen 351. 432. 702. 714. 715.
725—748.
Logarithmen s. Progresstabul und Ver-
, bindung einer arithmetischen und einer
geometrischen Reihe.
Logarithmen und Hyperbelfläche 715. 896.
934
Register.
Logistica speciosa 631. 632. 640.
Longomontanus (Christian) 712—713.
Loosbuch 522.
Loria (G.) 100. 292. 656. 673. 891.
Lorsch (A.) 236. 283.
Lotter 222.
Loxodrome 390. 707.
Ludolff s. Rudolff.
Ludolph van Ceiden 592. 596. 598. 599.
600. 707.
Liidolph'sche Zahl s. n 599.
Lullus (Raimundus) 114—115.
lunax = Höhe 92.
Lunis (Guglielmo de) 100.
Lyonne, De 897.
M.
Macdonald 702. 739.
MaestUn 741.
Magini 581.
Magisches Quadrat 422. 436—437. 768.
776. 783.
Mahar-curia 98.
Malagola 346.
Mallet 683.
Mansion (P.) 896.
Marchthaler (Conrad) 611.
Margaritha philosophica 378. 415—417.
449.
Marheld (Johann) 609.
Marianus (Carolus) s. Cremoneusis.
Maricourt (Pierre de) 98.
Marie (M.) 371. 630. 639. 674. 746. 832.
833. 876. 893. 899. 903. 911. 916.
Maroli s. Maurolycus.
Marre (Ar.) 347.
Martin (Th. H.) 659.
Martinius 217.
Maseres (Francis) 483.
Mathaeus von Paris 100.
Mmidifh 'Johannes) 111.
Mnumrht 83.
Maurohiitis (Franciscus) 67. 558 — 559.
570. 571. 613. 660. 661. 695.
Maximal- und Minimalauf gaben 131.
132. 143. 163. 283. 284. .529. .530. 540.
802. 816. 828. 831. 848. 857. 8.58—859.
873. 874. 875. 898. 919—920.
Maximnhiufgohcn mit mehreren Verän-
derlichen 920.
Mayer (Johann Heinrich) 430.
Mazzuchelli 566.
Mechanik 535. 541. 568—571. 576—577.
695—700. 711.
meguar 82.
Mehrfache Gleichungswurzeln 505. 788.
802—803. 852. 853.
Meinsma (K. 0.) 801.
31eissner (Heinrich) 799.
Meister Theodor 46. 50.
Melanchthon (Philipp) 181. 258.261.406
—410. 421. 431. 469. 472. 473. 609.
Mellis (John) 477.
Memmius s. Memmo.
Memmo (Gianbattista) 480.
Mendthal 150—154.
Menelaos 16. 82. 98. 233. 263. 270. 559.
Mennher (Valentin) 620.
meno s. minus.
meno di meiu) 623.
mensula Praetoriana 589. 669.
3Ienzzer 470.
Mercator (Gerhard) 411. 608.
Mere, De 754. 759.
Mersenne (Pater Marin) 660. 675. 680.
681. 683. 714. 774. 776. 784. 786. 787.
805. 855. 857. 874. 875. 880. 884. 885. 889.
Messtisch 128. 589.
Methode der unbestimmten Coefßcienten
749—750. 800.
3Iethode der vollständigen Induction 749.
756—757.
Methodische An tcendung bestimmter Buch-
staben 817. 858. 863. 916. 922.
Metius (Adriaen) 600. 691. 703.
Metius (Jacob) 599.
Metius (Peter) 599.
Metius Peter statt P. M. = piae memo-
riae 600.
Michael Scotiis 6. 7.
Micillus 164.
mihu-ar 82.
Mikus 82.
Milichius (Jacob) 431.
MiUer 745.
Million 305. 310. 348. 399.
3Iillon = 10^* 387.
minner 242.
minus 27. 158. 224. 230. 231. 296. 319.
minus mal minus giebt plus bewiesen
319. 612. 613.
minus mehr als unendlich 902.
minus weniger als Null 319. 442. 703.
Mivufirn 155. 156.
Mi^flhdtiisrcchnung 18 — 19. 51.
Misriiclii .s. Elias Misrachi.
misiirare unterschieden von partire 519.
Mithobius (Burchard) 449.
Mittlere Zahlen 351-352 600. 614.
Blizaidd (Antoine) 377.
3Iodisten 173.
Modus Indorum 5. 34. 35.
3Ioebius 674.
Möller 469.
3'Ioerbecke ("Wilhelm von) 99. 514.
3Iohammed Bagdadinus 555.
3Iohr (Johanni 770.
3[oment (in der Mechanik) 569.
3Iondore (Pierre) 548 — 549. 564.
3Iontalte (Louis de) 910.
3Iontaureus s. Mondore.
3Ionte Regio (Joannes de) 254.
3Iontucla 109. 111. 378. 454. 549. 557.
561. 569. 583. 591. 608. 662. 673. 674.
681. 696. 698.. 701. 705. 712. 713. 714.
Resrister.
935
717. 790. 799. 823. 832. 851. 859. 874.
876. 880. 889. 890. 896. 897. 898. 899.
905. 920.
JV/oreitts (Magister Matheus deBrixia) 313.
Morgan, De 701.
Moritz vonNassau 572. 574. 578. 598. 620.
Morley (Daniel von) 100.
Morliani (Giovanni) 345.
yLorshcimer (Marcus) 550.
Monis (Thomas) 477.
Moser 761.
Moya (Juan Peris de) 614.
Müller (Christ. Friedr.) 395. 396. 397. 419.
Müller (Johannes) 254.
Müller (J. H. T.) 571.
Miinsfer (Sebastian") 413.
MiüfipUcntio)}, blitzbildende 9. 303. 312.
MultiplkaUon, complementäre 64. 85.
MultipUcation, schachbrettartige 9. 179.
206. 223. 303. 304. 312.
Muris (Johannes de) 123—125. 204. 251.
259. 393.
Murr (Chr. Theoph. von) 263. 264. 273.
280—284. 286. 287. 292.
3Iuscus von Comtantinopel 24.
Musik 124. 136. 204—205. 251. 683.
MutakallimuH 97.
Mydorge (Claude) 655. 673 — 674. 682.
