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Full text of "Vorlesungen über Geschichte der Mathematik"

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VORLESUNGEN 


ÜBER 


GESCHICHTE  DER  MATHEMATIK 


VON 


MORITZ  CANTOR. 


ZWEITER  BAND. 

VON  1200—1668. 


MIT    190    IN   DEN   TEXT   GEDRUCKTEN   FIGUREN. 


ZWEITE   AUFLAGE  .  «_ 


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LEIPZIG, 

DRUCK  UND  VERLAG  VON  B.  G.  TEUBNER. 
1900. 


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&ef   '2. 


ALLE  KECHTE, 
EINSCHLIESSLICH  DES  ÜBERSETZÜNGSRECHTS,  VORBEHALTEN. 


Vorwort. 


Leser  meiner  im  Druck  erschienenen  Schriften  sind  es  schon  ge- 
wohnt, dass  ich  das  Vorwort  dazu  zu  verwenden  pflege,  noch  nach- 
träglich diese  oder  jene  Aenderung  vorzunehmen,  zu  welcher  mir  die 
Anregung  erst  während  des  Druckes  des  betreffenden  Bandes  wurde. 
Indem  ich  mich  anschicke,  abermals  in  solcher  Weise  zu  verfahren, 
komme  ich  zugleich  der  angenehmen  Pflicht  nach,  über  die  Quelle  zu 
berichten,  welche  mir  nicht  wenige  dieser  Aenderungen  zuführte. 
Während  die  Druckbogen  der  zweiten  Hälfte  dieses  Bandes  zwischen 
Leipzig  und  Heidelberg  hin-  und  herliefen,  durfte  ich  am  23.  August 
1899  die  Feier  der  Vollendung  meines  siebzigsten  Lebensjahres  be- 
gehen, und  zwei  bewährte  Freunde  und  Arbeitsgenossen,  Professor 
Max  Ourtze  und  Professor  Dr.  Siegmund  Günther,  mit  welchen 
ich  seit  1863,  beziehungsweise  1866,  in  immer  enger  werdender  Ver- 
bindung stand  und  stehe,  Hessen  es  sich  nicht  nehmen,  mich  durch 
das  Erscheinen  einer  Festschrift,  an  deren  Herstellung  32  Schrift- 
steller auf  dem  uns  gemeinsamen  Gebiete  der  Geschichte  der  Mathe- 
matik und  Physik  sich  beteiligten,  auf's  Freudigste  zu  überraschen. 
Es  ist  mir  Bedürfniss,  allen  diesen  Mitarbeitern  öffentlich  meinen 
wärmsten  Dank  auszusprechen  und  in  diesen  Dank  auch  die  Teubuer- 
sche  Verlagshandlung  einzuschliessen,  welche  in  der  Ausstattung  des 
Bandes  noch  zu  überbieten  wusste,  was  sie  sonst  in  dieser  Richtung 
leistet.  Wie  viel  ich  aus  dieser  Festschrift  lernen  durfte,  wird  teil- 
weise noch  in  diesem  Vorworte  sich  zeigen,  denn  sie  ist  es,  von  der 
ich  oben  als  der  Quelle  so  mancher  Aenderungen,  so  mancher  Ver- 
besserungen sprach.  Für  andere  Richtigstellungen  bin  ich  brieflichen 
oder  gedruckten  Mittheilungen  zu  Danke  verpflichtet,  die  sich  an  das 
Erscheinen  der  ersten  Hälfte  dieses  Bandes  knüpften. 

S.  12  und  S.  264.  Wenn  es  auch  richtig  ist,  dass  Leonardo 
von  Pisa  der  erste  abendländische  Schriftsteller  war,  welcher  über 
die  Zerfällung  eines  Bruches  in  eine  Summe  von  Stammbrüchen  sich 
ausliess,  dass  Regiomontan  wiederum  im  Abendlande  zuerst  eine 
selbständige  Trigonometrie  verfasste,  so  durfte  doch  diese  Beschränkung 


rv  Vorwort. 

auf  das  Abendland  nicht  vei'sch wiegen  werden,  nachdem  Bd.  I'^',  470 
nnd  735  von  dem  Rechenbuche  von  Achmim  und  von  Nasir  Ed- 
din das  Gleiche  berichtet  ist. 

S.  49.  Neben  den  Wörtern  radix  und  res  kommt  bei  Leonardo 
von  Pisa  noch  ein  drittes  Wort  für  die  Unbekannte  vor:  causa  (z.B. 
Leonardo  Pisano  II,  236  lin.  18).  Diese  wichtige  Bemerkung  hat 
H.  Eneström  in  seinem  Berichte  über  die  erste  Abtheilung  dieser 
2.  Auflage  des  IL  Bandes  meiner  Vorlesungen  Gesch.  Math.  (Biblio- 
theca  mathematica  1899,  p.  49 — 57)  gemacht.  Ihre  ganze  Tragweite 
leuchtet  ein,  sobald  man  die  Lautverwandtschaft  zwischen  causa  und 
dem  später  in  Übung  gekommenen  cosa  in  Erwägung  zieht. 

S.  72.  Zum  IV.  Buche  De  numeris  clatis  des  Jordanus  Nemo- 
rarius  ist  auf  den  Aufsatz:  R.  Daublensky  von  Sterneck,  Zur 
Vervollständigung  der  Ausgaben  der  Schrift  des  Jordanus  Nemorarius 
etc.  (Monatshefte  für  Mathematik  und  Physik  1896.  VII,  165—179) 
hinzuweisen. 

S.  87 — 88  und  S.  379.  H.  Eneström  macht  darauf  aufmerksam, 
dass  die  Bestimmung  des  Todesjahres  des  Sacrobosco  auf  1256 
neuerdings  erhobenen  Zweifeln  gegenüber  nicht  mehr  festgehalten 
werden  kann;  ferner  dass  Sacrobosco  wenn  auch  im  Allgemeinen  seine 
Quellen  verschweigend  doch  einmal,  und  zwar  bei  der  Ausziehung  der 
Quadratwurzel,  sich  auf  die  Arithmetik  des  Boethius  bezieht; 
endlich  dass  das  von  Clichtovaeus  herausgegebene  Ojnisculum  de 
praxi  numeronim  thatsächlich  mit  Sacrobosco's  Tractatus  de  arte 
numerandi  übereinstimmt. 

S.  112.  Zu  Levi  ben  Gerson  ist  zu  vergleichen  Curtze,  Die 
Abhandlung  des  Levi  ben  Gerson  über  Trigonometrie  und  den  Jacob- 
stab (Bibliotheca  mathematica  1898,  p,  97 — 112).  Die  der  Abhand- 
lung vorangehende  Eiyistola  auctoris  scheint  zu  beweisen,  dass  Levi, 
als  Petrus  von  Alexandrien  seine  Abhandlung  aus  dem  Hebräischen 
ins  Lateinische  übersetzte,  zum  Christenthum  übergetreten  war.  Unter 
vielen  der  Beachtung  würdigen  Stellen  erwähne  ich  den  Sinussatz  der 
ebenen  Trigonometrie  mit  einem  sehr  eigenartigen  Beweise  (1.  c.  S.  105 
und  107). 

S.  123.  Da  Johannes  de  Muris  schon  1321  als  Schriftsteller 
auftrat,  so  muss  das  Poggendorff  entnommene  Geburtsjahr  1310 
unrichtig  sein.  In  Verbindung  mit  dieser  Bemerkung  berichtige  ich 
zugleich  zwei  Druckfehler:  S.  254,  Note  2,  ist  1654  und  nicht  1555 
das  Druckjahr  von  Gassendi's  Schrift;  S.  345  Note  3  ist  Schwenter 
anstatt  Schmenter  zu  lesen. 

S.  215.  Jahreszahlen  auf  Münzen  in  Stelluugszahlen  treten  früh 
in  der  zweiten  Hälfte  des  XV.  Jahrhunderts,  nicht  erst  gegen  das  Ende 


Yoi-wort.  V 

auf.     H.  G.  Wertheim  hat  (Bibliotheca  mathematica  1898,  pag.  120) 
auf  eine  solche  Münze  von  1458  hingewiesen. 

S.  230  und  S.  296.  Libri's  Behauptung  des  Vorkommens  der 
Zeichen  -\-  und  —  bei  Lionardo  da  Vinci  ist,  Laut  einer  Bemerkung 
des  H.  Eneström,  durch  Govi  als  unrichtig  widerlegt  worden. 
H.  Eneström  gibt  ferner  an,  eine  von  Lionardo  da  Vinci  herrührende 
Handschrift  11  codice  cli  Leonardo  da  Vinci  nella  hiblioteca  del  Prin- 
cipe Trividzio  in  Milano  sei  1891  durch  Luca  Beltrami  und  An- 
gelo  Della  Croce  in  Mailand  dem  Drucke  übergeben  worden. 

S.  235.  H.  Curtze  hat  die  in  der  Münchner  Bibliothek  befind- 
liche deutsche  Uebersetzung  des  Robertus  Anglicus  von  1477 
nunmehr  (Festschrift  S.  43 — 63)  zum  vollständigen  Abdrucke  gebracht, 
wofür  man  ihm  bei  der  geringen  Zahl  ähnlicher  deutscher  Schriften 
aus  der  genannten  Zeit  nur  dankbar  sein  kann.  Die  deutsche  Ueber- 
traguug  der  Kunstausdrücke,  wie  hofstat  für  area,  hegriffluMeit  für 
capacitas,  zwiestand  für  distautia  u.  s.  w.,  dürfte  auch  den  Sprach- 
forscher zu  fesseln  im  Stande  sein. 

S.  248.  In  der  Dresdner  Handschrift  C  80,  welche  einst  in  dem 
Besitze  des  Johannes  Widmann  war,  und  welche  später  von  Adam 
Riese  benutzt  worden  ist,  finden  sich  die  sogenannten  Randaufgaben 
der  Dresdner  Algebra.  Während  mau  sich  früher  mit  der  Angabe 
begnügen  musste,  sie  seien  von  einer  anderen  Hand  als  der  des 
Schreibers  des  Textes  hinzugefügt,  ist  H.  Wappler  (Festschrift 
S.  539 — 554)  bei  erneuter  Prüfung  der  Handschrift  zu  weiteren  Er- 
gebnissen gelangt.  Er  hat  erkannt,  dass  die  in  ihr  enthaltene  deutsche 
Algebra  die  früher  unverstanden  gebliebene  Datirung  von  Ostern  1481 
trägt.  Er  hat  ferner  erkannt,  dass  die  Randaufgabeu  von  der  Hand 
des  Johannes  Widmaun  herrühren  und  hat  daraus  Veranlassung  ge- 
nommen, eine  ganze  Anzahl  derselben  zum  Abdrucke  zu  bringen. 
Widmann  zeigt  sich  hier  als  ganz  gewandt  in  einer  Kunst,  auf  welche 
man  in  der  Kindheit  der  Algebra  grosses  Gewicht  gelegt  zu  haben 
scheint,  nämlich  in  der  Kunst,  die  Unbekannte  einer  Textaufgabe  so 
auszuwählen,  dass  man  mit  ihr  allein  den  Gleichuugsansatz  zu  Stande 
zu  bringen  vermag,  ohne  Symbole  für  weitere  Unbekannte  nöthig  zu 
haben. 

S.  349.  Das  Wort  anteriorer,  welches  bei  Chuquet  das  all- 
mälige  Verschieben  des  Divisors  nach  rechts  bedeutet,  ist  viel  älteren 
Ursprunges.  H.  Eneström  hat  anteriorare  und  anterioratio  bei  Sacro- 
bosco  nachgewiesen. 

S.  351.  Pappus  hat  in  seinem  VIT.  Buche  als  8.  Lemma  zu  dem 
Verhältnissschnitte  des  Apollonius  (ed.  Hultsch  II,  688  und  690)  den 


VI  Yoi-wort. 

eenau  bleichen  Satz,  dass  -= — t-—  stets  zwischen  7^  und   ^  liesfe,  aus- 

gesprochen,  auf  welchen  Chuquet's  Regel  der  mittleren  Zahlen  ge- 
gründet ist.  Indem  ich  auf  diese  wenig  bekannte  Thatsache  hin- 
weise, bemerke  ich  jedoch,  dass  die  Wahrscheinlichkeit,  dass  Chuquet 
den  damals  nur  in  griechischer  Sprache  handschriftlich  vorhandenen 
Pappus  gelesen  haben  sollte,  eine  ausserordentlich  geringe  ist,  und 
dass  ferner  Pappus  keinerlei  Anwendung  von  seinem  Satze  ge- 
macht hat. 

S.  420.  Johann  Böschenstein  hat  nach  Angabe  von  H.  Felix 
Müller  (Festschrift  S.  0O8  Note  23)  seine  Regeln,  ähnlich  wie  Georg 
Reichelstain  es  that,  in  deutsche  Verse  zu  kleiden  geliebt.  Er  war 
auch  als  Wiedererwecker  der  hebräischen  Sprache  in  Deutschland  be- 
kannt. Nach  H.  Steinschneider  (Festschrift  S.  474 — 475)  hielt  es 
Böschenstein  eben  darum  für  uothwendig,  Verwahrung  dagegen  ein- 
zulegen, als  ob  er  von  jüdischen  Eltern  abstamme,  was  aber  deshalb 
doch  nicht  unmöglich  erscheine. 

S.  429.  Ich  hege  nicht  den  leisesten  Zweifel  an  der  Richtigkeit 
der  Herleitung  der  Wortverbindung  regula  cecis  von  Zecltc.  Gleich- 
wohl möge  der  Vollständigkeit  wegen  mit  H.  Eneström  auf  Biblio- 
theca  mathematica  1896  pag.  96  und  120,  1897  pag.  32  hingewiesen 
werden,  wo  von  einer  durch  den  dänischen  Mathematiker  J.  W.  Laurem- 
berg  1643  mitgetheilten  Herleitung  aus  dem  Arabischen,  richtiger 
aus  dem  Türkischen,  von  .s/AA//-  =  der  Trinker  die  Rede  ist. 

S.  438.  Bezüglich  des  Standpunktes,  welchen  Stifel  dem  Irra- 
tionalen gegenüber  einnahm,  hat  H.  Pringsheim  (Encyklopädie  der 
mathematischen  Wissenschaften  I,  51)  unter  Berufung  auf  die  Stelle 
der  Arithmetica  integra  fol.  103  verso  lin.  3  v.  u.  {^Iteni  licet  infmiti 
uiimeri  fracti  cadant  inter  quoslibet  cluos  numeros  immediatos,  qiiemad- 
modum  etiam  infiniti  nimieri  irrationales  cadiint  inter  diios  numeros 
integros  immediatos.  Ex  ordinihus  tarnen  idrorumque  facile  est  videre, 
ut  mdhis  eoriun  ex  siio  orditie  in  alterum  possit  transmigrare]  hervor- 
gehoben, dass  Stifel  sich  bereits  den  heutigen  Ansichten  insoweit 
näherte,  als  er  anerkannte,  dass  jeder  irrationalen  Zahl  gerade  so  gut 
wie  jeder  rationalen  ein  eindeutig  bestimmter  Platz  in  der  geordneten 
Zahlenreihe  zukomme. 

S.  441  und  S.  445.  H.  Eneström  hat  darauf  hingewiesen,  dass 
Stifel  neben  den  Bezeichnungen  der  Unbekannten  einer  Gleichung 
und  ihrer  Potenzen,  deren  er  sich  in  der  Arithmetica  integra  bediente, 
in  der  Ausgabe  der  Rudolif 'sehen  Coss  von  1553  noch  eine  andere 
vorschlug  und  auch  anwandte,  welche  den  später  benutzten  Bezeich- 
nungen  sehr  nahe   verwandt  ist.     Fol.  61   verso   der  genannten  Aus- 


Voi-wort.  VIT 

gäbe  ist  nämlich  gesagt :   G§  iimg   aber  bic  (5ofjifd}C  proflrefi  audi  atfo 
nerjeijdjnet  merben. 

0  12  3  4 

1  .l%.l%'äA%'ä'ä.m%%% 

Unb  fo  fort  alin  on  enbe.     Eine  Anwendung  dieser  Zeichen  steht  aber 
auf  Fol.  465  verso  in  dem  13.  Exemplum. 

S.  449.  Die  Behauptung,  es  sei  mit  der  deutschen  Algebra  nach 
Michael  Stifel  ziemlich  rasch  abwärts  gegangen,  bedarf  einer  Ver- 
besserung, seit  H.  Staigmüller  (Festschrift  S.  431 — 469)  die  Ver- 
dienste des  Tübinger  Professors  Johannes  Scheubel  in  ein  deut- 
licheres Licht  gerückt  hat.  Ich  habe  (S.  550)  dessen  deutsche  Be- 
arbeitung des  7.,  8.  und  9.  Buches  der  Euklidischen  Elemente  von 
1558  beiläufig  genannt.  Schon  vorher,  und  zwar  1550,  hat  Scheubel 
bei  dem  bekannten  Basler  Drucker  Hervagius  die  sechs  ersten  Bücher 
des  Euklid  lateinisch  herausgegeben  und  ihnen  Regeln  der  Al- 
gebra vorausgeschickt.  Die  Euklidausgabe  ist  durch  zwei  Eigen- 
thümlichkeiten  besonders  gekennzeichnet.  Erstlich  sind  alle  Buch- 
staben streng  vermieden,  und  statt  ihrer  ist  eine  Beschreibung  der 
betreffenden  Punkte  oder  Linien  augewandt,  z.  B.  die  Spitze  des 
rechten  Winkels,  die  Senkrechte  aus  der  Spitze  des  rechten  Winkels 
auf  die  gegenüberliegende  Dreiecksseite  und  dergl.  Euklid,  sagt 
Scheubel,  mache  es  im  Wortlaute  seiner  Lehrsätze  ebenso,  und 
die  Beweise  sollten  nichts  einführen,  was  die  Lehrsätze  vermeiden. 
Zweitens  gibt  Scheubel,  wo  immer  Dreiecksflächen  in  den  Sätzen 
auftreten,  Zahlenbeispiele,  welche  mit  Hilfe  der  Heronischen  Flächen- 
formel y.s  (s  —  a)(s  —  b)  (s  —  c)  ausgerechnet  die  Wahrheit  des  Satzes 
bestätigen  müssen;  an  einen  Beweis  der  Heronischen  Formel  selbst 
ist  natürlich  nicht  gedacht.  Die  vorausgeschickte  Brevis  regularum 
(dgebrae  descriptio  ist  durch  Kürze  der  Darstellung  wie  durch  reichen 
Inhalt  ausgezeichnet.  Indem  ich  der  Hauptsache  nach  auf  H.  Staig- 
müller's  Abhandlung  verweise,  betone  ich  nur,  was  auch  zu  S.  248 
von  Johannes  Widmann  lobend  erwähnt  wurde,  die  Geschicklichkeit 
mit  einer  Unbekannten  auszukommen,  wo  die  Natur  der  Aufgabe 
deren  mehrere  zu  verlangen  scheint.  Scheubel  lehrt  ferner  eine  all- 
gemeine Näherungsformel  für  die  Auffindung  irrationaler  Wurzel- 
werthe  höheren  Grades  kennen.  In  Buchstaben  kommt  sie  darauf 
hinaus,  dass,  wenn  a"  <  «"  -f~  ^^  <(«  +  1)"  ist,  man  näherungsweise 
zu  schreiben  hat: 

"j/a"  -f  &  ~  a  +  y-T j—^ ,    — ^ 


VIII  Voi-wort. 

Nachdem  H.  Staigmüller's  Abhandlung  gedruckt  war,  hat  H.  Curtze 
in  der  Tübinger  Bibliothek  die  Originalhandschrift  von  Scheubel's 
lateinischer  Uebersetzung  der  sechs  ersten  Bücher  Euklid's  aber  ohne 
die  im  Druck  von  1550  vorausgehende  Algebra  aufgefunden. 

S.  459.  Auch  andere  Schriftsteller  vor  wie  nach  Dürer  haben  den 
Versuch  gemacht,  die  Kunstausdrücke  der  Mathematik  zu  verdeutschen. 
H.  Felix  Müller  (Festschrift  S.  303—333)  hat  eine  grosse  Anzahl 
solcher  Uebersetzungsproben  mit  Quellenangabe  vereinigt.  Es  ist  lehr- 
reich zu  bemerken,  wie  wenige  derselben  Bürgerrecht  errungen  haben. 

S.  548.  Nach  einer  mir  brieflich  durch  H.  Hultsch  mitgetheilten 
Berichtigung  kann  Joachim  Camerarius  in  den  Jahren  1557  und 
1569  nicht  als  Nürnberger  Humanist  bezeichnet  werden.  In  Nürn- 
berg war  Camerarius  nur  1526 — 1535,  dann  in  Tübingen,  von  wo 
aus  er  1538  den  Commentar  des  Theon  von  Alexandria  zum  Almagest 
herausgab,  dessen  Handschrift  dem  Nachlasse  des  Regiomontan  ent- 
stammte. Seit  1541  wirkte  Camerarius  in  Leipzig.  Vgl.  Bursian, 
Geschichte  der  classischen  Philologie  in  Deutschland  I,  185. 

S.  572flgg.  Ueber  die  Schriften  Stevin's  hat  mir  H.  Grave- 
laar  höchst  werthvolle  Bemerkungen  zugehen  lassen.  Die  Hypoinne- 
mata  matliematica  (S.  572)  sind  die  buchstäbliche  Uebersetzung  der 
in  holländischer  Sprache  verfassten  WisconsUge  Gedachten} ssen  und 
erschienen  in  5  Abschnitten,  von  welchen  die  4  ersten  als  Memoires 
mathematiques  du  Frince  Maurice  de  Nassau  in  die  Girard'sche  Aus- 
gabe von  Stevin's  Werken  (1634)  übergingen.  Kästner's  Beschreibung 
der  Hypomnemata  ist  fehlerhaft.  Die  Schriften  des  2.  Abschnittes 
der  Hjpnomnemata  sind  ebensowenig  wie  die  übrigen  Theile  ur- 
spi-ünglich  in  lateinischer  Sprache  verfasst,  wonach  Note  3  S.  620  zu 
berichtigen  ist.  Die  Prohlemata  geometrica  (S.  573),  gedruckt  1583 
in  Antwerpen,  sind  in  der  Leidner  Bibliothek  vorhanden.  Ihr  Inhalt 
ist  grösstentheils  in  die  späteren  Bücher  De  la  practique  de  geometrie 
hineinverarbeitet. 

S.  583.  H.  Hunrath  hat  neuerdings  (Festschrift  S.  217—240) 
eine  viel  genauere  Beschreibung  als  seiner  Zeit  in  Zeitschr.  Math. 
Phys.  XXXVIII  von  Vieta's  Canon  mathematicus  (1579)  geliefert. 
Ein  Exemplar  findet  sich  ebenso  wie  Vieta's  Universalimn  inspecüonum 
ad  Canonem  matJieniaUcum  liher  singularis  (1579)  in  der  Landesbibliothek 
zu  Cassel.  Unter  zahlreichen  Näherungswerthen,  welche  dort  angegeben 
sind,  sei  nur  einer  erwähnt,  dem  ich  mich  nicht  erinnern  kann  ander- 
wärts begegnet  zu  sein :   y  2  =  ]/2  -\-  ~-  ")/2  • 

S.  599.  Brieflicher  Mittheilung  von  H.  Hunrath,  der  in  der 
Lage  war,  die  durch  Snellius  besorgte  Ausgabe  von  L.  van  Ceulen, 


Vorwort.  IX 

De  circulo  et  adscriptis  liher  (1619)  einzusehen,  entnehme  ich,  dass 
die  von  mir  den  Bomvstoffen  entnommenen  Angaben  irrig  sind.  In 
den  Rechnungen  van  Ceulen's  sind  erst  die  Sehnen-  und  Tangenten- 
vielecke mit  3-2^^  Ecken  verwerthet,  dann  die  mit  15-2^^  Ecken,  und 
aus   letzteren  ist  jr  auf  20  Deeimalstellen  gefunden. 

S.  600.  lieber  eine  nur  12  Blätter  starke  Abhandlung  des  Rhä- 
ticus  aus  dem  Jahre  1551:  Canon  dodrinae  triaminJornni  hat  H.  Hun- 
rath  (Festschrift  S.  203—205)  kurz  berichtet. 

S.  642.  Das  Räthsel,  wer  der  „Lehrer"  Ylem  war,  ist  in  Folge 
einer  neuen  Untersuchung  der  Göttinger  Handschrift  durch  H.  Curtze 
im  August  1899  gelöst.  Die  Handschrift  beginnt  nämlich  mit  der 
lateinischen  Uebersetzung  der  Lehrsätze  des  H.  Buches  Euklid's,  giebt 
für  jeden  derselben  deutliche  Erläuterungen  und  Beweise  und  fährt 
dann  fort:  nachdem  jetzt  die  Sätze  des  Ylem,  des  Pixicceptoris  AJ- 
gebrae,  beendigt  seien,  beginne  das  Buch  Algebrae  selbst.  Darnach 
kann  kein  Zweifel  sein,  dass  der  Verfasser  des  arabischen  Urtextes, 
auf  welchen  die  Handschrift  jedenfalls  zurückgeht,  Ylem  für  den 
Namen  Euklid's  hielt  und  ferner  dass  er  einsah,  dass  man  das  H.  Buch 
der  Elemente  als  Algebra  auffassen  kann.  Wieso  aber  Euklid  zu 
Ylem  geworden  ist,  dürfte  leicht  zu  begreifen  sein,  wenn  man  an  die 
fast  regelmässige  griechische  Bezeichnung  als  ßtoLXSicotrjg  denkt,  wo- 
von Lehrer  eine  ganz  erträgliche  Uebersetzung  ist.  Was  andere  abend- 
ländische Leser  aus  Ylem  machten,  zeigt  eine  gleichfalls  von  H.  Curtze 
im  Augnist  1899  in  der  Landesbibliothek  zu  Cassel  aufgefundene 
Handschrift.  Ihr  zufolge  wäre  Euklid&s  der  Titel  eines  Buches 
gewesen,  dessen  Verfasser  den  Namen  Elias  führte.  Dass 
aber  Elias  sehr  leicht  aus  Ylem  entstanden  sein  kann,  bi*aucht  kaum 
hervorgehoben  zu  werden. 

S.  698.  H.  Caverni  hat  im  IV.  Bande  seiner  Storia  del  metodo 
esperimentcde  in  Italia  die  Behauptung  zu  begründen  gesucht,  die  Er- 
kenntniss  der  Parabel  als  Wurflinie  rühre  nicht  von  Galilei,  son- 
dern von  Cavalieri  her,  der  die  Entdeckung  1632  in  seinem  Specchio 
usforio  veröffentlichte.  Demgegenüber  hat  H.  Wohlwill  (Festschrift 
S,  579 — 624)  erwiesen,  dass,  wenn  auch  Cavalieri's  Veröffentlichung 
durch  den  Druck  die  erste  war,  die  durch  sie  bekannt  gemachte 
wissenschaftliche  Thatsache  nichtsdestoweniger  von  Galilei  herrührt, 
der  sie  muthmasslich  schon  vor  1610  besass,  und  durch  welchen  sie, 
sei  es  unmittelbar,  sei  es  wahrscheinlicher  mittelbar,  Cavalieri  bekannt 
wurde. 

S.  712.  Einen  genauen  Bericht  über  Melchioris  Jostelii  LogisUca 
Frosthaphaeresis  Ästronomica  hat  H.  von  Braunmühl  (Festschrift 
S.  17 — 29)  nach   einer  Handschrift   der  Wiener  Bibliothek   veröffent- 


X  Vorwort. 

licht.  Inzwischen  hat  H.  Curtze  die  Originalhandschrift  des  Mel- 
chior Jöstel  selbst  in  der  Dresdener  Bibliothek  aufgefunden. 

S.  777.  Wenn  auch  die  Geschichte  der  von  Fermat  gestellten 
Aufgabe,  die  Gleichung  ax^  +1=2/"?  ^o  a  eine  nichtquadratische 
Zahl  bedeutet,  ganzzahlig  zu  lösen,  im  Texte  richtig  skizzirt  ist,  so 
wäre  es  doch  wohl  wünschenswerth  gewesen,  auf  den  literarischen 
Streit,  der  sich  über  diese  Aufgabe  erhob,  und  dessen  Acten  Wallis 
in  dem  sogenannten  Commercrum  ejnstoUcum  von  1758  veröffentlicht 
hat,  näher  einzugehen,  weil  er  auf  die  Art  und  Weise,  in  welcher 
Wallis  einen  Streit  führte,  ein  helles  Licht  wirft,  dessen  Wiederschein 
vielleicht  auch  andere  etwas  dunkle  Stellen  der  literarischen  Thätig- 
keit  des  gleichen  Verfassers,  z.  B.  die  geschichtlich  sein  sollenden  Er- 
örterungen seiner  Algebra,  von  denen  ich  im  UI.  Bande  (Kapitel  82) 
handle,  zu  beleuchten  vermag.  H.  Wertheim  hat  (Festschrift  S.  557 
bis  576)  diese  Lücke  vortrefflich  ausgefüllt.  Wallis  erscheint  neben 
seinem  Landsmanne  Broun cker  als  der  erheblich  untergeordnete 
Geist,  der  bald  die  Aufgaben,  zu  deren  Lösung  er  nicht  im  Stande 
ist,  zu  missachten  vorgiebt,  bald  die  Auflösungen  Brouncker's  so  ver- 
öffentlicht, dass  man  zunächst  Wallis  einen  gi-össeren  Anteil  daran 
zuzuschreiben  geneigt  ist,  als  ihm  zukam.  Auch  Frenicle's  Methoden, 
so  empirisch  sie  waren,  treten  nunmehr  mit  den  durch  dieselben  er- 
zielten Erfolgen  schärfer  hervor. 

S.  815.  In  der  Behandlung  der  sogenannten  Descartes'schen  Ovalen 
tritt  ein  Bipolarcoordinatensystem  zu  Tage,  dessen  Erfindung 
man  mit  H.  P.  Tannery  (Festschrift  S.  510  letztes  Alinea)  weit 
sicherer  als  die  des  rechtwinkligen  Coordinatensystems  für  Descartes 
in  Anspruch  zu  nehmen  hat.  In  dem  gleichen  Aufsatze  (Festschrift 
S.  503  —  513)  handelt  H.  Tannery  von  im  Jahre  1701  gedruckten 
Auszügen  aus  Descartes'schen  Aufzeichnungen,  welchen  kein  zu  grosser 
mathematischer  Werth  anhaftet. 

Dieses  sind  die  Berichtigungen  und  Ergänzungen,  welche  mir 
während  des  Druckes  des  Bandes  bekannt  geworden  sind,  und  welche 
ich  ihm  auf  seinen  Weg  in  die  Oeffentlichkeit  noch  mitzugeben  wünsche. 

Heidelberg  im  November  1899. 

Moritz  Cautor. 


Inhaltsverzeichniss. 


Seite 

IX.  Die  Zeit  von  1200—1300      .    .    .• 1  —  106 

41.  Kapitel.     Leonardo  von  Pisa  nnd  sein  Liber  Abaci 3 

4"2.  Kapitel.     Die  übrigen  Schriften  des  Leonardo  von  Pisa  ...  35 

43.  Kapitel.     Jordanus   Nemorarius.     Seine  Arithmetica   und   der 

Algorithmus  demonstratus 53 

44.  Kapitel.  Jordanus  Xemorarius:  De  numeris  datis.   De  triangulis  67 

45.  Kapitel.     Johannes   de   Sacrobosco,    Johannes  Campanus   und 

andere  Mathematiker  des  XIIL  Jahrhunderts 87 

X.  Die  Zeit  von  1300—1400 107—168 

46.  Kapitel.     Englische  Mathematiker 109 

47.  Kapitel.     Französische  Mathematiker 123 

48.  Kapitel.     Deutsche  Mathematiker 137 

49.  Kapitel.     Italienische  Mathematiker 154 

XL  Die  Zeit  von  1400—1450 169—212 

50.  Kapitel.   Deutsche  Rechenlehrer.   Johann  von  Gemunden.  Georg 

von  Peurbach 171 

51.  Kapitel.     Xicolaus  Cusanus 186 

52.  Kapitel.     Italienische  Mathematiker 203 

XIL  Die  Zeit  von  1450—1500 213—368 

53.  Kapitel.    Rechnen  auf  den  Linien.   Das  Bamberger  Rechenbuch  215 

54.  Kapitel.    Johannes  Widmann  und  die  AnLänge  einer  deutschen 

Algebra 228 

55.  Kapitel.     Deutsche  Universitäten.     Regiomontanus 251 

56.  Kapitel.    Ratdolt's  Euklidausgabe.   Alberti.   Lionardo  da  Vinci. 

Die  Arithmetik  von  Treviso 290 

57.  Kapitel.     Luca  Paciuolo 306 

58.  Kapitel.    Andere  Italiener.  Die  Franzosen  Chuquet  und  Lefevre  344 
XIIL  Die  Zeit  von  1500—1550 •.    .    .  369—542 

59.  Kapitel.     Französische,   spanische  und  portugiesische  Mathe- 

matiker      .    .  371 

60.  Kapitel.     Mathematiker  an  deutschen  Universitäten 390 

61.  Kapitel.    Deutsche  Rechenmeister  und  Cossisten  ausserhalb  der 

Universitäten 415 

62.  Kapitel.     Michael  Stifel 429 

63.  Kapitel.     Deutsche  Geometer.     Englische  Mathematiker  .    .    .  449 

64.  Kapitel.     Italienische  Mathematiker.    Die  kubische  Gleichung  480 

65.  Kapitel.     Cardano's  ältere  Schriften 497 

66.  Kapitel.     Tartaglia's  Schriften.     Cardano's  spätere  Schriften  .  514 


Xn  Inhaltsverzeichniss. 

Seite 

XIV.  Die  Zeit  von  1550—1600 543—648 

67.  Kapitel.    Geschichte  der  Mathematik.   Klassikerausgaben.  Geo- 

metrie.    Mechanik 545 

68.  Kapitel.     Fortsetzung   der  Geometrie  und    Mechanik.     Cyclo- 

metrie  und  Trigonometrie 571 

69.  Kapitel.     Rechenkunst  imd  Algebra 608 

XV.  Die  Zeit  von  1600—1668 649—922 

70.  Kapitel.     Geschichte  der  Mathematik.     Klassikerausgaben  ,    .  651 

71.  Kapitel.     Geometrie 662 

72.  Kapitel.     Praktische  und  theoretische  Mechanik 687 

73.  Kapitel.     Trigonometrie  und  Cyclometrie 700 

74.  Kapitel.     Rechnen.     Logarithmen 718 

75.  Kapitel.     Ei-findung  von  Methoden.     Wahrscheinlichkeitsrech- 

nung.    Kettenbrüche.     Aufgabensammlungen 748 

76.  Kapitel.     Zahlentheorie.     Algebra 771 

77.  Kapitel.     Geometrische    Gleichungsauflösungen.     Analytische 

Geometrie 806 

78.  Kapitel.     Infinitesimalbetrachtungen.     Kepler.     Cayalieri .    .    .  821 

79.  Kapitel.     Descartes.     Fermat 851 

80.  Kapitel.     Roberval.     Torricelli 876 

81.  Kapitel.    Gregorius  a  Sto.  Yincentio.   Wallis.  Pascal.   DeSluse. 

Hudde.    Van  Heuraet 892 


IX.   Die  Zeit  von  1200—1300. 


Cantoe,  Geschichte  der  Mathem.    II. 


41.  Kapitel. 
Leonardo  von  Pisa  und  sein  Liber  Abaci, 

Leonardo  der  Pisaner  und  Jordanus  Nemorarius!  Mit  diesen 
beiden  Namen  einen  neuen  Zeitabschnitt  in  der  Geschichte  unserer 
Wissenschaft  ankündigend  schloss  der  L  Band.  Die  gleichen  Namen 
müssen  uns  jetzt  die  Ueberschriften  der  ersten  Kapitel  dieses  IL  Bandes 
liefern.     Wir  beginnen  mit  Leonardo  von  Pisa. 

Seine  Vaterstadt,  an  der  Mündung  des  Arno  gelegen,  bildete  mit 
Genua  und  Venedig  die  unter  sich  feindliche  Dreizahl  der  mäch- 
tigsten Handelsstädte  Italiens  um  das  Jahr  1200.  Mit  dieser  Bezeich- 
nung ist  der  Kern  der  politischen  Zustände  der  Appeninenhalbiusel 
enthüllt.  Innere  Zwistigkeiten,  grossartige  Handelsbeziehungen,  das 
sind  die  Brennpunkte  mittelalterlichen  Staats-  und  Städtelebens  in 
Italien.  Die  Bevölkerung  war  zusammengewürfelt  aus  den  verschie- 
denen Stämmen,  welche  theils  nebeneinander  theils  nacheinander 
die  Herren  des  Landes  gewesen  waren.  Altrömische,  griechische, 
gothische,  longobardische,  fränkische  Elemente  waren  in  dem  Völker- 
brei aufgegangen,  Hessen  aber  gleichwohl  an  einzelnen  Orten  sich 
noch  deutlich  auseinanderhalten^).  Araber  waren  (Bd.  I,  S.  664)  durch 
mehrere  Jahrhunderte  im  Besitze  von  Sicilien  gewesen  und  nur  theil- 
weise  am  Ende  des  XI.  Jahrhunderts  durch  Normannen  verdrängt 
worden.  Bis  in's  XII.  Jahrhundert  hinein  reichen  die  Spuren  von 
mehr  als  nur  vereinzelten  Bekennem  des  Islams  auch  auf  dem  ita- 
lienischen Festlande.  Weiss  doch  noch  1114  Donizo,  der  Verfasser 
einer  Lebensgeschichte  der  Gräfin  Mathilde  von  Toscana,  von  den 
vielen  Heiden,  Türken,  Libyern,  Parthern  und  schwarzen  Chaldäern 
zu  erzählen,  die  in  Pisa  ihr  Wesen  trieben^).  Stammesgegensätze 
mögen  demnach  vielfach  den  Grund,  wenn  nicht  den  Anlass  zu 
blutigen  Fehden  der  einzelnen  Städte  gegeben  haben.  Verschärft 
wurden  sie  durch  politisci^en  und  kirchlichen  Zwiespalt.     Wo  Päpste 


^)  Libri,  Histoire  des  sciences  mathematiques  en  Italie  I,  15G  Note  1.  Wir 
citiren  dieses  Werk  künftig  kurzweg  als  Libri.  ")  Monum.  German.  S.  S. 
XII,  379. 

1* 


4  41.  Kapitel. 

und  Gegenpäpste  bald  mit  den  Kaisern  aus  dem  Hause  der  Staufen 
in  offenem  Ki-iege  lebten,  bald  sie  krönten,  bald  mit  kaiserlichen 
Heeren  in  Rom  einzogen,  bald  wieder  vor  diesen  Heeren  flohen;  wo 
Städtebünde  sich  einigten  und  lösten;  wo  Verträge,  kaum  geschlossen, 
wieder  gebrochen  wurden:  da  hält  es  schwer  zu  sagen,  was  au  diesen 
Erscheinungen  als  Folge,  was  als  Ursache  zu  betrachten  sei.  So  viel 
ist  übrigens  sicher,  dass  die  kriegerische  Kraft  insbesondere  der  drei 
obengenannten  Hafenstädte  sich  nicht  bloss  in  gegenseitiger  Be- 
kämpfung in  der  Heimath  aufi-ieb,  sondern  auch  in  fruchtbaren  Han- 
delsunternehmungen sich  äusserte.  Wir  wissen  (Bd.  I,  S.  850 — 851),  von 
welch  bedeutendem  Einflüsse  die  Kreuzzüge  auf  die  Handelsbeziehungen 
des  italienischen  Kaufmannsstandes  gewesen  sind.  Anwohner  eines 
im  Yerhältniss  zur  Grösse  des  Landes  unmässig  langen  Küstengebietes, 
vieljährige  Nachbarn  von  arabischen  Bewohnern  Siciliens,  mit  denen 
sie  Tauschverkehr  zu  treiben  kaum  jemals  unterbrochen  hatten,  waren 
Italiens  Kaufleute  wie  von  der  Natur  darauf  hingewiesen,  den  Handel 
mit  den  reichen  Gegenden  Yorderasiens  wie  nicht  minder  des  nörd- 
lichen Afrikas  zu  vermitteln,  mochten  diese  Gegenden  als  Kreuzzugs- 
staaten dem  christlichen  Glauben  erworben  sein,  oder  nach  wie  vor 
dem  Islam  huldigen.  Venedig,  Genua,  Pisa  waren,  wie  oben  an- 
gedeutet, die  drei  Städte,  welche  wetteifernd  um  den  ersten  Rang 
des  Handels  und  der  Colonisation  stritten,  da  und  dort,  häufig  an 
gleichem  Orte  nebeneinander,  Ansiedelungen  gründend,  welche  nicht 
selten  in  Streitigkeiten,  die  zu  blutigen  Kämpfen  führten,  ihre  Eifer- 
sucht bethätigten.  Von  Pisa's  Ansiedelungen  müssen  wir  besonders 
eine  hervorheben^).  Von  Bugia  als  dem  westlichsten  Punkte  bis  Sfax 
finden  wir  um  das  Jahr  1200  pisanische  Factoreien,  grossartige  Waaren- 
häuser  verbunden  mit  ganze  Stadttheile  bildenden  Wohnräumen  für 
die  ankommenden  Schiffsleute  wie  für  ansässig  gewordene  Beamte. 
Aehnliche  Besitzungen  der  Pisaner  sind  in  Alexandria,  ähnliche  an 
der  vorderasiatischen  Küste,  besonders  in  Tyrus,  ähnliche  in  Con- 
stantinopel  vorhanden.  Die  Absicht  bei  den  von  den  Herren  des 
Landes  nicht  ungern  gesehenen  Niederlassungen  gipfelte  darin,  dass 
die  Ersten  am  Platze  sich  bestrebten,  Zollvergünstigungen  bei  der  Ein- 
fuhr und  Ausfuhr  von  Waaren  wo  möglich  für  sich  allein  zu  erlangen. 
Deren  Mitgewährung  an  andere  Handelsstädte  z.  B.  an  Genua  oder 
Venedig  nährte  und  stachelte  die  aus  dem  Mutterlande  schon  mit- 
gebrachte  Eifersucht.     Es    handelte    sich    mithin   um    ganz    wichtige 

1)  Vergl.  W.  Heyd,  Die  mittelalterlichen  Handelscolonien  der  Italiener 
in  Nordafi-ika  von  Tripolis  bis  Marocco  in  der  Zeitschr.  f.  d.  gesammte  Staats- 
wissensch.  XX,  617 — 660  (Tübingen  1864)  und  desselben  Verfassers  zweibändiges 
Werk:  W.  Heyd,  Geschichte  des  Levantehandels  im  Mittelalter  (Stuttgart  1879). 