768—769.
N.
V, Nagl 123. 124. 218. 219. 419.
Napier s. Neper.
Napoli (F.) 558.
Narclucci (E.) 155.
Nasir JEcldin 557.
Nave (Annibale della) 482. 491.
Navo (Curtio Trojano dei) 517 — 518.
negativ, das Wort 612.
Negative Exponenten 355.
Negative Gleichungsivurzeln 49. 351. 359.
502. 505. 507. 628. 636. 788. 792. 795.
Neil (William) 905. 906. 921.
Nemorariiis s. Jordanus.
Neper (John) 702—704. 723. 724. 730—
737. 738. 739. 740. 741. 742. 744. 745.
746. 849.
Neper'sche Analogien 704. 733.
Neper' s Bones 723. 724.
Neper'sche Formeln für das rechtwink-
lige sphärische Dreieck 703.
Neper'sche Logarithmen 730 — 736. 739 —
743.
Nepair s. Ngper.
Nesselmann 551. 655.
Nettesheim (Agrippa von) 437.
Netze von Vielflächnern 439. 46(). 575.
Neunerprohe 9. 10. 65. 84. 229. 310.
347. 402. 478.
Newton (John) 747..
Newton (Isaac) 747. 922.
Nicolaus V. 209. 261.
Nicolaus von Cusa s. Cusanus.
Nikomaclms 10. 61. 207. 262. 500. 548.
Nikomedes 584. 585.
Nizze 394.
nodus 8. 362.
Nonius s. Nuüez.
Norfolk (Johannes) 171—172.
Normale s. Tangentenproblem.
Novara (Domenico Maria von) 346.
Noviomagus 410.
Null keine Gleichungswurzel 322. 356. 809.
nulla, das Wort 305. 310.
Nullte Potenz 243. 244. 355.
numerus = Gleichungsconstante 34. 158.
242. 316.
numeri communicantes 11.
mimeri congrui 40. 42—45. 62. 63. 309
—310.
numeri perfecti s. vollkommene Zahlen.
Numerische Gleichungen 46 — 48. 325 —
—326. 352. 505—507. 626. 628—629.
640—641. 644—648. 792. 800—801.
Ntmez (Pedro) 388—390. 542. 579. 591.
627. 628. 692.
Nyden (Johannes) 175.
O.
oßslog 231—232.
Obenrauch 452.
Oberflächen zweiter Ordnung 820.
Occam (Wilhelm von) 113. 121. 143.
Oddi (Muzio) 670.
Occhdhäitscr (A. von) 106.
OflrnJinf/rr 611. 670. 672.
Oiiniisdi'idm 187.
anglet 914.
Operationszeichen 15. 16. 62. 230—232.
243. 296. 351. 352. 444. 626. 627. 631.
635. 656. 721. 787. 788. 791.
Ojms Palatinum 602. 608.
Ordinaten 812.
ordonance de droites 676. 680.
Orem s. Oresme.
Oresme (Nicole) 123. 128—137. 140. 143.
166. 167. 239. 288. 291. 355. 356. 357.
393. 811. 828.
orneure du cercle 92.
Orontius Finaeus s. Finaeus.
Ortega (Juan de) 387—388.
Osiander (Andreas) 455. 469. 470. 473,
484. 503.
Otho fValentinus) 601—603. 609.
OUer (Christian) 693.
Oughtred (William) 720—721.
Ovale s. Descartes' Ovale.
Ozanam (Jaques) 770.
P.
TT = 2.48528 . . . 383.
TT = 3 452. 464.
jr = 3,061224 . . . 198.
Rec^ister.
7t = (—1 = 3,0625 .S92.
7t = y9,72 = 3.11769145... b06.
71=3^ = 3,125 317.318.384.404.
8
525.
7t=—_- = 3,12b,... 2^3.
7t = ^ = 3,14102 . . . 378.
7t = 3,1415 . . . 197.
7t = — == 3,1415929 . . . 600. 60]
113
l.
7f = 3,1416 183. 591.
^^18 + VI8Ö 3_j„,,„„
594.
,t= ^ = 3,14166... 183.563.
601.
7t = ^^- = 3,141818 ... 37.
314186^
Tt 712
100000
7t = 3,142337 . . . 195.
-^^ = (S)=^.— ■
592.
7t = 3- 92. 101. 117. 127. 145. 154,
. 165.
373. 417. 451. 580. 593. 601.
TT = Yy 32Ö — 8 = 3,1446055 . . .
592.
593. 598.
7t = 3,15419 . . . 197.
7t =. (^j^)"= 3,1604 . . . 452. 592.
7t = yiÖ= 3,16227 . . . 183. 193.
383.
563. 597.
7t = 3,2 384.
^ = (I) = '^'' '''■
Tt auf 9 Decimalstellen genau 594. 601.
rt auf 17 Decimalstellen genau 597.
rr auf 20 Decimalstellen genau 599.
rt auf 30 Decimalstellen genau 700.
jt auf 32 Decimalstellen genau 599.
7f auf 35 Decimalstellen genau 599.
TT als unendliche Factorenfolge 595. 766.
903—904.
7r als unendlicher Kettenbruch 766.
Paciuolo (Luca) 306—344. 346. 347. 357.
358. 363. 367. 371. 377. 384. 396. 442.
468.476.483.484.501.519.520. 623. 669.
Pacioli s. Paciuolo.
Pantograpli 694.
Paolo dnlV Ahaco s. Dagomari.
Paolo Arimefra s. Dagomari.
Paolo Astrologo s. Dagomari.
Paolo Geomctra s. Dagomari.
Paolo von Pisa 164.
Pappus 61. 99. 553. 570. 571. 585. 590.
794. 813. 828. 830. 843. 859. 897.
Parabel für die Kettenlinie gehalten 698.
Parabel als Wurflinie 698."700. 711.
Parabel höherer Ordnung 854. 867 — 869.
870—872. 873. 878. 898.
Parallaxe = Kreisring 673.
ParalleUinicn 556. 661 665. 676. 761.
Parallelogramm der Kräfte 880 — 881.
883—884. 887. 888. 889.
Parameter, das Wort 673. 678.
parti, le 754. 756.
partie, la 754. 756.
Partielle Integration 916.
Pascal (Blaise) 673. 678—682. 724 — 725.
749. 750—757. 758. 759. 776. 778. 779.
780. 781—783. 875. 882. 883. 885. 886.
888. 907—916. 917.
Pascal (Etienne) 675. 679. 681. 875. 881.
882.
Pascal's Satz vom Sechseck 680.
Pascal's Schnecke (Lima^on) 881—882.
Pazzi 551.
Peacock 304.
Peckham 98. 111.
Peiper 136.
Pelacani (Biagio) s. Biagio da Parma.
Peletarius s. Peletier.
Peletier (Jacques) 533. 549. 559. 560. 561.
571. 586.
Pell (John) 713. 745. 777.
Pellos 305.
PelVsche Aufgabe 777.
Pena s. De la Pene.
Pendelgesetzc 696. 697.
pensa = Gewicht 9.
Percy (Henry Earl of Northumberland)790.
Perito Annotio = Pietro Antonio (Cataldi)
761.
Perlacher (Andreas) 394.
Perle 918.
Perolt 387.
perpendicidum = sinus 601.
Perspective 97—99. 111. 141. 172. 251.308.
449. 456. 460. 466. 467. 675. 677. 695.
Personerius s. Roberval.
Peterlein (Hans) s. Petrejus.
Petersburger Aufgabe 502.
Petrarca 156.
Petrejus 63. 276. 431. 443. 484. 518.
Petrus de Alliaco s. Ailly.
Petrus Philninrni de Dada 90.91. 114. 556.
Petrus Str((iiii()iiis de Dada 90.
Petrus W'iiihr de Dada 90.
Petz 259.
Petzensteiner (Heinrich) 221.
Peuccr (Kaspar) 609.
Peurbach {Georg von) 180—185. 187. 193.
211. 235. 2.54. 255. 256. 257. 258. 262.
264. 266. 275. 276. 290. 365. 393. 409.
469. 669.
Peycrbach s. Peurbach.
Register.
937
Pfauenschwanz (cauda pavonis) 341.
Pfeifer 341.
Pfleiderer 182. 273. 275.
Philipp (Landgraf von Hessen-Butzbach)
741.
Philipps 59.
Philon von Byzans 457.
Philosophie der Mathematik 682.
Phyloponus 457.
Pickel 445.
Piero dellaFrancesea 294. 30(5. 307. 308.336.
Pietro d'Abano 165.
Piola 709.
P/rcÄTfe/we?- (Willibald) 265. 455. 459. 469.
Pisanus 98. ■
Pitiscus (Bartholomaeus) 603—604. 619.
642. 646—647. 703. 730. 733. 746.
piii di meno 623.
Plakhovo 89.
Plank (Hans) 823.
Plantin 614.
Planudes (Maximus) 345.
Plato 82. 210. 317. 456.
Plato von Tivoli 36. 38. 111. 262. 272.
plus, das Wort 27.
Poggendorff 87. 98. 113. 123. 172. 377.
379. 385. 386. 387. 392. 405. 431. 476.
480. 549. 554. 596. 603. 613. 619. 651.
659. 664. 666. 670. 672. 686. 691. 695.
719. 720. 741. 742. 743. 745. 765. 768.
770. 783. 785. 876. 896. 897.
Poinsot 116.
Pol 270.
Polardreieck s. reciproke Dreiecke.
Poncelet 220. 678.
Pontanus 365.
Porismen 656. 657. 658. 659. 677.
Porto (Emanuel) 711.
Posidonius 761.
Postel (Guillaume) 385.
potenza 623. 626.
Potenzen der Unbekannten mit Namen
versehen 34. 317.481. 619.623. 641. 647.
Potenzgrössen 133—136. 355—357. 606.
617. 623. 626. 627. 634. 635. 726—727.
788. 794. 902.
Potenzsummen 748—749. 753. 837. 845
—847. 900—902. 911.
Pothenot 705.
Pothenot'sche Aufgabe 705.
Poudra 98. 674. 676.
Praeceptor Germaniae 407.
Praedicatoren s. Dominicaner.
Praetorius 589—590. 601. 619. 666. 669.
700. 722.
Praktik 373. 392. 519. 611.
Prantl 61. 115. 120. 121. 143. 186. 415.
Pressland 581. 672.
Primlinie und Secmidlinie 195 — 197. 199
—201.
Primzahlen 11. 60. 435. 524. 565. 771.
775. 778.
proba = Probezahl 9.
Prodocimo s. Beldomandi.
Professuren der Mathematik 176. 253. 254.
345. 391. 399. 408.
Progressio 89.
Progresstabulen 725 — 729. 739.
projectilia 218.
Protection, orthographische 695.
Projection, scenographische 695.
Projection, stereographische 695.
Proklos 73. 99. 267. 338. 406. 409. 546.
553. 564. 568. 652. 761.
Proportionale Gleichungen (zwischen x",
a;"+^, a;"+-'*) 242. 244. 245. 322. 323.
358. 423. 484. 490.
Proporti onaltlieile 182. 185. 273. 274.
Proportionalzirkel 578. 668. 687—691.
722—723. 743.
Proportionen in besonderen Schriften be-
handelt 16. m. 67. 116. 117. 132—137.
Proprietas specifica 860.
Prostaphaeresis 454—455. 597. 602. 603.
642. 643. 711. 712. 721—722.
Prouhet 683.
Prowe 252. 470. 471. 473. 474. 475.
Psellus 79. 80. 317. 550.
Ptolemaeus 7. 16. 37. 77. 98. 99. 140.
172. 182. 183. 252. 259. 392, 406. 409.
462. 563. 594. 695.
Pünktchen zur Andeutung der Stellen-
zahl 89. 164. 310. 619.
Pyramidnlsumme 914.
Pythaqoräische Zahlendreiecke 556. 633
—634. 779. 783.
Pythagoras 262.
Quadrant 38. 95—96. 112.
Quadratrix 887.
Quadratum geometricum 112. 184. 669.
Quadraturen. 832. 837—840. 851. 854.
855. 856. 866—869. 877. 878—880. 885.
887. 896. 897. 898. 899. 905. 906. 907.
908. 918.