Leonardo  von  Pisa  und  sein  Liber  Abaci.  5 

Dinge,  welche  die  Beamten,  die  Zollaufseher  und  Schreiber  einer 
solchen  Niederlassung,  zu  besorgen  hatten,  um  die  Fürsorge  dafür, 
dass  die  zugesicherten  Vergünstigungen  auch  eingehalten  wurden,  dass 
den  Kaufleuten  aus  ihrer  Heimath  keine  höhere  Zollgebühr  abgefordert 
wurde,  als  sie  vertragsmässig  zu  zahlen  verpflichtet  waren;  es  han- 
delte sich  unter  Umständen  um  den  Abschluss  neuer  Verträge.  Die 
Stellung  der  Beamten,  mochten  sie  auch  nur  Schreiber  heissen,  ist 
demnach  keineswegs  eine  untergeordnete  gewesen. 

Von  einem  pisaner  Schreiber  wissen  wir,  der  am  Ende  des 
XII.  Jahrhunderts  in  Bugia  lebte.  Seinen  Namen  kennen  wir  nicht, 
wohl  aber  einen  spöttischen  Beinamen,  den  er  führte,  Bonaccio 
(der  Gute),  und  welcher  sich  in  der  Ueberschrift  eines  von  seinem 
Sohne  Leonardo  verfassten  Werkes  erhalten  hat:^)  Incipit  liber 
Abaci  Compositus  a  leonardo  filio  Bonacij  Pisano.  In  Anno  M'^CC^IP. 
Er  liess  diesen  Sohn  Leonardo  aus  der  Heimath  kommen,  um  ihn 
bei  einem  Rechenmeister  unterrichten  zu  lassen.  Er  sollte  verschie- 
dene Tage  —  per  aliquot  dies  —  dem  Studium  des  Abacus  widmen. 
Er  wurde  in  die  Kunst  mit  Hilfe  der  neun  Zahlzeichen  der  Inder 
eingeführt,  fand  an  der  Wissenschaft  Vergnügen,  lernte  auf  Handels- 
reisen, die  er  später  nach  Aegypten,  Syrien,  Griechenland,  Sicilien 
und  der  Provence  unternahm.  Alles  kennen,  was  an  jene  Rechnungs- 
verfahren sich  anschloss.  Aber  dies  AUes,  sagt  Leonardo,  und  der 
Algorismus  und  die  Bögen  des  Pictagoras  schienen  mir  nur  ebenso- 
viele  Irrthümer  verglichen  mit  der  Methode  der  Inder-).  Er  habe 
desshalb  eben  die  Methode  der  Inder  enger  umfasst,  habe  Eigenes 
hinzugefügt,  Manches  von  den  Feinheiten  der  geometrischen  Kunst 
des  Euclid  beigesetzt  und  so  das  Werk  geschaffen,  welches  er  jetzt 
in  15  Abschnitten  veröffentliche,  damit  das  Geschlecht  der  Lateiner 
hinfort  nicht  mehr  unwissend  in  diesen  Dingen  befunden  werde. 

In  der  That  scheint  das  umfangreiche  Werk  —  der  vorhandene 
Abdruck  erfüllt  459  Seiten  —  den  Erfolg  gehabt  zu  haben,  welchen 
Leonardo  sich  von  ihm  versprach.  Noch  Jahrhunderte  hindurch  ist 
die  Nachwirkung  dieses  merkwürdigen  Buches  unmittelbar  zu  erweisen. 
Die  von  Leonardo  gebrauchten  Beispiele  sind  von  zähester  Lebenskraft 
und  haben,  theilweise  selbst  aus  grauester  Vergangenheit  stammend, 
Aveitere  Zeiträume  durchlebt,  als  die  stolzesten  Bauten  des  Alterthums. 


^)  Vergl.  Seritti  di  Leonardo  Pisano  matematico  del  secolo  decimoterzo  pub- 
hlicati  da  Bald.  Boncompagni  (Rom  1857 — 62)  I,  1.  Wir  citiren  immer  Leon. 
Pisano  mit  nachfolgender  Angabe  von  Band  und  Seitenzahl.  Leonardo's  Bil- 
dungsgang ist  I,  1  Z.  16  V.  u.  beschrieben.  ^)  Sed  hoc  totum  et  algorismum  atqiie 
areus  pictagore  quasi  errorem  computavi  respecttt  modi  indorum.  Leon.  Pisano 
I,  1  Z.  0  V.  u. 


6  41.  Kapitel. 

Uebei*  den  augenblicklichen  Erfolg  von  Leonardo's  liber  Abaci 
—  Abacus  werden  wir  das  Buch  hinfort  nennen  —  könnte  der  Um- 
stand zweifelhaft  machen,  dass  dem  Verfasser  so  wenig  als  seinem 
Vater  ein  sjjöttischer  Beiname  erspart  blieb.  Bigollo,  Tölpel,  nennt 
sich  Leonardo  in  Ueberschriften  ^)  mit  demselben  Gleichmuthe,  mit 
welchem  er  sich  zu  anderen  Malen  oder  auch  gleichzeitig  Filius 
Bonacij  nennt,  woraus  spätere  Zusammenziehung  den  Namen  Fi- 
fa onaci  gebildet  hat,  unter  welchem  Leonardo  fast  am  häufigsten 
bekannt  ist.  Muthmasslich  waren  aber  diese  Spottnamen  doch  nur 
im  Munde  der  kenntnisslosen  Menge  entstanden  und  ebendesshalb 
Ton  Leonardo  selbst  in  stolzem  Gegenspotte  angenommen  worden. 
Ganz  anders  wurde  der  Abacus,  wurde  dessen  Verfasser  in  den  Kreisen 
der  gebildeten  Minderheit  betrachtet  und  geachtet.  Wir  gehen  schwer- 
lich irre,  wenn  wir  annehmen,  dieses  Werk  sei  es  gewesen,  welches 
Leonardo  den  Zutritt  zum  kaiserlichen  Palaste  eröffnete.  Jedenfalls 
stand  Leonardo  in  Hof  kreisen  mitten  inne,  als  er  die  zweite  Be- 
arbeitung des  Abacus  veranstaltete,  welche  allein  auf  uns  gekommen 
ist,  und  von  welcher  somit  eigentlich  gilt,  was  wir  bisher  angeführt 
haben. 

Man  könnte  zunächst  das  Datum  1202  auf  diese  zweite  Ausgabe 
beziehen,  an  deren  Spitze  es  sich  befindet,  doch  ist  die  Unmöglich- 
keit davon  leicht  zu  erweisen.  Die  zweite  Ausgabe  beginnt  nämhch 
mit  einem  Widmungsschreiben  an  Meister  Michael  aus  Schott- 
land, in  welchem  mitgetheilt  ist"),  es  sei  schon  lange  her,  dass  das 
Werk  vom  Abacus  verfasst  sei,  und  inzwischen  habe  Leonardo  auch 
eine  Schrift  über  die  Praxis  der  Geometrie  verfasst.  Von  dieser 
letzteren  haben  wir  im  folgenden  Kapitel  zu  reden  und  werden  sehen, 
dass  sie  von  1220  datirt  ist.  Jedenfalls  nach  1220  muss  also  auch 
die  zweite  Ausgabe  des  Abacus  gesetzt  werden,  allerdings  „lange 
Zeit"  nämlich,  wie  sich  zeigen  wird,  wohl  26  Jahre  später  als  die 
erste  Ausgabe.  Auf  ebendenselben  Zeitpunkt  verweist  aber  auch  die 
Persönhchkeit  des  Meister  Michael  aus  Schottland^).  Michael 
Scotus,  der  Hofastrolog  Kaiser  Friedrich  IL,  der  offenbar  gemeint 
ist,  wurde  um  1190  in  der  schottischen  Stadt  Balwearie  geboren, 
konnte  also  1202  unmöglich  als  grosser  Gelehrter,  summe  philosophe. 


*)  Leon.  Pisano  II,  227:  Incipit  flos  Leonardi  hUjolli  pisani  und  nach 
Libri  11,  21  Note  heisst  es  in  einem  Pariser  Codex  eines  anderen  Werkes 
Leonardo's:  Incipit  pratica  geometrie  composita  a  leonardo  Bigollosio  fillio  Bo- 
nacij pisano.  ^)  Scri2)sistis  mihi  domine  mi  magister  Michael  Scotte,  summe 
pihilosophe,  ut  librum  de  nurnero,  quemdudum  composui,  vohis  transscriberem  .  .  . 
Verum  in  alio  libro,  quem  de  practica  Geometrie  composui  ...  ^)  Nouvelle 
Biographie  universelle  XXXV,  363  (Paris  1861). 


Leonardo  von  Pisa  und  sein  Liber  Abaci.  7 

in  einem  Widmungsschreiben  angeredet  werden.  Er  bereiste  nach 
einem  Studienaufenthalte  in  Paris  auch  noch  Spanien,  wo  er  1217 
in  Toledo  verweilte  und  mit  Astronomie  sich  beschäftigte.  Erst 
nach  dieser  Zeit  kam  er  zu  Kaiser  Friedrich  und  mit  diesem  nach 
Italien.  Es  ist  mindestens  als  wahrscheinlich,  wenn  nicht  als  gewiss 
zu  betrachten,  dass  Michael  Scotus  einer  der  Gelehrten  war,  die 
Friedrich  IL  damit  betraute,  in  Bologna  Uebersetzungen  aus  dem 
Arabischen  nach  neu  aufgefundenen  griechischen  Urtexten  zu  ver- 
bessern. So  entstanden  gereinigtere  lateinische  Ausgaben  einiger 
aristotelischer  Schriften,  so  eine  Ausgabe  des  Almagest,  welche  im 
Laufe  der  Jahrhunderte  in  die  Wolfenbüttler  Bibliothek  gelangte^). 
Der  Tod  des  Kaisers  im  December  1250  gab  den  Anlass  zur  Ent- 
fernung seines  Astrologen,  der  nun  nach  England  an  den  Hof 
Eduard  I.  übersiedelte.  Somit  ist  die  Entstehungszeit  der  zweiten 
Ausgabe  von  Leonardo's  Abacus  innerhalb  der  Grenzjahre  1220  und 
1250  zu  suchen  und  es  ist  kein  Grund  vorhanden,  an  der  Richtigkeit 
einer  Notiz  zu  zweifeln^),  welche  die  zweite  Ausgabe  in  bestimmter 
Weise  an  das  Jahr  1228  knüpft. 

Die  15  Abschnitte,  in  welche  das  Werk  zerfällt,  führen  folgende 
Ueberschriften  ^) : 

1.  Von  der  Kenntniss  der  neun  Zahlzeichen  der  Inder  und  wie 
mittels  derselben  jede  Zahl  anzuschreiben  sei;  femer  welche  Zahlen 
und  wie  sie  durch  die  Hände  behalten  werden  können,  sowie  die 
Einführungen  des  Abacus  (pag.  2 — 6). 

2.  Vom  Vervielfachen  ganzer  Zahlen  (pag.  7 — 18). 

3.  Vom  Zusammenzählen  ganzer  Zahlen  (p.  18 — 22). 

4.  Von  dem  Abziehen  kleinerer  Zahlen  von  grösseren  (pag.  22 — 23). 

5.  Von  dem  Theilen  ganzer  Zahlen  (pag.  23 — 47). 

6.  Vom  Vervielfachen  ganzer  Zahlen  mit  Brüchen  (pag.  47 — 63). 

7.  Vom    Zusammenzählen,    Abziehen    und    Theilen    der    Zahlen 


^)  Monatl.  Correspond.  z.  Beförderung  der  Erd-  und  Himmelskunde,  heraus- 
gegeben von  F.  V.  Zach  XXVII,  192—193  (Gotha  1813).  ^  Libri  II,  24  Note  2: 
Incipit  liber  Abaci  a  Leonardo  filio  Bonacci  compositus  anno  1202  et  correetus 
ab  eodem  anno  1228.  Die  gleichen  Worte  wurden  von  L.  Gegenbauer,  auf 
dessen  briefliche  Mittheilung  ich  mich  stütze,  in  folgenden  drei  Handschriften 
des  Xni.  S.  gefunden:  a.  Codex  der  Ambrosianischen  Bibliothek  in  Mailand  mit 
der  Signatur  J  92  p.  sup.  b.  Codex  der  Bibliotheca  pubblica  in  Siena  mit  der 
Signatur  L.  IV.  20.  c.  Codex  der  Vaticanischen  Bibliothek  in  Rom  mit  der 
Signatur  Palat.  1343.  Die  zuerst  genannte  Handschrift  a.  scheint  sich  durch 
zahlreiche  Noten  und  Randglossen  auszuzeichnen.  ^)  Die  Titel  sind  als 
Schluss  der  Einleitung  I,  2  der  Druckausgabe  vereinigt,  stehen  dann  aber  auch 
als  besondere  Ueberschi'iften  am  Anfange  der  einzelnen  Abschnitte. 


8  -il.  Kapitel. 

mit   Brüchen   und    von    der   Zerlegung    vielfacher   Theile    in    einzelne 
(pag.  63—83). 

8.  Von  der  Auffindung  der  Preise  der  Waaren  nach  der  längeren 
Weise  (pag.  83—118). 

9.  Von  dem  Umtausche  der  Waaren  und  ähnlichen  Dingen 
(pag.  118—135). 

10.  Von  der  Genossenschaft  unter  Gresellschaftern  (pag.  135—143). 

11.  Von  der  Mischung  der  Münzen  (pag.  143 — 166). 

12.  Von  den  Auflösungen  vieler  Aufgaben,  die  wir  als  mannig- 
fache ^)  bezeichnen  (pag-  166 — 318). 

13.  Von  der  Regel  Elchatayn  und  wie  durch  dieselbe  fast  alle 
mannigfache  Aufgaben  des  Abacus  gelöst  werden  (pag.  318 — 352). 

14.  Von  der  Auffindung  der  Quadrat-  und  Kubikwurzeln  und 
von  deren  gegenseitiger  Vervielfachung,  Theilung  und  Abziehung, 
sowie  von  der  Behandlung  der  mit  ganzen  Zahlen  verbundenen  Wurzel- 
grössen  ^)  und  ihren  Wurzeln  (pag.  352 — 387). 

15.  Von  den  Regeln,  die  zur  Geometrie  gehören  und  von  den 
Aufgaben  der  Aljebra  und  Almuchabala  (pag.  387 — 450). 

Es  wird  nun  nothwendig  sein,  den  Inhalt  der  einzelnen  Abschnitte 
übersichtlich  zu  besprechen  und  Einzelheiten  hervorzuheben,  soweit 
dieselben  wichtig  erscheinen. 

Im  ersten  Abschnitte  sind  die  als  von  den  Indern  herrührend 
erklärten,  aber  nach  arabischem  Vorbilde  von  der  rechtsstehenden  1 
nach  der  zu  äusserst  links  befindlichen  9  geordneten  Zahlzeichen, 
sowie  die  Null,  welche  von  den  Ai-abern  sepliirum  genannt  worden 
sei,  abgebildet.  Beim  Zahlenschreiben  soll  man  die  Hunderter,  Hun- 
derttauseuder,  Hundertmillionen  u.  s.  w.  oben,  die  Tausender,  Millio- 
nen, Tausendmillionen  u.  s.  w.  unten  accentuiren.  Das  Darstellen 
der  Zahlen  mittels  Fiugerbeugungen  beginnt  an  der  linken  Hand, 
um  sich  an  der  rechten  foiizusetzen.  Die  Gelenke  der  Finger  spielen 
bei  solchen  Beugungen  eine  Rolle.  Einmal  ist  das  Daumengeleuk 
als  nodns  bezeichnet^),  während  das  Wort  articulus  nicht  vorkommt. 
Die  Einführungen,  introductiones  in  ac  ditione  et  multiplichatione 
numerorum^),  sind  nichts  Anderes  als  eine  Einsundeins-  und  eine 
Einmaleinstabelle. 

Der    zweite    Abschnitt    lehrt    auf    einer    weissen    Tafel,    auf 

')  erraticus  =  umherschweifend  oder  zerstreut  heissen  diese  Aufgaben  in 
der  Zusammenstellung  auf  I,  2.  Am  Anfange  des  12.  Abschnittes  selbst  I,  IGG 
steht  dagegen  Capituluni  duodecimum  de  quaestionibus  abbaci.  -)  De  tractatu 
binomiorum  et  recisoriim.  *)  Leon.  Pisano  I,  5  Z.  14.  Das  gleiche  Wort 
nodns  ist  auch  I,  305  mehrfach  benutzt,  wo  von  einem  an  einem  Fingergelenke 
befindlichen  Ringe  die  Rede  ist.         ■*)  Ebenda  pag.  6. 


Leonardo  von  Pisa  und  sein  Liber  Abaci.  9 

welcher  die  Zeichen  leicht  weggewischt  werden  können^),  diejenige 
Multiplication  ausführen,  welche  die  Inder  (Bd.  I,  S.  571)  unter  dem 
Namen  der  hJitzhüdenden  übten,  und  geht  dabei  so  weit,  zwei  achtziffrige 
Zahlen  mit  einander  vervielfachen  zu  lassen.  Zur  Prüfung  des  Er- 
gebnisses dient  die  vorher  bewiesene  Neunerprobe  ^).  Das  Product 
heisst  regelmässig  summa  nndtiplicationis'^). 

Der  dritte  Abschnitt  wendet  die  Addition  auf  die  schachbrett- 
artige Multiplication  (Bd.  I,  S.  571)  an.  Die  Neunerprobe  wird 
neuerdings  und  zwar  mittels  durch  Buchstaben  angedeuteter  aber 
nicht  gezeichneter  Linien  bewiesen^).  Wir  lassen  die  nur  an  wenigen 
Stellen  wegen  vom  Sinne  gebotener  kleiner  Aenderungen  nicht  ganz 
wortgetreue  Uebersetzung  des  Beweises  folgen:  „Um  zu  zeigen,  wo- 
her diese  Probe  stammt,  seien  zwei  Zahlen  .a.b.^)  und  .b.g.  ge- 
geben, welche  wir  addiren  wollen,  und  es  sei  also  .a.g.  die  aus 
ihnen  vereinigte  Zahl.  Nun  sage  ich,  dass  aus  der  Vereinigung  des 
Gewichtes  (jmnsa)  der  Zahl  .a.b .  mit  dem  Gewichte  der  Zahl  .b.g . 
das  Gewicht  von  .a.g.  entsteht.  Erstlieh  sei  jede  der  Zahlen  .a.b . 
und  .b.g.  durch  9  theilbar,  9  also  Gemeintheiler  von  .a.b.  und  .b.g. 
Folglich  ist  auch  die  vereinigte  Zahl  .a.g.  durch  9  theilbar,  und 
Null  ist  ihr  Gewicht,  wie  es  aus  der  Addition  der  Probezahlen  {probe) 
oder  aus  der  Prüfung  der  Zahlen  .a.b.  und  .b.g.  erhalten  wird. 
Ferner  sei  eine  der  beiden  Zahlen  durch  9  theilbar,  die  andere  nicht, 
und  es  sei  die  Zahl  .a.b.,  die  durch  9  theilbar  ist,  und  bei  der 
Theilung  von  .b.g.  durch  9  bleibe  .d.g.  übrig.  Die  Zahlen  .d.b. 
und  .b.a.  sind  demnach  durch  9  theilbar  und  ebenso  auch  ihre 
Summe  .d.a.  Weil  nun  die  Zahl  .a.g.  über  .a.d.  um  .g.d.  über- 
schiesst  und  .a.d.  durch  9  theilbar  ist,  so  bleibt  aus  der  ganzen 
.a.g.  die  durch  9  untheilbare  .d.g.  übrig,  welche  aus  der  Addition 
der  Probezahl  von  .a.b.  —  nämlich  Null  —  mit  der  Probezahl  von 
■  b.g.  —  nämlich  .d.g.  —  entsteht.  Endlich  sei  keine  der  Zahlen 
.a.b.    und    .b.g.    durch    9    theilbar,    vielmehr    bleiben    aus    .a.b.    die 


^)  Leon.  Pisa no  I,  7:    in  tabula  dedlhata  in   qua  littere  leviter  cleleantur. 
*)   Ebendu  pag.  8.  ^)  Ebenda  jiag.  12    und    häufiger.         *)  Ebenda    pag.  20 

Z.  9 — 28.  ^)  Man  beachte  die  regehnässig  wiederkehrende  Anwendung  von 
di-ei  Pünktchen  vor,  zwischen  und  hinter  den  die  Strecke  bezeichnenden  Buch- 
staben, sowie  auch  die  dem  arabischen  oder  dem  griechischen  Alphabete  nach- 
gebildete Buchstabenfolge.  Jene  vielen  Pimkte  finden  sich  überall  in  mittel- 
alterlichen Handschriften  und  stammen  daher,  dass  sonst  die  Zahl  .a.b.  von 
dem  Worte  ab  nicht  zu  unterscheiden  gewesen  wäre.  Wir  verdanken  diese 
Bemerkung  wie  zahlreiche  andere  den  brieflichen  Mittheilungen  von  Max 
Curtze.  Wir  berufen  uns  künftig  auf  diese -Mittheilungen  mit  den  Worten: 
Curtze  brieflich.  Der  Bequemlichkeit  wegen  lassen  wir  die  Pünktchen,  ausser 
an  dieser  Stelle,  künftig  überall  w.eg. 


10  41    Kapitel. 

.a.e.  und  aus  .h.g.  die  .d.g.  übrig.  Die  Restzahlen,  d.  h.  .e.h. 
und  .h.d.  sind  durch  9  theilbar,  und  theilbar  ist  auch  die  ganze 
.e.d.  als  aus  irgend  einer  Menge  von  Neunern  zusammengesetzt. 
Es  bleiben  also  aus  der  ganzen  Zahl  .a.<j.  die  untheilbaren  Zahlen 
.a.e.  und  .d.g.  übrig,  welche  eben  die  Probezahlen  von  .a.h.  und 
.l).g.  waren,  und  aus  deren  Vereinigung  das  Gewicht  der  Zahl  .a.g. 
entsteht,  wie  zu  zeigen  war."  Zum  Schlüsse  des  Abschnittes  erscheint 
die  Addition  benannter  Zahlen. 

Der  vierte  Abschnitt  handelt  kurz  von  dem  Abziehen,  welches 
immer  extrahere  heisst.  Ein  Wort  wie  subtrahere  kommt  nicht  vor. 
Ist  eine  Ziffer  des  Subtrahendus  von  höherem  Werthe  als  die  ent- 
sprechende Ziffer  des  Minuendus,  so  wird,  ähnlich  wie  bei  einigen 
aus  indischen  und  arabischen  Quellen  schöpfenden  anderen  Schrift- 
stellern (Bd.  I,  S.  570  und  763),  zu  dem  Minuendus  eine  X  des  be- 
treffenden Ranges  geborgt,  welche  dann  auch  dem  Subtrahenden  als 
Einheit  der  nächsthöheren  Ordnung  zugesetzt  wird. 

Der  fünfte  Abschnitt  geht  zur  Division  über.  Wiewohl 
eigentlich  nur  von  der  Division  ganzer  Zahlen  in  diesem  Abschnitte 
die  Rede  sein  soll,  ist  doch  das  Schreiben  von  Brüchen,  und  zwar 
ganz    nach    arabischem  Muster  gelehrt.     Arabisch   ist  das  Auftreten 

der  Brüche  links  von  den  ganzen  Zahlen,  z.B.  y  182  für  unser  182 y, 

während  allerdings  die  ganzen  Zahlen  dennoch  vor  den  Brüchen  aus- 
gesprochen  werden^).     Arabisch    sind    (Bd.  I,  S.  764 — 765)    die    auf- 

15     7 

steigenden  Kettenbrüche  ^)  z.  B.  - — ^-^  in  der  Bedeutung  von 
(-  -T-r^  -\ ^ — r-     Der    Quotient    einer    Division    heisst    summa 

divisionis  ^).  Unter  differentia  ist ,  wie  bei  Johannes  von  Sevilla 
(Bd.  I,  S.  753)  die  Rangordnung  einer  Ziffer  verstanden^).  Prim- 
zahlen, welche  Leonardo  numeros  sine  regulis  nennt,  sollen  bei  den 
Griechen  coris  canon,  bei  den  Arabern  Jtasam  heissen  ^).  Ganz  richtig 
ist  diese  sprachliche  Doppelbemerkung  nicht.  Das  Wort  xcoQig, 
ausgesondert,  wird  zwar  von  Nikomachos  gebraucht,  aber  nicht  für 
Primzahl,  und  das  arabische  asamm,  stumm,  bedeutet  wieder  keine 
Primzahl,  sondern  eine  Zahl,  welche  gegen  die  neun  ersten  Zahlen 
theilerfremd  und  keine  Quadratzahl  ist^).     Eine  kleine  Randtabelle'') 


^)  Leon.  Pisano  I,  27:  Nam  rupti  vel  fracti  semper  ponendi  sunt  piost 
integra,  quamvis  prius  integra  quam  rupti  pronuntiari  deheant.  *)  Ebenda 
pag.  24.  ^)  Ebenda  pag.  27.  *)  Ebenda  pag.  31,  Z.  24:  secundum  differentinm 
ipsorum.  ")  Ebenda  pag.  30.  ^)  Kafi  fil  Hisäb  des  Alkarkhi  (ed.  Hochheim) 
S.  11,  Anmerkung  4  und  Beha-eddin  (ed.  Nesselmann)  S.  4.  ')  Leon.  Pisano 
I,  31. 


Leonardo  von  Pisa  und  sein  Liber  Abaci.  11 

enthält  die  21  Primzahlen  von  11  bis  97,  während  auch  die  Factoren- 
zerlegung  der  zusammengesetzten  Zahlen  von  12  bis  100  in  einer 
Tabelle^)  zu  finden  ist.  Die  Zerlegung  höherer  Zahlen  in  Factoren 
wird  gleichfalls  gelehrt,  wobei  auf  die  Merkmale  der  Theilbarkeit 
durch  2,  durch  5,  durch  9,  beziehungsweise  durch  3  aus  der  End- 
ziffer und  dem  Gewichte  der  Zahl  Bezug  genommen  ist.  Theilbarkeit 
durch  1,  11,  13  u.  s.  w.  wird  durch  Probiren  untersucht,  welches  fort- 
zusetzen ist,  bis  man  zu  der  Quadratwurzel  der  betreffenden  Zahl 
gelangt^).  Als  Sicherung  der  richtigen  Zerlegung  wird  die  Siebener- 
probe empfohlen,  welche  neben  der  Elferprobe ^)  und  neben  der  am 
häufigsten  zur  Verwendung  kommenden  Neunerprobe  dem  nicht  un- 
bekannt sein  konnte,  welcher  an  der  Nordküste  Afrikas  das  Rechnen 
erlernt  hatte  (Bd.  I,  S.  759).  Dem  eigentlichen  Dividiren  ist  ver- 
hältnissmässig  geringe  Aufmerksamkeit  gewidmet.  Die  Theilung  wird 
meist  durch  die  einzelnen  Factoren  des  Divisors  nach  einander  voll- 
zogen, wodurch  die  Annehmlichkeit  sich  ergiebt,  dass  der  gebrochene 
Theil  des  Quotienten  sofort  in  der  beliebten  Gestalt  eines  aufsteigenden 
Kettenbruches  erhalten  wird.  Beim  Anschreiben  der  Divisionsbeispiele 
wird  der  Divisor  unter  den  Dividend  gesetzt,  und  unter  den  Divisor 
wieder  der  Quotient,  so  dass  die  Einer  dieser  drei  Zahlen  sich  unter- 
einander befinden.  Die  Hilfszahlen  der  bei  dem  allmäligen  Abziehen 
der  Theilproducte  des  Divisors  in  dem  Quotienten  vom  Dividenden 
verbleibenden  Reste  kommen  über  den  Dividenden  zu  stehen. 

Der  sechste  Abschnitt  lehrt  gemischte  Zahlen  mit  einander 
zu  vervielfachen.  Sie  werden  zu  Brüchen  eingerichtet;  deren  Zähler 
werden  sodann  mit  einander  vervielfacht,  und  hierauf  folgt  die  Theilung 
durch  die  einzelnen  Nenner,  welche  nacheinander  vollzogen  wird,  wie 
man  es  im  vorigen  Abschnitte  bei  der  Division  durch  einen  aus 
mehreren  Factoren  zusammengesetzten  Divisor  machte.  Auch  hier 
wird  nicht  versäumt,  abseits  von  der  eigentlichen  Aufgabe  auf  manche 
Dinge  hinzuweisen.  Bei  gemeintheiligen  Zahlen,  numeri  communicantes, 
wird  die  Aufsuchung  des  grössten  Gemeintheilers  nach  Euklid,  wie 
ausdrücklich  hervorgehoben  ist^),  gelehrt.  Andererseits  ist  auch  von 
dem  kleinsten  Gemeinvielfachen  gegebener  Zahlen  die  Rede^).  Das- 
selbe dient  zur  Vereinigung  von  Brüchen,  welche  nicht  mit  in  Einem 
laufenden  Bruchstrichen,  vielmehr  cum  separatis  virgulis^),  gesondert 

von  einander  auftreten,  wie  z.B.  —  —  —  sich  zu  —  vereinigen.  Bruch- 
brüche von  der  Art,  wie  die  Araber  (Bd.  I,  S.  765)  sie  gebrauchten. 


1)  Leon.  Pisano  I,  37.  ')  Ebenda  pag.  38.  '')  Ebenda  pag.  39  die  Siebe- 
nei-probe  und  pag.  45  die  Elferprobe.  ■*)  Ebenda  pag.  51  Z.4  v.  u.:  ut  in  Eudicle 
apertis  demonstrationibus  declaratur.     ^)  Ebenda  pag.  57.    ")  Ebenda  pag.  52  Z.ll  v.  u. 


12  41.  Kapitel. 

sind  gleichfalls  vorhanden^)  und  zwar  von  doppelter  Gattung.  Unter 
0  „~w^.7.  22   wird   verstanden    22    nebst    dem    Producte    aus  -^  in  — 

9  2  5   4 

in  —j  während  dagegen ——- 0  11  die  viel  zusammengesetztere  Be- 
deutung hat  11  +  ir"f"'Q"""cr"f""S"'"Q""ir"  Eine  in  diesem  Ab- 
schnitte  enthaltene  kleine  Tabelle^)  lehrt  die  Addition  von  Brüchen 
mit  den  Nennern  2,  3,  4,  5,  6,  8,  9,  10. 

Der  siebente  Abschnitt  setzt  die  Rechnung  mit  aus  ganzen 
Zahlen  und  Brüchen  gemischten  Zahlen  fort.  Der  Grundgedanke  der 
an  mannigfaltigen  Beispielen  geübten  Methoden  besteht  darin,  dass 
zu  Anfang  die  Zahlen,  mit  denen  gerechnet  werden  soll,  zu  gleich- 
namigen Brüchen  erweitert  werden,  sodass  die  Addition  und  Sub- 
traction,  aber  auch  die  Division  wesentlich  nur  mittels  der  Zähler 
zu  vollziehen  bleibt.     Ein  Beispiel  der  Division  ist^) 

/kcjq   1     7\      /ir-l     2\  47149     1581  47149 

V'^'^Tö'öJ'-V^'gT) 90~  •  ^90"  —  ÜSl  ' 

Der  letzte  Theil  dieses  Abschnittes,  der  der  Aufgabe  gegebene 
Brüche  in  eine  Summe  von  Stammbrüchen  zu  zerlegen"^) 
gewidmet  ist,  hat  für  den  Geschichtsforscher  eine  grosse  Bedeutung. 
Solcher  Zerlegungen  bedienten  sich  bereits  die  Aegypter  (Bd.  I, 
S.  25  ^gg-)-  Alle  unmittelbaren  wie  mittelbaren  Schüler  derselben 
folgten  ihrem  Beispiele.  Eine  Andeutung  darüber,  wie  jene  Zer- 
legung zu  erhalten  sei,  ist  kaum  jemals  vorhanden.  Leonardo  ist 
von  den  uns  bekannt  gewordenen  Schriftstellern  der  erste,  er  ist  auch 
der  Einzige,  der  die  Zerlegung  selbst  als  Aufgabe  behandelt  und  sich 
nicht  damit  begnügt,  nur  von  der  gleichviel  wie  ausgeführten  Zer- 
legung Gebrauch  zu  machen.  Ist  Leonardo  hier  einziger  Original- 
schriftsteller, oder  müssen  wir  sagen,  er  sei  für  uns  der  Einzige,  der 
theilweise  oder  ganz  und  gar  Uraltes  uns  aufbewahrt  hat?  Volle 
Gewissheit  ist  für  keinen  der  beiden  Wechselfälle  zu  beanspruchen, 
doch  scheint  die  Annahme  von  der  hier  vorhandenen  Erhaltung- 
älteren  Stoffes  aus  mehr  als  nur  einem  Grunde  gerechtfertigt.  Ge- 
rechtfertigt ist  sie  dadurch,  dass  Leonardi  vielfach  auch  anderA\^ärts 
nachweislich  alte  Stoffe  behandelt  hat,  ohne  gerade  immer  seine 
Quellen  zu  nennen,  gerechtfertigt  ferner  dadurch,  dass  Leonardo  sich 
nicht  auf  ein  Verfahren  beschränkt,  sondern  mehrfache  Regeln  giebt, 
während  die  Unterscheidung  von  Einzelfällen  recht  eigentlich  als 
Kennzeichen  alterthümlichen  Ursprunges  gelten  darf.     Eine  Tabelle^) 


^)  Leon.  Pisano  I,  pag.  61.     *)  Ebenda  pag.  54—55.      ^  Ebenda  pag.  75. 
*)  Ebenda  pag.  77—83.         ^)  Ebenda  pag.  79. 


Leonardo  von  Pisa  und  sein  Liber  Abaci.  13 

enthält  die  Zerlegung  derjenigen  Brüche,  deren  Nenner  G,  8,  12,  20, 
24,  ()0,  100  heissen.  Regeln,  welche  sodann  folgen,  lassen  aus  ihrem 
Wortlaute  leicht  in  Formeln  sich  umsetzen,  welche  dem  heutigen 
Auge  übersichtlicher  so  lauten: 

-^  =  -+  ' 

na  —  1  «     ' 


n{na  —  1) 

«  +  1  _      1      4-  -  +        1 

na  —  1         na  —  1     '     «     '    7i{na  —  1) 

2a-]-3    1  1  1 

{2n-\-  1)  (2a  +  l)  — 1  ~  2n-\-l     '     (2n+l)a+«  '^  (2n+l)[(2w+l)(2«-|-l)— 1]  ' 

Eine  weitere  Regel  7a\y  Zerlegung  von  -y-  ist  folgende:  Es  sei 
/y  >  ff  und  zwar  ma  <  />  <  (;«  +  l)a,  so  ist  —  >  -^  >  ,  •  Mit- 
hin kann  als  Anfang  der  Zerlegung  -r-  ^  — -j—  -\ — jt^x^vT^  gesetzt 
werden,  und  die  Zerlegung  des  Restgliedes  erfolgt  durch,  wenn  es 
sein  muss,  wiederholte  Anwendung  der  Regel.  Es  ist  leicht  ersichtlich, 
dass  diese  Regel  ebenso  wie  die  erste  unserer  Gleichungsformeln  zu 
2  1  1 

der  ägyptischen  Formel  -^  =  -| --—- —  (|;  ungrad  gedacht)  ver- 

2  2     '^ 

helfen  konnte.  Eine  letzte  Zerlegungsmethode  von  -j-,  praktisch  viel- 
leicht die   beste,   besteht   darin,   dass   man   innerhalb    der  Grenzen  — - 

und  2h  eine  Zahl  c  sucht,  welche  recht  viele  Divisoren  besitze.  Als 
Beispiele   solcher  vortheilhaft   zu   wählenden  Zahlen   nennt   Leonardo 

12,  24,  36,  48,  60.  Mit  diesem  c  wird  zunächst  der  Bruch  -,-  erwei- 
tert  ZU  -^.  Weil  a  ^  2,  c  >  ,7,  muss  ac^h  sein.  Bei  der  Kür- 
zung der   neuen  Bruchform    in  — '—  erscheint   also  im  Zähler  jeden- 

fi  p  n  (*  (j  ß 

falls  ein  ganzzahliger  Theil  e^  1  d.  h.  es  wird  -=-  == 1 — — ^ ,  wo 

—  vermöge  der  genannten  Eigenschaft  des  eigens  desshalb  gewählten  c 

und  unter  Anwendung  der  früheren  Zerlegungstabelle  sich  leicht  als 
Summe  von  Stammbrüchen  darstellt  und  das  Gleiche  meist  auch  für 
ac  —  he      .,, 

Im  achten  Abschnitte  wird  der  einfache  Dreisatz  gelehrt. 
Gegeben  ist  der  Preis  der  Waare  mit  Hilfe  von  zwei  Zahlen,  deren 
erste  eine  feste  Menge  der  Waare,  die  zweite  den  im  Allgemeinen 
wechselnden  Geldwerth  dieser  Menge  nennt.  Die  beiden  Zahlen 
werden  an  das  obere  Ende  der  Tafel  geschrieben,  und  zwar  die  erste 


14  41.  Kapitel. 

Zahl  rechts,  die  zweite  links.  Ferner  ist  jedesmal  noch  eine  dritte 
Zahl  gegeben,  welche  aber  verschiedener  Natur  sein  kann,  entweder 
eine  Waarenmenge  oder  eine  Geldsumme.  Diese  dritte  Zahl  wird 
unter  die  ihr  gleichnamige  der  beiden  ersten  geschrieben.  Die  ge- 
suchte vierte  Zahl  mit  der  Bedeutung  der  für  die  bekannte  Waaren- 
menge zu  erlegenden  Geldsumme,  oder  der  für  die  bekannte  Geld- 
summe zu  beziehenden  Waarenmenge  wird  gefunden,  indem  die  dritte 
Zahl  mit  der  ihr  schräg  gegenüberstehenden  oberen  Zahl,  mit  welcher 
sie  durch  eine  geneigte  Gerade  in  Verbindung  gesetzt  ist,  multiplicirt 
und  das  Product  durch  die  andere  obere  Zahl  dividii-t  wird.  Heisst 
es  z.  B.  100  Rotuli  (ein  pisaner  Gewicht)  kosten  40  Lire,  was  kosten 
5  Rotuli?  so  sieht  der  Ansatz  folgendermassen  aus: 
40  L.     100  R. 


\5R. 

Fragt   man   dagegen  unter  denselben  Vorbedingungen   nach   der  An- 
zahl   der  für   2  Lire   zu  erwerbenden  Rotuli,    so  muss  man  ansetzen: 
40  L.     100  R. 


2L./ 

und    das    Ergebniss    ist  =  2  L.,  beziehungsweise  — ^^=5R. 