Quadratur der Hyperbel 896.
Quadratur des Kreises 79. 101. 104. 114.
127. 144—146. 197—198. 301. 377.
561—563. 761. 824. 897.
Quadratwurzel 30. 31. 32. 39. 65. 66. 69.
89. 92. 151. 159. 165. 178. 179. 243.
314. 353. 354. 375—376. 388. 396. 411.
412. 413. 420. 443. 444. 476. 480. 499.
523. 614. 622. 640. 762—763.
Quadratzahlen 60. 91. 93. 179. 208. 286.
287. 288. 353. 581.
Quadratzahl, welche um eine gegebene
Zahl vergrössert oder verkleinert wieder
Qiiadratzahl ist s. numeri congrui.
fjuaestio insolubilis 23.
Queren a s. Duchesne.
Quetelet 120. AlO. 552. 572. 573. 578. 608.
614.687.688.695.696.700. 716.719. 771.
Quintilian 345. 562.
938
Register.
racine lyee 353.
Rad des Aristoteles 53ö. 696.
radiee relata 158.
radix 34. 158. 239. 441.
radix legata 320. 623—624.
radix universalis 320. 623—624.
Bahn (Joh. Heinricli) 777.
Raimarus Ursus 593. 598. 626. 642. 648.
Raimundus Ltilltis s. Lullus.
Raitpfennig s. Rechenpfennige.
Rammaseyn (Pieter) 744. 745. 746.
Ramus (Petrus) 150. 545—547. 549. 563
—565. 612. 632. 641. 653. 685. 711. 761.
Randaufgaben der Dresdener Älgebra2i8.
423.
Raphelrnqius 596.
RatdoU 274. 290 291. 338. 471.
Rationalmachen von Brüclien 66. 353.
482. 524. 541.
Rational machen von Gleichungen 357. 638.
804—806.
Rationalmachen von x^-\-ax^ 486. 511.
Ravaisson-Mollien 295.
Rarnfa rPamillo) 669. 670.
RednHhhr.r 173. 407. 415.
Rech' iinnisrJn'iH' 720. 724—725. 907.
Rech<nj,f<inn(i,' 218. 219. 221.
Rcvhrnstnhr 7-_':!— 724. 739.743, 744. 746.
Reduntafvl HO. 124—125.
Rechnen von rechts nach links und von
links nach rechts 89. 90. 174. 178.
Reehurn mil Tmuqinärem 360. 508. 624.
Rcduni„qs,irl>n, <('r\\% 94—95.
RechiniiNjsdrhi,. sieben 174. 239. 310.416.
Rechnungsarten, acht 181.
Rechnungsarten, neun 89. 310.
Rechnnnqsarfrn, zehn 178.
Recirrnb Dniecke 605. 707.
J?m'/v/' :i;nlMTt)477— 480. 552. 608. 621.
721. 791.
Rectification 198—199. 201 — 202. 377. 382.
829. 830. 853. 865. 869-872. 883. 891.
905—906. 909. 920—921.
Rectification auf Quadratur zurückgeführt
871—872.
reduciren (beim Linienrechnen) 400.
Reqeldetri 13. 14. 224. 226. 230. 304.
316. 351. 396. 401. 478.
Regeln mit verschiedenen Einzelnamen
19. 20. 22. 23. 27. 224—227. 232—234.
239. 304. 305. 324. 325. 418. 419. 429.
440.
Regeln, sieben oder vierundsicanzig s.
Kapitel.
Regiomontanus 64. 67. 182. 253. 254—289.
290. 292. 367. 386. 393. 405. 409. 455.
469. 471. 474. 475. 476. 551. 587. 589.
598. 605. 609. 703. 704. 787. 809. 811.
Regula 834.
Regida coeci s. Zeche.
Regula de duplica 498.
Regula de modo 498. 542.
Regida recta 22.
Regula sermonis 247.
Regula sex quantitatum 16. 17.
Regula versa 22.
Reichelstain (Georg') 420.
Reiff 766. 899 903^ ■
Reijferscheid 232.
Reihe, arithmetische 19. 20. 40. 43. 89.
91. 131. 165 171. 223. 227. 350. 401.
413. 418. 501. 532. 533. 802.
Reihe, arithmetische höherer Ordnung
131. 522. 749. 753. 782.
Reihe der Kubikzahlen 314. 323. 413.
414. 610. 846—847.
Reihe der Quadratzahlen 20. 44. 314. 413.
414. 610. 837. 845. 849.
Reihe, geometrische 20. 27. 171. 172.
206 — 207. 223. 314. 350. 397. 402. 477.
487—488. 532. 533. 635. 866—867.
Reihe, hypergeometrische 903.
Reihe, reciproke 902.
Reihe, recurrirende 26. 521.
Reihen, unendliche 718.
Reinhold (Erasmus) 472.
Reisch (Gregor) 415-417.
relato 158. 317.
Remmelin (Johannes) 670. 748.
Rentenversicherung 760.
ms 22. 34. 48. 158. 246. 269. 441.
resolviren (beim Linienrechnen) 400.
Restitutionsversuche verlorener Werke 558.
590. 653—655. 656. 657. 658. 660. 662.
809. 816.
Restsysteme 772.
resumere 248.
Rhätieus 409. 454. 470. 472—475. 548.
600—603.
Rhonius s. Rahn.
Rhumbs s. Loxodrome.
Ribeyre, De 883.
Ricci (Michelangelo) 886. 898.
Richard (Claude) 659. 662.
Richardus Episcopus 56.
Richter (Johannes) s. Praetorius.
Riese (Adam) 420—424. 428. 429. 437.
451. 472. 478.
Rigle des premiers 355—357.
Ringanfgabe 8. 362.
Ringelberg ^Joachim Fortius) 384.
Ritier {¥^ 629. 630. 632.
Rivault de Flurance (David) 659. 660.
Rivius (Walther) 466.
Robertson CJohn) 743.
Robertus Änglicus 95—96. 112. 235.
Roberval (Giles Personnier de) 659. 675.
711. 713. 714. 753. 757. 758. 778. 779.
780. 781. 816. 857. 875. 876—882.
883—890. 901. 905. 907. 908. 909.
Rucca (Johann Antonio) 843.