Warum  diese  Art  von  Rechnungen,  welche  an  zahlreichen  Beispielen 
mit  verschiedenartigen  Gewichtsmengen,  Längen,  Geldsorten  u.  s.  w. 
gelehrt  wird,  den  Namen  des  Verfahrens  nach  der  längeren  oder 
grösseren  Weise,  ad  majorem  guisam  führt,  ist  im  Texte  nirgend  au- 
gegebep.  Die  ziemlich  nahe  liegende  Vermuthung,  es  sei  damit  ge- 
meint, dass  der  grösseren  Fragezahl  immer  die  grössere  Autwort 
entspreche,  es  sei  also  die  directe  Proportion  gemeint,  ist  kaum 
zulässig,  weil  sonst  im  nächsten  Abschnitte,  wo  indirecte  Proportionen 
vorkommen,  irgend  ein  Hinweis  auf  jene  hier  nicht  mehr  zutreifende 
Benennung,  vielleicht  ad  minorem  guisam,  zu  erwarten  wäre.  Nun  ist 
allerdings  letzterer  Ausdruck  an  sich  Leonardo  nicht  fremd.  Im 
11.  Abschnitte^)  wird  ein  Buch  minoris  guise  erwähnt,  welches  Leo- 
nardo geschrieben  haben  will,  aber  von  einer  indirecten  Proportion 
scheint  darin  nicht  die  Rede  gewesen  zu  sein.  Somit  ist  eine  andere 
Deutung  beider  einander  gegenüberstehender  Ausdrücke  nothwendig, 
und  vielleicht  gehen  wir,  wie  im  102.  Kapitel  begründet  werden  wird. 


^)  Leon.  Pisano  I,  154  Z.  1:    Est  enim   alius    modus  consolandi  quem  in 
lihro  minoris  guise  docuimus. 


Leonardo  von  Pisa  und  sein  Liber  Abaci.  15 

uicbt  irre,  wenn  wir  als  das  längere  Verfahren  die  gewöhnliche 
Bruchrechnung  erklären,  als  das  kürzere  diejenige  Bruchrechnung, 
welche  einen  Bruch  als  Summe  von  Stammbrüchen  in  die  Rechnung 
einbezieht. 

Auch  im  neunten  Abschnitte  kommt  ein  eigenthümlicher 
Kunstausdruck  vor.  Es  handelt  sich  um  den  Tausch  von  Waaren 
unter  einander  gemäss  gegebener  Preise.  Es  sollen  z.  B.  20  Ellen 
Tuch  3  pisaner  Lire  kosten  und  42  Rotuli  Baumwolle  5  Lire;  wie 
viele  Rotuli  Baumwolle  kann  man  um  50  Ellen  Tuch  erhalten?  Da 
sollen  nun  die  fünf  gegebenen  Zahlen  in  folgender  Weise  angeschrieben 
werden:  In  einer  ersten  Zeile  kommen  von  rechts  nach  links  20  Ellen 
nebst  ihrem  Preise  3  Lire  zu  stehen;  unter  den  Lire  die  entsprechende 
zweite  Preisangabe  5  Lire  und  links  davon  die  dafür  zu  erhaltende 
Waarenmenge  von  42  Rotuli ;  endlich  setzt  man  die  zu  vertauschenden 
50  Ellen  unter  die  frühere  Ellenzahl  20.  Wenn,  heisst  es  nun^),  die 
fünf  Zahlen  angeschrieben  sind,  so  vervielfacht  man  die  links  allein 
in  der  unteren  Reihe  stehende  Zahl  mit  der  ihr  nach  rechts  oben, 
dann  mit  der  dieser  nach  rechts  unten  gegenüberstehenden  Zahl. 
(Die  Multiplication  wird  dabei  durch  Verbindungsstriche  geleitet.) 
Das  Product  wird  durch  die  beiden  anderen  Zahlen  dividirt,  um  die 
gesuchte  Zahl  zu  erhalten.    Das  Beispiel  sieht  also  föigendermassen  aus: 

3  Lire      20  Ellen 


42  Rotuli     5  Lire     50  EUen 

und    die   Rechnung   lautet  ^  /*    =  63.      Die    Verbindungsstriche 

zwischen  den  miteinander  zu  vervielfachenden  Zahlen  lassen  das  Bild 
einer  Kette  entstehen  und  erinnern  so  an  den  von  diesem  Bilde  seinen 
Namen  entlehnenden  Kettensatz^),  welcher  in  Lehrbüchern  des 
kaufmännischen  Rechnens  eine  bevorzugte  Stellung  einzunehmen  pflegt. 
Der  Name,  welchen  der  Satz  bei  Leonardo  führt,  hat  durch  eigen- 
thümlichen  Zufall  einen  mit  dem  Worte  „Kette"  ähnlichen  Klang.  Es 
sei,  sagt  unser  Schriftsteller^),   die   figura  cata  —  an   anderer  Stelle 


1)  Leon.  Pisano  I,  118:  Et  descriptis  itaque  ipsis  quinque  numeris  tunc 
ultimum  eorum  per  numerum  pretii  oppositum  muUipUca,  et  quot  itide  provenerit 
in  alium  numerum  eidem  jyretio  oppositum  ducere  studeas,  quorum  numerorum 
summam  per  reliquos  duos  numeros  divide,  et  hahebis  optatum.  *)  Klügel, 
Mathematisches  Wörterbuch  m,  91—98  (Ketteni-egel)  und  V,  728—766  insbe- 
sondere Nr.  45,  S.  747  (Verhältniss).  ^)  Leon.  Pisano  I,  119:  Est  enim  hec 
talis  propositio  proportionum  ex  que  ostenditur  in  figura  cata,  scilicet  sectoris  per 
quam  Tholomeus  docuit  in  almagesti  reperire  demonstrationem  circulomm  a  cir- 


16  41.  Kapitel. 

erscheint  die  Sclireibform  cliata^)  —  deren  Ptolemäus  im  Almagest 
und  Ahmed,  der  Sohn,  in  dem  Buche  über  die  Verhältnisse  sich  be- 
diente, wo  er  18  Combinationen  behandelte;  Ptolemäus  habe  des 
Schnittes  (sectoris)  sich  bedient,  um  vom  i'echten  Winkel  aus  für 
alle  Winkel  Beweise  zu  finden.  Diese  schwierige  Stelle  bedarf  einiorer 
Erläuterungen.  Ahmed,  der  Sohn^),  ist  unzweifelhaft  Ahmed,  Sohn 
des  Jusuf,  der  am  Anfang  des  X.  Jahrhunderts  als  Schriftsteller  auf 
mathematischem  und  astronomischem  Gebiete  thätig  war.  Was  dessen 
18  Combinationen  waren,  werden  wir  gleich  sehen.  Die  Anführung 
des  ptolemäischen  Almagestes  weist  auf  die  dort  vielfach  in  Anwen- 
dung tretende  Regel  von  den  6  Grössen  (Bd.  I,  S.  386  und  392),  die 
zwei  Grössen  im  zusammengesetzten  Verhältnisse  von  zwei  Paar  an- 
deren Grössen  stehen  lässt.  Sie  stammt  aus  dem  Satze  des  Menelaos, 
bei  welchem  die  drei  Seiten  eines  Dreiecks  durch  eine  Transversale 
geschnitten  werden,  so  dass  sechs  Abschnitte  der  Seiten  entstehen. 
Mittels  jenes  Satzes  hat  Ptolemäus  das  rechtwinklige  Dreieck  und 
von  ihm  aus  die  übrigen  Dreiecke  behandelt.  Die  Schneidende,  sector, 
heisst  aber  in  arabischer  Uebersetzung  des  Wortes  al-kattä.  So  hiess 
desshalb  bei  den  Arabern  der  Satz  des  Menelaos  selbst,  und  mit  dem 
arabischen  Namen  wiederum  stimmt  die  figura  cata  überein  ^),  welche 
den  Wortlaut  getreu  wiedergiebt.  Leonardo  giebt  mehrfache  Auf- 
gaben, bei  welchen  ein  Fünfsatz,  d.  h.  die  Anwendung  von  fünf  ge- 
gebenen Zahlen  zur  Auffindung  der  sechsten  unbekannten  Zahl, 
vorkommt.  Darunter  sind  auch  Aufgaben  mit  sogenannten  indirecten 
Verhältnissen.  Da  heisst  eine  Aufgabe  die  von  den  Pferden,  welche 
in  gegebenen  Tagen  Gerste  fressen*),  und  verlaugt  zu  wissen,  wie 
viele  Tage  10  Pferde  mit  16  Sechstem  Gerste  gefuttert  werden  können, 
wenn  5  Pferde  in  0  Tagen  6  Sechster  fressen.  Der  Ansatz  findet 
hier  in  der  Form  statt: 

9  Tage       6  Gerste        5  Pferde 


16  Gerste     10  Pferde 
die  Ausrechnung  nach  der  aus  den  Verbindungsstrichen  abzulesenden 


eulo  recto,  et  multa  alia;  et  Ametus  filius  ponat  clecem  et  octo  combinationes  ex 
ea  in  libro,  quem  de  propoHionihus  composuit.  ^)  Leon.  Pisano  I,  132 
Z.  23:  figura  chata.  *)  Steinschneider,  lusuf  ben  Ibrahim  und  Ahmed  ben 
lusuf  in  Eneström's  Biblioth.  mathem.  1888  pag.  49 — 52  und  111 — 117.  '•')  Die 
richtige  Erklärung  von  figura  cata  gab ,  -  wenn  auch  ohne  auf  den  wörtUcheh 
Sinn  des  Ausdruckes  hinzuweisen,  schon  Costard  im  XVIU.  Jahrhundert.  Vei-gl. 
Zeitschr.  Math.  Phys.  XXX,  Hist. - literar.  Abthlg.  127.  ")  Leon.   Pisano  I, 

132—135. 


Leonardo  von  Pisa  und  sein  Liber  Abaci.  17 

9 • 16  •  5 
Vorschrift     „    ..    ^12.      Ausser  an    den   bestimmten  Zahlen    führt 

b  •  10 

Leonardo  die  Aufgabe  auch  an  einfachen  Buchstaben  durch  ^),  indem 
er  die  beiden  Behauptungen  einander  zuordnet:  a  Pferde  fressen  h 
Gerste  in  c  Tagen,  ä  Pferde  fressen  e  Gerste  in  f  Tagen,  alsdann  ist 
ein  erstes  Product  .a.e.c.  einem  zweiten  Pro ducte  .d.h. f.  gleich-)  oder 
mit  anderen  Worten:  jede  Zahl  des  ersten  Productes  steht  zu  irgend 
einer  Zahl  des  zweiten  Productes  in  einem  aus  zwei  Verhältnissen 
zusammea gesetzten  Verhältnisse.     Beispielsweise  ist 

e  :  f=  db  :  ac. 
Leonardo  schreibt  allerdings  diese  Proportion  nicht  in  Zeichen  an, 
aber  er  kleidet  sie  in  nicht  misszu  verstehen  de  Worte:  die  Zusammen- 
setzung (compositio)  des  Verhältnisses  einer  ersten  Zahl  e  zu  einer 
zweiten  Zahl  /'  sei  gebildet  aus  den  vier  übrigen  Zahlen,  von  welchen 
dh  erstes  Glied  (antecedentes),  ac  zweites  Glied  (consequentes)  seien, 
und  zwar  könne  die  Zusammensetzung  dh :  ac  eine  doppelte  sein, 
gebildet  aus  d  :  a  und  h  :  c  oder  aus  d :  c  und  h  :  a.  Da  nun  e  als 
erstes  Glied  nicht  blos  /",  sondern  auch  d  oder  h  als  zweites  haben 
könne  und  dann  wieder  je  zwei  Auffassungen  des  zusammengesetzten 
Verhältnisses  sich  ergeben,  so  seien  im  Ganzen  3-2  =  6  Proportionen 
vorhanden,  welche  mit  e  anfangen.  Ebensoviele  können  mit  a,  eben- 
soviele  mit  c  beginnen.  Es  erscheinen  also  3  •  6  =  18  Combinationen. 
Es  kann  kein  Zweifel  obwalten,  dass  dieses  dieselben  18  Combinationen 
sind,  welche  Ahmed  kennen  lehrte^),  sowie  auch  die  hier  deutlich 
ausgesprochene  Zusammensetzung  der  Verhältnisse  zur  Bestätigung 
dient,  dass  die  regula  cata  wirklich  von  der  regula  sex  quantitatum 
abstammt,  wozu  eine  weitere  Bestätigung  in  einer  anderen  Schrift 
Leonardo's  sich  finden  wird.  Wir  sagen  mit  vollbewusster  Betonung 
des  Ausdruckes,  die  regula  cata  stamme  von  der  regula  sex  quanti- 
tatum ab  und  nicht  sie  sei  mit  dieser  ein  und  dasselbe,  weil  die 
regula  cata  beim  Fünfsatze  nicht  stehen  geblieben  ist.  Folgende  Auf- 
gabe Leonardo's  bringt  nicht  weniger  als  neun  Angaben  in  Rechnung^) : 
Imperiale  12  valent  pisaninos  31  et  soldus  Januinorum  valet  pisaninos 
23  et  soldus  turnensium  valet  Januinos  13  et  soldus  Barcellonensium 
valet  turnenses  11;  quaeritur  de  imperialibus  15  quot  barcellonenses 
valeant.  D.  h.  12  Imperialen  =  31  Pisaniner,  12  Januiner  =  23 
Pisaniner,  12  Turnenser  =  13  Januiner,  12  Barcellonenser  =  11  Tur- 


^)  Leon.   Pisano  I,  132  Z.  23  bis  pag.  133  Z.  7  v.  u.  ^)    sit    numerus 

.a.e.c.  quaedam  coniunctio  quae  vocetur  prima,  numeri  vero  .d.h.  f.  sit  coniunctio 
secunda.  ^)  Cantor,  Ahmed  und  sein  Buch  über  die  Proportionen  in  Ene- 
ström's  Biblioth.  mathem.  1888  pag.  7—9.  *)  Leon.  Pisano  I,  126  Z.  2  v.  u. 

bis  127  Z.  8  v.  u. 

Caktob,  Geschichte  der  Jlathem.    II.    2.  Aufl.  2 


18  41.  Kapitel. 

nenser;  wie  viele  Barcellonenser  betragen  15  Imperialen?  Man  könne, 
sagt  Leonardo,    die  Rechnung  in  vulgärer  Art  (secundum   vulgarem 

3 
modum)    allmälig    vollziehen.     Die    15  Imperialen  betragen   38-^  Pi- 

5  .  .  . 

saniner;    diese    betragen    20—  Januiner;    diese    wiederum    werden    zu 

18^--  Turnensern;    diese    endlich    gelten    so    viel  wie  20-r^  Barcel- 

lonenser.    Nach  der  Kunst  aber  (sed  secundum  artem)  verfertige  man 
folgenden  einzigen  Ansatz: 


Barcellon. 

Turn.     Januin. 

Pisan 

Imper. 

12           13 

31 

12 

/ 

X      \ 

12 

11       12 

23 

15 

Barcellon. 

Turn.     Januiu. 

Pisan. 

Imper. 

dessen  Entstehung  so  zu  denken  ist.  Man  beginnt  mit  Anschreibung 
der  Benennungen  in  der  Reihenfolge,  wie  die  Aufgabe  sie  mit  sich 
bringt.  Man  schreibt  dann  abwechselnd  in  die  obere  und  untere 
Zeile  zu  den  schon  vorgezeichneten  Benennungen  die  gegebenen 
Münzvergleichungen:  12  Imper.  =^  31  Pisan.,  23  Pisan.  =  12  Januin., 
13  Januin.  =  12  Tum.,  11  Turn.  =  12  Barcellon.  Endlich  füllt 
man  mit  der  Fragezahl  15  Imper.  die  rechts  unten  leergebliebene 
Stelle  aus  und  beginnt  von  ihr  die  im  Zickzack  auf  und  ab  ver- 
laufenden Multiplicationsstriche.  Das  Product  der  so  verbundenen  Zahlen 
15 -31 -12 -12 -12   ist   durch  das   Product    12 -23 -13 -11  der  übrigen 

Zahlen   zu    dividiren.     Die  Rechnung  giebt  dann,  wie  vorher,  20^— 

oder  nach  Leonardo's  Schreibweise  mit  links  an  die  ganze  Zahl  sich  an- 


8  + 


+n 


3     3     8                                              1.3 
fügendem  aufsteigenden  Kettenbruche  20  d.  h.  20  -| — -^ 

Der  zehnte  Abschnitt  lehrt  Gesellschaftsrechnungen  ein- 
fachster Ai-t  in  der  von  Alters  her  bekannten  Weise  durchführen. 
Die  Einlage  sämmtlicher  Gesellschafter  wird  addirt,  und  ihre  Summe 
muss  zu  einer  Einzeleinlage  in  dem  gleichen  Verhältnisse  stehen, 
wie  der  Gesammtgewinn  zu  dem  Gewinne  des  Einzelnen. 

Der  elfte  Abschnitt  von  der  Mischung  der  Münzen  schliesst 
sich  an  die  vorhergehenden  Abschnitte  nicht  bloss  dem  Inhalte  nach 
eng  an,  sondern  bis  zu  einem  gewissen  Grade  auch  der  Form  nach, 
indem  dem  Leser  durch  Angabe  eines  machinalen  Verfahrens,  durch 
eine    genaue   Vorschi-ift,    wohin   die    in    Rechnung    tretenden    Zahlen 


Leonardo  von  Pisa  und  sein  Liber  Abaci.  19 

geschrieben  werden  sollen  und  wie  sie  dann  zu  behandeln  seien,  die 
eigene  Denkthätigkeit  nach  Möglichkeit  erspart  wird.  Diese  Vor- 
schriften übergehend  bemerken  wir  nur,  dass  die  als  zur  Münzmischung 
gehörend  bezeichneten  Aufgaben  in  zwei  Gruppen  zerfallen.  Bald 
soll  der  Feingehalt  von  Legirungen  aus  Feingehalt  und  Gewicht  der 
zur  Legirung  verwandten  Mischmetalle  bestimmt  werden,  bald  wird 
gefragt,  in  welchem  Gswichtsverhältnisse  die  gegebenen  Mischmetalle, 
welche  selbst  schon  Legirungen  bekannter  Zusammensetzung  sind, 
vereinigt  werden  sollen,  um  eine  neue  Legirung  von  vorgeschriebenem 
Feingehalte  hervorzubringen.  Zu  dieser  letzten  Gattung  von  Auf- 
gaben wird,  für  den  ersten  Augenblick  überraschend,  auch  diejenige 
von  dem  Manne  gezählt,  der  30  Vögel  verschiedener  Gattung  um 
30  Geldstücke  kauft  ^),  und  doch  ist  diese  Anreihung  gerechtfertigt, 
denn  wenn  die  Bedingungen  der  Aufgabe  dahin  lauten,  ein  Rebhuhn 
koste  3,  eine  Taube  2,  zwei  Sperlinge  1  Geldstück  und  für  30  Geld- 
stücke sollen  30  Vögel  erstanden  werden,  so  kommt  dieses  darauf 
hinaus,  es  solle  durchschnittlich  jeder  Vogel  1  Geldstück  kosten,  also 
gewissermassen  die  Feinheit  1  besitzen,  und  diese  Mischung  solle  mit 

Hilfe   von  Mischmetallen   von   der  Feinheit  3,  2,  -^  in  ganzzahligen 

Verhältnisszahlen    beschafft    werden.      Soll    aus   dem  Metall   von   der 

Feinheit  3   und  dem   von   der  Feinheit  y   die  Feinheit  1    hergestellt 

werden,    so   muss    im   Verhältnisse   von    1  : 4   gemischt    werden;    soll 

aus  dem  Metall  von  der  Feinheit  2  und  dem  von  der  Feinheit  —  die 

Feinheit  1  hergestellt  werden,  so  ist  die  Mischung  im  Verhältnisse 
1  :  2  zu  vollziehen.  Durch  die  erste  Legirung  werden  5,  durch  die 
zweite  3  Stück  geliefert,  deren  man  30  braucht.  Dreimal  5  und 
fünfmal  3  geben  nun  30,  also  sind  3  Rebhühner  mit  12  Sperlingen 
und  5  Tauben  mit  10  Sj)erlingen  zu  erstehen,  im  Ganzen  3  Reb- 
hühner, 5  Tauben,  22  Sperlinge. 

Der  zwölfte  Abschnitt  nimmt  für  sich  152  Seiten,  nahezu 
ein  Drittel  des  ganzen  Werkes  in  Anspruch.  In  ihm  dürfen  wir 
daher  die  Abtheilung  erkennen,  auf  welche  Leonardo  selbst  wohl 
das  grösste  Gewicht  gelegt  hat.  Sie  enthält  Aufgaben  mannigfacher 
Art,  von  welchen  wir  einige  um  ihrer  selbst  willen,  andere  wegen 
der  bei  ihrer  Auflösung  in  Anwendung  tretenden  Verfahrungsweisen 
namhaft  macheu  müssen.  Der  Abschnitt  beginnt  mit  arithmetischen 
Reihen    erster    und    zweiter    Ordnung  ^j    mit    den    in    Worten    aus- 


1)  Leon.  Pisano  I,  165:   De  homim  qtd  emit  wöes  triginta  trium  generum 
pro  denarüs  triginta.         2)  Ebenda  pag.  166 — 168. 

'2* 


20  41.  Kapitel. 

gesprochenen    Summenfonneln    a  -\-  (a  -\-  d)  -\-  ■  ■  •  -\-  (a  -\-  {n  —  l)d) 

,     ,    ,     ,    ,       .,   ,.«       j    0  ,  /n    \^  ,         ,  /      o^        iia{na-\-a)ina-{-ina-\-a^) 
=(a-j-{a+i^n-l:d))  ^^nnda'-^(2ay+--\-(nay  =  ^  ''^^^ — -^— 

nebst  verschiedenen  Einzelfällen  derselben.  Die  Summirung  der 
Quadratzeilen  sei,  sagt  Leonardo  ausdrücklich  bei  diesem  Anlasse^), 
in  dem  von  ihm  verfassten  Liber  quadratorum  bewiesen,  und 
damit  ist  ein  Zeitpunkt  bezeugt,  zu  welchem  jene  Abhandlung,  welche 
uns  im  folgenden  Kapitel  beschäftigen  wird,  der  Oeff'entlichkeit  be- 
reits übergeben  war.  Die  Summenformel  der  geometrischen  Reihe 
ist  erst  an  einer  späteren  Stelle-)  in  Verbindung  mit  der  bekannten 
Schachbrettaufgabe  (Bd.  I,  S.  713)  angegeben.  Im  Anschluss  an  die 
arithmetischen  Reihen  ist  nur  gezeigt^),  dass  das  Product  des  ersten 
und  des  letzten,  des  zweiten  und  des  vorletzten  Gliedes  u.  s.  w.,  all- 
gemein das  Product  aus  symmetrisch  vom  Anfang  und  Ende  der  Reihe 
befindlichen  Gliedarn  constant  ist,  dass  mithin  1  •  e""~^  =  e-e"~^  =  ••. 
Eine  grosse  Anzahl  von  Aufgaben  ist  nach  dem  einfachen  falschen 
Ansätze  (Bd.  I,  S.  577)  behandelt.  Dessen  erstes  Auftreten  findet 
sich  bei  den.  quaestionihus  arhorum,  den  Baumaufgaben,  und  dort  ist 
auch   eine  kurze,   deutliche   Schilderung    des  Verfahrens  zu   finden*). 

Man  soll  die  Höhe  eines  Baumes  berechnen,  der  mit  —  und  —  seiner 

Höhe,  zusammen  mit  21  Handbreiten,  unter  dem  Boden  steckt.  Die 
durch  3  und  4  theilbare  Zahl  12   wird  vorläufig  als  Höhe  angesetzt. 

12  12 

Dann  ist  aber  -^  A — r  =  '^»  während  21  erscheinen  sollte.    Man  hat 

die  Proportion  7  :  21  =  12  :  36  zu  bilden,  und  die  wirkliche  Höhe 
des  Baumes  beträgt   86   Handbreiten.     Eine    eigenthümliche  Anwen- 

19     . 

20 

Zahl  erweisen  sich  als  die  Quadratwurzel  eben  dieser  Zahl  (radix 
eiusdem  numeri);  wie  gross  ist  dieselbe?  Die  Antwort  lautet  (— j  "^sei 
und  wird  folgendermassen  gewonnen.  Versuchsweise  setzt  man  die 
durch  20  theilbare  Zahl  60  an.     Davon  —  sind  57,  und  das  Quadrat 

von  57  ist  3249  statt  60.    Alsdann  sei  -^77:  =^  ^^rr^  =  „„,    die  richtige 

3249  3249  361  <=" 

^)Leon.  Pisauol,  168  Z.  8 — 9:  Prohavi  enim  geometrice  qiiae  hie  sunt 
dicta  de  coUectionibus  quadratorum  in  libro  qiiem  de  quadratis  eomposui. 
-)  Ebenda  pag.  309:  De  duplicatione  scacherii.  ^  Ebenda  pag.  171.  *)  Ebenda 
pag.  173  Z.  4  T.  u. :  Est  enim  alius  modus,  quo  utimwr,  videlicet  ut  ponas  pro  re 
ignota  aliquem  numerum  notum  ad  libitum,  qui  integraliter  dividatur  per  fractio--* 
nes  quae  ponuntur  in  ipsa  quaestione:  et  secundum  positionem  illius  quaestionis 
cum  ipso  posito  numero  studeas  invenire  proportionem  cadentem  in  solutione  illius 
quaestionis.         ^)  Ebenda  pag.  175. 


Leonardo  von  Pisa  und  sein  Liber  Abaci.  21 

Auflöuug,  wofür  eine  geometrische  Begründung  beigefügt  wird 
(Figur  1).  Es  sei  ab  die  als  Strecke  gezeichnete  gesuchte  Zahl, 
welche  auch  als  Fläche  des  Rechtecks  abdt  auftritt,   sofern  hd  =  a 

die  Längeneinheit  ist.     Ueber  ae  (=  —  ab)   wird 

das  Quadrat  ael'2  gezeichnet,  so  muss  auch  dieses 
vermöge  der  Bedingungen  der  Aufgabe  durch  die 
gesuchte  Zahl  gemessen  werden,  d.  h.  ael'Z  =  Vier- 
eck abdt\  und  wird  auf  beiden  Seiten  das  ge- 
meinschaftliche Stück  aeit  weggelassen,  so  bleibt 

noch    tiJcs  =  ebdi    oder   ti  x  ili  =  ei  X  id,    be-      "         x>-    ,      *    ^ 

'  ±ig.  1. 

ziehungsweise   ti :  id  =  ei :  iJc.      Aus    dieser   Pro- 
portion folgt  weiter  ti  :  (ti  -|-  id)  =  ei :  (ei  -\-  ik)  oder  ti  :  td  =  ei :  eh 
oder    ae  :  ab  =  1  :  eli.      Da    aber    ae  :  a&  =  19  :  20    bekannt    ist,    so 

hat  man  jetzt  eh  =  ~  und   dessen  Quadrat  =  -^  •     Leonardo  setzt 

einen  Zweifelspunkt  in  diesem  Beweise  voraus,  ob  nämlich  das  über 
ae  beschriebene  Quadrat  und  das  Rechteck  abdt  in  Wirklichkeit  so 
gegenseitig  über  einander  hinausreichen  werden,  wie  die  Figur  es 
darstellt.  Er  wirft  desshalb  selbst  diesen  Einwand  auf,  widerlegt  ihn 
aber  sogleich^).  Weil  ab  grösser  sei  als  ae,  müsse  eh  grösser  sein 
als  die  Einheit,  d.  h.  grösser  als  ei.  Mit  Hilfe  des  falschen  Ansatzes 
wird  des  weiteren  eine  gegebene  Zahl,  etwa  10,  als  Summe  von  3, 
von  4,  von  5  in  stetiger  Proportion  stehenden  Theilen  dargestellt^). 
Sollen  etwa  4  Theile  auftreten,  so  werden  ebenso  viele  in  stetiger 
Proportion  stehende  Zahlen   z.  B.  1,  2,  4,  8   versuchsweise  angesetzt. 

2 

Deren  Summe  ist  nicht  10,  sondern  15.    Aber  10  =  ^  *  1^?  ^^^^   ^^^ 

2 
man      -    einer   jeden    der    gewählten    Zahlen    zu    nehmen    und    findet 

-77- ,  -^ ,  -5-,  -Vi  womit  die  Aufgabe  gelöst  ist,  und  so  wie  diese  Auf- 
lösung giebt  es  noch  unendlich  viele,  sämmtlich  von  einander  ver- 
schieden^). Bei  manchen  Aufgaben  bedarf  es  erst  vorbereitender 
Ueberleguugen,  bevor  der  falsche  Ansatz  zur  Anwendung  gelangen 
kann.  Dahin  gehört  beispielsweise  eine  Aufgabe,  welche  einst  ein 
Magister  in  Constantinopel  Leonardo  vorlegte*),  und  welche  dann 
für  diesen  den  Ausgangspunkt  vieler  anderer  möglichen  und  unmög- 
lichen Aufgaben  bildet.     Ein   Mann  A   verlangt  von    einem   anderen 


^)  Manifestum  est  cßiod  numerus  ae  maior  est  unitat e;  cum  maior  sit  nu- 
merus ab  numero  ae:  quare  maior  est  at  wnitate  ae.  ^)  Leon.  Pisano  I, 
181 — 182.  ^)  Ranc  enim  divisionem.  in  infinitas  variasque  partes  possumus  in- 
venire.         *)  Leon.  Pisano  I,  190 — 191. 


22  41.  Kapitel. 

Manne  B,  wie  wir  zur  Abkürzung  sagen  wollen,  während  Leonardo 
fortwährend  von  dem  Ersten  und  dem  Zweiten  spricht,  die  Summe 
von  7  Denaren,  dann  habe  er  fünfmal  so  viel  als  jener;  giebt  dagegen 
A  dem  B  nur  5  Denare,  so  hat  B  damit  siebenmal  so  viel  als  A.  (Figur  2.) 
Es  sei  ag  der  ursprüngliche  Besitzstand  des  A,  gh  der  des  B,  ah 
ihr  Gesammtbesitz.  Stellt  nun  gd  die  7  dar,  welche  B  dem  A  giebt, 
so  hat  in  Folge  dessen  A  mit  ad  das  Fünffache  des  dem  B  ver- 
bleibenden  dh,   oder   dl)   ist  —   der   Summe.      Ist    andrerseits   eg    das 

Bild  der  5,  welche  A  dem  B  giebt,   so   dass  darnach  B   mit  eh   das 

Siebenfache   des   dem   A  verbleibenden 

ö  ^  .  1 

• — • • • •     ae  besitzt,  so  muss  ae  =  —  der  Summe 

a      e  g  ä        h  ° 

^'s-  2.  gein    Darnach  beträgt  dl)  -\-  ae  =  —  -\-  — 

der  Summe,  welche  von  der  ganzen  Summe  abgezogen  eg-\-gd=b-\-l  =  12 
übrig  lassen.  Damit  sind  aber  die  Bedingungen  ausgesprochen,  denen 
zu  genügen  ein  falscher  Ansatz  gemacht   werden  kann.     Als  Summe 

24  24 

wird  die  durch  6  und  durch  8  theilbare  24  angesetzt;  —  -)-  ^  =  7 
davon  abgezogen  lassen  17  und  nicht  12  übrig.  Die  Summe  ist  mithin 
~-  von  24,  und  in  gleichem  Verhältnisse  mindern  sich  die  Zahlen  4 
und  3  herab,  welche  für  dh  und  ae  angenommen  worden  waren.     Es 

12  14  12  2 

wird  in  Wirklichkeit  (?&  =  — x4=2—   und  ae  =  —  x3  =  2— • 

9  2  14  14 

A  besass  zu  Anfang  2~  -|-  5  =  7^  und  B  besass  2^  -]-  7  =  9  — • 

Ebendieselbe  Aufgabe  löst  die  Regula  recta,  deren  die  Araber  sich 
bedienen^).  Leonardo  versteht  darunter  Gleichungen  ersten  Grades, 
in  welchen  die  Unbekannte  durch  das  Wort  res,  die  Sache,  bezeichnet 
wird.  Der  Besitzstand  des  B,  sagt  er,  sei  res  nebst  7  Denaren,  welche 
er  dem  A  geben  soU,  der  alsdann  5  res,  vorher  also  5  res  weniger 
7  Denare  besitzt.  Nachdem  A  dem  B  dagegen  5  Denare  gegeben, 
besitzt  B  res  und  12  Denare  und  damit  siebenmal  so  viel  als  A  mit  seinem 
5  res  weniger  12  Denare.  Es  ist  in  Zeichen,  welche  Leonardo  noch 
fremd  waren,  res  +  12  =  7  (5  res  —  12)  =  35  res  —  84,  34  res  =  96, 

res  =  — =  2,„,  und  daraus  findet  sich  leicht  der  Besitz  von  B  wie 

34  17' 

der  von  A.  Auch  eine  Regula  versa  kennt  Leonardo  an  anderer 
Stelle').  Es  ist  ebenfalls  eine  Auflösung  mittels  Gleichungen,  welche 
aber  den  Ansatz  von   der  Schlussbedingung  der  Aufgabe    aus,    statt 

')  Leon.  Pisano    I,  191:    Regula   quaedam,    quae    recta   diciticr,    qua 


arahes  utuntur.         -)  Ebenda  pag.  203  Z.  3  v.  u 


Leonardo  von  Pisa  und  sein  Liber  Abaci.  23 

von  deren  Anfang  herleitet  und  dadurch  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
der  sogenannten  Umkehrung  der  Inder  (Bd.  I,  S.  577)  ähnelt.  Das 
erste  Verfahren  Leonardo's,  über  welches  wir  oben  im  Anschlüsse 
an  die  Figur,  deren  er  sich  zur  Erläuterung  bediente,  berichtet  haben, 
und  welches  dadurch  sich  kennzeichnet,  dass  es  die  Summe  der  Be- 
sitzstände als  Durchgangspunkt  für  die  Auflösung  der  Aufgabe  be- 
nutzt, findet  unter  dem  Namen  der  Regula  hominum  auch  bei  mehr 
als  zwei  Personen  Anwendung^).  A  verlangt  von  B  und  C  zusammen  7, 
um  fünfmal  so  viel  als  sie  zu  haben;  B  verlangt  von  A  und  C  zusam- 
men 9,  um  sechsmal  so  viel  als  sie  zu  haben;  C  verlangt  von  A  und  B 
zusammen  11,  um  siebenmal  so  viel  als  sie  zu  haben.    Mithin  besass  A 

5  .  6  . 

anfangs  —  Summe  weniger  7,  B  besass  —  Summe  weniger  9,  C  be- 
sass —  Summe  weniger  11,  und  die  Summe  war  so  viel  als  -r  -^  — 
Summe    weniger   7,  9    und   11;    d.  h,   21    ist    der    Ueberschuss    von 

-r  -;r  -^  Summe  über  die  Summe  oder  ~  der  Summe  und  die  Summe 
6     7     8  168 

selbst  — ^;^ — .    A  besass  -r  der  Summe  weniger  7  oder  7  ^^^^  •     Ganz 

263  6  "  26o 

ähnlich   berechnet   man  5"  „  für  B  und  4--^  für  C.    Aber  nicht  un- 

266  26a 

bedingt  jede  beKebige  Angabe  führt  zu  Auflösungen.  Es  giebt  auch 
quaestiones  insolubiles,  welche  Widersprüche  enthalten^),  so  z,  B. 
wenn  die  Bedingungen,  unter  welchen  die  Regula  hominum  auf  vier 
Personen  mit  den  Besitzständen  Ä,  B,  C,  D  von  der  Gesammtsumme  S 

o 

angewandt  werden  soll,  in  den  Gleichungen  C  -\-  D  =  —  -j-  1, 
i)  +  ^=|+8,  Ä-\-B=l  +  9,  B  +  C=^ +  11  ausge- 
sprochen  sind.  Die  erste  und  dritte  Bedingung  vereinigt  liefern 
Ä  =  —  Ä-I-I67  die  zweite  und  vierte  dagegen  S  =  -^;  S  -\-  19,  und 
diese  beiden  Folgerungen  lassen  sich  nicht  mit  einander  vereinigen. 
Nächst  diesen  und  ähnlichen  bestimmten  Aufgaben  enthält  der  zwölfte 
Abschnitt  auch  unbestimmte  Aufgaben  des  ersten  Grades, 
welche  Leonardo  nach  Methoden  löst,  in  deren  Darlegung  er  so  weit 
geht,  dass  nicht  daran  zu  zweifeln  ist,  dass  ihm  selbst  die  Richtigkeit 
des  Verfahrens  mehr  als  nur  auf  das  Ansehen  der  Persönlichkeiten 
hin,  welche  ihm  die  Aufgaben  einst  mittheilten,  einleuchtend  gewesen 
sein  muss.     So  rührt   z.  B.    folgende   Aufgabe^)    von    dem    sehr   er- 


^)Leon.  Pisano  I,  198:  Quaestio  consimilis  inter  tres  hamines. 
*)  Ebenda  pag.  201,  227,  251.  ^)  Ebenda  pag.  249:  Quaestio  nobis  proposita  a 
peritissimo  magistro  Musco  ConstanUnopolitano  in  Constantinopoli. 


24  il.  Kapitel. 

fahreueu  Magister  Muscus  von  Constantinopel  her.  Fünf 
Personen  —  sie  mögen  A^  B,  C,  D,  E  heissen  —  wollen  in  Gemein- 
schaft mit  einander  ein  Schiff  kaufen.  Jeder  Einzelne  wäre  dazu  im 
Stande,  wenn  ihm   die  übrigen  vier   einen  Theil  ihres  Geldes  gäben, 

und    zwar    braucht    dazu    A  ^,    B  ^,    C  ^,    D  |J,    E  g^     des 

Geldes  der  Anderen.  Der  Preis  des  Schiffes  und  der  Besitz  eines 
jeden  Einzelnen  ist  zu  berechnen.  Leonardo  schreibt  in  eine  erste 
Zeile  die  gegebenen  fünf  Brüche  und  darunter  in  eine  zweite  Zeile 
fünf  andere,  welche  bei  unveränderten  Zählern  ihre  Nenner  dadurch 
bilden,  dass  sie  eben  diese  Zähler  von  den  früheren  Nennern  ab- 
ziehen.    Die  beiden  Zeilen  sind  demnach: 


13 
15 

401 

48Ö 

799 
957 

341 
42Ö 

326 
4Ö5 

13 

401 
"79" 

799 
158 

341 
79 

326 

79 

Als  kleinstes  Gemeinvielfaches  der  zweiten  Nenner  erkennt  er  158, 
und  mit  dieser  Zahl  vervielfacht  er  die  Nenner  der  ersten  Bruchreihe 
und  theilt  jedes  Product  durch  den  darunter  befindlichen  Nenner  der 
zweiten  Bruchreihe.  So  wird  eine  neue  Zeile  von  fünf  Zahlen  ge- 
wonnen : 

1185  960  957  840  810 

mit  der  Summe  4752.  Der  Quotient  dieser  Zahl  durch  die  um  1  ver- 
minderte Personenzahl,  also  durch  4,  giebt  ihm  1188  als  Summe 
dessen,  was  ursprünglich  Alle  zusammen  an  Geld  besassen,  und  diese 
Summe  um  158  vermindert  giebt  1030  als  Preis  des  Schiffes.  Der 
Besitzstand  eines  jeden  Einzelnen  findet  sich  dann,  indem  von  1030 
das  158fache  der  Brüche  der  zweiten  Zeile  abgezogen  wird. 

A  =  1030  —  i^-ü  =  3,         B  ===  1030  —  ^^i-i^  =  228, 

2  '  79  ' 

C  =  1030  -  ^J—  =  231,      D  =  1030  —  ^^^^^  =  348, 
E  =  1030  -  ^A^^  =  378. 

79 

Prüfen  wir  nun  einmal  dieses  so  eigenartige  Verfahren,  dessen  Ein- 
richtung Leonardo  sich  selbst  zuschreibt^),  an  Buchstabengrössen. 
Es  sollen  i  Personen  die  Einzelsummen  x^,  x^  .  .  .  Xi  besitzen,  welche 
zusammen    s  ausmachen.     Der  Preis  p   des  Schiffes   besteht   aus  Xh 

und  dem  —  Theil    dessen,    was    die   Anderen   besitzen,   während    der 


^)  Leon.  Pisano  I,  249:  Quam  quaestionem  ita  ad  suprascriptam  regulam 
reducere  studui. 