Roche s. De la Roche.
Roder (Christian) 251. 280. 283.
Rodler (Hieronymus) 449.
Regrister.
939
Roe (Nathaniel) 747.
Römische Erbfolgeaufgabe 324. 361.
Rösel (Stephan) 392.
Roger Baco s. Baco.
Rolanclino 50.
Rollen eines Kreises 202. 301—302.
Romanus s. Van Roomen.
Rompiasi 306.
Roner (Dionysius) 430.
Roomen s. Van Roomen.
Ropiansi 306.
Rose 09. 209.
Rosinus s. Rösel.
Rossi 292. 481. 670.
Roulette 855.
Rouse Ball 476. 477. 554. 664. 720. 737.
899.
Ruber (Johannes) 602.
Rudel 691. 770.
Rudio 591. 595. 716,
Rudolff (Christoff) 398. 399. 424—429.
445—447. 542. 608. 621. 769.
Rückwärtseinschneiden 705.
Rüder (Christian) 251.
Rufß (Theodorich) 289.
Rumbus s. Loxodrome.
S.
Sacrobosco (Johann von) 87 — 91. 129. 156.
164. 174. 181. 205. 206. 209. 228. 252.
310. 365. 379. 386. 409. 523.
Sainte-Croix, De 774. 776. 780.
Salignac 612.
Salvino degli Armati 190.
Sanchez s. Ciruelo.'i
Sarasa (Alfons Anton de) 714.
Sauppe 248.
Savile (Henry;) 664. 738.
Sarilr'schr Professur in Oxford 738.
Sbardcllatiis (Andreas Dudicius) 551.
Scaliger (Josef) 586. 587. 596. 597. 598.
Schach 20. 27. 308. 314.
Schanz 187.
Schapira 770.
Scheiner (Christoph) 692. 693. 694.
Schenkl (H.) 59.
Schertte s. Tschertte.
Scheybl (Johann) 550.
Schickard (Wilhelm) 705.
Schiefe Ebene 576.
Schildknecht (Wendelin) 691.
Schimpffrechnung 428.
Schindel (Johannes) 175.J
Schindler (Johannes) 175.
Schissler (Christoph) 687.
Schlesinger (Ludwig) 793.
Schliessung S2)r üblem 436.
Schlösser mit Buchstaben 516. 562.
Schlüssel s. Clavius.
Schluss auf ein 3Tittleres von einem
Grösseren und Kleineren 104. 192. 282.
826.
Schmid (Wolfgang) 449. 666.
Schmidt (Erich) 666.
Schmidt (Wilhelm) 553.
Scholl (Fr.) 550.
Schönberger (Johann Georg) 692.
Schöner (Johannes) 63. 265. 275. 276.
469. 470. 472. 609. 612. 613.
Scholastik 54. 73. 79. 118. 144—149.
Schoner (Andreas) 612.
Schoner (Lazarus) 612. 613. 641.
Schooten (Franciscus van) Sohn 583. 635.
660. 686. 693. 714. 715. 758. 759. 771.
793. 800. 807. 808. 811. 820.
Schooten (Franciscus van) Vater 709.
Schott (Kaspar) 217. 720. 724.
Schrecken fuchs (Erasmus Oswald) 413.
Schreiber (Heinrich) 395—397. 402. 418.
419. 456. 464.
Schubring 125.
Schulz böl.
Schum 231.
Schwarz 258.
Schwenter (B-Aniel) 345.573.666—670. 68G.
763—765. 769. 770. 898.
Schwerpunkt 39. 75. 282. 302 570. 571.
695. 696. 698. 699. 716. 841. 843. 847.
854. 864—865. 873. 878. 884. 897. 907.
909. 911—913.
Scotus (Duns) s. Duns Scotus.
Scotus (Michael) s. Michael Scotus.
Scriptoris (Paul) 252.
Scultetus (Abraham) 603.
Secante, trigonomötrische 472. 589. 590.
604. 709.
Scdillot (L. Am.) 375. 545. 549.
Segehvagen 578.
Sehnen- und Tangentenvielecke 78. 79.
137 235
Sehnenviereck 79. 282. 568. 582. 587. 588.
589. 707. 708. 709.
Selzlin (David) 611. 670.
Scmjnlius s. Semple.
Semple (Hugo) 652.
Sons (Johann) 620.
Sexagesimalbrüche 66. 127. 177. 178. 182.
375—376. 609. 612. 616.
Sexagesimalzahlen 91. 177.
Sfortunati 481.
Shakespeare 219.
Siebeneckconstruction 83. 298. 451. 461.
580. 581. 588. 671. 673.
Siebenerprobe 11. 229. 310. 347. 402.
siqna 244.
Süicius (Juan Martinez) 219. 378. 387.
Simon (Max) 409.
Sinuslinie 879.
Sinussatz 267. 270. 706—707.
sinus versus 38. 272.
Sixtus IV. 258.
Sluse (Rene' Fran9ois de) 808. 811. 891.
916. 917—919.
Sluze s. Sluse.
Snellius (Rudolf) 654.
940
Register.
Snellius (Willebrord). 390. 572. 599. 654
—655. 656. 693. 704—707. 716.
sonnez 754.
Souvey (Bartholomaeus)831— 832. 843. 848.
Soverus s. Souvey.
Spänlein (Gallus) 611.
Specifische Geivichtshestimnmnq 516.
SpecUe (Daniel) 687.
Sphärisches Dreieck bestimmt durch drei
Seiten 271. 471. 605.
Sphärisches Dreieck bestimmt durch drei
Winkel 271. 471. 605.
Spinnenlinie = Epicycloide 461.
Spirallinie 832. 839—840. 850. 856. 878.
884. 887. 891. 892.
squaäro 481. 525.
Stabius (Johannes) 391. 401. 453.
Stäekel (Paul) 556. 661. 665. 815.
Staigmüller 294. 306. 307. 336. 340. 341.
459. 461. 463. 464. 468.
Status nascens 735.
Staubrechnen 155—156.
Steichen 562.
Steinmetz (Moritz) 548.
Steinschneider (Moritz) 16. 77. 126. 164.
247. 288. 769.
Stellenzeiger 751.
Stereometrie 39. 92. 93. 117—118. 302.
335. 336. 342. 343. 684.
Stern (M. A.) 174. 254.
Sternchen als Ersatz für fehlende Glieder
794.
Sternvielecke 92. 104. 114—116. 277—279.
380—382. 644. 663. 685—686. 822.
Sternvielßächner 582. 663.
Stetigkeit 73. 97. 104. 118—119. 191. 192.
561. 569.
Stevin (Simon) 389. 552. 572—578. 606.
614-617. 619. 620—621. 626—629.
640. 644. 648. 656. 744. 788.
StJien (Johannes) 552.
Stihorius s. Stöberl.
Stiene 771.
Stifel (Michael) 398. 409. 422. 425. 429
—449. 469. 4 79. 498. 523. 524. 525.
532. 542. 562. 608. 610. 614. 621. 627.
631. 670. 703. 725. 726. 730. 748. 750.
789. 794. 798.
Stobner (Johannes) 253.
StocUiniisrii (Johann Friedrich) 719.
Stöberl (Andreas) 391. 392. 393. 401,
Storchschnabel 694.
Strubel 430.
Stromer (Heinrich) 400—401.
Studnicka 88. 175. 179. 604. 685.
Stumpf 149.
stund = mal 242.
Sturm (Ambi-os) 561. 662. 771.
Sturm (Johannes) 421. 476.
St. Vincentius (Gregorius von) 713—717.
850. 892—896. 897. 916.
Suetonius 232.
Suicet s. Suisset.
Siiisset (Richard) 122. 130. 131. 387.
Sully 620.
summ = cosa 444.
Summa des Paciuolo s. Paciuolo.
summa aequationis = G\eichi\jigsi>o\jnom.
795.
summa divisionis 10.
summa midtiplicationis 9.
Simon 126.
Suter (H.) 54. 56. 57. 90. 100. 111. 121.
122. 123. 126. 128. 130. 139 140. 141.
142. 143. 144. 146. 166. 172. 179.
Sren 126.
Swanpdn 217. 220.
Swinshed s. Suisset.
Symbolizatio 839—840. 850. 892. 921.
Symonsz (Adriana) 599.
Szily 387.
Tabellen 8. 10. 11. 12. 13. 179.
207—208. 222. 229. 274—276. 328.
349. 354. 376. 385. 418. 434. 445.
471. 474. 476. 581. 583. 600—604.
614. 615. 619. 642. 665. 709. 711.
725—748. 771.
Tdbit ihn Kurra 81. 317.
tabula foecunda 275. 471.
tnccuino 164.
Tacqiirt TAndreas) 653. 720. 896.
Taf,] dnpp,lffn Eingangs 207. 273.
Tagllruh' Marolamo) 305.
Tallcment des Beaux 379.
Tangente, trigonometrische 111. 272.
405. 471. 604. 703. 709. 732. 742,
Tangentenproblem 586. 815. 827. 851—
855—856. ■8.59—864. 873. 874—875.
880—882. 883—884. 888. 889. 890.
908. 917—918.
Tannen/ (Paul) 95. 552. 554. 656.
681. 758. 771. 776. 777. 780. 805.
876. 882. 896. 910.
Tannstetter (Georg) 180. 182. 392—
395. 396. ^
taqwim 164.
Tara 224.
Tarif 328.
Tartaglia fNicolo) 375. 384. 482.
485—497. 503. 504. 510—531.
542. 547. 562. 566. 608. 610. 613.
622. 623. 631. 690.
tavoletta 222.
Ta yen, Regel 26. 240. 287. 428.
teca 89. 91. 418.
Tedaldo (Giovanni) 305.
Terquem (0.) 656.
Terrassenmeihode bei Herstellung
gischer Quadrate 768.
teutsch Zal 420.
Tliales 112.
Tliausing 459.
Theilbarkeitsregeln 11. 434. 445. 782—
275.
853.
877.
898.
657.
874.
393.
484.
541.
614.
Register.
941
TJieihmg von Figuren 37. 75. 76. 580.
Theodor s. Meister Theodor.
Theodosius 98. 116. 118. 261. 263. 394.
549. 557. 558. 659.
Tlieon von Alexandria 74. 98. 179. 259.
Theon von Alexandria für den Verfasser
der Euklidischen Beweise gehalten 102.
339. 366. 439. 551. 556. 563.
Theon von Smyrna 435. 652. 659.
theta 91.
Thienie (Giulio) 579.
'Thomas deBradwardina s. Bradwardinus.
Thomas von Aquiiio 96. 99. 113. 121.
Thorbecke (H..) 241.
Thou, De 583.
Timauro Antiate 887.
Tirahoschi 100.
Todhuntcr 480. 754.
Töpcke 186.
tollet 222. 225—226. 373. 403.
Tonski (Johann) 712.
Tonstall (Cuthbert) 476—477. 480. 614.
Torporley (Nathaniel) 701. 702. 703. 704.
Torre (Jacopo della) 204.
Torricelli (Evangelista) 699—700. 847.
876. 880—891. 897. 901. 905. 908.
Toscanelli (Paolo) 186. 194. 198. 292.
Transcendente 718.
Transcendente Curve 814.
Trapezunt (Georg von) 210. 256. 257. 258.
260. 277.
Trenchant (Jean) 611. 612.
Trennungszeichen 627.
Treutlein (P.; 63. 64. 67. 224. 228. 250.
386. 396. 399. 401. 403. 420. 422. 427.
429. 431. 440. 626.
Treviso s. Arithmetik von Treviso.
Treiü (Abdias) 720.
Triangulariristrument 691 .
Triangularsumme 912 — 913.
Trigonometrie 37 — 38. 111 — 112. 127.
181—183. 264—273. 273—276.285.404.
405. 454. 455. 471. 472. 474. 475. "580.
583. 603—608. 643. 665. 700—707.
Trigonometrische Functionen kurz be-
zeichnet 709.
trilineiim 838. 839. 914. 917.
Triparty s. Chuquet.
Tripliciiät 701. 703.
Trisection s. Dreitheilung des Winkels.
Trivet 58.
Trivialschule 407.
Trochoide 855.
Tschertte (Johannes) 395. 396. 456. 464.