Leonardo  von  Pisa  und  sein  Liber  Abaei.  25 

Stellenzeiger  h  alle  Werthe   von  1   bis  i   durchläuft.     Als  Gleichung 

geschrieben  ist  demnach  p  =^  Xh  -\ (s  —  Xn)  und   daraas  folgt  bei 

leichter  Umformung  ^ 

n, 
Xh  =  s  ^(p—  s) 


"h  ""A 


Bildet  man  sämmtliche  /  Gleichungen  dieser  Form,  welche  aus  den 
verschiedenen  möglichen  Annahmen  für  h  folgen  und  addirt  dieselben 
unter    Berücksichtigung    von    ^-^  +  x,  +  "  "  "  +  ^«  =  ^j    so    entsteht 


is  -\-  (p  —  s)  > uud  daraus 


Da  die  Aufgabe  sich  somit  als  unbestimmt  erweist,  weil  zwischen  den 
beiden  Unbekannten  s  und  p  nur  eine  Gleichung  vorhanden  ist,  so 
steht  eine  willkürliche  Annahme  frei.  Leonardo  trifft  sie  dahin,  dass 
er  s — p  als  das  kleinste  Gemeinvielfache  der  Zahlen  fh  —  nih  wählt, 
sofern  diese  Wahl  gestattet,  die  rechts  vom  Gleichheitszeichen  auf- 
tretende Summe  noch  durch  i  —  1  zu  dividiren.  Der  Quotient  der 
letzteren    Division    ist    s,    und    zugleich    damit    kennt    man    auch 

p  =  s  —  (s  —  p).     Endlich  findet  sich  jedes  Xn  =  s  —  (s  —  p) -• 

**A  ~  "^Ä 

Man  müsste  geradezu  jede  Aufgabe  der  Besprechung  unterziehen, 
wenn  man  alles  Bemerkenswerthe  erörtern  wollte.  Wir  gehorchen 
nur  der  Nothwendigkeit,  indem  wir  uns  beschränken  und  nur  drei 
Aufgaben  dieses  Abschnittes  noch  hervorheben. 

Es  soll  eine  durch  7  theilbare  Zahl  gefunden  werden,  welche 
durch  2,  3,  4,  5,  G  getheilt  jeweils  den  Rest  1  übrig  lässt^).  Das 
Product  3  •  4-5  ^  60  ist  durch  2,  3,  4,  5,  6  theilbar  und  lässt  bei 
Theilung  durch  7  den  Rest  4.  Versuche  lehren  die  Zahl  5  kennen, 
welche  mit  60  zu  300  vervielfacht  die  Theilbarkeit  durch  2,  3,  4,  5,  6 
unverändert  lässt,  während  Theilung  durch  7  jetzt  den  Rest  6  liefert. 
Die  um  eine  Einheit  grössei-e  301  löst  daher  die  gestellte  Aufgabe, 
und  weitere  Auflösungen  finden  sich  durch  Hinzufügung  ganzer  Viel- 
fachen von  7  •  60  =  420. 

Als  Kaninchenaufgabe ^)  bezeichnen  wir  die  Frage,  wie  viele 
Paar  Kaninchen  im  Laufe  eines  Jahres  aus  einem  Paare  entstehen. 
Die  betreffende  Zahl  soll  aus  der  Angabe  erhalten  werden,  dass  jedes 
Paar  allmonatlich  ein  neues  Paar  zeugt,  welches  selbst  vom  zweiten 


^)  Leon.    Pisano    I,   281   Z.  3  v.  u.   —   pag.  282  Z.  13.  *)   Ebenda 

pag.  283—284. 


26  -tl-  Kapitel. 

Monate  an  zeugungsfähig  wird,  während  Todesfälle  nicht  vorkommen. 
Am  Schlüsse  des  1.  Monats  ist  das  erste  Paar  und  das  von  ihm  er- 
zeugte Paar  vorhanden,  im  Ganzen  zwei  Paare.  Am  Schlüsse  des 
2.  Monats  ist  ein  drittes  Paar  hinzugetreten,  Junge  des  ersten  Paares. 
Am  Schlüsse  des  3.  Monats  sind  es  3  -{-  2  =  5  Paar,  weil  ausser 
dem  ersten  Paare  jetzt  auch  das  im  ersten  Monat  geborene  zeugungs- 
fähig wurde,  und  nun  findet  die  Vennehrung  in  steigendem  Maasse 
statt.  Am  Schlüsse  des  4.  Monats  zählt  man  5 -{-3  =  8,  am  Schlüsse 
des  5.  Monats  8  -)-  5  =  13  Paar,  u.  s.  w.  Es  ensteht  mithin  die  am 
Rande  beigefügte  Zahlenreihe  1,  2,  3,  5,  8,  13,  21,  34,  55,  89,  144 
233,  377.  Diese  Zahlen  befolgen  das  Gesetz  Ur+i  =^  Ur-\-  u,-—!  und 
bilden  die  erste  recurrirende  Reihe,  welche  in  einem  mathe- 
matischen Werke  bekannt  geworden  ist. 

Im  höchsten  Grade  überraschend  tritt  die  Aufgabe^)  zum  Vor- 
schein, welche  bei  den  Chinesen  mittels  der  Regel  Ta  yen  ihre  Lö- 
sung fand  (Bd.  I  S.  643 — 644).  Es  sind  genau  die  gleichen  Zahlen, 
ist  genau  das  gleiche  Verfahren.  Ein  Beweis  wird  nicht  versucht. 
Das  dürften  doch  genügende  Anhaltpunkte  dafür  sein,  dass  hier  nicht 
an  zufällige  Uebereinstimmung  zweier  Erfinder,  sondern  nur  an  die 
Mittheilung  von  Ueb erlief ertem  zu  denken  ist.  Wenn  wir  im  vorigen 
Bande,  wo  die  Regel  Ta  yen  unsere  Aufmerksamkeit  zum  ersten  Male 
fesselte,  auf  deren  räthselhaftes  Auftreten  bei  einem  Byzantiner  um 
das  Jahr  1400  hinweisen  mussten,  so  ist  jetzt  ihr  europäisches  Vor- 
kommen um  weitere  zwei  Jahrhunderte  zurückgetreten,  ohne  dadurch 
begreiflicher  zu  werden. 

Geschichtlich  höchst  merkwüi-dig  ist  die  Aufgabe  von  den  7 
alten  Weibern-).  Dieselben  gehen  nach  Rom.  Jede  hat  7  Maul- 
esel; jeder  Maulesel  trägt  7  Säcke;  jeder  Sack  enthält  7  Brode;  bei 
jedem  Brod  sind  7  Messer;  jedes  Messer  steckt  in  7  Scheiden.  Was 
ist  die  Gesammtzahl  alles  Genannten?  7  +49  +  343  +  2401  +  16807 
-f-  117649  =  137256.  Aber,  fügt  Leonardo  dieser  ersten  Auflösung 
hinzu,  man  kann  die  Rechnung  auch  anders  vollzieheu.  Man  geht 
von  einer  alten  Frau  aus.  Die  fünf  nothwendigen  Vervielfachungen 
mit  7  vollzieht  man  unter  jedesmaliger  Hinzufügung  einer  neuen 
Einheit,  also  7-1  +  1  =  8,  7-8  +  1=  57,  7-57  +  1  =  400, 
7  .  400  +  1  =  2801,  7  -  2801  +  1  =  19608  und  endlich  7  •  19608 
=^  137256  wie  vorher,  indem  thatsächlich  nicht  1,  sondern  7  alte 
Frauen    vorhanden    waren.      Das   ist    genau    die    Rechnung,    welche. 


')  Leon.  Pisano  I,  304  Z.  6 — 29.  Die  hochinteressante  SteUe  ist  zuerst 
von  Curtze  bemerkt  worden,  der  Zeitschx.  Math.  Phys.  XLI  Histor.-liter.  Abthlg. 
S.  81—82  auf  sie  hinwies.         ^)  Ebenda  pag.  311  Z.  5  v.  u.  —  312  Z.  7. 


Leonardo  von  Pisa  und  sein  Liber  Abaci.  27 

wenn  auch  mit  anderem  Wortlaute  der  Aufgabe  verbunden  und  bei 
7  •  2801  =  19607  stehen  bleibend,  bei  dem  Aegypter  Ahmes  (Bd.  I, 
S.  42)  vorkam.  Also  nicht  allein  die  Aufgabe  der  Summirung  der 
aus  den  Potenzen  der  Zahl  7  gebildeten  geometrischen  Reihe  hat  sich 
drei  Jahrtausende  erhalten,  auch  die  Rechnungsweisen  erkennen  wir 
wieder,  die  erste  sowohl  als  die  zweite,  namentlich  der  letztere  Um- 
stand auffallend  genug  bei  einem  Schriftsteller,  der  nur  wenige  Seiten 
früher  ^J  die  Formel  für  die  Summe  der  mit  stets  verdoppelten  Zahlen 
versehenen  Schachbrettfelder  anzuwenden  wusste. 

Der  dreizehnte  Abschnitt  ist  der  Regel  des  doppelten  falschen 
Ansatzes  gewidmet,  welche  Leonardo,  wie  der  Name  Regula  elchatayn 
verräth,  von  Arabern  erlernt  hat  (Bd.  I,  689).  Ein  Beispiel  ist  fol- 
gendes^): 100  Rotuli  kosten  13  libras  zu  20  solidi  zu  12  denarii, 
was  kostet  1  Rotulus?  Eine  erste  Annahme  setzt  3  solidi  für  den 
Rotulus,  für  100  also  300  solidi  =  15  librae  oder  2  zu  viel.  Eine 
zweite  Annahme  setzt  2  solidi  für  den  Rotulus,  für  100  also  200  solidi 
=  10  librae  oder  3  zu  wenig.  Die  beiden  Fehler  addirt,  zeigen  durch 
2  -[-?>==  b  eine  Abnahme  des  Gesammtpreises  um  5  librae,  während 
der  Preis   eines   Rotulus  um   1  solidus  =  12  denarii  abnahm.      Nun 

sollte  aber  der  Gesammtpreis  nur  um  2  librae  abnehmen,  man  muss 

4 
also  12  mit  2  multipliciren  und  durch  5  dividiren,  um  4^-  denarios 

zu   erhalten,    welche,   von   3  solidis    abgezogen,    den    richtigen    Preis 

2  solidi  7—  denarii  kenneu  lehren.    Leonardo  erläutert  die  Rechnung 

an  einem  Diagramme: 

Additum  ex  13  multiplicationibus 

4  9 

soldi  soldi 

2  _  _^^     3 
minus        ^^,,:>~<^.^_^^         plus 

3  ^^^^^        ^^^^     2 

5 
additum  ex  erroribus 

und  dieses  Diagrammes  wegen  haben  wir  überhaupt  das  Beispiel 
näher  erörtert.  Auf  ihm  finden  sich  nämlich,  wie  man  sieht,  die 
beiden  Wörter  plus  und  minus.  Bei  Additionen  gebraucht 
Leonardo  allerdings  niemals  plus,  sondern  ausschliesslich  et.     Linien- 


^)   Leon.    Pisano    I,  309:     De   duplicatione   scacherii.  *)    Ebenda 

pag.  319. 


28  41-  Kapitel. 

grossen  (Figiir  3)  dienen  zur  Erläuterung  des  Verfahrens^).  Sei  ah 
die   wahre   Länge   der   unbekannten   Zahl.     Setzt   man   irgend   ein  ag 

statt  ihrer,  so  kommt  eine  Zahl  als 

^ ,     Endergebniss,  welche  um  ez  kleiner 

ist  als  die,  welche  herauskommen 
^*  T  •  soll.     Setzt   man   eine  zweite   ange- 

j,.    3  nommene  Zahl  ad  statt   der  Unbe- 

kannten, so  erscheint  wieder  ein 
fehlerhaftes  Ergebniss,  welches  um  iz  zu  klein  ist.  Nun  kennt  man 
sowohl  die  Differenz  gd  der  beiden  Annahmen,  als  die  ei  der 
beiden  Fehler  und  ist  im  Stande,  den  Ueberschuss  dh,  um  welchen 
die  unbekannte  Zahl  die  zweite  Annahme  ad  übertrifft,  aus  der  Pro- 
portion ei  :  iz  =  gd  :  db  zu  berechnen^).  Hat  man  nämlich  ax  =  h 
und  an^  =  &  —  e^,  an.2  =  h  —  e.2,  so  berechnet  sich  (wie  aus 
der   angefühi-teu  Stelle    unseres    I.  Bandes    entnommen  werden  mag) 

X  =  ^   ^  _  ^   ^'     In  der  Figur  entspricht  ag  =  nj^,  ad  =  n^,  ez=e^, 

iz  ==  ^2;  ß^  =  ^1  —  ^2;  9^  =^  ^^2  —  *^i7  db  =  X  —  n.^.  Die  obige  Pro- 
portion geht  also  über  in  (e^  —  e.^)  :  e^  =  (n^  —  nj  :  (x  —  n^),  und 
daraus  folgt 

Leonardo  führt  auch  die  in  letzterer  Gleichung  sich  darstellende  Vor- 
schrift ausdrücklich  aus  ^) :  man  solle  den  ersten  Fehler  mit  dem 
zweiten  Ansätze,  den  zweiten  Fehler  mit  dem  ersten  Ansätze  mul- 
tipliciren,  letzteres  Product  vom  ersteren  abziehen  und  die  Differenz 
durch  die  Differenz  der  Fehler  dividiren.  Wieder  an  einer  Figur 
wird  der  Fall  des  doppelten  falschen  Ansatzes  erörtert,  in  welchem 
beide  Annahmen  zu  gross  gewählt  wurden,  mithin  aw^  =  &  -|-  e^, 
an^  =  h  -{-  e.2    beide    zu    gi-oss    ausfielen.     Es    sei    (Figur  4)    ah    die 

richtige  Länge  der  Unbekannten, 
^ ^ '^ „    af  und  ac  die  erste  beziehungsweise 

zweite  Annahme,    denen  gi   und  gh 

9  *  •  *  als  erster  und  zweiter  Fehler  gegen- 

j,.    ^  übersteht,    oder    es    sei     af  =  n^j 

ac=n.2,  gi=e^,  gJc=e2,  Tii=e^ — e^, 
cf  =  n^  —  ^2,  hc  =  »^2  —  x.  Dann  soll  die  Proportion  stattfinden^) 
ilc : hg = cf:ch.  Anders  geschrieben  heisst  sie  (e^ — ^'2) : e^  =  0*i  —  '>h)  '•  i^h~^) 


^)  Leon.   Pisano    I,   320—322.  -)    In   der    Druckausgabe    pag.  320 

Z.  21  schliesst  die  Proportion  irriger  Weise  mit  ab  statt  mit  db,  doch  dürfte 
hier  ein  Fehler  irgend  eines  Abschreibers  und  nicht  Leonardo's  vorliegen. 
3)  Leon.  Pisano,  I,  320  Z.  25— 29.         ^)  Ebenda  pag.  321  Z.  3. 


Fig.  5. 


Leonardo  von  Pisa  und  sein  Liber  Abaei.  29 

1              -u      ^  ^    j.                          e,(n,  —  n„)        e.n,  —  e,n,  ,  , 

und    aus   ihr   loloft    x  =  ih ^^-'^ =  ^— ^ "—  ,    welches   wie- 

derum  vollständig  richtig  ist  und  durch  die  Vorschrift^)  bestätigt 
wird,  man  solle  von  dem  Producte  des  ersten  Fehlers  in  dem  zweiten 
Ansatz  das  Product  des  zweiten  Fehlers  in  dem  ersten  Ansatz  ab- 
ziehen und  die  Differenz  durch  den  Unterschied  der  Fehler  theilen. 
Endlich   versinnlicht  ein  drittes 

Linienpaar  den  noch  allein  übri-     ^. ;; ^ ^  ^^ 

gen    Fall,    dass    (Figur  5)    eine 

Annahme  ag  zu  klein,    die  an-  *  * 

dere  ad  zu  gross  war,  und  dass 

dem     entsprechend     zuerst     ein 

Mangel  e^,  dann  ein  Uebersehuss  ^i  auftrat.    Hier  ist  die  Proportion 

zu  bilden-)  gd:hg  =  ei  :  ez  oder  in  den  anderen  wiederholt  von  uns 

benutzten    Buchstaben    {n^  —  Wj)  :  {x  —  n^  =  (e^  -\-  e^)  :  e^,    woraus 

die  richtige  Folgerung  zu  ziehen  ist  a;  =  m^  +       V  ^    =  ^^  ^^ "]"  ^^  ^^^  . 

So  hat  Leonardo  die  Regel  des  doppelten  falschen  Ansatzes  genau 
erörtert  und  sämmtliche  Möglichkeiten  derselben  erschöpft.  Darauf 
werden  mannigfache  Aufgaben  behandelt,  welche  bereits  im  vorher- 
gehenden Abschnitte  zur  Uebung  der  dortigen  Regeln  dienten'^); 
nächst  diesen  aber  auch  andere  neue  Aufgaben^).  Wir  wollen  nur 
des  ersten  Beispieles  der  letzteren  Art  gedenken.  Ä  und  B  bezeichnen 
uns,   wie   schon   öfter,   zwei   Personen  und  zugleich  deren  Vermögen. 

Man  besitze  darüber  die  beiden  Angaben  J.-(-  —5=14,  B-\-  —  A=^ll. 

Eine    erste    Annahme    A  =  n^  ^  4    giebt    4-|-~5=  14,    B=  30, 

i> +  -j-^  =  oO-f- 1  =  31,    während   17   kommen   sollten,   das  ist  ein 

Uebersehuss    e^  =  31  —  17  =  14.      Die   zweite   Annahme   ^  =  Mg  =  8 

giebt    8  +  -^J5=14,    5=18,    5  +  ^^=18  +  2  =  20,    während 

wieder  17  kommen  sollten,  das  ist  abermals  ein  Uebersehuss  e^  =  20 
— 17=:  3.  Da  Leonardo  für  den  ersten  Fall,  welcher  bei  zwei- 
maligem Ueberschiessen  hier  zutrifft,  die  Proportion  (e^  —  e.2) :  e.^ 
^{n^—n-^\{A — n)  angegeben  hat,  so  wäre  es  vollkommen  genügend, 
wenn  er  nur  die  Zahlenwerthe  einsetzend  (14  —  3)  :  3  =  (8  —  4)  :  ( J.  —  8) 
oder  11: 3  =  4:  (J.  —  8)  hätte  rechnen  lassen.  Aber  es  ist,  als 
wenn  er  schon  Ueberdruss  empfunden  hätte,  seinen  Lesern  durch 
gewohnheitsmässige    Uebung    eines    und    desselben    Verfahrens     das 


1)  Leon.   Pisano    I,    321  Z.  7—11.  ^)  Ebenda    pag.  321  Z.  16  v.u. 

^)  Ebenda  pag.  322—336.         ")  Ebenda  pag.  336—352. 


30  41.  Kapitel. 

Denken  zu  ersparen.  Nacli  Angabe  der  beiden  Fehler  14  und  3, 
welche  die  Annahmen  4  und  S  zur  Folge  haben,  fährt  er  nämlich 
das  weitere  Verfahren  begründend,  also  fort^):  Für  4  Einheiten, 
welche  wir  dem  Ersten  Ä  mehr  geben  (8  anstatt  4),  näherte  sich  die 
zweite  Zahl  B  um  11  der  Wahrheit  (3  anstatt  14),  und  es  ist  nur 
noch    eine   Annäherung    an    dieselbe    um   3   erforderlich.     Mithin    ist 

3  mal  4  getheilt  durch   11   dem  A  noch  beizufügen,  das  beträgt  1-- • 

Von  9—  bis  zu  14  sind  es  aber  4—,  und  das  ist  ein  Drittel  des  Ver- 

s 
mögens  des  JB,  welches  mithin   14—  beträgt. 

Der  vierzehnte  Abschnitt  führt  zu  den  Wurzelgrössen.  Bei 
der  Quadratwurzelausziehung  ist  namentlich  auf  solche  Zahlen 
Rücksicht  genommen,  welche  keine  vollständigen  Quadrate  sind,  bei 
denen  folglich  nur  eine  Annäherung  an  das  wahre  Ergebniss  vor- 
genommen werden  kann.  Jede  Annäherung  vollzieht  sich  der  Natur 
der  Sache  nach  in  einzelnen  Schritten,  deren  jeder  dem  gewünschten 
Ziele  näher  bringen  soll.  Als  erste  Annäherung  zu  einer  Quadrat- 
wurzel y^  wählt  Leonardo  den  ganzzahligen  Theil  derselben,  welcher 
a  heissen  mag,  und  durch  welchen  die  fortlaufende  Ungleichung  be- 
friedigt wird  a^<.^<(a+l)l  Bedienen  wir  uns,  wie  es  nicht 
selten  geschieht,  des  Aehnlichkeitszeichens  um  annähernde  Gleichheit 
zu  bezeichnen,  so   ist  also  zuerst  y^c^oa.     Die  zweite  Annäherung 

ist    y~Äc\Ja-\ ,    mit  welcher    die    Rechnung    einigemale    ab- 

sehliesst.  Eine  dritte  Annäherung,  über  welche  Leonardo  nie  hinaus- 
geht, wie  auch  die  Araber  eine  dritte  Annäherung  stets  als  letzte 
betrachteten  (Bd.  I,  S.  765),  ist: 

oder 

«  H 7. 7-  ,  .  I  \,  oder  a  4-  - — , — 7i~r-  i\      ■ 

Von  diesen  letzten  Umformungen  ist  freilich  bei  Leonardo  um  so. 
weniger  eine  Spur  zu  bemerken,  als  er  die  ganze  Rechnung  nur  an 
bestimmten   Zahlenbeispielen   durchführt.     Ein   solches  Beispiel^)   ist 

]/927435  fNJ  963  -f  ^^  —  Q^J :  (  2  ^963  +  ^^j  .    Ein  anderes  Mittel 

zur  Auffindung  einer  näherungsweise  richtigen  Quadratwurzel  dürfte 
ebenfalls  auf  arabischen  Einfiuss  zurückzuführen  sein  (Bd.  I,  S.  752). 
Leonardo  vervielfacht  die  Zahl,  deren  Quadratwurzel  ermittelt  werden 
soll,  mit  einer   aus  Eins   und   einer  geraden  Anzahl  von   Nullen  be- 

1)  Leon.  Pisano  I,  337,  Z.  4.  ^)  Ebenda  pag.  3.55. 


Leonardo  von  Pisa  und  sein  Liber  Abaci.  31 

stehenden  Zahl.  Alsdann  genügt  eine  einzige  Bruchannähernng  in 
der  nenen  Qnadratwurzel,  um  dem  genauen  Werthe  schon  recht  nahe 
zu  kommen,  weil  doch  noch  durch  einen  Divisor  zu  theilen  ist,  durch 
Eins  mit  halb  so  vielen  Nullen,  als  vorher  bei  der  Multiplication  auf- 


traten.    / ^234  =  j^y  72340000  rx;^^.  8505|rx.  85^  j^ .    An  die 

Quadratwurzelausziehungen  schliessen  sich  Betrachtungen  über  Ir- 
rationalzahlen, welche  ziemlich  genau  den  Gang  von  Euklid's  X.  Buche 
der  Elemente  verfolgen.  Vielleicht  sollten  wir  betonen,  dass  bei 
dieser  Gelegenheit^)  die  einfachen  Buchstaben  a,  h,  g,  d,  e  als  Ver- 
treter von  Zahlen  auftreten,  wähi-end  eben  so  wenig  Mangel  an  Be- 
weisen mittels  Linien  oder  mittels  Figuren  ist,  deren  Endpunkte  durch 
a,  h,  c,  d,  e.  f,  g,  h,  i  bezeichnet  sind^).  Mittels  einer  solchen  wird 
z.  B.  nachgewiesen,  wie  Zahlen  von  der  Art  wie  6  —  ]/20  und  3  —  ]/5 
mit  einander  zu  vervielfachen  sind.  Dabei  ist  (Figur  (3)  ad==Q, 
de  =  y20,  ah^=o,  6/*^y5,  es  handelt  sich  also  um  die  Entstehung 
des  Rechteckchens  acif.  —  Nach  den  Quadratwurzeln  wendet  sich 
Leonardo  zu  Kubikwurzeln.  Der  Würfel  einer  aus  zwei  Theilen 
bestehenden  Strecke  setzt  sich,  sagt  er,  zusammen  aus  den  Würfeln 
der  einzelnen  Theile  und  dem  dreifachen  Producte  des  Quadrates  je 
einen  Theils  in  den  anderen  Theil.  Als 
ich  über  diese  Definition,  fährt  er  fort^), 
lange  nachgedacht  hatte,  erfand  ich  die 
Methode  der  Wurzelausziehung,  welche  ich 

weiter  unten  auseinandersetzen  will.    Leo-       f ^ ji 

nardo  schreibt  sich  ungemein  selten  irgend        ^         ß  g 

etwas   eigenthümlich  zu.    Es  ist  wohl  also  Fig.  e. 

unzweifelhaft,  dass  wir  hier  seinen  Worten 

Glauben  zu  schenken  haben,  dass  wir  annehmen  müssen,  solche  arabische 
Schriften,  aus  welchen  er  (Bd.  I,  S.  718  und  732)  Kubikwurzelaus- 
ziehungen hätte  erlernen  können,  seien  ihm  unbekannt  geblieben.  Um 
so  zuverlässiger  müssen  wir  auch  ein  Näherungsverfahren  zur  Auf- 
findung irrationaler  Kubikwurzeln  als  Leonardo's  Eigenthum  an- 
erkennen, welches  folgendermassen  sich  darstellf^).  Man  will  y  Ä 
suchen.  Eine  erste  Annäherung  besteht  wieder  in  dem  ganzzahligen 
Werthe  a,  der  ähnlich  wie  bei  der  Quadratwurzelausziehung  die  fort- 


* 


1)  Leon.    Pisano   I,  360.  *)  Ebenda    pag.   370.      Man  bemerke    den 

sprachlichen  Unterschied  zwischen  den  beiden  hier  angegebenen  Buchstaben- 
folgen, die  erste  griechisch-arabisch,  die  zweite  lateinisch.  ^)  Ebenda 
pag.  378  Z.  6  v.  u. :  Et  cum  super  hanc  diffinitionem  diucius  cogitarem,  inveni 
hunc  modum  reperiendi  radices,  secundum  quod  inferius  explicabo.  ■*)  Ebenda 
pag.  380—381. 


32  41.  Kapitel. 

laufende  Ungleichung  a^<^<  (a -f- 1)^  erfüllt.  Diese  Ungleichung 
lässt  sich  auch  0  <  J.  —  «^  <  3  «  (a  -j-  1)  +  1  schreiben,  oder  die  Zahl 
a  ist  richtig  gewählt,  wenn  der  Rest  Ä  —  «^<3«  (a -f- 1) -f- 1  ist, 
denn  die  Vermehrung  des  Kubus  besteht  aus  3  a  (r/ -(- 1) -{- 1,  sofern 
eine  Vermehrung  der  Kubikwurzel  o  um  die  Einheit  stattfindet.  Nimmt 
man  bei  kleiner  Vermehrung  eine  Proportionalität  zwischen  den  Ver- 
änderungen  der  Wurzel  und   des   Radicanden  an,  so  muss,  wenn  der 

Radicand   um  1  wächst,   die  Wurzel  um  - — -. — p-,   ,  ^   wachsen.     Der 

'  3  a  (a  +  1)  +  1 

Zunahme  des  Radicanden  um  Ä  —  a^  entspricht  also,  immer  unter 
der    gleichen    Annahme    der   verhältnissmässigen    Aenderungen,    eine 

^  f(3 

Zunahme   der  Wurzel   um   - — -, — r  .x  i   .    Ofler   in  zweiter  Annäherung 

„    4  ((3 

ist  y  Ac\J  a  +  - — r— ,— 7\-T- .  •    Beispielsweise  setzt  Leonardo 

'  '3a  {((  -|-  1)  +  1 

VTiT^         n    I    900  —  729 

1/900  f\j9H — — , 

2  .  ,  , 2345 2197 

wofür  man  9~  schreiben  dürfe.     Ferner  y  2345  oo  13-1 ^t^ , 

ö  '  547  ' 

wofür  mau  13-j^  schreiben  dürfe,  weil  148  wenig  mehr  als  ein  Viertel 

von  547  sei.  War  auch  nach  unserer  bereits  ausgesprochenen  Ueber- 
Zeugung  Leonardo  der  selbständige  Erfinder  dieses  Verfahrens,  so 
ist  damit  keineswegs  ausgeschlossen,  dass  ihm  auf  seinem  Erfinder- 
wege ein  Vorbild  vorschwebte,  geeignet  die  Richtung  etwa  anzudeuten, 
nach  welcher  er  sich  bewegen  musste.  Diese  Annahme  führt  aber 
rückwärts  dazu,  dass  wir  von  Leonardo's  Kubikwurzelausziehung  aus 
die  Quadrat wurzelausziehung  des  Alkarchi  (Bd.  I,  S.  722)  verstehen 
lernen.  Wenn  das  Quadrat  a^  bis  zum  Quadrate  der  nächsten  ganzen 
Zahl  um  2a-\-l  zunimmt,  und  wenn  Verhältnissmässigkeit  zwischen 
den  kleinen  Veränderungen  der  Wurzel  und  ihrer  Quadratzahl  an- 
genommen  werden  darf,  so  entspricht  der  Veränderung  der  Zahl  um 

A  —  a^    eine    Veränderung     der    Wurzel    um    ^  ^         ,    oder    es    ist 

y^Ar-Ja-i-  - — ;— -,  wie  Alkarchi  es  vorschreibt.  Dass  Leonardo  bei 
'  '    2  a  +  l  ' 

Ausziehung  der  Quadratwurzel  eben  dieses  Verfahren  nicht  lehrt, 
kann  uns  in  unserer  Meinung  nicht  beirren.  Bei  der  Quadratwurzel 
ging  er  über  die  zweite  Annäherung  zu  einer  dritten  hinaus,  welche 
ihm  ein  besseres  Ergebniss  versprach.  Bei  der  Kubikwurzel  liess  er 
sich  gern  an  der  einen  Bruchannäherung  genügen. 

Endlich  der  fünfzehnte  Abschnitt  vereinigt  wieder  recht  Un- 
gleichartiges in  ungleichartiger  Folge.  Aufgaben  über  in  stetigem 
Verhältnisse  stehende  Zahlen,  Aufgaben  geometrischer  Einkleidung, 
Aufgaben    der   „Algebra   und   Almuchabala"  wechseln    ziemlich   bunt. 


Leonardo  von  Pisa  und  sein  Liber  Abaci.  33 

Bei  der  zuerst  geuanuten  Gattung  von  Aufgaben  sind  die  Zahlen- 
grössen  regelmässig  durch  Strecken  versinnlicht,  welche  bald  zwei 
Buchstaben,  bald  nur  einen  als  Bezeichnung  führen.  Im  letzteren 
Falle  bedeutet  die  einfache  Nebeneinanderstellung  zweier  Buchstaben 
deren  Summe  ^).  Die  in  geometrischer  Einkleidung  auftretenden  Auf- 
gaben sind  meistens  solche,  deren  Auflösung  von  einer  Anwendung 
des  pythagoräischen  Lehrsatzes  abhängt.  Einmal  handelt  es  sich 
z.  B.  um  die  Lage  eines  Brunnens,  der  gleich  weit  von  den  Spitzen 
zweier  Thürme  entfernt  sein  solP).  Gegeben  ist  die  Entfernung  der 
Thürme  von  einander  und  deren  beiderseitige  Höhen.  Man  verbindet 
die  beiden  Thurmspitzen  geradlinig  und  errichtet  auf  dieser  Ver- 
bindungslinie in  ihrer  Mitte  eine  Senkrechte,  so  trifft  letztere  bei 
gehöriger  Verlängerung  in  den  Brunnen  ein.  Der  Brunnen  liegt  für 
Jemand,  der  in  der  Grundebene  sich  befindet,  dem  höheren  Thürme 
näher  als  dem  niedrigeren,  kann  bis  zum  Fusse  des  höheren  Thurmes 
vorrücken  und  sogar  jenseits  desselben  zu  suchen  sein.  Nach  dieser 
Aufgabe  treten  unvermittelt  wieder  solche  auf,  bei  welchen  Zahlen 
in  stetiger  Proportion  wachsen.  Es  sind  Gewinnrechnungen ^),  bei 
denen  ein  Kaufmann  von  Ort  zu  Ort  reist  und  sein  Kapital  an  jedem 
Orte  in  gleichem  Verhältnisse  vermehrt.  Dann  wird*)  die  Auflösung 
der  unbestimmten  Gleichung  X"  -\-y^  =  a^  in  rationalen  Zahlen  ver- 
langt, woran  neuerdings  geometrische  Aufgaben^)  sich  anschliessen. 
Jene  unbestimmte  Gleichung  hat  auch  Diophant  (Bd.  I,  S.  450)  sich 
vorgelegt,  aber  die  Behaudlungsweise  ist  eine  wesentlich  andere  als 
bei  Leonardo,  wenn  auch  die  letzten  Gründe  der  beiden  Verfahren 
die  gleichen  sind.  Leonardo  geht  von  irgend  einem  pythagoräischen 
Zahlendreiecke    aus,    welches    a^-{-ß'^  =  'y^    bedingt.      Daraus    folgt 

( — ]  H"  (  )  ^=1  ^^d  daraus  I — j  +(  )  =  a^.  Aehnlicherweise 
werden  auch  verwandte  Aufgaben  behandelt,  und  zugleich  ist  wieder 
auf  das  Lihellum  de  quadrafis  verwiesen^).  Den  Abschnitt  und  mit 
ihm  das  ganze  Werk  beschliessen  erwähntermassen  Aufgaben  aus 
der  Algebra  und  Almuchabala '').  Gleich  zu  Anfang  giebt  eine  Rand- 
note Maumeht  zu  erkennen,  dass  es  die  Algebra  des  Alchwarizmi 
ist,  die  wir  hier  zu  erwarten  haben.     Wirklich   finden   wir  die  sechs 


^)  Leon.  Pisano  I,  395  Z.  32 — 33:  qiiia  est  sicut  a  ad  b  ita  g  ad  d, 
erit  ergo  ut  ab  ad  b  ita  gd  ad  d.  Vergleiche  damit  auch  pag.  397  Z.  8—9  sit 
summa  quadratorum  ah  22.5,  womit  gemeint  ist  a^ -)-&*=  225.  *)  Ebenda  pag. 
398—399.  3)  Ebenda  pag.  399—401.  *)  Ebenda  pag.  401—403.  '^)  Ebenda 
pag.  403 — 406.  ^)  Ebenda  pag.  403:  Nam  unde  hec  inventiones  precedunt  geo- 
metrice  demonstrata  sunt  in  libello,  quem  de  quadratis  composui.  ')  Ebenda 

pag.  406—459. 

Cautoe,  Geschichte  der  JMathem.    U.    2.  Aufl.  3 


34  41.  Kapitel. 

Gleichungsformen  ax^  ^=hx,  ax^  =  c,  hx  =  c,  ax^  -\-  hx  ^  c, 
hx-\-c  =  ax^,  ax^ -\-c^=^dx,  deren  drei  letzte  mittels  Division  durch 
a  zur  Auflösung  zubereitet  werden.  Wir  finden  die  gleichen  geo- 
metrischen Naehweisuugen  der  Richtigkeit  der  Auflösung  wie  bei 
Alchwarizmi  (Bd.  I,  S.  678).  Wir  finden  das  Zahlenbeispiel  x^-\- 10^=  39 
nebst  anderen  und  daneben  eine  zweite  Gruppe  von  Beispielen,  welche 
auf  Alkarchi  zurückweisen^).  Wir  finden  die  Bemerkung^),  dass  der 
Form  ax^  -{-c=^hx  regelmässig  zwei  Wurzel werthe  Genüge  leisten. 
Leonardo  geht  dann  noch  in  vielfältigen  Aufgaben  über  seine  Vor- 
lagen hinaus.  Die  gestellten  Fragen  führen  stets  zu  Gleichungen  von 
einer  der  sechs  Formen,  sofern  auch  Wurzel-  und  Potenzgrössen  als 
Vertreterinnen  der  Unbekannten  zugelassen  werden,  aber  Leonardo 
legt  in  der  Fragestellung  eine  Gewandtheit  an  den  Tag,  welche  auch 
dem  heutigen  Leser  Staunen  erregen  mag.  Die  Kunstausdrücke, 
deren  er  sich  bedient,  sind  census  für  das  Quadrat  der  Unbekannten, 
radix  (nicht  res  wie  im  12.  Abschnitte  vergl.  S.  22)  für  die  Un- 
bekannte selbst,  numerus  für  die  Gleichungsconstante. 

Wir  sind  in  der  Schilderung  des  Liber  Abaci  fast  unerträglich 
ausführlich  geworden,  während  es  eine  Zeit  gab,  in  welcher  man 
kaum  etwas  Anderes  von  demselben  rühmte,  als  dass  dort  fast  zuerst 
die  modernen  Zahlzeichen  mit  der  Null  und  dem  Stellungswerthe 
durchgängige  Verwendung  fanden  und  mit  dem  Buche  sich  in  weiteren 
und  weiteren  Kreisen  einbürgerten.  Die  Entschuldigung  der  Breite, 
mit  welcher  wir  berichtet  haben,  liegt  in  eben  dem,  was  wir  berichten 
durften,  liegt  in  dem  zahlreich  Merkwürdigen,  an  welchem  wir 
schweigend  vorübergingen.  Welch  ein  Werk!  Wir  kennen  eine 
ziemliche  Anzahl  von  Vorgängern  desselben  in  den  verschiedensten 
Sprachen,  aber  wo  ist  nur  entfernt  dessen  Gleichen?  Wir  wissen 
kaum,  was  wir  mehr  bewundern  sollen:  die  Möglichkeit,  dass  ein 
solches  Werk  am  Anfange  des  XIIL  Jahrhunderts  geschrieben  werden 
konnte  oder  die  Verstäudnissfähigkeit  dafür  an  dem  Kaiserhofe. 

Wohl  hätten  wir  an  unseren  Bericht  noch  diese  und  jene  Frage 
anzuknüpfen.  Wir  unterdrücken  sie  bis  auf  eine,  welche  wir  mehr 
stellen  als  beantworten.  Wir  erwähnten  (S.  5),  Leonardo  erzähle,  er 
habe  in  Allem,  was  er  auf  seinen  Reisen  gelernt,  den  Algorismus 
und  die  Bögen  des  Pictagoras  mit  inbegriffen,  nur  Stümperwerk 
—  quasi  errorem  —  gefunden  verglichen  mit  der  Methode  der  Inder. 
Was  verstand  er  unter  dieser  Methode?     Man  hat  diese  Frage  viel- 


1)  Wöpcke  hat  in  seinem  Eoctrait  du  Fakhri  (Paris  1853)  pag.  29  die  Auf- 
gaben zusammengestellt  welche  Leonardo  aus  Alchwarizmi  und  pag.  25 — 28 
diejenigen,  welche  er  aus  Alkarchi  geschöpft  zu  haben  scheint.  *)  Leon. 
Pisano  I,  409. 


Die  übrigen   Schriften  des  Leonardo  von  Pisa.  35 

fach  aufgeworfen,  mancherlei  Antworten  darauf  gegeben.  Dass  das 
Rechnen  mit  Stellungswerth  nicht  gemeint  sein  kann,  verbürgt  der 
Gegensatz  gegen  Algorismus.  Wir  schliessen  uns  der  Vermuthung 
an,  Leonardo  habe  unter  der  Methode  der  Inder  die  Methode  des 
falschen  Ansatzes  verstanden,  welche  ja  auch  in  einem  wahr- 
scheinlich aus  dem  Arabischen  übersetzten  Schriftstück  (Bd.  I,  S.  688) 
als  indischen  Ursprunges  bezeichnet  wird,  und  welche  in  dem  12.  Ab- 
schnitte des  Liber  Abaci  mit  einer  unverkennbaren  Vorliebe  und  Aus- 
führlichkeit behandelt  ist. 


42.  Kapitel. 
Die  übrigen  Schriften  des  Leonardo  von  Pisa. 

So  bedeutend  nach  allen  Richtungen  der  Liber  Abaci  war,  so 
bildete  er  doch  nicht  die  bedeutendste  schriftstellerische  Leistung 
seines  Verfassers.  Wir  müssen  jene  anderen  mit  der  ersten  Ausgabe 
des  Abacns  verglichen  späteren  Schriften  Leonardo's  nun  kennen 
lernen. 

Im  Jahre  1220  widmete  er\)  die  Practica  geometriae  einem 
Magister  Dominicus,  der  die  Ausarbeitung  einer  solchen  von 
ihm  gewünscht  hatte.  Die  Vermuthung^),  Magister  Dominicus  sei 
jener  Astrologe  gewesen,  der  bei  einem  Fach-  und  Zeitgenossen 
Guido  Bonatti  unter  dem  Namen  Dominicus  Hispanus  Erwähnung 
findet,  ist  von  so  hoher  Wahrscheinlichkeit,  dass  man  kaum  nach 
einer  anderen  wird  suchen  wollen.  Dass  Leonardo  auf  Anregung 
dieses  Freundes  das  neue  Werk  verfasste,  ist  wohl  mehr  als  nur 
stylistische  Wendung.  Leonardo's  Erstlingswerk  war  erschienen.  Bei 
vollendeter  mathematischer  Klarheit  und  Strenge  war  es  abschreckend 
schwierig.  Andrerseits  behandelte  es  Gegenstände,  welche  der  Kauf- 
mann mitten  im  Verkehre  des  Lebens  brauchen  konnte,  mitunter 
brauchen  musste.  Zwei  Gattungen  der  Leser  werden  wir  uns  dem- 
nach zu  denken  haben:  solche  die  um  des  Inhaltes  willen  die  Form 
mit  in  den  Kauf  nahmen,  solche  die  an  der  Form  selbst  Gefallen 
fanden,  Persönlichkeiten  der  letzteren  Art  wies  der  Kaiserhof  auf. 
Sie    waren    vorbereitet    zu    mathematischem    Denken    durch    die    seit 


^)  Leon.  Pisano  II,  1 — 224:  Incipit  pratica  geometriae  composita  a  Leo- 
nardo pisano  de  filijs  honaccij  anno  M''CC''XX''.  Bogasti  amice  Dominice  et 
reverende  magister,  ut  tibi  librum  in  pratica  geometriae  conscribereni.  *)  Bald. 
Boncompagni,  Intorno  ad  aleune  opere  di  Leonardo  Pisano  etc.  {Borna  1854) 
pag.  98  in  der  Note. 