Tschirnhaus (Walter von) 513.
Tzerte s. Tschertte.
Tzivivel (Theodorichj 419.
U.
Uberti (Luca Antonio di) 305. 481.
Uebergang vom Positiven zum Negativen
durch das Unendliche 90^.
Uebersetzungen aus dem Arabischen 36.
Uebersetzungen, erste aus dem Griechi-
schen 7.
Uebersichten: Leonardo von Pisa 53;
XIII. Jahrhundert 106; Pormenstreit
120—122; XIV. Jahrhundert 166—167;
Summa des Paciuolo 336—338; Chu-
quet und Paciuolo 362—364; XV. Jahr-
hundert 366 — 367; Cardano, Ferrari,
Tartaglia 541; tStevin , Vieta 648;
Bürgi 729; Descartes und Fermat 875
— 876; Pascal 907; Begründer der In-
ünitesimalrechnung 921 — 922.
Uffenhach (Philipp) 713.
Ulir im Strassburger Münster 553.
Uhrenaufgabe 334.
Ulem 641. 642.
Ulm 175. 611. 670—672.
Ulüg Beg 308.
iimbra 96. 111.
Umkehrungsrechnung 22—23. 397.
Umsetzung von Drehung in geradlinige
Betvegung 535. 541. 569.
Unbestimmte Coefficienten s. Methode der
u. C.
unciae 721.
Unendlichkeit 119—120. 189—190. 440.
586. 676. 844. 902.
Unendlichkeitspunkt einer Geraden 664.
677.
Unendlichkeitszeichen 820. 902.
Unger 65. 173. 221. 222. 224. 226. 228.
396. 397. 399. 402. 403. 419. 420. 422.
428. 431. 434. 619. 722. 724.
Universität Basel 251. 252. 405. 413.
Universität Bologna 166. 345.
Universität Erfurt 139. 179. 251.
Universität Freiburg 413.
?7«.ü'emMi Heidelberg 139. 141. 142. 406.
Universität Ingolstadt 252. 401.
Uliin rsifäl Köln 139. 142. 410.
Uiiinrs/Inl Krakau 252—254.
UnirrrsiUH Leipzig 179. 248-250. 253. 399-
Umversitüt Löwen 410.
Universität Montpellier 95.
Universität Neapel 54 — 55.
Universität Oxford 87. 111. 172.
Universität Padua 166. 203.
Universität Paris 55. 56. 57. 58. 87. 120.
121. 139. 140. 172. 364.
Universität Pavia 166.
Universität Prag 139. 140. 253.
Universität Rostock 410.
Universität Toulouse 56. 123.
Universität Tübingen 252. 406. 413.
Universität Wien 139. 140. 141. 149. 176.
251. 252. 254. 391—397.
Universität Wittenberg 406.
Universitätsgründungen 54.
Unmöglichkeit rationaler Lösung von
x"-{-y"=z" 45—46 774. 779.
Unpersönliche Conti 620. 621.
942
Register.
Ursimts (Benjamin) 739.
Urstisius s. Wursteisen.
Ursus s. Raimarus Ursus.
Usielli 194.
V,
Vaqim (Scipio) 340.
Valentin (G.) 291.
Vcihrio (Luca) 695. 696. 698.
Valerius Maximus 102.
Valla (Georg) 345. 457. 501. 562.
VaUin 386.
Van der Eycke s. Ducbesue.
Van den Steen 410.
Van Etten 768.
Van Geer 654. 705. 706.
Van Boomen (Adriaen) 573. 583. 590. 596.
597. 598. 605—608. 616. 636. 645. 654.685.
Van Schooten s. Schooten.
Vasco de Gama 386.
velo 293.
Venatorius (Thomas) 406. 455.
Ventuoi-the (Ricardo) s. Wentworth.
Veuturi 832.
Verbindung einer arithmetischen und einer
geometrischen Reihe 350. 397. 403. 431.
432. 635.
Verdoppeln 64. 84. 88. 89. 156. 174. 178.
181. 206. 229. 239. 310. 337. 396. 401.
411. 418. 419. 420.
Verdus, Du 877. 880.
Verini 481.
Verloosung von Vorlesungen 141. 176. 253.
Vernier (Peter) 692.
Verse zur Darstellung arithmetischer und
algebraischer Regeln 321—322. 418.
420. 477. 480. 488—489.
Viciina 386. 614.
Vielecke mit einspringenden Winkeln 37.
154.
Vielecke verscly.edener Gattungen 665 —
666.
Vieleckseonstructionen 83. 296—300. 450
—451.461—463. 580. 581. 588.589. 667.
672.
Vielflächner 336. 342. 343. 554. 571. 582.
Vierecke 37. 103. 153. 235.
Vieta (Franciscus) 513. 582—589. 590—
591. 593—595. 596. 598. 601. 605—608.
619. 629—641. 645. 648. 653. 654. 655.
659. 676. 693. 701. 707. 787. 788. 790.
791. 804. 806. 811. 817.
Vigesimalzahlen 93.
Villa Bei 90.
Villalpandus 662.
Ville (Antoine de) 672.
Villedieu 90.
ViUrfranche s. De la Roche.
Vincent de Beaurais 93—95.
Vinci (Lionardo da) 294—302. 307. 336.
343. 367. 377. 451. 463. 570.
Visierkunst 237. 404. 449.
Vitellio s. Witelo.
Vitnivius 293. 317. 464. 465. 466.
Viviani (Vincenzo) 660—662. 699. 886.
Vlack (Adriaen) 743—745. 746.
Foe^/e/m (Johann) 181. 394. 395.409.449.
Vollkommene Zahlen 61. 239. 309. 385.
434—435. 499—500. 524. 685. 761. 771.
776. 778. 784.
Vollständige Induction s. Methode der v. I.
Volmar 472.
Vorlesung über Algebra 234. 248. 249. 250.
Vorlesungsverzeichnisse 140. 141.
Vorsterman van Oijen 591. 656.
Voss (Gerhard Johannes) s. Vossius.
Vossius 87. 90. 101. 122. 385. 406. 480.
553. 652—653.
W.
Wackerbarth 736.
Waddington 545.
Wälsche Gast 106.