3* 


36  42.  Kapitel. 

knapp  fünfzig  Jahren  vorhandenen  Uebersetzungen  aus  dem  Arabischen 
eines  Plato  von  Tivoli,  eines  Gerhard  von  Cremona,  vielleicht 
Anderer,  die  wir  nur  nicht  mehr  kennen.  Die  Astrologie,  vom  Kaiser 
selbst  geschätzt,  trug  auch  dazu  bei  Neigungen  zu  wecken,  welche 
seit  Jahrhunderten  in  einem  Todesschlafe  gefangen  lagen.  Nun  war 
der  Spanier  Dominicus  ein  Astrolog.  Man  kann  sich  ganz  gut  vor- 
stellen, er  habe  gewünscht  auch  in  geometrischen  Dingen  Unter- 
weisung durch  Leonardo  zu  erhalten,  durch  ihn,  der  in  Rechenkunst 
und  Algebra  als  vortrefflicher  Lehrer  sich  bewährt  hatte,  und  auf 
seinen  Wunsch  sei  die  Praxis  der  Geometrie  entstanden,  ein  Werk, 
welches  trotz  seines  Namens  für  die  Praxis  des  Lebens  nur  wenig 
bot,  kaum  einigen  wenigen  Feldmessern  Dienste  leisten  konnte.  Der 
Feldmesser  selbst  verlangte  nicht  die  geometrischen  Beweisführungen, 
nach  antikem  Muster  erfunden,  wenn  nicht  geradezu  alten  Schrift- 
stellern entnommen.  Waren  doch  in  den  für  Feldmesser  im  Alter- 
thum  zusammengestellten  Schriften  meist  nur  Regeln  gegeben,  wie 
man  zu  verfahren  habe;  warum  man  so  verfahre,  blieb  unerörtert, 
wenn  auch  einzelnen  feldmesserischen  Schriftstellern  nicht  unbekannt. 

Leonardo's  Praxis  der  Geometrie  erhebt  sich  durch  die  Beweis- 
führungen, welche  sie  enthält,  über  ihre  Vorbilder  aus  alter  Zeit. 
Sie  bleibt  ihnen  sehr  nahe  in  der  bunten  Abwechslung  zwischen 
metrologischen,  arithmetischen,  geometrischen  und  stereometrischen 
Lehren.  Die  Figuren  sind  mit  Buchstaben  versehen  und  hier  tritt 
fortwährend  der  Gegensatz  zu  Tage,  auf  welchen  wir  (S.  31  Anmerk.  2) 
schon  hingewiesen  haben.  Die  Buchstaben  folgen  theils  der  Anord- 
nung des  lateinischen,  theils  und  zwar  in  ihrer  grossen  Mehrheit  der 
des  griechisch-arabischen  Alphabetes.  Möglich,  dass  dadurch  eine 
Unterscheidung  zwischen  selbsterfundenen  und  einfach  übernommenen 
Beweisen  zu  gewinnen  ist,  möglich  auch  dass  Leonardo  die  Sitte 
seiner  arabischen  Lehrmeister  sich  so  sehr  angeeignet  hatte,  dass  sie 
ihm  auch  da  zur  zweiten  Natur  geworden  war,  wo  er  selbständiger 
arbeitete.  Li  diesem  Falle  müsste  man  Gründen  nachspüren,  welche 
wenigstens  seltene  Abweichungen  von  der  Gewohnheit  hervorbrachten. 
Leonardo  beginnt  mit  Definitionen.  Maasstabellen  folgen  und  auf 
diese  Rechnungsvorschriften  an  benannten,  theilweise  auch  an  unbe- 
nannten Zahlen.  Dann  erst  kommt  eigentlich  Geometrisches,  aber 
auch  wieder  mit  Arithmetischem  untermischt.  Wir  heben  nun  Einzel- 
heiten aus  verschiedenen  Gebieten  hervor. 

Der  pythagoräische  Lehrsatz^)  ist  durch  Fällung  einer  Senk- 
rechten von   der  Spitze  des  rechten  Winkels  auf  die  Hypotenuse  und 

1)  Leon.  Pisano  II,  32. 


Die  übrigen  Schriften  des  Leonardo  von  Pisa.  37 

durch  Beachtung  der  Aehnlichkeit  der  eutstehenden  Dreiecke  be- 
wiesen. —  Ein  eigenthümlich  auftretendes  Wort  casus  bedeutet  den 
Abschnitt,  der  durch  die  von  der  Spitze  eines  Dreiecks  auf  die  Grund- 
linie gefällte  Senkrechte  auf  der  Grundlinie  hervorgebracht  wird. 
Der  Einfallspunkt  dieser  Senkrechten,  an  den  man  zu  denken  geneigt 
sein  könnte,  kann  nicht  gemeint  sein,  da  einmal  von  maior  casus  und 
von  minor  casus  im  Gegensatze  zu  einander  die  Rede  ist^).  -^  Die 
Ausmessung  des  Dreiecks  als  Rechteck  aus  der  Grundlinie  und  der 
halben  Höhe^)  ist  an  der  gleichen  Figur  gezeigt,  deren  später  Ganeya 
in  Indien  (Bd.  I,  S.  614)  sich  bediente.  —  Die  heronische  Dreiecks- 
fbrmel  ist  mit  einem  Beweise^)  versehen,  welcher  dem  als  heronisch 
überlieferten  ähnelt,  ohne  ihm  völlig  gleich  zu  sein.  —  Es  giebt 
sechserlei  Vierecke'^),  nämlich  die  fünf  euklidischen  Arten  und  ausser- 
dem —  als  fünftes  in  der  Aufzählung  zwischen  das  Rhomboid  und 
das  unregelmässige  Viereck  eingeschaltet  —  das  Paralleltrapez,  quae 
habet  capita  ahscissa,  und  von  diesem  letzteren  giebt  es  wieder  vier 
Unterarten^),  je  nachdem  das  Paralleltrapez  gleichschenklig,  recht- 
winklig, an  beiden  Seiten  der  Basis  spitzwinklig  ohne  Gleichschenklig- 
keit, oder  an  einer  Seite  der  Basis  spitzwinklig,  an  der  anderen 
stumpfwinklig  ist.  Hier  erscheinen  also  euklidische  und  heronische 
Erinnerungen  gemengt,  letztere  in  vermuthlich  reinerer  Gestalt  als 
die  griechische  Ueberlieferung  uns  aufbewahrte.  Ausserdem  ist  auch^) 
von  der  figura  harhafa  die  Rede  d.  h.  von  dem  (Fig.  7)  Vierecke  mit 
einspringendem  Winkel,  das  xoUoycövLOv  (Bd.  I,  S.  341) 
des    Zenodorus.  —    Das  Verhältniss  des  Kreisumfanges 

zum   Durchmesser    ist    in    der    Form  ^)  ~~--  <C  tc  <  ——- 

4  1 

angegeben.    Das  arithmetische  Mittel  von  -—  und  -r-  ist 

—  oder  beinahe       .     Leonardo  von  Pisa  sagt  -~  sei 

in   medio   zwischen   den   genannten    Grenzen   und  formt  ^'s-  '^■ 

..  1440       4320       864    ,    ,  ,    ,  34,56        o-<^ioio 

weiter  um  zu  71^=----=^-—-:  =  —-  d.  h.  er  setzt  jr  =  ----=- 3,141818  .. . 

—  Die  Theilnng  von  Figuren^)  ist  augenscheinlich  einer  arabischen 
Bearbeitung  von  Euklid's  gleichnamigem  im  Urtexte  uns  verlorenem 
Buche  nachgebildet.  —  Trigonometrische  Betrachtungen  lehnen  sich 
an  Ptolemäus   an.     Insbesondere   ist    diesem    Schriftsteller  der  Beweis 


^)  Leon.  Pisano  II,  35lin.  21  und22.     ^)  Ebenda pag. 35.     ^)  Ebenda  pag. 40. 
^)  Ebenda  pag.  56.         ^)  Ebenda  pag.  78.  *')  Ebenda  pag.  83.  '')  Ebenda 

pag.  90.  Vergl.  Hultsch  in  Zeitschr.  Math.  Phys.  XXXIX  Histor.-liter.  Abtlg, 
S.  170  und  Weissenborn,  Die  Berechnung  des  Kreisumfanges  bei  Archimedes 
und  Leonardo  Pisano  (Berlin  1894)  S.  30  flg.  «)  Leon.  Pisano  II,    110—148. 


38 


42.  Kapitel. 


des  Satzes^)  entuommen,  dass  Bögen  in  gi-össerem  Verhältnisse  stehen 
als  die  zugehörigen  Sehnen.  Der  Kunstausdruck  sinus  versus  arcus-) 
hat  wohl  von  Plato  von  Tivoli  her  Eingang  gefunden. 

In  der  praktischen  Feldmesskunst  sind  einige  Kunstgriffe  ge- 
lehrt, welche  wohl  von  Alters  her  in  Uebung  waren.  Einzelnes^) 
zeigt  eine  fast  wörtliche  Uebereinstimmung  mit  erhaltenen  Bruch- 
stücken des  Frontinus  (Bd.  I,  S.  513).  Anderes^)  erinnert  täuschend 
an  Gerbert.  Höhenmessungen  mittels  eines  massiven  hölzernen  Drei- 
ecks und  mittels  eines  Quadranten  werden  gelehrt  und  durch  gute 
Zeichnungen  erläutert.    Der  Quadrant  (Fig.  8)  besteht,  wie  sein  Name 

es  ausdrückt,  aus  dem  vierten  Theile 
eines  Kreises,  dessen  Bogen  in  16  gleiche 
Theile  getheilt  ist,  während  eine  vqm 
Kreismittelpunkte  ausgehende  Gerade 
den  dort  durch  die  beiden  den  Qua- 
dranten begrenzenden  Halbmesser  ge- 
bildeten rechten  Winkel  halbirt.  Von 
dem  Durchschnittspunkte  dieser  Geraden 
mit  dem  Quadrantenbogen  gehen  den 
genannten  Halbmessern  parallel  wieder 
zwei  feste  in  je  10  gleiche  Theile  ge- 
theilte  Gerade  aus.  Visirt  man  längs  dem 
einen  Grenzhalbmesser  nach  einem  entfernten  Höhen-  oder  Tiefpunkte, 
so  schneidet  ein  vom  Mittelpunkte  herabgelassener  Bleisenkel  den  ge- 
theilten  Bogen  und  eine  der  getheilten  Geraden.  Auf  jenem  liest  man  die 
Grösse  des  eingestellten  Winkels,  auf  dieser  dessen  Tangente,  beziehungs- 
weise dessen  Cotangente  ab.  Eine  Senkrechte  von  einem  Punkte  auf 
eine'  gegebene  Gerade  auf  dem  Felde  wird  folgendermassen  gefällt''). 
Der  Feldmesser  stellt  sich  in  dem  Punkte  auf,  von  welchem  die  Senk- 
rechte ausgehen  soll,  befestigt  daselbst  ein  Seil  und  begiebt  sich  mit 
dem  anderen  Seilende  nach  jener  Geraden  hin,  wo  dem  Augenmaasse 
nach  die  Senkrechte  ungefähr  eiutrefi'en  wird.  Das  Seil  wird  jetzt 
gespannt,  so  dass  es  über  die  Grundlinie  etwas  hinausreicht,  dann 
aber  werden  die  zwei  Punkte  der  Grundlinie  bemerkt,  in  welche  die 
ganze  Seillänge  genau  eintrifft.  In  der  Mitte  zwischen  beiden  ist  der 
richtige  Höhenpunkt.  Als  eine  beim  Feldmessen  nothwendige  Vor- 
richtung wird  auch  noch  das  Archipendulum  genannt^),  ein  massives 
gleichschenkliges  Dreieck  mit  einem  an  der  Spitze  befestigten  Faden, 
an  welchem  ein  Bleistück  hängt  (filum  cum  plumbo). 

1)  Leon.   Pisano   II,   97.  *)  Ebenda  pag.  94.         ^)  Ebenda  pag.  107. 

*)  Ebenda  pag.  202—206.    Vergl.  Agrimensoren  S.  180—181.       ^)  Leon.  Pisano 
II,  43.         «)  Ebenda  pag.  108. 


Fig.  8. 


Die  übrigen  Schriften  des  Leonardo  von  Pisa.  39 

In  der  stereometrischen  Abtheilung  finden  wir^)  einen  Auszug 
aus  dem  XL,  XII.,  XIII.  Buche  des  Euklid  und  aus  jenem  Buche  des 
Hypsikles,  welches  unter  dem  Namen  eines  XIV.  Buches  des  Euklid 
mitgeführt  wurde.  Die  Aufgaben  sind  abgesondert  und  den  Lehr- 
sätzen nachgeschickt,  auch  sonstige  muthmasslich  selbständige  Ab- 
änderungen in  der  Reihenfolge  der  beweislos  ausgesprochenen  Sätze 
sind  wahrnehmbar.  Es  ist  nicht  unmöglich,  dass  Leonardo  sich  einer 
Uebersetzung  des  Gerhard  von  Cremona  bedient  hat^).  Von  Sätzen, 
welche  bei  Euklid  sich  noch  nicht  finden,  erwähnen  wir  nur  den 
von  der  Gleichheit  des  Quadrates  der  Diagonale  eines  rechtwinkligen 
Parallelepipedon  mit  der  Summe  der  Quadrate  dreier  in  einem  Eck- 
punkte aneiuanderstossenden  Seiten^).  Als  bei  griechischen  Geometern 
noch  nicht  bewiesen  hätten  wir  vielleicht  schon  oben  des  plani- 
metrischen  Satzes  von  dem  gemeinsamen  Durchschnitte  der  drei  Mittel- 
linien eines  Dreiecks*)  gedenken  sollen.  Allerdings  wusste  Archimed, 
dass  das  Dreieck  nur  einen  Schwerpunkt  besitze,  und  dass  er  als 
Durchschnittspunkt  irgend  zweier  Mittellinien  gefunden  werde.  Aber 
damit  war  doch  kein  eigentlich  geometrischer  Beweis  geliefert,  und 
ein  solcher  ist  der  Leonardo's  (Figur  9).  Die  Mittellinie  hz  wird  ver- 
längert, bis  sie  in  i  eine  durch  a  gezogene  Parallele  zu  hg  schneidet 
Nun  ist  Aaizc\)ghz,  und  wegen  as=^gz 
findet  nicht  bloss  Aehnlichkeit  sondern 
Congruenz  statt,  d.h.  es  ist  ai=gh  =  2 eh. 
Ausserdem  ist  /\aidcoehd,  folglich  wegen 
ai  =  2ch  auch  a(Z=2e^,  der  Schnitt- 
punkt einer  Mittellinie  durch  eine  andere 
theilt  die  erstere  im  Verhältnisse  von  2:1, 
kann  also  nur  einer  sein,  welche  Mittel- 
linie man  auch  als  Schneidende  wähle. 

Auch  Arithmetisches  und  Algebraisches  ist  zu  berichten.  Das 
Wort  figura  cata  tritt  auf^),  unsere  frühere  Erläuterung  dieses  Aus- 
druckes durchaus  bestätigend.  Es  begegnet  uns  die  Behauptung^), 
jede  Gleichung  x'^  -\-  c^hx  habe  zwei  Wurzel werthe,  wobei  allerdings 
ebensowenig  wie  im  15.  Abschnitte  des  Abacus  (S.  34)  der  Möglich- 
keit gedacht  ist,  es  könnte,  auch  einmal  x  =  ^  ^®^^'  Quadratwurzel- 
ausziehungen aus  benannten  Flächenzahlen''),  Kubikwurzelausziehungen 
aus    unbenannten    Zahlen^)    werden    vorgenommen,    welche    mit   dem 

1)  Leon.  Pisano   11,  159—162.         ^)  Curtze    brieflich.  "")  Leon.  Pi- 

sano    n,    163.  *)    Ebenda   pag.    112—113.  ^)    Ebenda  pag.   52   und  54. 

")  Ebenda  pag.  60.  ^)  Ebenda  pag.  23.  VergL  hierzu  Hunrath,  Die  Berech- 
nung irrationaler  Quadratwurzeln  vor  der  Herrschaft  der  Decimalbrüche  (Kiel 
1884),  S.  SOflgg         8)  Leon.  Pisano  II,  148—153.    Hunrath  I.e.  S.  35— 36. 


40  -i--  Kapitel. 

Verfahreu  im  Abacus  (S.  32)  übereinstimmen.  Endlich  und  gewiss 
am  unerwartetsten  in  einem  praktisch-geometrischen  Werke  stossen 
wir  auf  eine  zahlentheoretische  Aufgabe.  Es  solP)  eine  Quadratzahl 
gefunden  werden,  welche  um  5  vermehrt  wieder  eine  Quadratzahl 
gebe.  Leonardo  löst  die  Aufgabe  nach  zwei  Verfahreu,  welche  er 
zwar  nur  an  den  bestimmten  Zahlenwerthen  ausübt,  welche  aber 
leicht  verallgemeinert  zur  Darstellung  sich  eignen.  Soll  x^  -\-  u 
neuerdings  Quadratzahl  sein,   so   wählt  man  erstens  eine  Quadratzahl 

a-<iu  und  setzt  dann    (x -\- af  =  x^ -{- ii ,  worauf  sogleich  x^ — 

gefunden  ist.  Die  zweite  Methode  unterscheidet  zwei  Fälle,  den 
eines   ungraden   und   eines   graden   n.     Bei  ungradem  u=^2n-\-l  ist 

augenscheinlich  1  +  3  -| [-(^^* — l)=w-  und  1  -}-3H hC^w — 1) 

-\- (2n -\-l)  =^{n-\- ly.  Die  gewünschte  Quadratzahl,  welche  um  ii 
^  2  «  -)- 1  vergrössert  eine  neue  Quadi-atzahl  giebt,  ist  also  n^  =  C—^ — )  • 

Bei    durch  4  theilbarem  u  =  4:n  =  (2n  —  1) -\-['2n-{-l)istl-\-'d -\ 

+  (2n  — 3)=(w— 1)2,  1  +  3H \-{2n  —  3)-\-{2n—l)-\-(2u-i-l) 

=  (n-f-l)^.  Die  gewünschte  Quadratzahl  ist  also  (a — l)-=l  —  - — |  • 
Es  fehlt  noch  die  Möglichkeit  des  durch  2,  aber  nicht  durch  4  theil- 

— ) 
-j- ^(  =  (— I  •     Bei  v  =  2  sagt  uns  diese  Erwägung,  man  solle  zuerst 

(    ^*~   j  -\- Au  =  {u -\- ly  setzen,   um   sodann  (— -^ — j  -\-u^^  r~^   j 
zu  folgern,  allerdings  keine  ganzzahlige  Auflösung,  welche  aber  unter 
der  gemachten  Voraussetzung  gar  nicht  möglich  ist. 

So  der  Inhalt  jenes  zweiten  Werkes  Leonardo's.  Hatte  das  erste 
schon,  wie  wir  annahmen,  seine  Bekanntschaft  mit  Persönlichkeiten 
des  kaiserlichen  Hofstaates  vermittelt,  so  dürfte  auf  das  zweite  hin 
die  Neugier  des  Kaisers  selbst  rege  gemacht  worden  sein,  der  den 
merkwürdigen  Mann,  den  Wiedererwecker  alter  Wissenschaft  und 
Erfinder  neuer  Sätze,  kennen  lernen  wollte.  Jedenfalls  erfolgte  die 
Vorstellung  Leonardo's,  die  wir  in  doppeltem  Sinne  als  Vorstellung 
bezeichnen  dürfen,  da  Leonardo  nicht  bloss  dem  Kaiser  zugeführt 
wurde,  sondern  in  dessen  Gegenwart  Aufgaben  löste,  welche  man  ihm 
zu  diesem  Zwecke  vorlegte.  Wann,  wo  fand  dieses  Ereigniss  statt? 
Nach  der  Vorstellung  entstanden  zwei  Schriften,  welche  uns  scheinbar 
beide  Fragen  unzweideutig  beantworten.  Liber  quadratorum  und 
Fl  OS  verfolgen  beide  den  Zweck,  die  Methoden  zu  schildern,  nach 
welchen  Leonardo  che  ihm  gestellten  Aufgaben  löste,  und  sie  nennen 
den  Ort,  wo  Leonardo  bei  Hofe  erschien.  Der  Liber  quadratorum  ist 
wiederholt  in   der  zweiten  Ausgabe  des  Abacus  genannt,   mithin  vor 

1)  Leon.  Pisano  II,   216—218. 


Die  übrifjen  Schriften  des  Leonardo  von  Pisa.  41 

1228  verfasst,  wenn  dieses  das  Jahr  ist,  in  welchem  die  zweite  Aus- 
gabe des  Abacus  erfolgte.  Damit  steht  in  vortrefflicher  Ueberein- 
stimmung,  dass  als  Entstehungsjahr  des  Liber  quadratorum  1225  an- 
gegeben ist^).  Die  Vorstellung  dürfte  daher  in  eben  diesem  Jahre 
oder  wenigstens  nicht  allzulange  früher,  etwa  1224,  stattgefunden 
haben.  Nun  aber  der  Ort  der  Vorstellung!  Im  Liber  quadratorum 
heisst  es  gleich  nach  der  Ueberschrift  in  Worten,  welche  an  seine 
Hoheit  den  glorreichen  Fürsten  F.,  also  offenbar  an  Kaiser  Friedrich 
gerichtet  sind,  Meister  Dominions  —  worunter  offenbar  wieder  jener 
Spanier  gemeint  ist,  welchem  die  Praxis  der  Geometrie  zugeeignet 
ist  —  habe  Leonardo  vorgestellt,  und  zwar  cum  me  pisis  duceret 
praesentandum.  Damals  sei  Magister  Johannes  von  Palermo  zugegen 
gewesen,  der  ihm  Fragen  vorgelegt  habe.  Die  hier  in  lateinischer 
Sprache  angeführten  Worte  können  entweder  bedenten,  Dominicus 
habe  Leonardo  aus  Pisa  hingeführt  oder  er  habe  ihn  in  Pisa  hin- 
geführt, um  vorgestellt  zu  werden.  Hier  ist  nur  die  letztere  Ueber- 
setzung  zulässig,  denn  im  Flos  findet  sie  ausdrückliche  Bestätigung^). 
In  Gegenwart  Eurer  Majestät,  glorreicher  Fürst  Friedrich,  hat  Euer 
Philosoph,  Magister  Johannes  von  Palermo  sich  in  Pisa  ausführlich 
über  die  Eigenschaften  der  Zahlen  besprochen  und  mir  dabei  zwei 
Aufgaben  gestellt.  So  erzählt  Leonardo  im  Flos,  und  womöglich 
noch  bestimmter  klingt  eine  zweite  Stelle  derselben  Abhandlung: 
Diese  Frage  hat  mir,  mein  Kaiser  und  Herr,  in  Eurem  Palaste  in 
Pisa  in  Gegenwart  Eurer  Majestät  Magister  Johannes  von  Palermo 
vorgelegt.  Wir  wiederholen  also  unsern  Ausspruch,  es  sei  scheinbar 
unzweideutig  festgestellt,  dass  Leonardo  spätestens  1225,  vielleicht 
schon  1224  in  Pisa  dem  Kaiser  persönlich  bekannt  wurde.  Aber 
warum  wiederholen  wir  abermals  das  Wort  scheinbar?  Weil  die  mit 
grosser  Sorgfalt  gesammelten  Regesten  Kaiser  Friedrich  II.  zu  erkennen 
geben,  dass  dieser  vor  Juli  1226  überhaupt  nicht  in  Pisa  war,  und 
damals  auch  nur  flüchtig,  dann  erst  wieder  Ende  December  1239, 
August  1244,  Mai  1245,  April  1247,  Mai  1249  ^j.  Zwischen  diesen  fest- 
gestellten Daten  und  einer  schon  vor  1225  vorgekommenen  öffentlichen 
wissenschaftlichen  Vorstellung  in  Gegenwart  Friedrichs  im  Kaiser- 
palaste zu  Pisa  ist  ein  so  klaffender  Zwiespalt,  dass  wir  ihn  nicht 
zu  überbrücken  vermögen. 

Magister  Johannes  von  Palermo,  magister  Johannes  panor- 
mitanus,   der  Philosoph   des  Kaisers,   dürfte  wohl   derselbe  Hofmanu 

1)  Leon.  PisanoII,  253:  Incipit  Jiber  quadratorum  composüiis  a  Leo- 
nardo Pisano.  Anni  3I.CC. XXV.  ^)  Ebenda  pag.  227  und  pag.  234.  =^)  Wir 
verdanken  diese  Angaben  Hrn.  Eduard  "Winkelmann,  vrelcher  uns  deren 
Benutzung  gütigst  gestattete. 


42  42.  Kapitel. 

sein,  welcher  als  Notar  und  Getreuer  des  Kaisers  bezeichnet^)  im 
Mai  1221  zu  Catane  eine  Urkunde  Friedrich's  zu  Gunsten  eines 
Klosters  bei  Messina  ausfertigte,  und  welcher  auch  1240  noch  vom 
Kaiser  in  wichtigeren  Angelegenheiten  beschäftigt  wurde  ^).  Die  Auf- 
gaben, welche  er  Leonardo  stellte,  bezeugen,  dass  er  auch  als  tüchtiger 
Mathematiker  betrachtet  werden  muss,  wenn  er  es  wirklich  war,  der 
jene  Aufgaben  ersann,  wenn  er  nicht  etwa  ein  Freund  Leonardo's 
war,  der  durch  ihn  selbst  bis  zu  einem  gewissen  Grade  wenigstens 
angewiesen  worden  war,  welcherlei  Fragen  ihm  zur  schleunigen 
Beantwortung  erwünscht  seien.  Jedenfalls  hält  es  nicht  schwer,  den 
Keim  der  Aufgaben  bei  der  Pisaer  Vorstellung  in  Leonardo's  Schriften 
ausfindig  zu  machen. 

Die  erste  Aufgabe  ging  dahin,  eine  Quadratzahl  zu  finden,  welche 
um    5    vermehrt    und    vennindert    neue  Quadratzahlen    liefere ,    und 

(5\-  97 

3~)  ==ll.i,  •      Es    ist    auch    wirklich 

"iS  +  »  =  Ißffi  =  i^hf  -d  "i^  -  ^  =  6ffi  =  (4)'-  Wie 
sollten  wir  uns  hier  nicht  an  jene  Aufgabe  aus  der  Praxis  der  Geo- 
metrie erinnert  fühlen,  welche  verlangte  eine  Quadratzahl  zu  finden, 
die  um  5  vermehrt  abermals  eine  Quadratzahl  liefere?  Neu  war  nur 
die  zusätzliche  Bedingung,  dass  auch  die  Verminderung  um  5  eine 
Quadratzahl  hervorbringen  müsse.  Und  auch  sie  war  keineswegs  neu, 
und  ein  Schüler  arabischer  Zahlen theoretiker  war  in  der  Lage,  die  Auf- 
gabe ebensowohl  als  ihre  Auflösung  zu  kennen.  Diophant  hatte 
gelehrt:  In  jedem  rechtwinkligen  Dreiecke  bleibt  das  Quadrat  der 
Hypotenuse  auch  dann  noch  ein  Quadrat,  wenn  man  das  doppelte 
Product  der  Katheten  davon  abzieht  oder  dazu  addirt.  Araber  be- 
schäftigten sich  (Bd. I,  S.  708 — 711)  weitläufiger  mit  dem  Gegenstande 
und  gelangten,  indem  sie  von  rationalen  rechtwinkligen  Dreiecken 
ausgingen,  zu  den  nur  ganze  Zahlen  enthaltenden  Endgleichungen 
(rt-  +  h'-f  +  4ah(a-  —  h^)  =  (a^  —  ^"  i  2ff&)^.  Allein  wenn  wir 
auch  die  Voraussetzung,  Leonardo  habe  diese  Ergebnisse  gekannt, 
für  berechtigt  halten,  so  sind  wir  doch  weit  entfernt,  ihm  dadurch 
den  Makel  anheften  zu  wollen,  als  habe  er  nur  wiederholt,  was  An- 
dere vor  ihm  leisteten.  Leonardo  ging  seine  eigenen  Wege,  welche 
von  denen  Diophant's,  von  denen  der  Araber  verschieden  waren, 
welche  er  dagegen  schon  in  der  Praxis  der  Geometrie  bei  der  un- 
vollständigeren   Aufgabe    eingeschlagen    hatte    (S.  40).      Seinen    Aus- 


^)  Huillard-Breholles,  Historia  diplomatica  Friderici  II  imper.  II,  185; 
per  manus  loannis  de  Pmiormo  notarii  et  fidelis  nostri.  *)  Ebenda  V,  726,  727, 
745,  928. 


Die  übrigen  Schriften  des  Leonardo  von  Pisa.  43 

gangspuukt  bildet  der  Satz  von  der  Entstehung  jeder  Quadratzahl  ii^ 
als  Summe  der  n  ersten  ungi-adeu  Zahlen  1  -f-  3  +  5  -[-•••  -f-  (2«  —  1). 
Eine  Folge  desselben  ist  der  weitere  Satz^),  dass,  wenn  zwei  auf- 
einander folgende  Zahlen  der  natürlichen  Zahlenreihe  zusammen  eine 
Quadratzahl  bilden,  das  Quadrat  der  grösseren  Zahl  jedesmal  Summe 
zweier  Quadratzahlen  sei.  Moderne  Bezeichnung  gestattet  leicht  die 
Richtigkeit  des  Satzes  einzusehen.     Es  ist  immer 

(«,  +  \f  =  cC-  +  (]/«  +  {a  +  1  ))^ 

und  damit  auch  das  zweite  Quadrat  rechts  vom  Gleichheitszeichen 
eine  rationale  Wurzel  besitze,  ist  hinreichend  und  nothwendig,  dass  a 
und  a  -\-  1  eine  quadratische  Summe  besitzen.  Durch  seinen  Satz  ist 
Leonardo  in  den  Stand  gesetzt,  beliebig  viele  ganzzahlige  rechtwink- 
lige Dreieckg  herzustellen,  und  zwar  in  einer  ihm  eigenthümlichen 
Weise.  Aber  das  gleiche  c^,  welches  der  Gleichung  er  -f-  ?>"  =  c- 
genügt,    kann    auch    als    Summe    gebrochener    Quadrate    dargestellt 

werden^).     Es  sei  bekannt  d' -\- e^  =  p,  so  folgt  leicht  ~  -j-  ^  ^  1, 

(7)'  +  (7)'  =  ^'-  ^""'^  ^°^^^  ^^^^^"^  ^®^  ^^^^ ')'  ^^^^  ("'  +t^')  (^'  +  ^^') 
auf  zwei  verschiedene  Arten  als  Summe  zweier  Quadrate  dargestellt 
werden  könne,  vorausgesetzt,  dass  die  Zahlen  a,  h,  c,  d  keine  Pro- 
portion bilden,  d.  h.  dass  weder  a  :h  =  c:d  noch  a:h=  d:c.  Auch 
das  war  nicht  neu.  Diophant  hatte  eine  ganz  ähnliche  Behauptung 
ausgesprochen  (Bd.  I,  S.  451),  aber  die  hinzutretende  Bedingung  ist 
von  Leonardo  beigefügt,  und  sie  giebt  uns,  falls  wir  sie  dahin  aus- 
sprechen, es  dürfe  weder  ad  =  hc  noch  ac  =  hd  sein,  die  Gewähr, 
dass  Leonardo  die  Zerlegungen 
(«2  +  l-) ic'  +  ä")  =  (a c 4-  5 d)-  +  {a d—hc)-  =  (nd-{-h cf  +  (ac—h df 

genau  studirt  hatte.  Wie  Leonardo  in  den  bereits  von  uns  ge- 
nannten Sätzen  über  seine  Vorgänger  sich  erhob,  so  auch  im  weiteren 
Verlauf  des  Liber  quadratorum.  Archimed  hat  die  Summe  der  mit  1 
beginnenden  Quadratzahlen  gebildet  (Bd.  I,  S.  298).  Andere  sind  ihm 
gefolgt.  Leonardo  summirt  in  ungemein  geistreicher  Weise  die  un- 
graden  sowie  die  graden  Quadratzahlen,  jedes  für  sich^).  Er  be- 
dient sich  dabei  der  Identität  y(r  +  2)(2r-f  2)=(r-2)r(2r-2)  +  12r-. 
Nimmt  in  ihr  r  alle  ungraden  von  r  =  3  beginnenden  Werthe  der 
Reihe  nach  an,  nachdem  man  schon  vorher  die  von  selbst  einleuch- 
tende Identität  1  •  3  •  4  =  12  •  1^  anschrieb,  und  setzt  Alles  unter- 
einander, so  entsteht: 

^)  Leon.  Pisano  II,  254.       ^)  Ebenda  j^ag.  256.        ■')  Ebenda  pag.  257  flg. 
*)  Ebenda  pag.  263  flg. 


44  42.  Kapitel. 

1-3-    4=  12 -P, 

3.5-    8  ==  1  •  3  •  4  +  12  •  3^ 
5  •  7  ■  12  =  3  •  5  •  8  +  12  •  52, 


>-(r  +  2){2r  +  2)  =  (r  — 2)r(2r  —  2)  +  12  •  r\ 

Addirt  man  diese  Gleichungen,  indem  mau  die  Glieder  streicht,  welche 
links  und  rechts  in    gleicher  Weise  erscheinen,   so  bleibt  zuletzt  nur 

r(r  +  2)(2r  +  2)  =  12(1^  +  3-  +  5^  -j \-  r^)   übrig.     Es  ist  leicht 

ersichtlich,  wie  man  auch  statt  r  sämmtliche  gerade  Zahlen  einsetzen 
kann.     Dadurch  entsteht : 

2.4-6=  12-22, 

4  .  6  •  10  =  2  •  4  •    6  +  12-42, 
6  •  8  •  14  =  4  •  6  ■  10  +  12  •  6--, 


r  (■>•  +  2)(2r  +  2).=  (/•  —  2)r{2r  —  2)  +  12  •  r^ 

mit    der    Summe    r{r  +  2)  (2;-  +  2)  =  12(2--  -f  4-  +  6^  -| \-  r-). 

Weitergehend  erörtert  Leonardo  eine  aus  zwei  ganzen  Zahlen  a,  h  ge- 
bildete Zahl^),  welche,  jenachdem  die  Summe  a  -\-h  grad  oder  un- 
grad  ist,  entweder  aJ){a-\-h){a — h)  oder  4aZ^(a-}- &)(«  —  &)  heisst.  Im 
einen  wie  im  anderen  Falle  ist,  wie  Leonardo  streng  nachweist,  die 
Zahl  durch  24  theilbar.  Das  ist  die  Zahl,  deren,  wie  wir  oben  in  Er- 
innerung brachten,  die  Araber  sich  bei  der  Aufgabe  drei  eine  arith- 
metische Progression  bildende  Quadratzahlen  zu  finden  bedienten,  nur 
dass  Leonardo  wieder  weiter  ging.  Von  ihm  stammt  jener  Theilbar- 
keitssatz,  der  mit  der  Hauptaufgabe  in  keinerlei  Verbindung  steht, 
dafür  aber  an  sich  von  zahlentheoretischem  Literesse  ist.  Jetzt  kommt 
auch  Leonardo  zur  eigentlichen  Hauptaufgabe^).  Jede  der  drei  in 
arithmetischer  Progression  stehenden  Quadratzahlen  x^ ,  x^,  x^^  (wo- 
bei x^  <  a-2  <  x^  angenommen  ist)  entstand  als  Summe  aufeinander- 
folgender, mit  der  1  beginnender  ungrader  Zahlen.  Es  muss  also 
x,f  aus  den  gleichen  Ungraden  wie  x^  bestehen,  nur  um  einige  ver- 
mehrt, ebenso  auch  aus  den  gleichen  Ungraden  wie  x^-,  nur  um 
einige  verringert.  Mit  anderen  Worten,  die  unter  sich  gleichen 
Unterschiede  xj^  —  x^  =  x^  —  x^  sind  gebildet,  die  erste  durch 
einige  ungrade  Zahlen  unterhalb  2x^  —  1  mit  dieser  abschliessend, 
die  zweite  durch  einige  ungrade  Zahlen  oberhalb  2x^-\-  1  mit  dieser 


^)  Leon.   Pisano    H,  264.  *)   Yergl.   namentlich    über    diese    Aufgabe 

einen  commentirenden  Aufsatz  von  Ang.  Genocchi  in  den  von  Torto- 
lini  herausgegebenen  Anndli  di  scienze  matematiche  e  fisiclie  (Rom  1855)  VI, 
273—320. 


Die  übrigen  Schriften  des  Leonardo  von  Pisa  45 

beginnend,  wobei,  wegen  des  fortwährenden  Zunehmens  der  ungraden 
Zahlen ,  die  Anzahl  derer,  welche  die  Summe  in  der  Form  x^  —  x^^ 
lieferte,  höher  ist  als  die  Anzahl  derer,  welche  x^  —  x^  hervor- 
bringen, z.  B.  25  —  1  =  3  +  5  +  7  +  9,  49  —  25  =  11  +  13.  Der 
Unterschied  selbst  ist  eine  durch  24  theilbare  Zahl  von  der  oben  er- 
wähnten Natur  und  heisst  ein  Congruum^),  die  Quadrate  x^-  und 
x^  heissen  congruentes^)  und  Leonardo  zeigt  nun,  wie  ein  Con- 
gruum  zu  finden  sei.  Er  zeigt  auch,  dass  ein  mit  einer  Quadratzahl 
vervielfachtes  Congruum  die  Eigenschaft  ein  Congruum  zu  sein  bei- 
behalte, und  dieser  Satz  bietet  die  Handhabe  zur  Lösung  der  Auf- 
gabe, bei  gegebener  Differenz  die  drei  Quadrate  zu  finden,  falls  die 
Differenz  nicht  durch  24  theilbar,  also  sicherlich  kein  ganzzahliges 
Congruum  ist.  So  war  es  in  dem  von  Johann  von  Palermo  auf- 
gegebenen Beispiele  mit  der  Differenz  5.  Leonardo  sucht  zuerst  ein 
ganzzahliges  Congruum  von  der  Form  by^  und  findet  es  als 

720  =  5  •  122  =  4  .  5  ■  4  (5  -f  4)(5  —  4), 

d.  h.  bei  a  =  5,  &  =  4.  Diese  Werthe  geben  —  a^  -\-2ah  -\-  Ir  =  31, 
a^J^¥  =  Al,  «2  _}_  2a&  —  62  =  49  x,nd  31^  +  720  =  41-, 
4P  -|-  720  =  49-.  Endlich  ist  also  nur  noch  durch  12^  Alles  zu 
dividiren,  um  zu  den  Gleichungen  (— j  -f-  5  =  ( —  j  ,    f -- j  -\-b  =  ( — ) 

zu  gelangen,  welche  die  gestellte  Aufgabe  erfüllen.  Bei  den  vor- 
bereitenden   Untersuchungen    war    Leonardo    genöthigt,    den    Zahlen- 

werth  des  Verhältnisses  -^  zu  berücksichtigen,  und  er  hatte  die  Fälle 
unterschieden,  wo  -y-  ^  ,  war.  Nunmehr  beweist  er  die  Unmög- 
lichkeit von  -j-  =  ■    Aus  dieser  Unmöglichkeit  folgt  nun  freilich, 

dass  ah{a  -\-  h)(a  —  h)  nicht  =  [h(a  -\-  b)]^  und  4a6(a  -{-  b')(a  —  h) 
nicht  =\2h(a -\- hjl^  sein  kann.  Leonardo  geht  aber  weiter  und 
schliesst,  es  könne  überhaupt  keine  Quadratzahl  ein  Congruum  sein^). 
Hier  scheint  eine  Lücke  in  dem  sonst  vollkommen  strengen  Ge- 
dankengange vorhanden,  ohne  welche  man  für  Leonardo  ein  unbe- 
stimmtes Erstlingsrecht  für  die  Erfindung  des  Satzes  beanspruchen 
müsste,  dass  zwei  Biquadrate  kein  Biquadrat  zur  Summe  haben  können. 
Aus  X2^  —  c  =  x-^^  und  x2^-{-c  =  x^^  folgt  nämlich  X2^  —  c^  =  [xj^x^f 
und  x^^  =  c^ -\- (x^x^y.  Kann  also  c  kein  Quadrat  i/  sein,  so  ist 
unmöglich  oc^^  =  y^ -{- (x^x^y ,  also  eben  so  unmöglich  der  Einzelfall, 


^)  Leon.  Pisano  11,  266:  qui  voeetur  congruum.  ^)  Ebenda  pag.  270: 
quadrati  congruentes  facto  congruo.  ^  Ebenda  pag.  272:  nullus  quadratus  nu- 
merus potest  esse  congruum. 


46  42.  Kapitel. 

der  bei  x-^^x^  ==  s'^  entstehen  würde ^  d.  h.  unmöglich  x.2^  =  y^  -(-  z^. 
Immerhin  würde  Leonardo,  wie  wir  absichtlich  sagten,  nur  ein  un- 
bestimmtes Recht  auf  diese  Entdeckung  haben,  indem  er  die  hier  ge- 
zogenen Folgerungen  in  keiner  Weise  andeutet.  Leonardo  schliesst 
noch  andere  verwickelte  Aufgaben  aus  dem  Gebiete  der  unbestimmten 
Analytik  zweiten  Grades  an,  deren  eine,  wie  er  mittheilt,  ihm  vom 
Magister  Theodorus,  dem  Philosophen  des  Kaisers,  gestellt 
wurde  ^).  Sie  würde  in  Zeichen  geschrieben  darauf  hinauskommen, 
drei  Zahlen  x,  y,  z  zu  finden,  welche  jede  einzelne  der  drei  Summen 
^  +  2/  +  ^  +  ^^  ^  +  !/  +  ^  +  a;^  +  y^  X  ^  y  -\- z -{-  x^ -^  y- -\- z^ 
zu  einer  Quadratzahl  machen,  was  durch    x'  =  — ,    ?/  =  — ,    z  =  -r^ 

erfüllt  wird,   indem  alsdann  jene  Summen  zu   (^j  ,  zu  (12)'^  und  zu 
werden. 


(^)' 


Wir  kommen  zu  einer  zweiten  Aufgabe,  welche  Johannes  von 
Palermo  unserem  Leonardo  in  Gegenwart  des  Kaisers  vorlegte,  und 
von  welcher  in  der  Flos  überschriebenen  Abhandlung  ^j  die  Rede  ist. 
Auch  diese  Abhandlung  ist,  gleich  den  anderen  Schriften  Leonardo's, 
ein  Zeichen  der  genauen  Beziehungen  des  Verfassers  zum  kaiserlichen 
Hofe.  Sie  ist  einem  Cardinal  R.,  Diaconus  der  heiligen  Maria  in 
Cosmedin  gewidmet,  das  ist,  wie  aus  der  beigefügten  näheren  Be- 
zeichnung zu  ermitteln  gelangt),  Cardinal  Raniero  Capocci  von 
Viterbo.  Den  Titel  Flos  erläutert  Leonardo  selbst  in  der  Widmung 
mit  Berufung  theils  auf  die  blumenreiche  Beredsamkeit  des  Gönners, 
dem  die  Abhandlung  zugeeignet  ist,  theils  auf  die  blühende  Art,  in 
welcher  schwierige  Aufgaben  bewältigt  werden,  die  selbst  wieder  den 
Keim  zu  Neuem  in  sich  tragen.  Die  Hauptaufgabe  ist  die  durch 
Johannes  von  Palermo  verlangte  Auflösung  der  kubischen 
Gleichung"^): 

^3  ^  2a:2  -f-  10a;  =  20. 

Aus  den  Seiten  10  und  x  wird  ein  Rechteck  gebildet.  Dann  wird 
unter  Benutzung  der  gleichen  Höhe  10  ein  zweites  Rechteck  a:^,  ein 
drittes   2a:^  angesetzt,  mit  anderen    Worten,   es  wird   die  Folgerung 

a;  +  —  -|-  — J  =  20  und  daraus  weiter  ^+iQ  +  y=2  gezogen. 
Daher  muss  a;  <  2  sein,  und  wenn  x  ganzzahlig  sein  sollte,  müsste 
es  den  Werth  1  besitzen.    Aber  1^  +  2  .  1-  -f-  10  •  1  =  13  <  20,  folg- 


')  Leon.    Pisano    II,   279.     Genocchi  1.  c.   pag.  357  flgg.  *)  Ebenda 

pag.  227—247.  ^)  Bald.  Boncompagni,  Intorno  ad  alcune  opere  cli  Leonardo 
Pisano  pag.  17 — 19.  *)  Leon.  Pisano  11,  227:  ut  inveniretur  cubus  nuvierus 
qui  cum  suis  duobns  quadratis  ^  deceiu  radicihus  in  unum  collectis  essent  viginti. 


Die  übrigen  Schriften  des  Leonardo  von  Pisa.  47 

lieh  ist  X  nicht  ganzzahlig.  Ebensowenig  ist  x  eine  rationale  ge- 
brochene Zahl.  Denn  es  kann  unmöglich  ^  "h  ~  ~f"  Vö  ^^^*  ganzen 
Zahl  2  werden,  wenn  x  bereits  eine  ganze  Zahl  im  Nenner  führt, 
x^  dem  Nenner  einen  zweiten,  x^  noch  überdies  ihm  einen  dritten 
Factor  zuführt.  Auch  eine  Quadratwurzel  aus  einer  rationalen  Zahl 
kann  x  nicht  sein.     Die   gegebene  Gleichung  lässt   nämlich    die  Um- 

20 2  a;* 

formung   in    x  =         . — ^    zu,  und  damit    wäre  unter  der  gemachten 

Annahme  die  Gleichheit  von  Rationalem  und  Irrationalem  ausgesprochen. 
Nach  diesen  einfacheren  Annahmen,  die  leicht  beseitigt  wurden,  geht 
Leonardo  zu  verwickelteren  quadratischen  Irrationalitäten  über,  der- 
gleichen Euklid  im  X.  Buche  seiner  Elemente  ausführlich  behandelt 
hat,  und  zeigt,  dass  auch  sie  die  Gleichung  nicht  erfüllen,  vielmehr 
Widersprüche  hervorrufen  ^).  Zuletzt  giebt  Leonardo  einen  Näherungs- 
werth  X  =  1*^  22'  7"  42'"  33^^  4^^  40^'^,  wobei  die  Anwendung  von 
Sexagesimalbrüchen  weiter  fortgeführt  erscheint,  als  es  sonst  irgendwo 
der  Fall  sein  dürfte^).  Man  hat  mit  Hilfe  der  neuesten  und  ge- 
nauesten Auflösungsmethoden  die  Gleichung  behandelt^)  und  den 
Wurzelwerth  gleichfalls  in  Sexagesimalbrüchen  als 

:z;=  P  22'  7"  42'"  33^^^  4^  38,5^1 

1^^  1 

gefunden,  mithin  nur  um   1-      =  ^  weniger  als  Leonardo's 

Werth!  Eine  so  ausserordentlich  genaue  Rechnungsfähigkeit  darf 
das  höchste  Erstaunen  hervorrufen,  und  mit  demselben  das  tiefste 
Bedauern  darüber,  dass  Leonardo  nar  den  Werth  giebt,  ohne  zu  ver- 
rathen,  wie  er  ihn  erhielt.  Mag  es  ja  die  grösste  Wahrscheinlich- 
keit für  sich  haben,  dass  Leonardo's  Kubikwurzelausziehungen  für 
Johann  von  Palermo  die  Veranlassung  boten,  die  Auflösung  einer 
kubischen  Gleichung  von  ihm  zu  verlangen,  auf  dem  Wege  zur  Er- 
mittlung von  Leonardo's  Verfahren  sind  wir  dadurch  keinen  Schritt 
weiter,  und  Versuche,  welche  gemacht  wurden,  über  diese  schwierige 
Frage  Licht  zu  verbreiten*),  muss  man  leider  als  ganz  erfolglos  be- 
zeichnen. Von  dem  einen  Versuche  werden  wir  zu  reden  haben, 
wenn  wir  mit  Cardano  uns  beschäftigen  werden.  Der  andere  sucht 
nun  gar  einen  Zusammenhang  zwischen  dem  Verfahren  Leonardo's 
und    dem    des    Al-Käschi    (Bd.  I,  736 — 737)    im    XV.  Jahrhunderte, 


')  Eine  algebraische  Wiederherstellung  der  bei  Leonardo  der  Form  nach 
geometrisch  geführten  Untersuchung  von  Wöpcke  in  Liouville's  Journal  des 
mathematiques  (1854)  XIX,  401—406.  "')  Leon.  Pi  sano  II,  234.  ^  Wöpcke  1.  c. 
*)  Genocchi  1.  c.  pag.  165 — 168  und  Haukel,  Zur  Geschichte  der  Mathematik 
im  Alterthum  und  Mittelalter  S.  293. 


48  42.  Kapitel. 

während  letzteres  nur  dann  anwendbar  ist,  wenn  die  Gleichung  die 
Gestalt  .//  -{-  Q  =  Px  mit  gegen  Q  sehr  grossem  P  besitzt,  also  auf 
x^  -|-  2x^  -j-  10a;  =  20  in  keiner  Weise  passt.  Ein  dritter  Versuch^) 
o-eht  von  der  Voraussetzung  aus ,  Leonardo  sei  im  Stande  ge- 
wesen,   die   Umwandlung  der    Gleichung    x^ -}- 2x^ -^  lOx  =  20    in 

x-\-  ^)  -j-  8-r-^=20—  und  weiter  in  ^/^  -f  8y  ?/  =  26—  oder  unter 

Anwendung  von  Sexagesimalbrüchen  in  y^ -\- S^  40' y  =  26^  A' 26"  AO'" 
vorzunehmen.  Da  1^  <  x  <  2«  oder  1"40'<  ?/ <  2''40'  bekannt  war, 
habe  Leonardo  versuchsweise  yQ=  2"  gesetzt.  Er  erhielt  ?/o^  +  8°  40' y^ 
=  25"  20'  mit  einem  Fehler  f^  =  44'  26"  40'".  Nahm  er  als 
zweiten  Näherungswert  qj^  =  y^ -\-  Je  an,  d.  h.  setzte  er  ij^^  +  8''  40 '«/^ 
=  26"  4'  26"  40'"  und  zog  davon  y^^  +  8"  40;^^  =  25"  20'  ab, 
so  gelangte  er  zu  Uy^^  +  SÄ;^  ?/„  +  ^-^^  +  §"  40'/v  =  f^.  Links  war 
aber  das   erste   Glied   21' yQ^   überwiegend  und  gab   mit    dem   vierten 

f  44'  '^6"  40'" 

allein  berücksichtigt  Je  =  .^y^2  _[^  ^o  ^o'  =  20"  40'  ^  ^  "®^^* 
2/^  =  2"  2'.  Nun  sei  ^^  in  die  Gleichung  eingesetzt  worden  u.  s.  w. 
Wenn  noch  einige  Vermuthungen  zu  Hilfe  gezogen  werden  entsteht 
y^  =  2"  2'  7"  42"  33^^"  4^  40^^  und  daraus  der  von  Leonardo  angege- 
bene Werth  von  x. 

Wieder  eine  Aufgabe,  welche  Johann  von  Palermo  im  kaiser- 
lichen Palaste  in  Pisa  in  Gegenwart  Friedrichs  IL  Leonardo  stellte, 
und  zu  welcher  der  Anlass  in  irgend  anderen  Textaufgaben  gefunden 
werden  mag,  die  in  Leonardo's  früheren  Schriften  durch  Gleichungen 
gelöst  wurden,  ist  die  von  den  drei  Männern,  welche  eine  Geldsumme 
gemeinschaftlich  besitzen^).  Die  drei  Männer  haben  an  die  gemein- 
schaftliche Summe  ein  Eigenthumsrecht  von  y  >  y ;  y     Sie  greifen 

jeder  auf's  Gerathewohl  zu,  legen  dann  der  Erste  — ,  der  Zweite  -^, 
der  Dritte  —  des  Ergriffenen  wieder  hin  und  theilen  das  so  Zusammen- 
gelegte zu  gleichen  Theilen,  wodurch  jeder  erhält,  was  ihm  gebührt. 
Wie  gross  war  die  Summe,  und  wieviel  hatte  jeder  zunächst  ge- 
nommen? Der  dritte  Theil  der  beim  zweiten  Zusammenlegen  ent- 
standenen Geldsumme  heisse  x  (bei  Leonardo  res),  die  ganze  ur- 
sprüngliche Summe  s  (bei  Leonardo  tota  comunis  pecunia).    Da  Jeder 

^)  J.  P.  Gram,  Essai  sur  la  restitution  du  calcul  de  Leonard  de  Pise  siir 
l'equation  a:^  -f  2  a;*  -f-  lOic  =  20  in  dem  Bulletin  de  VÄcademie  roynle  des 
sciences  et  des  lettres  de  Danemark,  vorgelegt  am  13.  Januar  1893  im  Ans6liluss 
an  eine  Mittheilung  gleichen  Datums  und  ähnlicher  Ueberschrift  von  H.  G.  Zeu- 
then.  ^)  Leon.  Pisano  11,  234:  De  tribus  Jmninihus  x)ecunium  comunem 
liabentibus. 


Die  übrigen  Schriften  des  Leonardo  von  Pisa.  49 

durch  X  sich  zu  seinem  Guthaben  "^  >   -^  ?   ^    ergänzt,  so  hatten   die 

drei  Männer  vorher  — x,    —  —  x,    — x.    Diese  Summen  waren 

entstanden,   indem   die  gleichen  Männer    -^>  -v,  7-   des  zufällig  Er- 

12        5 
griffenen  abgegeben,  mithin  —,  ~,  —  desselben  zurückbehalten  hatten. 

Sie  ergriffen  folglich    2  (^  — .  x)  =  s  —  2x ,     v  (l x\  =  ^  ~    ^ , 

—  i-z x)  =  — - —    und    da    sie    zusammen   s  an   sich  genommen 

^ 3  'C  9 6  ^ 

hatten,  so  war  s  -=  s  —  2x  -\-  ' — ^  -\ ^—  oder  ls  =  41x.    Dieser 

Bedingung  genügt  s  =  47 ,  x=l ,  und  als  die  von  den  Männern  er- 
griffenen Summen  erscheinen  33,  13,  1.  Die  Aufgabe  ist  nicht  grade 
schwierig,  aber  die  geschickte  Auswahl  der  Unbekannten,  welcher  die 
Einfachheit  der  Auflösung  zu  verdanken  ist,  macht  einen  sehr  an- 
genehmen Eindruck. 

Wie  wir  es  aus  dem  Abacus  gewöhnt  sind,  begnügt  Leonardo 
sich  selten  oder  nie  mit  einer  einzigen  Aufgabe  einer  gewissen  Gat- 
tung, sondern  er  wählt  andere  und  andere  Spielarten,  welche  je  zu 
neuen  mitunter  wichtigen  Bemerkungen  Anlass  geben.  So  auch  hier; 
wir  verweilen  jedoch  nur  bei  zwei  Sonderfällen,  in  welchen  die  eine 
Unbekannte  einen  negativen  Werth  annimmt^).  Diese  Auf- 
gabe, sagt  Leonardo  bei  der  ersten,  isl^ unlöslich,  es  sei  denn,  dass 
man  zugebe,  dass  der  Antheil  des  einen  Mannes  eine  Schuld  sei^),  und 
nur  wenig  verschieden  ist  seine  Aeusserung  bei  der  zweiten  Aufgabe, 
bei  welcher  er  überdies  andere  Zahlenwerthe  der  vorkommenden  An- 
gaben bestimmt,  deren  Wahl  lauter  positive  Wurzeln  ergeben.  Woher 
stammt  Leonardo's  Wissen  von  der  Möglichkeit  negativer  Gleichungs- 
wurzeln? Da  er  selbst  darüber  schweigt,  so  ist  man  auf  Vermuthungen 
angewiesen,  wovon  zwei,  soviel  wir  sehen,  zur  Verfügung  sind.  Es 
wäre  möglich,  dass  Leonardo  auf  seinen  Reisen  irgend  einmal 
indischem  Wissen  begegnet  wäre,  indem  ja  die  Inder  (Bd.  I,  S.  580) 
negative  Zahlen  Schulden  nannten.  Es  wäre  auch  möglich,  dass 
Leonardo's  bürgerlicher  Beruf  ihn  selbständig  zu  dieser  Auffassung 
leitete,  die  in  der  That  für  Jeden,  der  mit  kaufmännischer  Buch- 
führung zu  thun  hatte,  sehr  nahe  lag,  während  die  Buchführung  in 
Italien,  in  Südfrankreich,  vielleicht  auch  in  Spanien^)  früh  bekannt 
gewesen  zu  sein  scheint. 


^)  Leon.  Pisano  II,  238:  De  quatuor  Jwminihus  et  bursa  ab  eis  re- 
perta  questio  notahüis  und  pag.  242:  Be  quatuor  hominibus  bizantios  habentibus. 
*)  Hanc  quidem  questionem  insdlubilem  esse  monstrabo,  nisi  concedatur  primum 
hominum  habere  debitum.  ^)  Kheil,    Valentin  Mennher  und  Antich    Rocha 

(Prag  1898),  S.  46—48. 

Cantor,  Geschichte  der  Mathem.    II.     2.  Aufl.  4 


50  42.  Kapitel. 

Ausser  dem  Liber  quadratorum  und  dem  Flos  hat  sich  auch  ein 
Brief  an  Meister  Theodor^)  erhalten,  offenbar  an  die  gleiche 
Persönlichkeit  gerichtet,  welche  eine  im  Liber  quadratorum  erhaltene 
Aufgabe  gestellt  hat  (S.  46),  und  den  der  Verfasser  einer  Chronik 
jener  Zeit,  der  im  Jahre  1200  in  Padua  geborene  Rolandino,  als 
Astrologen  bezeichnet^).  Der  Brief  behandelt  in  dem  Zustande,  in 
welchem  er  auf  uns  gekommen  ist,  Aufgaben  sehr  verschiedener 
Natur.  Vielleicht  müssen  wir  der  Meinung^)  uns  anschliessen,  hier 
sei  einige  Unordnung  dadurch  entstanden,  dass  Cardinal  Raniero  Ca- 
pocci  aUe  drei  kleineren  Schriften  des  Leonardo  oder  gar  noch  mehrere, 
besass,  die  auf  einzelne  Blattlagen  geschrieben  irgend  einmal  irgend 
wie  durcheinander  geriethen,  worauf  ein  unvorsichtiger  Abschreiber 
Alles  copierte,  wie  es  nun  einmal  lag.  Sei  dem  nun  wie  da  wolle, 
jedenfalls  finden  wir  als  erste  Aufgabe  die  vom  Vögelkaufe  ^).  Es 
sollen  für  30  Geldstücke  30  Vögel  gekauft  werden;  es  sollen  dabei 
für  ein  Geldstück  3  Spatzen  oder  2  wilde  Tauben  erhältlich  sein, 
während  eine  zahme  Taube  2  Geldstücke  kostet.  Leonardo  nimmt 
an,  mau  habe  zuerst  nur  von  den  billigsten  Vögeln  eingekauft,  mithin 
30  Spatzen  für  10  Geldstücke,  und  beabsichtigt  nun  Vertäu schungeu 
von  Spatzen  gegen  Vögel  der  beiden  anderen  Arten  unter  Zahlung 
eines  Aufgeldes  von  20  Geldstücken   vorzunehmen.     Umtausch    eines 

Spatzes  gegen  eine  wilde  T§ube  verlangt  y  —  Y  "^  Y '   S^S^^  ^^^^ 

zahme  Taube  dagegen  2  —  ^^^=  —  Aufgeld ,   während   die   zur  Ver- 

120 

fügung  stehende   Summe    20  =  —  beträgt.     Die  Aufgabe   hat   sich 

mithin  jetzt  so  weit  verschoben,  dass  es  auf  die  Zerlegung  von  120 
in  die  Summe  der  Producte  von  10  in  eine  Unbekannte  und  von  1 
in  eine  zweite  Unbekannte  ankommt,  während  die  Summe  der  beiden 
Unbekannten  unterhalb  30  liegen  muss,  da  doch  auch  Spatzen  noch 
vorhanden  bleiben  sollen.  Es  wird  also  verlangt  y-\-  10^=  120  unter 
der  weiteren  Bedingung  y  -\-  z  <dO.  Durch  Subtraction  der  Un- 
gleichung von  der  Gleichung  folgt  9^  >  90,  5?  >  10.  Setzt  man 
^=.=  11  in  die  Gleichung  ein,  so  zeigt  sich  y  =  10,  während  ^  =  12 
bereits  y=-0  zur  Folge  hat,  also  schon  gegen  die  stillschweigende 
Annahme,  es  sollten  Vögel  von  allen  drei  Gattungen  gekauft  werden, 
verstösst.     Die    einzige  statthafte  Möglichkeit  ist   daher  die   des  An- 


^)  Leon.  Pisano  11,  247 — 252:  Epistola  suprascripti  Leonardi  ad 
Magistrum  Theodwum  phylosoplmm  domini  Imperatoris.  *)  Bald.  Boncoin- 
pagni,  Intorm  ad  alcune  opere  di  Leonardo  Pisano  pag.  64  sqq.  ^)  Ge- 
nocchi    1.  c.   pag.  233.  ■•)    Leon.    Pisano    II,   247:     De    avibus     emendis 

secundum  proporUonem  datam. 


Die  übrigen  Scliriften  des  Leonardo  von  Pisa. 


51 


kaufes  von  11  zahmen,  10  wilden  Tauben  und  9  Spatzen.  Nicht  der 
Umstand,  dass  die  Aufgabe  gelöst  erseheint,  sondern  das  vollbewusste 
methodische  Verfahren  zieht  unsere  Aufmerksamkeit  auf  sich.  Er 
habe  das  Verfahren,  sagt  er^),  als  ein  solches  erfunden,  welches  zur 
Auflösung  jeder  beliebigen  Mischungsaufgabe  ausreiche,  und  er  stelle 
dessen  nähere  Auseinandersetzung  zu  beliebiger  Verfügung.  So  weit 
hatte  er  die  Sache  noch  nicht  geführt,  als  er  (S.  19)  im  11.  Ab- 
schnitte des  Abacus  eine  ganz  ähnliche  Aufgabe  behandelte,  wenn 
auch  der  Zusammenhang  mit  Mischungsaufgaben  ihm  damals  schon 
vorschwebte.  Leonardo  hielt  eben  eine  einmal  begonnene  Unter- 
suchung mit  Zähigkeit  fest  und  suchte  ihr  immer  neue  Seiten  ab- 
zugewinnen. Diesen  Eindruck  bekommen  wir  auch  von  einer  im 
Wortlaute  des  Briefes  sich  nun  anschliessenden  geometrischen  Auf- 
gabe^). Bei  unserem  Berichte  über  die  Praxis  der  Geometrie  sind 
wir  schweigend  an  einigen  Aufgaben  vorübergegangen,  welche  alge- 
braisch behandelt  wurden,  nämlich  durch  Zurückführung  auf  eine 
quadratische  Gleichung,  deren  Wurzel  die  Länge  einer  gesuchten 
Strecke  maass.  Wir  beabsichtigen  auch  jetzt  nicht,  das  dort  Ver- 
miedene ausführlich  nachzuholen.  Wir  nennen  nur  zwei  jener  Auf- 
gaben unter  Beigabe  erläuternder  Figuren.  Es  soll  (Fig.  10)  in  ein 
Quadrat  und  unter  Benutzung  einer  Ecke  desselben  ein  gleichseitiges 
Fünfeck  eingezeichnet  werden^).  Es  soll  (Fig.  11)  in  ein  gleich- 
seitiges Dreieck  unter  Mitbenutzung  eines  Stückes  der  Grundlinie  als 
Seite  der  neuen  Figur  ein 
Quadrat  eingezeichnet  wer- 
den^). Denkt  man  sich  in 
diesem  Quadrate  die  desshalb 
in  der  Figur  nur  punktirte 
Scheitellinie  ausgelöscht,  so 
hat  man  abermals  ein  gleich- 
seitiges Fünfeck,  diesmal  mit 
zwei    rechten    Winkeln    vor 

sich.  Wieder  um  ein  gleichseitiges  Fünfeck  handelt  es  sich  an 
der  angeführten  Stelle  des  Briefes  an  Magister  Theodorus.  Es 
soll  (Fig.  12)  in  einem  gleichschenkligen  Dreieck  unter  Mitbenutzung 


Fig.  11 


^)  Leon.  Pisano  II,  247:  praesentem  modum  inveni,  per  quem  non 
solum  similes  questiones  solvuntur,  verum  et  omnes  diversitates^  consolaminum 
monetarum  und  pag.  249:  et  sie  possmnus  in  similibus  etiam  et  in  consolamine 
monetarum,  et  bizantiorum  operari;  quod  quandocuvique  vel  placuerit  dominationi 
vestrae  liquidius  declarabo.  *)  Ebenda  pag.  249:    De  compositione  pentagonj 

equilateri  in  triangulum  equicrurium.  datum.         ^)  Ebenda  pag.  214.       '')  Ebenda 
pag.  223. 

4* 


52 


42.  Kapitel. 


der   aus   den  Schenkeln   des  Dreiecks   gebildeten   Ecke   desselben   und 
eines    Stückes    von    dessen    Grundlinie    hergestellt    werden.      Es    ist 

ah  =  ac  ^  10,  &c  =  12,  folglich  die 
Höhe  ah  =  8.  Nun  sei  x  die  gesuchte 
Fünfecksseite 


de  =  ef 


X  und  wegen  ßd:  dh 


hi 


Weil  ferner  he 


Andrerseits  ist  ah  :  ad  =  hh  :  hi,  also 
j^  •  wen  lerner  ne  =  ~,  so  ist  le  =  —  —  Y  "^  lö'  -'^^^^^^^ 
war  de  =  X.  Man  kennt  also  die  drei  Seiten  des  rechtwinkligen 
Dreiecks  dei  und  kann  zwischen  ihnen  die  Gleichung  des  pythago- 
räischen  Lehrsatzes  ansetzen: 


de^  =  ie^  -\~  di^     oder 


100 


+  64 


64        ,     16     , 

T^^  +  25^" 


welche  sich  in  ~x^  -{-  —x 


^  ^  I  5  -  —  6-1  umwandelt,  et  sie  reducta  est  questio 
ad  unam  ex  regulis  algebrae,  und  so  ist  die  Aufgabe  auf  eine  der 
algebraischen  Gleichungsformen  zurückgeführt.  Leonardo  rechnet  nun 
den  Werth  von  x  unter  -Benutzung  von  Sexagesimalbrüchen  aus  und 
findet  für  denselben  x  =  A^  2T  24:"  40'"  50^^.  Die  allgemeine  Auf- 
lösung der  Aufgabe  ist,  sofern  jeder  der  gleichen  Schenkel  a  und  die 
Grundlinie  h  heisst. 


4a^  —  b' 
'2b—  a 


+ 


2b  — 


y(a  +  h)(2a  +  h)(2a—h){3a  —  h) 


An  die  geometrisch -algebraische  Aufgabe  schliesst  sich  unter  der 
Ueberschrift  ^) :  Ändere  Art  ähnliche  Fragen  m  heantworten  eine  Auf- 
gabe an,  welche  die  Auflösung  von  fünf  Gleichungen  ersten  Grades 
mit  fünf  Unbekannten  verlangt,  welche  also  unbedingt  voraussetzt, 
dass  vor  ihr  Aehnliches,  jedenfalls  aber  nicht  eine  quadratische 
Gleichung  stand,  und  daraus  ist  eben  die  obenerwähnte  Folgerung 
von  einer  irgendwie  entstandenen  Durcheinanderwerfung  von  Blättern 
oder  auch  von  einer  jetzt  nicht  mehr  auszufüllenden  Lücke  gezogen 
worden. 

Wir  haben  am  Schlüsse   des  vorhergehenden  Kapitels,  nachdem 
wir  über  Leonardo's  Abacus   berichtet    hatten,  geglaubt  unserer  Be- 


')  Leon.  Pisano  II,  250:  Modus  alius  solvendi  similes  questiones. 


Jordanus  Nemorarius.     Seine  Aritbmetica  u.  der  Algorithmus  demoustratus.    53 

wunderuüg  Ausdruck  geben  zu  dürfen.  Fast  möchten  wir  gegen- 
wärtig bereuen,  dass  wir  es  thaten,  denn  mit  welchen  Worten  sollen 
wir  Leonardo  jetzt  rühmen,  nachdem  wir  die  Schriften  kennen  ge- 
lernt haben,  welche  ganz  gewiss  ihrem  wesentlichen  Inhalte  nach  als 
sein  geistiges  Eigenthum  zu  betrachten  sind,  mag  er  im  Abacus,  mag 
er  in  der  Praxis  der  Geometrie  noch  so  viel  von  Vorgängern  entlehnt 
haben.  Jetzt  steht  das  zu  fällende  Urtheil  unzweifelhaft  fest.  Leonardo 
war  ein  gewandter  Rechner,'  ein  feiner  Geometer,  ein  geistreicher 
Algebraiker,  wie  es  vor  ihm  nur  Vereinzelte  gab;  er  wusste  die 
Algebra  auf  geometrische  Fragen  anzuwenden,  wie  kaum  Abü'l  Dschüd 
(Bd.  LS.  715)  es  verstand;  er  war  endlich  ein  geradezu  schöpferischer 
Zahlentheoretiker. 

Ein  glänzendes  Meteor  taucht  er  auf,  wie  ein  Meteor  verschwindet 
er!  Wir  haben  allen  Grund  anzunehmen,  die  Abacusausarbeitung  von 
1202  habe  die  Erscheinung,  die  zweite  Bearbeitung  von  1228  das 
Verschwinden  begleitet.  Wir  dürfen  nicht  vergessen,  dass  Friedrich  IL 
grade  1228  seinen  Kreuzzug  antrat,  dass  in  seiner  Abwesenheit  Bürger- 
krieg in  Italien  wüthete,  welcher  auch  nach  Friedrichs  Rückkehr 
bald  da  bald  dort  in  neuen  Flammen  aufloderte.  Schon  möglich 
dass  Leonardo,  in  der  stets  ghibellinischen  Stadt  Pisa  geboren  und 
selbst  Ghibelline  aus  Neigung,  in  diesen  Kämpfen  unterging,  falls  er 
nicht  den  Kaiser  in  das  heilige  Land  begleitete  und  dort  umkam. 


43.  Kapitel. 

Jordanus  Neniorarins.     Seine  Arithmetiea  und  der  Algorithmus 
demonstratns. 

Leonardo  von  Pisa  war  uns  als  eine  der  beiden  Persönlichkeiten 
angekündigt,  welche  die  Marksteine  eines  neuen  Zeitalters  für  die 
mathematischen  Wissenschaften  bilden.  Jordanus  Nemorarius  ist 
die  andere.  Auch  er  war  ein  aus  seiner  Zeit  weit  hervorragender 
Geist,  aber  dennoch  unterbricht  er  weniger  als  Leonardo  die  Stetig- 
keit der  mittelalterlichen  Culturentwicklung. 

Diese  Entwicklung  knüpfte  sich  der  Regel  nach  an  bestimmte 
Schulanstalten,  zumeist  an  Klosterschulen,  aus  welchen  da  und  dort 
Universitäten  herauswuchsen  ^).     Die  Lehrer  waren   dementsprechend 

^)  Als  Quellen  dienten  H.  Denifle,  Die  Universitäten  des  Mittelalters  bis 
1400  Bd.  I  (1885).  —  G.  Kaufmann,  Die  Geschichte  der  deutschen  Universi- 
täten Bd.  I  (1888).  —  S.  Günther,  Geschichte  des  mathematischen  Unterrichts 
im    deutschen   Mittelalter  bis    zum  Jahre   1525    (1887,    III.  Bd.   der  Monumenta 


54  ^3.  Kapitel. 

ihrer  Mehrzahl  nach  Ordensgeistliche,  oder  doch  wenigstens  Theo- 
logen, wenn  auch  an  dem  Vorhandensein  einzelner,  und  daiimter 
hochberühmter  Laien  nicht  zu  zweifeln  ist.  Abälard  z.  B.,  dessen 
Ehe  mit  Heloise  feststehende  Thatsache  ist,  kann,  wie  durch  den 
Vollzug  dieser  Ehe  bewiesen  ist,  unmöglich  Kleriker  gewesen  sein. 
Aber  selbst  da,  wo  der  Lehrer  der  Kirche  nicht  angehörte,  bildete 
das  Studium  der  Theologie  den  Gipfelpunkt  der  Studien  überhaupt. 
Oberstes  Ziel  alles  wissenschaftlichen  Strebens  war  es,  die  Vollendung 
des  Glaubens  zu  erreichen,  die  Umsetzung  desselben  in  Erkenntniss. 
Als  Mittel  dazu  galt  ein  folgerichtiges  Schliessen,  und  dieses  wieder 
sich  anzueignen  gab  es  nach  mittelalterlicher  Meinung  kein  vollkomm- 
neres  Lehrbuch  als  die  Schriften  des  Aristoteles.  So  entstand  die 
Scholastik,  wesentlich  eine  Kunst  der  Behandlung  strittiger  Fragen, 
auf  deren  praktische  Bedeutung  es  ebensowenig  ankam,  als  auf  die 
thatsächliche  Wahrheit  oder  Unwahrheit  der  aus  den  Schlüssen  gezoge- 
nen Folgerungen,  sofern  nur  die  Schlüsse  selbst  keinen  Anfechtungen 
aus  dialektischen  Gründen  unterworfen  waren. 

Wir  haben  gesagt,  die  Universitäten  seien  der  Regel  nach  aus 
Klosterschulen  und  ähnlichen  von  Geistlichen  geleiteten  Anstalten 
herausgewachsen,  aber  das  war  nicht  ihre  einzige  Entstehungsweise. 
Eine  andere  war  die,  dass  Berufslehrer  sich  irgendwo  niederliessen, 
und  dass  um  sie  Schüler  sich  schaarten.  Mit  einiger  Vorliebe  mochten 
zu  solchen  Niederlassungen  Orte  gewählt  werden,  wo  auch  Schulen 
bereits  bestanden,  denn  eine  solche  Nebenanstalt  konnte  damals  dem 
neu  auftretenden  Lehrer  nur  Erleichterung,  nicht  Schwierigkeiten 
bereiten.  Am  Ende  des  XII.  Jahrhunderts  herrschte  unbedingte  Lehr- 
freiheit in  dem  Sinne,  dass  Jeder  ohne  irgend  vorhergegangene  Prü- 
fung zum  Lehren  zugelassen  werden  musste.  Kaum  dass  es  möglich 
war,  einen  einmal  in  Thätigkeit  befindlichen  Lehrer  auf  Grund  einer 
ihm  erst  zu  beweisenden  Unfähigkeit  zu  entfernen. 

Wieder  eine  andere  Entstehungsweise  von  Universitäten  war  die 
der  eigentlichen  Gründung.  Gründer  konnte  der  Papst  sein,  oder 
eine  städtische  Gemeinschaft,  oder  ein  Fürst.  So  hat  Friedrich  II. 
1224  eine  Universität  in  Neapel  gegründet^).  Eine  Frage,  welche 
weiter  oben  schon  hätte  gestellt  werden  können,  wenn  wir  nicht 
absichtlich  deren  Erörterung  auf  diesen  Zusammenhang  hätten  auf- 
sparen wollen,   geht  dahin,   ob  Leonardo   von  Pisa   dieser  in  Neapel 


Germaniae  Paedagogica).  —  H.  Suter,  Die  Mathematik  auf  den  Universitäten 
des  Mittelalters  (Programm  der  Kantonsschule  in  Zürich  1887,  zugleich  als 
Festschrift  zur  39.  Versammlung  deutscher  Philologen  und  Schulmänner). 

^)  Ed.  Winkelmann,    Ueber  die  ersten  Staatsuniversitäten    (Heidelberger 
Prorectoratsrede  vom  22.  November  1880). 


•lordanus  Nemorarius.     Seine  Arithmetica  u.  der  Algorithmus  demonstratus.    ^q 

errichteten  Hocliscliiüe  als  Lehrer  angehörte?  In  den  Gewohnheiten 
späterer  Zeit  befangen  ist  man  geneigt,  wiewohl  ausdrückliche  Berichte 
fehlen,  die  Frage  einfach  zu  bejahen.  War  es  nicht  selbstverständ- 
lich, dass  Friedrich  einen  Lehrer  sich  nicht  entgehen  Hess,  der  seiner 
Gründung  zur  höchsten  Zierde  gereichen  musste?  So  denkt  man 
heute,  so  dachte  man  nicht  in  der  Zeit  der  alles  beherrschenden 
Scholastik.  Dem  Universitätsstudium  muss  und  musste  immer  eine 
gewisse  Vorbereitung  vorausgehen.  Heute  wird  sie  durch  das  Gym- 
nasium vermittelt,  damals  war  die  Artistenfacultät,  die  unterste 
Facultät  einer  jeden  Universität,  mit  dieser  Aufgabe  betraut,  und  sie 
vereinigte  daher  alle  Schüler  in  sich,  welche,  nachdem  sie  durch  die 
Artistenfacultät  sich  hindurchgearbeitet  hatten,  anderen  und  anderen 
Richtungen  folgten.  Jene  vorbereitenden  Kenntnisse  waren  die  des 
Trivium:  Grammatik,  Rhetorik,  Dialektik.  Das  Quadrivium  dagegen, 
Arithmetik,  Musik,  Geometrie,  Astronomie,  wurde  mit  Ausnahme 
allenfalls  der  Musik,  soweit  sie  dem  Kirchengesang  sich  dienstbar 
erwies,  aller  Orten  vernachlässigt.  Wir  werden  gleich  nachher  sehen, 
wie  selbst  in  Paris,  am  damaligen  leitenden  Hochsitze  der  Wissen- 
schaft, diese  Vernachlässigung  sich  actenmässig  erweisen  lässt.  Nicht 
anders  war  es  in  Neapel.  Das  Schweigen  der  Berichte  über  eine 
Anstellung  Leonardo's  von  Pisa  ist  also  schwerlich  anders  zu  ver- 
stehen, als  dass  Leonardo  einer  Anstalt  nicht  angehörte,  an  welcher 
für  ihn  kein  Platz  war.  Was  wir  über  Leonardo's  meteorartiges 
Erscheinen  und  Verschwinden  sagten,  ist  auch  darin  wahr,  dass  selbst 
für  Italien  eine  Nachwirkung  Leonardo's  sich  nicht  eher  als  mehr 
als  200  Jahre  nach  seinem  Tode  mit  Deutlichkeit  erkennen  lässt. 

Wenn  einzelne  Gelehrte  bald  da  bald  dort  nach  eigener  Willkür, 
oder  berufen  von  Behörden,  mitunter  berufen  von  Studirenden  sich 
niederliessen,  so  wissen  wir  auch  von  gemeinsamen  Niederlassungen 
vollzogen  von  Angehörigen  geistlicher  Orden.  Zwei  Orden  insbeson- 
dere sind  hier  zu  nennen:  die  Dominikaner  und  die  Francis- 
kaner.  Anstalten  beider  Mönchsorden  waren  in  Deutschland  vor  Ent- 
stehung der  Universitäten  vorhanden.  Köln,  Regensburg,  Magdeburg, 
Leipzig  waren  Sitze  derselben.  In  Paris  finden  wir  Dominikaner 
kurz  nach  der  1216  erfolgten  Gründung  des  Ordens.  Vollständig 
festen  Fuss  fassten  sie,  aber  auch  ihre  Nebenbuler,  die  Franciskaner, 
in  Paris,  seitdem  im  Mai  1229  in  Folge  eines  an  Fastnacht  entstan- 
denen Streites  die  Universität  zeitweilig  geschlossen  wurde.  Es  ist 
uns  nicht  unwahrscheinlich,  dass  bei  den  pariser  Dominikanern  oder 
Prädicatoren,  wie  der  Orden  eigentlich  hiess ,  der  Predigt 
und  Lehre  —  praedicationem  et  dodrmam  —  als  das  Feld  seiner 
Wirksamkeit  bezeichnete,  diejenigen  Wissensgebiete  gepflegt  wurden. 