Waessenaer (Jacob van) 797. 798.
Wage zur Quadratur benutzt 886.
Wagenmann 609.
Wagner (^Ulrich) 221.
wagrecht = icinkelrecht = senkrecht 668.
Wahrscheinlichkeitsrechnung 327. 328. 501.
502. 520—523. 537—538. 754—760. 771.
907.
Wallingford (Richard von) 111.
Wallis (,John) 202. 382. 686—687. 765.
766. 773. 777. 779. 780. 792. 820. 821.
899—907. 909. 910.
Walther (^Bernhard) 258. 265. 455.
Waltheriis modernus 120. 191.
Wantzel 385.
Wappler 228. 239. 240. 241. 243. 246—
250. 422. 423.
Warner (Walter) 790.
Wanwermans 410.
WegscJiaffung eines Gleichungsgliedes b04o.
510. 511. 637.
Wehe (Zimpertus) 670.
Weidler (Job. Friedrich) 60. 172. 181.
Weises Jahrhundert 572. 788.
Weisse (L. F.) 548.
Weissenbo7-n {Rennsiiin) 37. 101. 290. 292.
338. 339. 340. 341. 365. 405.
Weissenborn 251. 893.
Welser (Marcus) 823.
Wentworth (Richard) 490 511. 516. 517.
Werner (Johannes) 452—459. 464. 466.
475. 571. 597. 642.
Wertheim (G.) 229. 305. 399. 414. 481.
515. 573. 613. 622. 623. 669. 711. 774.
775. 776. 781. 785. 794. 858.
White (Richard) 891—892.
White (Thomas) 891.
Widmann (Johannes) von Eger 228 — 237.
240—251. 343. 367. 417. 423. 427.
Wildermuth 417. 418.
WtlhelmlV., Landgraf von Hessen-Cassel
617. 618.
Register.
943
Wilhelm von Occam s. Occam.
Will 4ß9.
IVingate (Edmund) 74G.
Winkelfunktionen des }?dächen Wiukels
aus denen des einfachen hergeleitet
602. 606—008. 633. 636. 044—645. 807.
Wifdehnaun (Ed.) 41. 54. 141. 597.
Wiiikthnesswerkzeuge 38 112. 184. 288.
28'J. 417.
Winkel mos = Gnomon 152.
Winterberg 80.
Wissbier 175.
Witelo 98—99. 118. 172. 663.
Witt (Jan de) 760. 821.
Wittich (Paul) 042—043.
Wittstein (Armin) 317. 532.
Wölfflin (E. von) 93.
Wöpcke (Franz) 34. 47. 82. 243.
Wohlwill (Emil) 072.
Wolf (Rud.) 87. 96. 175. 183, 377. 379.
388.^398. 405. 593. 596. 602. 617. 018.
042. 043. 054. 070. 741.
WiiJf 'Christian von) 721.
II 'n/-?mA >)«»£; 430.447-448.070.720.748.
Wrea (^Christoph) 873. 883. 905. 900. 909.
Wright (^Edward) 737.
Würfelverdoppelung 80. 81. 82. 377. 440.
449. 457. 400. 525. 530. 562. 580. 580.
589. 062.
Wundt (W.) 119.
Wurflinie 514. 698. 699. 700. 711. 891.
Wursteisen 612.
Wurzel gren~()i bei Gleichungen SOO — 801.
Wurzelt von der Warzetl = x* 242.
Wirrzeln höherrr Grade 159. 433. 444. 640.
Wurzelzeichen 243. 320. 352. 399. 426.
441. 444. 446. 623. 624. 027.
X.
X als Gleichungsunbekannte 023. 793.
Xylander (;Wilhelm) 547. 549—552. 029.
055.
Y.
Ylem 642.
Ympyn (Jan) 620.
Ysac Sohn Salomonis 247.
Z.
Zach (Franz Xaver von) 7. 177. 701. 790.
Zahlengleichungen uiiherungsweise gelöst
s. Numerische Gleichungen.
Zuhlenkumpf 136.
Zahlensysteme mit verschiedener Basis
771. 783.
Zahlentheorie 23—25. 20. 33. 40. 42—43.
44. 45—40. 49. 50—51. 00-01. 02—03.
105. 104. 280 — 288. 309. 310. 338. 345.
301. 434—430. 499—501. 524. 550. 010.
011. 027. 033. 034. 771—787. 907.
Zahlzeichen mit Stellungstverth bei Nicht-
mathematikern 100. 157. 215. 210.
zall = numerus = Gleichungsconstante
242.
Zamberti (Bavtolomeo) 338. 339. 340. 365.
300. 515. 554.
Zamorann (Rodrigo) 557.
Zangewrisfcr 232. 248.
ZimhnqHiulrat s. Magisches Quadrat.
Zebrairski 98.
Zeche, Aufgabe von der gemeinsamen 429.
Zedier 009.
Zeichen + und — 230—232. 242. 296.
320. 397. 424. 425. 439. 444. 479. 631.
Zeichenivechsel und Zeichenfolge 639. 796.
Zenodorus 37. 116. 144. 283.
zephirum 8.
Zerlcgmuf eines Bruches in Stammbrüche
12—13. 70.
Zerlegung eines Gleichungspolynoms in
Factoren 639. 791. 795. 797. 799—800.
Zerlegung eines Baumgebildes in Eiern en-
tartheile 578. 824—826. 829. 843. 877.
Zetetik 630. 634.
Zeuthen (H. G.) 48. 530.
Ziffernzal 420.
Zirkeltveite (unveränderte) 296—300. 450.
451. 462. 405. 468. 483. 493. 520.
527—529. 506—567. 580.
Zinseszins 33. 158. 159. 233—234. 325.
520. 615.
Zinstafeln 325. 614. 744.
Zons (Moritius) 726.
Zornal 397.
Ziveideutige Fülle der Trigonometrie 002.
712.
QA
Cantor, Moritz Benedikt
21
Vorlesungen über
C?3
Geschichte der Matheipatik
1894-
2. Aufl.
Bd. 2
Physical *
Applied Sei.
PLEASE DO NOT REMOVE
CARDS OR SLIPS FROM THIS POCKET
UNIVERSITY OF TORONTO LIBRARY