56  43.  Kapitel. 

welche  die  Universität  in  den  zweiten  Rang  zurückstiess.  Satzungen 
der  pariser  Universität  aus  dem  Jahre  1215  schreiben  ausdrücklich 
vor^),  dass  die  Professoren  die  Bücher  des  Aristoteles  über  die 
ältere  wie  über  die  jüngere  Dialektik  in  den  Schulstunden  ordentlich 
und  nicht  bloss  cursorisch  lesen  sollten.  Ordentlich  sollten  sie  auch 
lesen  die  beiden .  Bücher  des  Priscian  oder  wenigstens  eines  derselben. 
An  Feier-  und  Ferientagen  (in  festivis  diebus)  solle  nicht  gelesen 
werden,  höchstens  philosophische  Schriften,  Reden,  Schriften  über 
das  Quadrivium,  über  Barbarismen,  über  Ethik,  wenn  man  Lust 
dazu  hat,  und  das  vierte  Buch  der  Topik.  Die  Bücher  des  Aristo- 
teles über  Metaphysik  und  Naturwissenschaften  aber  dürfen  gar  nicht 
gelesen  werden.  Das  hier  ausgesprochene  Verbot  einiger  Schriften 
des  Aristoteles  ist  nur  erneuert  aus  einem  Erlasse  von  1210  und 
eine  abermalige  Bestätigung  erfolgte  1231  für  Paris.  An  anderen 
Orten  war  man  duldsamer.  In  Toulouse  war  es  seit  1233  gestattet 
öffentlich  anzukündigen,  dass  auch  die  in  Paris  untersagten  Bücher 
des  Aristoteles  gelesen  werden  würden.  In  Paris  selbst  aber  traten 
1254  die  ehemals  verbotenen  Schriften  in  den  Rahmen  des  regel- 
mässigen Studienplanes  ein-).  Auch  in  diesem  letzteren  erweiterten 
Studienplane,  der  uns  nebst  der  Stundenzahl,  welche  auf  jede  ordent- 
liche Vorlesung  zu  verwenden  ist,  genau  erhalten  ist^),  ist  von  Vor- 
lesungen über  Gegenstände  des  Quadrivium  keine  Rede.  Sie  waren 
nicht  verboten,  sie  waren  aber  ebensowenig  geboten.  Sie  konnten 
nach  wie  vor  in  der  Ferienzeit  der  Universität  Behandlung  finden, 
als  Lehrgegenstände  untergeordneter  Bedeutung.  Damit  stimmt  voll- 
ständig die  Klage  Roger  Bacon's  aus  der  Mitte  des  XIII.  Jahr- 
hunderts überein  ^),  die  pariser  Universität  kümmere  sich  nicht  um 
fünf  Wissenszweige,  welche  doch  vortrefflich  und  der  Gottesgelehr- 
samkeit nahe  verwandt  seien,  um  fremde  Sprachen,  Mathematik, 
Perspective,  Moral  Wissenschaft  und  Alchymie.  Und  trotzdem  ist  es 
eine  Thatsache,  dass  von  mathematischen  Studien  in  Paris  seit  der 
Mitte  des  XII.  Jahrhunderts  wiederholt  die  Rede  ist,  dass  z.  B.  in 
jener  Zeit  Johannes  von  Salisbury  als  seine  Lehrer  in  Paris  in 
Gegenständen  des  Quadriviums ^)  einen  sonst  unbekannten  Hardei- 
vinus  Teutonicus  und  ferner  Richardus  Episcopus  nennt, 
welcher  letztere  1182  wahrscheinlich  als  Archidiacon  in  Constanz 
starb.     Es   ist  eine  Thatsache,   dass  in   der  Grabschrift   des  1199    in 


^)  Suter,  Die  Mathematik  auf  den  Universitäten  des  Mittelalters  S.  24  mit 
Berufung  auf  Bulaeus,  Historia  üniversitatis  Parisiensis  111,82.  *)  G.  Kauf- 
mann, Geschichte  der  deutschen  Universitäten  I,  94 — 95.  ^)  Bulaeus,  1.  c. 
in,  280.  *)  Opus  minus  des  Bacon,  erwähnt  bei  Suter  1.  c.  S.  18.  *)  Suter 
1.  c.  S.  18:  inaudita  quaedam  ad  quadrivium  pertinentia. 


Jordanus  Nemorariiis.    Seine  Arithmetica  u.  der  Algorithmus  demoustratus.     57 

Paris  verstorbenen  Hugo  Physicus  ausdrücklich  des  von  ihm  im 
Quadrivium  ertheilten  Unterrichts^)  gedacht  ist.  Damit  ist  also  fest- 
gestellt, dass  weim  nicht  in  ordentlicher,  doch  in  ausserordentlicher 
Weise  dafür  gesorgt  war,  dass  das  immerhin  vorhandene  Bedürfniss 
nach  Anleitung  in  den  Fächern,  welche  damals  die  Mathematik  aus- 
machten, Befriedigung  fand. 

Sollten  dazu  immer  und  ausschliesslich  Ferienstunden  gedient 
haben?  Sollte  nicht,  was  die  Universität  verschmähte,  um  so  eifriger 
von  den  wettbewerbenden  Anstalten  geboten  worden  sein,  voraus- 
gesetzt, dass  sich  die  richtigen  Persönlichkeiten  zur  Ertheilung  solchen 
Unterrichtes  in  diesen  Anstalten  fanden V  Das  war  aber  im  ersten 
Viertel  des  XIII.  Jahrhunderts  bei  den  Dominikanern  in  Paris  der  Fall. 

Domingo  de  Guzman,  ein  1170  geborener  Altcastilianer  von 
hoher  wissenschaftlicher  Bildung,  war  Gründer  des  Ordens  gewesen, 
der  nach  seinem  Plane  vornehmlich  als  Gegengewicht  gegen  die 
Ketzerei  der  Albigenser  und  verwandter  Richtungen  dienen  sollte, 
welchen  nichts  mehr  Vorschub  leistete  als  der  Mangel  an  Volks- 
vmterricht.  Ueber  den  streng  monarchisch  gegliederten,  in  acht  Pro- 
vinzen eingetheilten  Orden  herrschte  ein  General  mit  durch  päpstliche 
Bestätigung  seiner  Rechte  fast  unumschränkter  Gewalt.  Als  Domingo, 
der  erste  General,  1221  zu  Bologna  starb,  waren  schon  60  Klöster 
seiner  Regel  unterthan.  Es  galt  seine  Ersetzung,  und  zum  Nach- 
folger des  Spaniers  wählte  man  einen  Deutschen.  Jordanus  von 
Sachsen-)  war  dem  Orden  erst  1220  in  Paris  beigetreten.  Er  ge- 
hörte nach  einer  Ueberlieferung  dem  Geschlechte  der  Grafen  von 
Eberstein,  nach  einer  anderen  der  Familie  von  Dach  an.  Er  war 
nach  einem  Berichte  in  Borrentrick  (gegenwärtig  Borgentreich)  bei 
Warburg  im  Paderbornschen  geboren,  einem  Orte,  der  einstmals  zur 
Diöcese  Mainz  gehörte;  nach  einem  anderen  Berichte  stammt  Jor- 
danus aus  der  Herrschaft  Dassel  aus  der  Hildesheimer  Diöcese.  Wird 
der  Geburtsort  Borrentrick  für  den  richtigen  gehalten,  so  stand 
Jordanus'  Wiege  in  den  Wäldern  des  Eggegebirges,  und  daher  rührt 
dann  wohl  der  Beiname  Jordanus  Nemorarius,  welcher  neben 
Jordanus   Saxo   in  Gebrauch  war.     Allerdings   gebrauchten  kirchliche 

')  Suter  1.  c.  S.  20  Note  5:  Quadrivium  dociiit.  ^)  Allgeraeine  deutsche 
Biographie  XIV,  501 — 503.  —  lordani  Nemorarii  de  trianguUs  libri  qtmtuor,  heraus- 
gegeben von  Max  Curtze  als  VI.  Heft  der  Mittheilungen  des  Copemicus -Vereins 
für  Wissenschaft  und  Kunst  zu  Thorn  (1887).  Einleitung  S.  IV— V  ein  Brief 
von  Denifle,  der  sich  dagegen  erklärt,  in  Jordanus  Saxo  und  Jordanus  Nemo- 
rarius dieselbe  Persönlichkeit  zu  erkennen.  —  Die  Papsturkunden  Westfalens  bis 
zum    Jahre    1378   bearbeitet    von    Dr.   Heinrich    Finke    (1888),  Einleitung  S. 

XXXII— xxxin. 


58  43.  Kapitel. 

Quellen  ausschliesslicli  den  Namen  Jordanus  Saxo;  weder  im  General- 
archiv  des  Ordens  noch  in  den  Briefen  des  Jordanus  kommt  jemals 
Xemorarius  vor,  welcher  Beiname  nur  in  üeberschriften  wissenschaft- 
licher Werke  angetroffen  wird.  Aus  diesem  Grunde  war  es  auch 
lange  unbekannt  und  wird  es  noch  heute  von  schätzbarer  Seite  in 
Abrede  gestellt,  dass  beide  Persönlichkeiten  nur  eine  und  dieselbe 
seien.  Uns  scheint  ein  schwerwiegender  Beweisgrund  dafür  eine 
Stelle^)  in  der  Chronik  eines  englischen  Schriftstellers  des  XIV. 
.Jahrhunderts,  Nicolaus  Trivet,  welche  von  dem  1222  in  Paris 
zum  Ordensgenerale  gewählten  Jordanus  deutlich  aussagt,  er  habe  in 
Paris  eines  grossen  Namens  in  den  weltlichen  Wissenschaften,  ins- 
besondere in  der  Mathematik,  sich  erfreut  und  habe  zwei  äusserst 
nützliche  Bücher  geschrieben,  das  eine  De  Fonderi,  das  andere  De 
lineis  datis,  und  grade  solche  üeberschriften  kommen  in  Verbindung 
mit  dem  Verfassernamen  Jordanus  Nemorarius  vor.  Eine  weitei-e 
Bestätigung  giebt  uns  der  Dominikaner  Jacob  von  Soest '^),  der 
um  1420  eine  Chronik  seines  Ordens  verfasste  und  darin  an  zwei 
Stellen  von  dem  Ordensgenerale  Jordanus  berichtet,  er  habe  neben 
anderen  Werken  geometricalia  delicata  geschrieben.  Die  Thätigkeit 
des  Ordens  war,  während  Jordanus  demselben  vorstand,  eine  ganz 
gewaltige.  Vier  neue  Provinzen,  Dänemark,  Polen,  Griechenland, 
Palästina,  wurden  ihm  eröffnet,  an  60  neue  Klöster  gegründet.  Die 
Beredsamkeit  des  Generals,  die  sich  namentlich  in  den  abwechselnd 
in  Paris  und  in  Bologna  gehaltenen  Fastenpredigten,  aber  auch  in 
Predigten  vor  den  Studirenden  in  Padua  bewährte^),  gewann  über 
1000  neue  Mitglieder.  In  den  Jahren  1228  und  1230  wurden  dem 
Orden  zwei  Lehrkanzehi  in  Paris  übertragen,  um  die  sich  allerdings 
ein  fast  40  Jahre  dauernder  Streit  erhob,  die  aber  schliesslich  dem 
Orden  verblieben.  Jordanus  starb  am  13.  Februar  1237  auf  der 
Rückreise  aus  dem  heiligen  Lande.  Wir  haben  seiner  Ordensthätig- 
keit  genauer  gedacht,  weil  dadurch  die  Bedeutsamkeit  der  ganzen 
Persönlichkeit  —  wenn  deren  nach  der  Annahme,  welcher  wir  uns 
anschliessen,  nur  eine  ist  —  um  so  deutlicher  hervortritt.  Man  wird 
aus  dieser  Thätigkeit  auch  den  Schluss  ziehen  dürfen,  dass  sie  für 
wissenschaftliche  Arbeiten  wenig  Raum  Hess,  dass  daher  die  mathe- 
matischen Schriften  wohl  schon  vor  1222  entstanden  sein  werden 
und  dem  Verfasser  den  von  Trivet  gerühmten  grossen  Namen  ver- 
schafft hatten.    Ob  er,  wie  wir  oben  leise  andeuteten,  vielleicht  auch 


*)  Der  Entdecker  dieser  Stelle  war  Fürst  Bald.  Boncompagni  in  Rom. 
*)  Ueber  Jacob  von  Soest  vergl.  Allgemeine  deutsche  Biographie  XIII,  556;  die 
hier  wichtigen  Stellen  seiner  Chronik  sind  bei  Finke  1.  c.  mitgetheilt.  ^)  De- 
nifle,  Die  Universitäten  des  MittelalteTs  bis  1400.   I,  282. 


Jordanus  Nemorarius.     Seine  Arithmetica  ii.  der  Algorithmus  demonstratus.     59 

in  Paris  gelehrt  hat,  ja  sogar  ob  Nemorarius  und  Saxo  eine,  oh  zwei 
Personen  waren,  ist  für  die  Würdigung  der  Schriften,  zu  welcher 
wir  uns  wenden  müssen,  ganz  gleichgiltig.  Nur  die  eine  Bemerkung 
möchten  wir  hinzufügen,  dass  einer  Lehrthätigkeit,  wie  wir  sie  ver- 
muthen,  nicht  im  Wege  steht,  dass  es  in  den  Satzungen  des  Domini- 
kanerordens von  1228  heisst^):  „Die  Ordensmitglieder  sollen  in  den 
Büchern  heidnischer  Philosophen  nicht  studiren  .  .  . ;  sie  sollen  auch 
die  sogenannten  freien  Künste  nicht  erlernen,  es  sei  denn,  dass  für 
einzelne  Persönlichkeiten  besondere  Erlaubniss  ertheilt  worden  sei." 
Wenn  für  irgend  Einen  eine  solche  Erlaubniss  je  ertheilt  wurde,  so 
muss  es  für  Jordanus  gewesen  sein,  abgesehen  davon  dass  die  Zeit, 
in  welcher  dieser  lernte  und  auch  die,  in  welcher  er  vielleicht  selbst 
lehrte,  um  Jahre  früher  lag  als  jene  Satzungen.  Davon  aber  vollends, 
dass  wer  ausnahmsweise  Mathematik  zu  erlernen  die  Erlaubniss  er- 
hielt, sie  nicht  weiter  lehren  dürfe,  ist  in  den  Satzungen  gar  nicht 
die  Rede. 

Zur  Frage,  ob  Jordanus  Nemorarius  und  Jordanus  Saxo  eine 
Persönlichkeit  darstellen  oder  nicht,  müssen  wir  auch  einer  gewissen 
Handschrift  gedenken.  Sie  befindet  sich  zur  Zeit  in  der  Bibliothek 
des  verstorbenen  Lord  Thomas  Philipps  in  Cheltenham  und  führt 
dort  die  Nr.  16345.  H.  SchenkP)  beschreibt  sie  unter  dieser  Nummer 
als  4"m.S.XII(1170)  und  bezeichnet  den  Inhalt  als  Mathematici  veteres. 
In  dem  Sammelbande,  der  mit  der  Astronomie  des  Alfraganus  in  der 
Uebersetzung  des  Johannes  Hispaniensis  abschliesst,  befindet  sich 
auch:  Jordani  (McKjistri),  De  Alyorismo  cum  commento.  Wäre  hier 
Jordanus  Nemorarius  gemeint,  und  wäre  der  ganze  Band  1170  ge- 
schrieben, so  müsste  der  Verfasser  des  Algorismus  spätestens  1150 
geboren  sein  und  wäre  im  Todesjahre  1237  des  Jordanus  Saxo  min- 
destens 87  Jahre  alt  gewesen,  was  mit  einer  Orientreise  kaum  in 
Einklang  zu  bringen  ist.  Jener -Band  wird  aber  auch  von  seinem 
Beschreiber  als  Libri  665  bezeichnet  und  ist  unter  dieser  Nummer 
in  dem  Libri'schen  Kataloge^)  enthalten.  Dort  heisst  es  ausdrücklich, 
nur  Alfraganus  trage  die  Jahreszahl  1170,  die  früheren  Bestandtheile 
des  Bandes,  und  insbesondere  der  Algorismus  des  Jordanus,  könnten 
sehr  wohl  später  als  Alfraganus  niedergeschrieben  sein.  Damit  wird 
die  obige  Schlussfolgerung  auf  das  Geburtsjahr  des  Jordanus  hin- 
fällig. Ueberdies  sind  die  Anfangsworte  des  Algorismus  des  Magister 
Jordanus  von  Libri  erwähnt:  Nmnerontm  sunt  IX,  1,  2,  3,4,5,6,7,8,9 


*)  Denifle,  Die  Universitäten  des  Mittelalters  bis  1400.  1,719  Note  179. 
*)  Sitzungsberichte  der  Wiener  Akademie,  Historisch-philologische  Classe  (1893) 
XXVII,  55.  ^)  Catalogue   of  the   extraordinary   coUection  of  splendid  manu- 

scripts  formed  by  M.  Guglielmo  Libri.    London  1859.    Nr.  665  pag.  145—148. 


60  •  43.  Kapitel. 

et  est  prima  iinitatis,  uud  so  beginnt  weder  die  Arithmetik,  noch  der 
Algorithmus  demonstratus  des  Jordanus  Nemorarius,  von  welchem 
sogleich  die  Rede  sein  wird. 

Ob  unter  den  Schriften  des  Jordanus  Nemorarius  auch  eine 
Optik  war,  ist  mehr  als  nur  zweifelhaft.  Beschrieben  ist  sie  niemals 
worden,  nur  der  Titel  De  speculis,  welchen  eine  Handschrift  in  der 
Bodleyanischen  Bibliothek  zu  Oxford  führen  soll^),  unterstützt  die 
Annahme,  während  aus  einer  Amplonianischen  Handschrift  in  Erfurt 
hervorgeht^),  dass  die  sogenannte  Optik  des  Jordanus  nichts  anderes 
als  die  Katoptrik  des  Euklid  ist. 

Eine  astronomische  Schrift  Planisphaerium  ist  wiederholt  im 
Drucke  erschienen^).  In  ihr  soll  zum  ersten  Male  in  aller  Strenge 
bewiesen  sein,  dass  Kugelkreise  sich  wieder  als  Kreise  auf  einer 
Tangentialebene  einer  Kugel  projiciren,  sofern  der  Berührungspunkt 
der  Projectionsebene  und  das  Auge  die  entgegengesetzten  Endpunkte 
eines  und  desselben  Kugeldurchmessers  sind. 

Ferner  ist  ein  Bruchstück  einer  ursprünglich  aus  vier  Büchern 
bestehenden  Mechanik  unter  dem  Titel  De  ponderibus  in  13  Lehr- 
sätzen im  Drucke  erschienen*),  allerdings,  wie  es  scheint,  mit  er- 
gänzenden Zusätzen  des  Herausgebers,  der  die  kurzen  gedrungenen 
Beweise  des  Jordanus,  wie  sie  in  einer  thorner  Handschrift^)  erhalten 
sind,  erweitern,  beziehungsweise  verwässern  zu  müssen  glaubte. 

Nannten  wir  diese  Schriften  nur  im  Vorübergehen,  so  müssen 
wir  bei  einer  Arithmetik  etwas  verweilen,  welche  schon  seit  dem 
Ende  des  XV.  Jahrhunderts  im  Drucke  bekannt  ist^).  In  10  Büchern 
werden  folgende  Hauptgegenstände  behandelt:  1.  Allgemeine  Zahlen- 
eigenschaften. 2.  Von  den  Verhältnissen.  3.  Von  Primzahlen  und 
zusammengesetzten  Zahlen.  4.  Von  Zahlen,  die  in  stetigem  Verhält- 
nisse zu  einander  stehen.  5.  Von  den  zusammengesetzten  Verhält- 
nissen.     6.  Von   Quadi-atzahlen,   Kubikzahlen   und   einander  ähnlichen 

1)  Heilbronner,  Historia  matheseos  universae  (1742)  S.  604.  §  263  Nr.  14. 
—  Chasles,  Apergu  hist.  .517  (deutsch  605).  —  Curtze  im  VI.  Heft  der  Mit- 
theilungen Coppem.-Vereins  zu  Thom.  Einleitung  S.  XI.  ^  Curtze  brieflich. 
«)  Chasles,  Apercu  hist.  516  (deutsch  603—604)  giebt  Drucke  von  1507,  1536, 
1558  an.  —  Weidler,  Historia  Astronomiae  (1741)  pag.  276:  lordanus  Kemo- 
rarius  demonstrationem  astrdlabii  et  planisphaerü  lucnhratus  est  editum  Basileae 
cum  Tlieon is  commentarüs  in  Aratum.  *)  Liber  lordani  Nemorarii  viri  darissimi  de 
ponderibus  propositiones  XIII  etc.  (1533),  herau.-^gegeben  durch  Peter  Apianus. 
Vergl.  Curtze  im  Supplementheft  zu  Zeitschr.  Math.  Phys.  XIII  (1868)  S.  91—92. 
^)  Die  Handschrift  R.  4^.  2  Problematum  Euclidis  explicatio  der  königl.  Gymnasial- 
bibliothek zu  Thorn.  ^)  Die  beiden  Ausgaben  von  1496  und  von  1514  be- 
sorgte Faber  Stapulensis  {Lefevre  d'Etaples)  in  Paris.  Er  veränderte  den 
Text  des  Jordanus  nicht,  fügte  aber  neue  Sätze  mit  eigenen  Beweisen  hinzu. 


Jordanus  Nemorarius.    Seine  Arithmetica  u.  dei-  Algorithmus  demoustratus.     Gl 

Zalilen.  7.  Von  graden  und  uugraden,  vollkommenen,  überscliiessen- 
den  und  mangelhaften  Zahlen.  S.  Von  den  vieleckigen  und  körper- 
lichen Zahlen.  9.  Von  Gleichheit  und  Ungleichheit,  vielfachen  und 
anderen  Verhältnissen  unterworfenen  Zahlen.  10.  Vom  arithmetischen, 
geometrischen  und  harmonischen  Mittel. 

Keinem  Kenner  des  griechischen  Musterwerkes  des  Nikomachus 
wie  der  lateinischen  Nachbildung  des  Boethius  kann  es  entgehen, 
dass  Jordanus  nach  der  älteren  Vorlage,  und  zwar  nach  der  lateinischen 
gearbeitet  hat,  aber  er  hat  doch  gearbeitet.  Weder  die  Reihenfolge, 
noch  die  Ausdrucksweise  der  einzelnen  Sätze  ist  genau  und  unver- 
ändert beibehalten.  Um  nur  zwei  Beispiele  hervorzuheben  machen 
wir  auf  Folgendes  aufmerksam.  Boethius  hat  für  Grundsätze  den 
Namen  Communes  conceptiones  entsprechend  dem  griechischen  xoLval 
ivvoCai.  Jordanus  hat  ein  dem  griechischen  ah,id)^uta  nachgebildetes 
Wort  Dignitates ^),  das  gleiche  Wort,  welches  in  einer  gleichfalls 
dem  XIII.  Jahrhuuderte  entstammenden  lateinischen  Uebersetzuug  des 
Alfarabi  im  gleichen  Sinne  gebraucht  ist^).  Boethius  nennt  die  über- 
schiessenden  Zahlen  numeros  superfluos,  Jordanus  nennt  sie  abun- 
dantes,  und  sein  Beispiel  ist  später  massgebend  geblieben.  Numeri 
perfecti  und  deminuti  sind  Kunstausdrücke,  in  denen  Beide  überein- 
stimmen. Jordanus  nennt  mitunter,  wenn  auch  nicht  grade  häufig, 
Boethius  oder,  wie  er  lieber  sagt,  den  göttlichen  Severinus  als  seinen 
Gewährsmann,  noch  seltener  Euklid  und  Aristoteles.  Irgend  einem 
arabischen  Namen  sind  wir  nicht  begegnet.  Die  wesentlichste  Eigen- 
thümlichkeit,  die  das  Werk  des  Jordanus  gradezu  zu  einem  bahn- 
brechenden stempelt,  ist  die  fortwährende  Benutzung  allgemeiner 
Buchstaben  statt  besonderer  bestimmter  Zahlen^).  Wir 
haben  Buchstaben  statt  der  einzelnen  Potenzen  der  Unbekannten  bei 
Diophant,  bei  Arabern  auftreten  sehen.  Wir  waren  in  der  Lage  bei 
Aristoteles,  bei  Pappus  auf  Buchstaben  hinzuweisen,  die  einen  be- 
liebigen Werth  darstellten.  Wir  vermochten  (S.  17)  auch  bei  Leo- 
nardo ein  vereinzeltes  Vorkommen  solcher  Buchstabenanwenduug 
nachzuweisen,  aber  es  waren  eben  nur  vereinzelte  Vorkommen,  wäh- 
rend Jordanus  diese  Anwendung  so  sehr  in  Gewohnheit  hat,  dass 
fast    nirgend   neben    den   Buchstaben   bestimmte  Zahlen   als  Beispiele 


^)  Bei  Ducange  ist  •  zwar  Dignitatio  =  agioiyia  angegeben,  aber  nicht 
Dignitas.  *)  Prantl,  Geschichte  der  Logik  im  Abendlande  II,  316.  ^)  Vergl. 
Max  Curtze  in  der  Einleitung  zu  seiner  Ausgabe  des  Tractatus  de  numeris 
datis  in  der  Zeitschr.  Math.  Phys.  (1891)  XXXVI  Histor.-liter.  Abtlg.  S.  1—3  ähn- 
liche Gedanken  wie  die  unsrigen,  in  deren  Aeusserung  unser  verehrter  Freund 
uns  in  selbständiger  Weise  zuvorgekommen  ist,  eine  Uebereinstimmung,  welche 
wohl  zu  Gunsten  der  Richtigkeit  dieser  Gedanken  gedeutet  werden  mag. 


62  43.  Kapitel. 

anders  als  am  Räude  mitgeführt  werden  und  niemals  Zahlen  ohue 
Buchstaben  auftreten.  Wir  würden  desshalb  keinen  Anstand  nehmen, 
Jordanus  den  unmittelbaren  Vater  der  späteren  Buchstabenrechnung 
zu  nennen,  wenn  nicht  ein  zweifacher  Unterschied,  ein  Zuwenig  und 
ein  Zuviel,  dazu  aufforderten  anzuerkennen,  dass  es  auch  nach  Jor- 
danus noch  erfinderischen  Geistes  bedm-fte,  um  die  Buchstabenrechnung 
der  Wissenschaft  als  brauchbares  Mittel  an  die  Hand  zu  geben.  Was 
Jordanus  noch  fehlte  waren  Symbole,  die  neben  und  mit  den  Buch- 
staben zur  Anwendung  gekommen  wären.  Er  besass  kein  Gleichheits- 
zeichen, kein  Zeichen  der  Subtraction,  der  Multiplication,  der  Di- 
vision. Einzig  die  Addition  vermochte  er  ohne  zwischengeschriebenes 
Wort  anzudeuten,  da  für  ihn  die  unmittelbare  Aufeinanderfolge 
von  Buchstaben  z.  B.  ahc  als  Ergebniss  der  Addition  der  durch 
diese  Buchstaben  dargestellten  Zahlengrössen  aufgefasst  werden 
muss^).  Aber  dieser  Mangel  haftete  noch  Jahrhunderte  lang  den 
Versuchen  einer  allgemeinen  Rechenkunst  an.  Weit  empfindlicher 
ist  für  den  heutigen  Leser  der  Arithmetik  des  Jordanus  das,  was 
wir  das  Zuviel  der  Buchstabenanwendung  bei  ihm  genannt  haben. 
Die  heutige  Buchstabenrechnung  vereinigt  zwei  Vorzüge:  Allgemein- 
heit und  Durchsichtigkeit.  Wenn  etwa  3-|-4=7,  7x5=>=  35, 
35  -f-  5  =  40,  40 : 4  =  10,  10  —  3  =  7  gerechnet  wird,  so  ist  eine 
ganz  bestimmte  Zahl  7  der  Endpunkt  dieser  aus  fünf  Einzelrechnungen 
zusammengesetzten  Gedankenfolge,  und  man  weiss  in  der  7  die  Bil- 
dung dieser  Zahl  nicht  mehr  zu  erkennen.  Wenn  dagegen  die  Opera- 
tionen so  lauten  a-\-{a-\-l)  =  2a-\-l,  (2a-\-l)(a-j-2)==2a^-\-öa-\-2, 
(2a2  4-  5 a  +  2)  +  {a  -f-  2)  =  2a'  +  (>«  +  4,  (2a^  +  6«  +  4)  :  (a  +  1) 
=  2a-\-  4,  (2«-f-4j  —  a  =  a-|-4,  so  bleibt  nicht  nur  Alles  richtig, 
wenn  auch  für  a  eine  andere  Zahl  als  3  eingesetzt  wird,  sondern  es 
ist  auch  rt  -f"  4  als  Endergebniss  zu  jenem  unbestimmt  gelassenen  a 
in  deutlich  erkennbarer  Beziehung.  Das  aber  hört  auf,  sobald  in 
den  Einzeloperationen  immer  neue  und  neue  Buchstabenbezeichnungeu 
eingeführt  werden  müssen;  eine  Noth wendigkeit  allerdings,  die  aus 
den  mangelnden  Operationszeicheu  rettungslos  sich  ergiebt,  die  aber 
darum  nicht  weniger  verdunkelnd,  also  schädlich  einwirkt.  Lassen 
wir  den  12.  Satz  des  VI.  Buches  uns  als  Beispiel  dienen-):  Drei 
Quadrate  zu  finden,  deren  in  fortlaufender  Reihe  gebildete  Unter- 
schiede gleich  seien,  eine  Aufgabe  also,  welche  weniger  schwierig  ist 
als  die  Leonardo's  von  Pisa,  welcher  die  Differenz  zum   voraus   als 


*)  Bei    Leonardo    von   Pisa    hatte    eine    solche  Buchstabenfolge    (S.  17) 
multiplicative    Bedeutung.  *)    Quadratos   tres   investigare,    quorum   continue 

fiumptorum  diß'erenUa  sint  aequales.    Am  Rande  sind  neben  anderen  Zahlen  auch 
1,  25,  49  angegeben. 


Jordanus  Xemorarius.    Seine  Arithmetica  u.  der  Algorithmus  demonstratus.     63 

gegeben  annahm,  welche  aber  doch  dem  gleichen  zahlentheoretischen 
Gedankenkreise  angehört.  Die  Lösung  des  Jordanus  ist  folgende. 
Es  sei  h  eine  ganz  beliebige ,  c  eine  grade  Zahl.  Dann  sei  ferner 
h-\-c==a,  a-\-h=^d,  ca  =  h,  cJb-^Jc,  ad  =  e,  hd^^f.  Man  zer- 
lege   e   in    drei    ungleiche  Theile    e  =  l-\-  m-\-g.      Setzt    man  g===^f, 

so  darf  man  l  =  ]i,  m='k  setzen.     Wird  endlich  -i-^  =  v,  g  —  v=r, 

e  —  v^q  gesetzt,  so  sind  r^,  v',  q^  die  gesuchten  Quadrate.  Wer 
kann  heute  noch  dieser  Rechnung  folgen,  ohne  sie  in  andere  den 
Gang   der   Operationen  erkennbar  machende  Buchstabenverbindungen 

umzusetzen,   bis   das  Schlussergebniss  r  =  h^  —  ~?  v=^h"  -\-hc-\-  y  ' 

q  ^^  h- -\- 2hc -\- ~    nach    erfolgter    Quadrirung    die    Richtigkeit    der 

Auflösung  erkennen  lässt  einschliesslich  der  Nothwendigkeit  für  c 
eine  grade  Zahl  zu  wählen,  wenn  man  ganzzahlige  Quadrate  wünscht? 
Nicht  ohne  Interesse  dürfte  es  sein,  dass  an  die  genannte  Aufgabe 
die  weitere  sich  anschliesst,  eine  Quadratzahl  zu  finden,  welche  zu 
einer  gegebenen  Quadratzahl  addirt  wieder  eine  Quadratzahl  liefere, 
also  mit  anderen  Worten  ein  pjthagoräisches  Dreieck  zu  bilden,  dessen 
eine  Kathete  gegeben  ist.  Wir  finden  das  Interesse  nämlich  darin, 
dass  hier  die  Reihenfolge  der  Aufgaben  die  umgekehrte  ist  wie  bei 
Diophant,  bei  den  Arabern,  bei  Leonardo  von  Pisa.  Sie  alle  nahmen 
in  mehr  oder  weniger  ausgesprochener  Weise  das  pythagorüische 
Dreieck  zum  Ausgangspunkte,  um  zu  einer  arithmetischen  Progression 
von  Quadratzahlen  zu  gelangen.  Jordanus  ist  der  Einzige,  der  den 
entgegengesetzten  Weg  einschlug. 

Genau  denselben  Charakter  wie  die  Arithmetik  trägt  eine  Schrift, 
welche  unter  Anderen  in  einer  Basler  Sammelhandschrift  ^)  aus  der 
Mitte  des  XIV.  Jahrhunderts  neben  anderen  Schriften  des  Jordanus 
sich  erhalten  hat,  und  welche  desshälb  mit  an  Gewissheit  streifender 
Wahrscheinlichkeit  dem  Jordanus  zugewiesen  worden  ist^).  Wir 
meinen  den  1534  bei  dem  bekannten  Drucker  Petrejus  in  Nüi-nberg 
erschienenen  Algorithmus  demonstratus.  Der  Herausgeber  Jo- 
hannes   Schöner    berichtet    in    der  Vorrede^),    ihm    stehe    ein    aus 

^)  Die  oftgenannte  Handschrift  F  11,  33  der  Basler  Stadthibliothek.  ^)  Jor- 
danus als  Verfasser  erkannt  zu  haben  ist  das  Verdienst  von  H.  P.  Treutlein. 
Vergl.  Zeitschr.  Math.  Phys.  (1879)  XXIV  Supplementheft   S.  132.  ^)  Von-ede 

pag.  4 :  Iticidi  nuper  in  libellum  .  .  .  exaratum  max.  et  doctiss.  viri  Regimontani 
divina  manu,  quem  in  Vienensi  quapiam  bibliotheca  audio  asservari  hoc  titulo: 
Älgarithnius  demonstratus  incerti  autoris,  unde  suspicor  hoc  exemplum  fuisse  de- 
scriptum.  Der  Algorithmus  demonstratus  selbst  besteht  aus  57  nicht  mit  Seiten- 
zahlen versehenen  Druckseiten.  Unsere  Seitenangaben  im  Folgenden  beruhen 
auf  eigener  Zählung,  wobei  die  4  Seiten  Vorrede  nicht  mitgezählt  wurden. 


64  43.  Kapitel. 

der  Feder  des  Regiomontanus  geflossener  Text  zur  Verfügung^ 
welchen  dieser  wahrscheinlicli  aus  einer  in  Wien  befindlichen  Hand- 
schrift abgeschrieben  habe.  Diese  unzweifelhaft  richtige  Angabe  hat 
aber  nicht  zu  verhindern  vermocht,  dass  man  die  längste  Zeit  nur 
daran  sich  hielt,  dass  das  dem  Drucker  zu  Grunde  liegende  Manuscript 
von  Regiomontanus  geschrieben  war,  und  dass  man  ihn,  den  Schreiber, 
auch  für  den  Verfasser  hielt,  jedenfalls  ein  glänzendes  Zeugniss  für 
die  Schrift  selbst,  wie  wir  im  Verlaufe  dieses  Bandes  erkennen  werden. 
Vereinigen  wir  die  Thatsache,  dass  Regiomontanus  den  Algorithmus 
demonstratus  abschrieb,  mit  der  anderen  nicht  minder  verbürgten, 
dass  er  eine  von  ihm  sehr  geschätzte  andere  Schrift  des  Jordanus, 
welche  uns  im  folgenden  Kapitel  genau  bekannt  werden  wird,  heraus- 
zugeben beabsichtigte^),  so  kann  man  vielleicht  darin  eine  Unter- 
stützung der  hier  festgehaltenen  Ansicht  von  dem  Ursprünge  des 
Algorithmus  demonstratus  finden.  Eine  unmittelbare  Bestätigung  des 
Jordanus  als  Verfasser  wird  uns  endlich  im  69.  Kapitel  begegnen, 
wenn  wir  in  unserer  Geschichte  an  den  Schluss  des  XVI.  Jahrhunderts 
gelangt  sein  werden.  Jordanus  also  setzt  seinen  Lesern  zunächst  das 
dekadische  Zahlensystem  mit  seinen  zehn  Zeichen  auseinander,  wobei 
die  Null  cifra  oder  Kreis  (circidus)  oder  Zeichen  für  Nichts  {figura 
niliili)  genannt  wird.  Er  unterscheidet  nicht  bloss  im  mittelalter- 
licher Weise  Fingerzahlen  (digiti)  von  Gelenkzahleu  (articidi),  sondern 
auch  Gelenkzahlen  verschiedener  Ordnung,  wir  würden  heute  sagen 
neben  den  Zehnern  die  Hunderter,  Tausender  u.  s.  w.^).  Die  Zahlen 
werden  dann  addirt,  von  einander  subtrahirt.  Wo  bei  der  Sub- 
traction  das  Borgen  einer  Einheit  höheren  Ranges  nöthig  fällt,  wird 
die  nächste  Ziffer  des  Minueudus  um  dieselbe  verkleinert^).  Als  be- 
sonders behandelte  Aufgaben  folgen  die  Verdoppelung  und  die 
Halbirung  einer  Zahl^).  Bei  der  Multiplication  ist  als  erste  Regel 
ausgesprochen,  dass  das  Product  f  zweier  Fingerzahlen  a  und  b  ent- 
stehe, wenn  man  von  g  als  dem  lOfachen  von  a  die  Zahl  d  abziehe, 
welche  als  c-faches  von  a  gebildet  ist,  während  c  selbst  den  Ueber- 
schuss  der  10  über  h  bedeutet^).  Man  wird  darin  die  complementäre 
Regel  a-b=10a  —  (10 — b)  •  a  erkennen,  welche  zwar  mit  den 
ähnlichen  Regeln,  die  im  I.  Bande  wiederholt  zur  Sprache  kamen, 
nicht  genau  übereinstimmt,  ihnen  aber  begriffhch  sehr  nahe  steht. 
Weitere  Regeln  über  Multiplication  von  Fingerzahlen  mit  Gelenk- 
zahlen, von   Gelenkzahlen  unter  einander  schliessen  sich  an,  bis  zu- 


^)  Treutlein  1.  c.  S.  127  Note  und  S.  128.  ^)  Algor.  demonst.  pag.  4. 
')  Ebenda  pag.  6.  *)  Ebenda  pag.  7 :  Quomodo  duplatio  nimieri  facienda  sit  do- 
cere.    Datum  numerum,  si  fieri  potest,  dimidiare  sit  intentio.         ^)  Ebenda  pag.  8. 


Jordanus  Nemorarius.     Seine  Arithmetica  u.  der  Agorithmus  demonstratus.     65 

letzt  erklärt  wird^),  mau  könne  unmöglich  alle  Fälle  in  Kürze  er- 
schöpfen, ein  vorsichtiger  Rechner  werde  aber  nach  Art  der  gegebeneu 
Muster  jedes  andere  Beispiel  bilden  können.  Die  Divisiou  wird  durch 
mancherlei  Vorübungen  eingeleitet,  zuletzt  in  der  Form  gelehrt^), 
welche  künftig  immer  durch  den  Namen  Ueberwärtsdividiren^) 
bezeichnet  werden  soll.  Der  Divisor  steht  bei  diesem  Verfahi-en  unter 
dem  Dividenden  und  über  diesem  kommt  der  Quotient  zu  stehen, 
während  der  Dividend  selbst  durch  Abziehen  der  Theilproducte  fort- 
während verändert  wird.  Die  Anordnung  ist  also  verschieden  von 
derjenigen,  welche  Leonardo  von  Pisa  (S.  11)  gelehrt  hat.  Multipli- 
cation  und  Division,  heisst  es  im  Anschlüsse  an  die  Regel,  dienen 
sich  gegenseitig  als  Probe*),  dagegen  ist  von  einer  Neunerprobe  oder 
dergleichen  nirgend  die  Rede.  Es  folgt  die  Bildung  der  Quadrat- 
zahlen ^)  nach  der  Regel 

(a-f  &  +  c+---)'=«'  +  &'  +  c"'H \-2ah-{-2ac-\ p2^c  +  --- 

und  unter  Hervorhebung  des  Satzes,  dass  das  Quadrat  höchstens  aus 
doppelt  so  viel  Zifieru  als  die  einfache  Zahl  bestehen  könne,  dann 
die  Ausziehung  der  Quadratwurzel  aus  gauzen  Zahlen*^),  sei  es  dass 
dieselbe  genau  möglich  sei  oder  auch  nicht.  Im  letzteren  Falle  wird 
freilich  die  Genauigkeit  nicht  über  die  ganzzahlige  Annäherung  hin- 
ausgetrieben. Einigermassen  überraschend  kommt  unmittelbar  nach 
der  Quadratwurzelausziehung  der  Satz  von  der  Vertauschbarkeit  der 
Factoren^)  a  -h  ■  c  =  a  ■  c  -h,  nach  diesem  die  Bildung  von  Kubik- 
zahlen  mit  höchstens  dreifacher  Ziff'ernzahl  von  der  der  einfachen 
ZahP)  und  die  Ausziehung  der  Kubikwurzel'')  in  gleicher  Annäherungs- 
beschränkung wie  weiter  oben  die  der  Quadratwurzel. 

Auf  25y2  Seiten  ist  sonach  das  Rechnen  mit  ganzen  Zahlen  er- 
ledigt und  Jordanus  geht  zum  Bruchrechuen  über.  Sexagesimal- 
brüche  (minutiae  philosophicae  oder  "auch  phisicae)  werden  von  ge- 
wöhnlichen Brüchen  (minutiae  vulgares)  unterschieden  ^°).  Gewöhnliche 
Brüche    werden    so    geschrieben,    dass    ohne    trennenden   Bruchstrich 

der  Zähler  (numerans)  über  dem  Neuner  (denominans)  steht,  z.  B.  '  ■ 
Wo  dagegen  im  fortlaufenden  Texte  allgemeine  Buchstaben  gebraucht 
sind,   stehen   dieselben   einfach  neben  einander,  also  ah  für  -^-     Bei 


^)  Algor.  demonstr.  pag.  12.  ^)  Ebenda  pag.  18.  ^)  Wir  lehnen  uns 

m  der  Anwendung  dieses  Wortes  an  ünger,  Die  Methoden  der  praktischen 
Arithmetik  in  historischer  Entwickelung  vom  Ausgange  des  Mittelalters  bis  auf 
die  Gegenwart  (1888)  S.  78,  §  46  und  häufiger.  Wir  citiren  dieses  Werk  künftig 
als  Unger.  *)  Algor.  demonstr.  pag.  18:   Mutuo  se  probant  vmltipUcandi  et 

dividendi  operationes.  ^)  Ebenda  pag  19.  <^)  Ebenda  pag.  20—22.  ')  Ebenda 
pag.  22.         **)  Ebenda  pag.  23—24.        ■')  Ebenda  pag.  25.        '")  Ebenda  pag.  27. 

Cantor,  Gescliichte  der  Mathem.    II.    2.  Aufl.  .'S 


66  43.  Kapitel. 

Sexagesiinalbrüclieu  wird  der  Nenner  nie  geschrieben,  weil  es  gewiss 
ist,  dass  60  die  Benennung  liefert.  Man  muss  bei  ihrer  Anschreibung 
(in  earum  fignratione)  auf  die  Stelle  achten.  Die  erste  Stelle  ist  die 
der  Ganzen,  die  zweite  die  der  Minuten,  die  dritte  die  der  Sekunden 
u.  s.  w.  Die  Aufgabe,  zwei  Brüche  auf  gemeinsamen  Nenner  zu 
bringen^),  führt  wieder  zumAddiren  und  Subtrahiren,  zum  Verdoppeln 
und  Halbiren  der  Brüche.  Brüche  multiplicirt  man  durch  Verviel- 
fachung von  Zähler  mit  Zähler  und  von  Nenner  mit  Nenner.  Die 
Multiplication  von  Sexagesimalbrüchen  ist  mit  Rücksicht  auf  die 
Benennung  des  Productes  etwas  weitläufiger  behandelt.  Die  Ableitung 
der  DivisionsregeP)  gewöhnlicher  Brüche  verdient  hervorgehoben  zu 
werden.  Entsprechend  der  Multiplicationsregel  wäre  die  einfachste 
Resfel  die,  man  solle  Zähler  durch  Zähler,  Nenner  durch  Nenner 
dividiren.  Da  das  aber  nicht  immer  ohne  Weiteres  angeht,  so  soll 
man  den  Dividenden  zuerst  erweitern,  indem  man  ihn  im  Zähler  und 
Nenner  mit  Zähler  und  Nenner  des  Divisors  vervielfacht.     Also 

c      a  cab      a  cab  :a cb 

d   '   b         dab  '   b        dab : b        da 

Dabei  kommt  auch  das  Kürzen  von  Brüchen  in  Betracht,  welches 
z.  B.  so  ausgeführt  wird"),  dass  man  den  Bruch  vorher  durch  eine 
solche  Zahl  erweitert,  welche  sodann  das  Kürzen  durch  den  früheren 

Nenner  gestattet:  -^  =  r^  =  — 3—-    Das  Dividiren  von  Sexagesimal- 
°  b        ba  a  " 

brüchen  wird  besonders  gelehrt^).  Beim  Wurzelausziehen  aus  Brüchen, 
sei  es  Quadrat-  oder  Kubikwurzelausziehung,  wird  von  der  bei  Jor- 
danus  besonders  beliebten  Erweiterung  Gebrauch  gemacht^),  d.  h. 
die  Wurzelausziehung  aus  dem  Nenner  wird  so  ermöglicht  und  dann 
die  Wurzelausziehung  aus  dem  Zähler  bis  zu  dem  Grade  von  Ge- 
nauigkeit durchgeführt,  den  man  früher  beim  Rechnen  mit  ganzen 
Zahlen  kennen  gelernt  hatte.  Dass  auf  das  Wurzelausziehen  aus 
Sexagesimalbrüchen  ausführlicher  eingegangen  wird,  ist  selbstver- 
ständlich. Für  künftige  Rückbeziehung  bemerken  wir,  dass  im  ganzen 
Algorithmus  demonstratus  die  Sexagesimalbrüche  stets  nur  die  RoUe 
einer  besonderen  Gattung  von  Brüchen,  von  fortlaufend  kleiner 
werdenden  Unterabtheilnngen  einer  Einheit  spielen;  von  der  Theilung 
des  Kreises  nach  Graden  u.  s.  w.  ist  keine  Rede.  Älgorithmi  dcmon- 
strati  finis  heisst  es  auf  der  54  Seite,  aber  ein  Anhang  über 
Proportionen  füllt  noch  weitere  drei  Seiten.  Er  handelt  zuerst  von 
dem   arithmetischen,   geometrischen  und  harmonischen   Mittel  zweier 


')  Algor.  demonstr.  pag.  28—29.  ')  Ebenda  pag.  33  flg.  ^)  Ebenda 

pag.  38.     *)  Ebenda  pag.  39 :  Modum  phüosophice  dividendi  pertractare.     '^)  Ebenda 
pag.  43. 


Jordanus  Nemorarius.    Seine  Arithmetica  u.  der  Algorithmus  demonstratus.     67 

Zahlen,  dann  von  den  18  Veränderungen,  welche  vorgenommen  werden 
können,  wenn,  wie  es  in  einem  Satze  des  ptolemäischen  Almagestes 
der  Fall  sei,  von  sechs  Grössen  zwei  sich  verhalten  wie  die  vier 
anderen  im  zusammengesetzten  Verhältnisse^).  Es  sind,  wie  sofort 
einleuchtet,  die  18  Combinationen  der  Regula  katta  (S.  16), 
welche  hier  einzeln  auseinandergesetzt  sind.  Von  dem  Ahmed  Sohn 
des  Josephus  ist  dabei  ebensowenig  die  Rede,  als  irgend  einmal  im 
Algorithmus  demonstratus  sei  es  ein  bestimmter  Araber,  sei  es  Araber 
im  Allgemeinen  Erwähnung  finden.  Wir  kommen  auf  die  geschicht- 
lich sehr  bedeutsame  ürsprungsfrage  noch  zurück,  wenn  wir  erst 
alle  Schriften  des  Jordanus  kennen  gelernt  haben. 


44.  Kapitel. 
Jordanus  Nemorarius:  De  numeris  datis.     De  triangulis. 

Die  dem  Inhalte  nach  der  Arithmetik  und  dem  Algorithmus 
demonstratus  nächststehende  Schrift  führt  den  Namen  De  numeris 
datis,  in  manchen  Handschriften  wohl  auch  De  lineis  datis ^). 
Sie  war  es,  mit  welcher,  wie  im  vorigen  Kapitel  erwähnt  worden 
ist,  in  der  Mitte  des  XV.  Jahrhunderts  Regiomontanus,  mit 
welcher  aber  auch  ein  starkes  Jahrhundert  später  Maurolycus  von 
Messina  bekannt  geworden  ist.  Beide  Gelehrte,  deren  Urtheils- 
fähigkeit  sehr  hoch  zu  stellen  ist,  beabsichtigten  die  Herausgabe  des 
Werkes^),  die  wohl  nur  deshalb  unterblieb,  weil  ähnliche  Absichten 
für  allzuviele  Werke  des  Alterthums  und  des  Mittelalters  daneben 
bestanden,  als  dass  die  Arbeitskraft  zweier  Männer  zur  Ausführung 
hätte  ausreichen  können.     Die  Schrift  von  den  gegebenen  Zahlen  ist 


^)  Ex  quadam  demonstratione  Ptolemaei  in  Almagesti,  positis  sex  quanti- 
tatibus  quibuscunque ,  ubi  proportio  duarum  ex  quatuor  constat  reliquarum  pro- 
jwrtionibus ,  sumi  piossunt  coniugationes  utiles  et  modi  eommunes  ex  uno  eorum 
provenientes,  et  sunt  omnes  18.  *)  Chasles,  Apergu  hist.  kennt  diese  Schrift 
noch  nicht;  dagegen  hat  Chasles  sich  1841  eingehender  mit  ihr  beschäftigt. 
Compt.  Rend.  XIII,  506  und  520.  H.  Treutlein  hat  den  Text  aus  der  Basler 
Handschrift  F  ü,  33  in  der  Zeitschr.  Math.  Phys.  XXIV,  Supplementheft  S.  135 
— 166  unter  Vorausschickung  einer  Einleitung  S.  127 — 135  zum  Abdrucke  ge- 
bracht. Eine  gereinigte  Ausgabe  veranstaltete  H.  Max  Curtze  unter  Be- 
nutzung der  Dresdner  Handschrift  C  80  in  der  Zeitschr.  Math.  Phys.  (1891) 
XXXVI  Histor.-liter.  Abthlg.  S.  1—23,  41—63,  81—95,  121—138.  Eine  werth- 
volle  Einleitung  zu  dieser  neuesten  Ausgabe  ist  auf  S.  1 — 5  zu  finden.  Wir 
citiren  ausschliesslich  die  neueste  Ausgabe  als  Zeitschr.  Math.  Phys.  XXXVI 
H.  1.  A.  mit  nachfolgender  Seitenzahl.  ^)  Treutlein  in  Zeitschr.  Math.  Phys. 

XXIV,  Supplementheft  S.  127—128, 


68  44.  Kapitel. 

in  vier  Bücher  eingetheilt,  von  welchem  das  erste  29,  das  zweite  28, 
das  dritte  23,  das  vierte  35  Aufgaben  behandelt. 

Dem  1.  Buche  könnte  als  Ueberschrift  dienen:  Wenn  zwei  qua- 
dratische Gleichungen  mit  zwei  Unbekannten  gegebeu  sind,  so  sind 
die  Unbekannten  selbst  gegeben.  Es  sind  zu  dem  Ende  die  ver- 
schiedensten Einzelfälle  behandelt.  Bald  ist  Summe  und  Product 
der  Unbekannten  gegeben,  bald  Summe  und  Quadratsumme;  dann 
ist  wieder  Differenz  und  Product  gegeben,  Differenz  und  Quadrat- 
summe, Summe  der  einfachen  Unbekannten  und  ihre  Quadratsumme 
vermehrt  um  das  Product  von  Summe  und  Differenz  u.  s.  w.  Zwei 
Aufgaben  unterbrechen,  die  eine  wirklich,  die  andere  scheinbar,  die 
Gleichförmigkeit  des  Inhaltes.  Die  2.  Aufgabe^)  lehrt  beliebig  viele 
(quotlibet)  Theile  einer  gegebenen  Summe  kennen,  wenn  die  Differenzen 
je  zweier  aufeinander  folgender  Theile  gegeben  werden.  Ist  a  die 
Summe  und  sind  h,  c,  d,  e  die  beispielsweise  angenommenen  vier 
Theile ,  deren  Unterschiede  Jordanus  h  —  6=/",  c  —  e=^g,  d  —  e^=h 
nennt,  indem  e  die  kleinste  unter  den  gesuchten  Zahlen  sein  soll,  so 
ist   h-\-c-\-d=^f-\-g-\-1i-{-?>e,    also    auch   a  (==  h  -\-  c  -\-  d  -\-  e) 

^^f-\-g-{-h-\-4:e,    e  = r-^ ;  und  nun  sind  auch  die  Zahlen 

b=^e-\-f,  c  =  e-\- g,  d=  e-\-h  bekannt.  Hier  ist  von  quadratischen 
Gleichungen  nicht  die  Kede.  Die  die  Auffindung  von  n  Unbekannten 
aus  ebensoyielen  Gleichungen  ersten  Grades  bezweckende  Aufgabe 
erinnert,  wie  sehr  richtig  bemerkt  worden  ist^),  an  das  Epanthem 
des  Thymaridas,  beziehungsweise  an  verwandte  indische  Aufgaben 
(Bd.  I,  S.  148  und  584).-  Die  7.  Aufgabe  ^j  fragt  nach  einer  Zahl, 
deren  Product  in  die  aus  ihr  selbst  und  einer  bekannten  Zahl  ge- 
bildete Summe  gegeben  ist.  Hier  scheint  nur  a{a  -{-h)  =  d  aufzu- 
lösen, wenn  wir  der  gleichen  Buchstaben  wie  Jordanus  uns  bedienen 
wollen,  also  die  einzige  Unbekannte  a  aus  der  quadratischen  Gleichung 
a^-\-ha  =  d  zu  suchen.  Jordanus  bemerkt  aber,  es  sei  h  der  Unter- 
schied von  a  -\-  h  und  a;  ihm  ist  folglich  jetzt  Unterschied  h  und 
Product  d  zweier  Unbekannten  bekannt  und  damit  die  Aufgabe  auf 
einen  Fall  quadratischer  Gleichungen  mit  zwei  Unbekannten  zurück- 
geführt. Er  verfährt  dann,  wie  folgt :  Nach  einander  wird  4:a{a-\-h)==4:d, 
IP' =}y^    gebildet,    und    beide    Gleichungen    addirt    man    und    findet 

(2a  +  hf  =  U  +.Z>1      Folglich   ist  a  =  -|(]/4^T^  —  A  ■     Auch 

hier  ist  die  werthvolle  Bemerkung  gemacht  worden'^),  die  Verviel- 
fältigung von   a{a-\-l>)^d  mit   4   erinnere  an  das  Verfahren  orien- 

1)  Zeitschr.  Math.  Phys.  XXXVI   H.  1.  A.   S.  6—7.  -)   Ebenda   S.  3—4. 

^)  Ebenda  S.  9.         ^)  Ebenda  S.  4. 


Jordanus  Nemorarius.     De  numeris  datis.     De  triangulis.  69 

talischer  Mathematiker.  In  der  That  wiissten  Inder  so  eine  Bruch- 
rechnung zu  vermeiden,  wenn  der  Coefficient  der  ersten  Potenz  der 
Unbekannten  in  einer  quadratischen  Gleichung  ungrad  war  (Bd.  I, 
S.  585).  Von  den  übrigen  Aufgaben  des  1.  Buches  nennen  wir  die  19., 
in  welcher  zwei  Zahlen  aus  ihrer  Summe  und  ihrem  Quotienten 
ermittelt  werden  sollen^).    Jordanus  nennt  die  beiden  Zahlen  a  und  h. 

Man  kennt  y-  =  c,  also  auch  c  -f-  1  =  (7  =    "T"    •     Daraus  folgt,  dass 

h  ■  d  die  gegebene  Summe,  1)  der  Quotient  der  gegebenen  Summe 
durch  d  sein  muss;  wie  man  dann  a  finde,  hält  Jordanus  offenbar 
für  so  ersichtlich,  dass  er  gar  nicht  davon  redet.  Die  29.  und  letzte 
Aufgabe"^)    des    1.  Buches    ist   dadurch   bemerkenswerth,    dass    in    ihr 

eine  irrationale  Quadratwurzel  ]/500  mit  dem  Näheruugswerthe  22-- 

auftritt,  ohne  dass  gesagt  wäre,  wie  derselbe  erhalten  wurde  (cujus 
extrahatur  radix  ad  proximum  et  erit  XXII  et  tercia).  Möglicher- 
weise rechnete  Jordanus  ]/500  =  — ]/4500no  — ==22y    An  anderen 

Stellen  des  1.  Buches  sind  irrationale  Lösungen  einfach  nicht  in  Be- 
tracht gezogen^).  An  zwei  Stellen,  nämlich  in  der  5.  und  in  der 
8.  Aufgabe^),  verweist  Jordanus  auf  Sätze  des  ersten  Buches  seiner 
Arithmetik,  welche  er  zuerst  Arismetica  lordani,  dann  Arismetica 
schlechtweg  nennt. 

Das  2.  Buch  beginnt  mit  der  Bemerkung,  dass  wenn  aus  einer 
Proportion  von  vier  Zahlen  drei  derselben  gegeben  würden,  auch  die 
vierte  gegeben  sei  und  wendet  dann  Umwandlungen  von  Proportionen, 
wie  sie  den  Griechen  vielfach  dienten  und  ihnen  die  eigentliche 
Algebra  ersetzen  mussten,  wie  aber  auch  Jordanus  im  zweiten  Buche 
seiner  Arithmetik  sie  lehrte,  zur  Auflösung  von  bestimmten  Aufgaben 
ersten  Grades  bald  mit  zwei,  bald  mit  mehreren  Unbekannten  an. 
Wählen  wir  die  20.  Aufgabe^)  einmal  heraus.  Drei  Unbekannte 
rt,  h,  c  stehen  in  Verhältnissen  zu  einander  und  zu  bekauuten  Zahlen, 
welche  in  den  Gleichungen 

a  +  6  =  l|-ö 

&  +  4  =  2c 

c  +  2  =  ya 

2  2 

ausgedrückt  sind.     Nun  ist  1—  pial  4  gleich  6     >  also 

a  +  6  +  ß|  =.  l|  (6  -f  4)  =  l|  (:2c)  =  3|  c. 


1)  Zeitschr.  Math.  Phys.  XXXVI  H.  1.  A.  S.  16—17.        ^  Ebenda  S.  22—23. 
3)  Ebenda  S.  4  und  15.         *)  Ebenda  S.  4,  8  und  10.         ")  Ebenda  S.  51—52. 


a 


70  44.  Kapitel. 

1  '■i 

Ferner  ist  3y  mal  2  gleich  6y;  also 

a  +  ö  +  6|  +  6|  =  3|  (0  +  2)  =  3i-(-5-a) 
oder 

«+19|  =  (2  +  4+^)<.,       19i-  =  (l+i  +  i; 

und  a  =  14c,  worauf  &  =  12,  c  =  8  folgen.  Ganz  eigenthümlicli  ist 
dabei   das  Auftreten  der   an  die  alten  Stammbrüclie  erinnernden  Ver- 

2  2 

einigung  von  2  +  y  +  ^ '  Statt  ihrer  würde  in  alten  Zeiten  un- 
fehlbar 2  -)-  —  -f-  ^  geschrieben  worden  sein.  Jordanns  aber  stand 
dem    Grundgedanken    der  Zerlegung    in   Stammbrüche  wohl    einiger- 

massen    fremd    gegenüber,    wie    aus    seiner    Benutzung    gewöhnlicher 

5 
Bruchformen   (z.  B.  in   der   dritten  Gleichung   dieser  Aufgabe  —  und 

nicht  V  +  7"  +  57)  hervorgeht,  und  dürfte  hier  so  gerechnet  haben: 

Um  3^  mal  —  zu  bilden,  nimmt  man  zunächst  3  •  —  =2-f-^'  dann 

1         5         1,2       ,       Q 1      5         o    I    1    I     1    I    2         ^,2.2 

YXy  =  y  +  2T'^i^^  %-y  =  2  +  y  +  y  +  2i  =  ^  +  y.+  2i- 

In  diesem  2.  Buche  werden  wiederholte  Anwendungen  von  der  Regel 
des    einfachen    falschen   Ansatzes^)   gemacht.      Sie    gestaltet  sich  am 

bequemsten  in  der  2.  Aufgabe,  wo  man  die  Zahl  sucht,  deren  —  und 

1  2 

—  zusammen    26—    geben    sollen.      Wäre    60    die    Zahl,    so    käme 

—  -f-  —  =  16,  folglich  ist  60  mit  26-^  zu  vervielfachen  und  das  Pro- 

duct  1600  durch  16  zu  dividiren,  wodurch  100  erscheint.  Weit  ver- 
wickelter ist  die  Anwendung  des  falschen  Ansatzes  in  der  27.  und 
28.  Aufgabe,  wobei  namentlich  auch  der  Hinweis  darauf,  dass  Jor- 
dauus  erklärt^),  er  bediene  sich  einer  arabischen  Methode,  nicht 
unterbleiben  darf. 

Wir  gehen  zu  dem  3.  Buche  über.  Es  handelt  im  Ganzen 
auch  von  Proportionen  und  daraus  gebildeten  Aufgaben  mit  mehreren 
Unbekannten,  aber  es  unterscheidet  sich  vom  2.  Buche  dadurch,  dass 
hier  fast  fortwährend  Quadratwurzelausziehungen  nöthig  fallen,    die 


1)  Zeitschr.  Math.  Phys.  XXXVI  H.  1.  A.  S.  41—42  und  61—63.  ^)  Opus 
aiitem  Arabum  in  partibus  tantum  consistit  estque  huiusmodi  heisst  es  in  27. 
und  dann  in  28.  (in  welcher  es  sich  um  eine  zweite  Auflösung  von  26.  handelt) 
et  hoc  manifeste  clocet  in  opere  partium  quo  utimtur  Ärahes. 


Jordanus  Nemorarius.     De  numeris  datis.     De  triangulis.  71 

dort  nie  vorkommen.  Im  3.  Buche  selbst  kann  man  fügiich  zwei 
Abschnitte  unterscheiden.  Die  Aufgaben  1  bis  13  handeln  von  ste- 
tigen geometrischen  Proportionen  mit  nur  drei  von  einander  ver- 
schiedenen Zahlen,  die  Aufgaben  14  bis  21  von  nicht  stetigen  Pro- 
portionen mit  vier  von  einander  verschiedenen  Zahlen.  Die  22.  und 
23.  Aufgabe  schhessen  sich  leichter  der  ersten  als  der  zweiten  hier 
hervorgehobenen  Gruppe  an,  und  schienen  nicht  alle  Handschriften 
die  gleiche  Anordnung  aufzuweisen,  so  wäre  man  versucht  anzu- 
nehmen ,  es  sei  hier  etwas  in  Unordnung  gerathen ,  und  die  22.  und 
23.  Aufgabe  hätten  ursprünglich  hinter  der  13.  und  vor  der  14.  ge- 
standen. Auch  hier  wollen  wir  einige  Beispiele  mittheilen.  Die 
9.  Aufgabe^)  spricht  aus,  man  kenne  die  Glieder  a,  h,  c  einer  stetigen 
geometrischen  Proportion  a  :h  ^^h  :  c,  sofern  das  4.  Glied  und  die 
Summe  der  3  ersten  gegeben  sind.  Man  kennt  nämlich  mit  c  auch 
c'^  =  d.  Sei  ferner  ca  =  Z>"  =  c,  so  ist  c{a  -{-  h  -\-  h)  =  e  -\-  f  -\-  g, 
indem  f-\-g  statt  2h c  gesetzt  ist.  Wird  ca  durch  h^  ersetzt  und 
c^  =  d  hinzugefügt,  so  ist  h^  -\-  2hc  -\-  c^  =^  d  -\-  e^-f-  f  -\-  g  bekannt, 
da  ja  c -\- f -\- g  das  c-fache  der  Summe  der  3  ersten  Glieder  ist. 
Endlich  ist  h  =  Vd -\-  e -\- f -{- g  —  c  und  a  =  («  +  6  -f  &)  —  26. 
Die  Aufgaben  12  und  13  gehören  zusammen^).  Von  den  Gliedern 
a,  T),  c  einer  stetigen  geometrischen  Proportion  a  :h  =^  h  :  c  ist  die 
Summe  a-\-  c  der  beiden  äusseren  Glieder  und  h  -\-  c  beziehungsweise 
a -\- b  gegeben,  wobei  angenommen  wird,  es  sei  a^h^c.  Die 
erstere  Aufgabe  hat  nur  eine,  die  zweite  zwei  Auflösungen.  Aus 
a-f-c  =  34,  64-c=24  folgt  a  =  25,  &  =  15,  c=9;  aus  a  +  c  =  25, 

a-^h  =  2S  folgt  dagegen  ebensowohl  a  =  24—-,  l>  =  Sy,  <^  "^  Y 
als  auch  a  =  16,  Z^  =  12,  c  ^  9.  Natürlich  ist  der  Grund  in  dem 
Vorhandensein  von  nur  einer,  beziehungsweise  von  zwei  positiven 
Wurzeln  einer  quadratischen  Gleichung  zu  finden.  In  der  19.  Auf- 
gabe^) soll  die  viergliedrige  Proportion  a  :h  =  c  :  d  ermittelt  werden, 

während  a  -\-  d,  h  -\-  c  und  —  gegeben  sind.     Da  aus  der  Proportion 

die  Folgerung  —  =  "T'    sich  ergiebt  und  (a  -j-  d)  -f-  (h  -\- c)  =  (a  -f-  h) 

-\-  (c  -\-  d)  ist,  so  kennt  man  Summe  und  Quotient  von  a  -]-  h  und 
c  -\-  d,  mithin  beide  Grössen  selbst.    Dann  kennt  man  weiter  (a  -\-  h) 

—  {a-\-d)  =  h  —  d  und  (a-{-d)  —  (c-\-d)  =  a  —  c,  also  auch  • 

Aus  der  anfänglichen  Proportion   weiss  man  aber       ,    ,  =  ,  _  ,   und 


»)    Zeitschr.  Math.  Phys.  XXXVI    H.  1.  A.  S.  85.  ^)  Ebenda    S.  87—88. 

3)  Ebenda  S.  92. 


72  4i.  Kapitel. 

wegen  {a  -\-  d)  +  (6  +  c)  =  («  +  c)  +  (^  +  d)  keimt  man  jetzt  auch 
Summe  und  Quotient  von  a  +  c  und  &  -j-  r?  und  damit  beide  Grössen 
selbst.  So  hat  man  allmälig  a  —  c  und  a  -{-  c,  also  durch  sie  a  und 
c  sich  verschafft,  welche  von  a  -\-  d,  beziehungsweise  von  J)  -\-  c  ab- 
gezogen d  und  1)  liefern. 

Das  4.  Buch  endlich  verlässt  die  Proportionen  wieder,  wenn 
auch  von  dem  Verhältnisse  zweier  Zahlen  zu  einander  und  von  Ver- 
einigungen solcher  Verhältnisse  noch  die  Rede  ist.  Ein  Hauptinteresse 
liegt  für  uns  in  zwei  Gruppen  von  je  drei  Aufgaben.  Die  Aufgaben 
8,  9,  10  behandeln  die  drei  Fälle  der  quadratischen  Gleichung^): 
x'^  -{-  hx  =  c,  x^  -\-  c  ^  1)X,  hx-\-c  =  x'^  mit  zwei  Auflösungen  des 
mittleren  Falles,  während  der  erste  und  dritte  je  nur  eine  Auflösung 
besitzt.    Dass  im  mittleren  Falle  eine  Ausnahme  von  der  Regel  statt- 

fc*  .  .  . 

finden  kann,  indem  bei  c  >  —  gar  keine  positive  Auflösung  erscheint. 

wusste  Jordanus  offenbar  nicht,  da  man  sonst  nicht  zu  erklären 
vermöchte,  warum  er  nicht  darauf  aufmerksam  gemacht  hat,  was 
Alchwarizmi  z.  B.  nicht  versäumte  (Bd.  I,  S.  677).  Die  zweite 
Gruppe^)',  die  Aufgaben  11,  12,  13  umfassend,  unterscheidet  sich 
von  der  ersten  nur  dadurch,  dass  das  quadratische  Glied  noch  einen 
Coefficienten  besitzt,  durch  welchen  die  Gleichung  dividirt  wird,  um 
sie  auf  die  frühere  Form  zu  bringen.  Die  Kunstausdrücke,  deren 
Jordanus  sich  dabei  bediente,  mögen  aus  der  11.  Aufgabe  erkannt 
werden:  Si  numerus  ad  quadratum  datus  (d.  h.  ax^)  cum  addicione 
numeri  ad  radicem  ipsius  dati  (d.  h.  -)-  hx^  fecerit  numerum  datum 
(c)  et  quadratum  et  radicem  datos  esse  consequetur.  Die  8.  Aufgabe 
ist  genau  die  gleiche,  welche  als  7.  Aufgabe  des  1.  Buches  oben  zur 
Besprechung  kam.  Jordanus  hat  sie  an  beiden  Stellen  eben  ganz 
verschiedenartig  behandelt.  Eine  weitere  Uebereinstimmung  zwischen 
Aufgaben  des  4.  und  des  1.  Buches  findet  bei  der  15.  bis  26.  Auf- 
gabe^) statt.  Sie  sind  sämmtlich  quadratische  Aufgaben  mit  zwei 
Unbekannten.  Einzelne  derselben  unterscheiden  sich  von  solchen  des 
1.  Buches  nur  darin,  dass  dort  eine  bestimmte,  hier  eine  beliebige 
Einheit  der  Aufgabe  zu  Grunde  liegt;  so  kommt  die  4.  Aufgabe  des 
1.  Buches  auf  x  -\-  y  ^  a,  x^  -\-  if  =  h,  die  15.  des  4.  Buches  auf 
x-\-y==az,  x^ -{- y^  =  hs^  heraus^).  Die  Aufgaben  27  bis  34 
kehren  wieder  zu  quadratischen  Gleichungen  mit  nur  einer  Un- 
bekannten^)   zurück,    und   die   35.  und   letzte  Aufgabe  ist    eine    rein 

cubische*^):  Die  Hälfte  des  Quadrates  einer  Zahl  (     j  mit  sich  selbst 

^)  Zeitschr.  Math.  Phys.  XXXVI  H.  1.  A.  S.  124—126.  ^)  Ebenda  S.  126—128. 
»)  Ebenda  S.  128—134.  *)  Ebenda  S.  8  und  128.  ^)  Ebenda  S.  134—138. 
'^)  Ebenda  S.  138. 


Jordanus  Nemorarius.     De  numeris  datis.     De  triangulis.  73 

vervielfacht  (also  v  '  V  "^  v)  ^^^^  54nial  die  Zahl  (54a:)  geben. 
Jordanus  folgert  a;^=  4  •  54  =  216,  dessen  Kubikwurzel  (cuius  latus 
cubicum)  6  die  gesuchte  Zahl  ist. 

Haben  wir  in  Jordanus  als  Verfasser  einer  Arithmetik,  eines 
Rechenlehrbuchs,  einer  Algebra  den  nicht  unberechtigten  Neben- 
buhler Leonardo's  von  Pisa  kennen  gelernt,  so  wird  ein  geometrisches 
Werk  des  gleichen  Verfassers  die  Meinung  von  seiner  Befähigung 
auch  auf  diesem  Gebiete  zu  einer  sehr  achtungsvollen  machen  müssen. 
Das  Werk  De  triangulis^)  ist  es,  welches  wir  meinen,  und  von 
welchem  wir  einen  Auszug  folgen  lassen.  Es  zerfällt  in  vier  Bücher. 
Die  beiden  ersten  von  13  und  19  Sätzen  handeln  von  gradlinigen 
Figuren,  die  beiden  letzten  von  12  und  28  Sätzen  von  Kreisen  mit 
Inbegriff  solcher  gradlinigen  Figuren,  die  zum  Kreise  in  enger  Be- 
ziehung stehen. 

An  der  Spitze  des  1.  Buches  finden  sich  gewisse  Begriffs- 
bestimmungen, welche  durchweg  den  Stempel  der  Scholastik  tragen. 
Von  einem  Griechen  oder  von  einem  Araber  können  sie  daher  nicht 
entlehnt  sein.  Sie  bilden  entweder  das  geistige  Eigenthum  von  Jor- 
danus selbst,  oder  wenn  nicht  von  ihm,  jedenfalls  eines  Zeitgenossen. 
Da  lesen  wir  gleich  zuerst:  Stetigkeit  ist  NichtUnterscheidbarkeit  von 
Grenzstellen  verbunden  mit  der  Möglichkeit  abzugrenzen.  Der  Punkt 
ist  Festlegung  der  einfachen  Stetigkeit^).  Da  heisst  es,  ein  Winkel 
entstehe  durch  das  Zusammentreffen  zweier  stetiger  Gebilde  an  einem 
Endpunkte  ihrer  Stetigkeit^).  Da  wird  eine  Figur  durch  eine  oder 
mehrere  Curven,  durch  zwei  oder  mehrere  Curven  und  Gerade,  durch 
drei  oder  mehrere  Gerade  gebildet^),  lauter  Erklärungen,  die  von 
den  euklidischen  sowohl  als  von  den  als  heronisch  überlieferten  in 
wesentlichen  Punkten  abweichen  und  q,uch  bei  Proklos  nicht  wörtlich 
übereinstimmend  nachgewiesen  werden  können.    Der  an  die  Einleitung 

1)  Chasles,  Apercu  hist.  517  (deutscli  604)  nennt  das  Werk  De  triangulis 
nur  im  Vorübergelien.  Eine  Ausgabe  mit  vorzügliclier  Einleitung  hat  H.  Max 
Curtze  im  VI.  Hefte  der  Mittheilungen  des  Coppernicusvereins  für  Wissen- 
schaft und  Kunst  zu  Thorn  (1887)  veranstaltet.  Wir  citiren  dieselbe  als  Jor- 
danus, Trianguli  mit  folgender  Seitenzahl.  Ein  guter  Auszug  auf  Grundlage 
der  Aushängebogen  der  damals  noch  nicht  der  OefFentlichkeit  übergebenen 
Ausgabe  bei  S.  Günther,  Geschichte  des  mathematischen  Unterrichtes  im 
deutschen  Mittelalter  S.  159 — 162.  Dieses  Werk  citiren  wir  als  Günther,  Un- 
terricht Mittela.  ^)  Continuitas  est  indiscrecio  terminorum  cum  terminandi  po- 
tencia.  Punctus  (sie!)  est  fixio  simplicis  continuitatis.  ^)  Angiilus  autem  est 
continuarum  in  continuitatis  termine  convenienciiim.  *)  Superficiei  igitur  figura 
nccidit  ex  terminorum  qualitate,  quia  alia  curvis,  alia  curvis  et  rectis,  alia 
tantum  rectis  terminis  continetur.  Et  curvis  quidem  uno  vel  plurihus,  rectis 
autem  et  curvis  du/^us  vel  plurihus,  rectis  rero  tribus  vel  amplioribus. 


74  -i^-  Kapitel. 

anschliessende  1.  Satz^)  giebt  die  Beziehung  einer  Mittellinie  eines 
Dreiecks  zu  dem  Winkel  an,  aus  dessen  Spitze  sie  gezogen  ist.  Der 
Winkel  sei  nämlich  ein  rechter,  ein  spitzer  oder  ein  stumpfer,  je 
nachdem  die  Mittellinie  gleich  der  halben  Gegenseite  ist,  die  sie 
halbirt,  oder  grösser  oder  kleiner  als  diese  halbe  Seite.  Wir  über- 
setzen wörtlich  den  Beweis,  um  an  ihm  ein  Musterstück  des  Ganzen 
zu  haben:  „Ist  die  Linie  gleich  der  Hälfte  der  Basis,  so  werden  ver- 
möge zweimaliger  Anwendung  von  Euklid  I,  4  die  beiden  Winkel 
an  der  Basis  zusammen  dem  dritten  gleich  sein;  wegen  I,  32  ist  also 
dieser  ein  rechter.  Ist  die  Linie  gi-össer,  so  werden  wegen  I,  18 
jene  Winkel  an  der  Basis  grösser  als  der  dritte,  dieser  also  spitz. 
Ist  die  Linie  kleiner,  so  sind  auch  die  Winkel  kleiner  als  der  dritte, 
dieser  also  wegen  I,  32  stumpf."  Von  den  hier  angeführten  eukli- 
dischen Sätzen  besagt  I,  32,  dass  die  Winkelsumme  des  Dreiecks 
zwei  Rechte  betrage  und  I,  18,  dass  der  grösseren  Dreiecksseite  der 
grössere  Winkel  gegenüberstehe.  Der  dritte  noch  benutzte  euklidische 
Satz  von  der  Gleichheit  der  Winkel  an  der  Grundlinie  des  gleich- 
schenkligen Dreiecks  ist  in  den  durch  Theon's  von  Alexandria  Aus- 
gabe uns  überlieferten  euklidischen  Elementen  nicht  I,  4  sondern 
I,  5,  und  ähnliche  Abweichungen  könnten  zahlreich  nachgewiesen 
werden,  worauf  in  anderem  Zusammenhange  im  nächsten  Kapital 
zurückzukommen  sein  wird.  Auch  einen  Satz,  bei  welchem  der  Be- 
weis an  einer  mit  Buchstaben  versehenen  Figur  geführt  wird,  wollen 
wir  aus  diesem  1.  Buche  etwas  genauer  mittheilen,  den  7.  Satz^). 
Zwischen  (Figur  13)  den  Parallelen  ac  und 
hd  werden  über  ac  die  beiden  Dreiecke  ahc, 
ade  gezeichnet,  deren  Seiten  a&,  cd  sich 
durchschneiden;  ist  alsdann  ah'^cd,  so  ist, 
-^  adc'>  a1)C.  Wird  von  den  beiden  flächen--'" 
^    J3  gleichen    Dreiecken    ahc,    ade     das    gemein- 

schaftliche Stück  ace  abgezogen,  so  bleibt 
Ahce  =  ade ,  und  die  Schenkel  der  den  gleichen  Dreiecken  an- 
gehörenden Scheitelwinkel  bei  e  müssen  nach  Euklid  VI,  14  (in  der 
Theon'schen  Ausgabe  VI,  15)  in  dem  Verhältnisse  stehen  ae:ce  =  eh:  ed. 
Daraus  folgt  ae  :  ce  ^  (ae  -\-  eh)  :  (ce  -\-  ed)  =  ah  :  cd.  Nun  ist 
voraussetzungsmässig  ah^cd,  also  auch  ae^ec,  und  wenn  der 
Punkt    f  auf    ae   so    gelegen    ist,    dass    ae  :  ce  =  ce  :  ef ,    so    muss 


^)  Jordanus,  TrianguU  S.  3 — 4:  In  omni  triancjulo  si  abopposito  angulo  ad 
medium  basis  ducta  Tinea  dimidio  eiusdem  eqmäis  fuerit,  erit  ille  angulus  recttis; 
quod  si  maior  acutus:  si  vero  minor  obtusus.  ')  Ebenda  S.  6 :  Si  super  eandem 
basim  inter  lineas  equidistantes  due  trianguU  statuantur ,  etiivs  latus  laterum  sese 
secancium  maius  fuerit,  eius  angulus  superior  minor  erit. 


Jordanus  Nemorarius.     De  aumeris  datis.     De  triangulis.  75 

ef  <.ce  <,ae  sein,  d.  h.  /'  fällt  auf  der  Richtung  ea  zwischen  e 
und  a.     Nun  zieht  man  df.     Es  war 

ae  :  ce  =  eh  :  ed 

ae  :  ce  =  ce  :  ef. 
Folglich  ist  eh  :  ed  =  ec  :  ef 

und  wegen  -^  def  =  hec  ist  A  defc\Jhec,  also  auch  -^  edf=^  ehe. 
Aber  <^  edf  ist  bewiesenermasseu  nur  ein  Theil  von  -^  eda,  also 
•^eda'^ehc.  In  den  übrigen  Sätzen  des  1.  Buches,  welche  meistens 
auch  mit  der  relativen  Grösse  von  Winkeln  und  Seiten  in  von  ein- 
ander unterschiedenen  Dreiecken  in  ganz  eigenartiger  Weise  handeln, 
ist  von  dem  eben  erläuterten  7.  Satze  mehrfach  Gebrauch  gemacht. 
Es  sind  meistens  Sätze,  die  nirgend  sonst  angetroffen  werden,  so  dass 
es  ganz  sonderbar  anmuthet,  zwischen  ihnen  so  Landläufiges  wie  den 
11.  und  den  13.  Satz^)  zu  finden,  dass  die  Flächen  von  Dreiecken 
auf  gleicher  Grundlinie  wie  die  Höhen  sich  verhalten  und  die  Grund- 
linien flächengleicher  Dreiecke  umgekehrt  wie  die  Höhen. 

Das  2.  Buch  wird  durch  Theilungsaufgaben  gebildet.  In  den 
sieben  ersten  Sätzen  handelt  es  sich  um  die  Theilung  von  Strecken, 
in  den  zwölf  folgenden  um  Theilung  von  gradlinigen  Figuren.  In  diesem 
ganzen  Buche  ist  gleichwie  im  ersten  vielfach  auf  Euklid's  Elemente 
verwiesen,  daneben  auch  auf  die  Arithmetik  des  Jordanus,  welche 
schlechtweg  die  Arithmetik  genannt  wird.  Von  der  eviklidischen 
Schrift  über  die  Figurentheilung  ist  trotz  der  grossen  Aehnlichkeit 
der  behandelten  Aufgaben,  die  allerdings  nicht  bis  zu  voller  Ueber- 
einstimmung  sich  erhebt,  keine  Rede.  Ob  wir  daraus  auf  mangelnde 
Bekanntschaft  mit  jener  Schrift  zu  schliessen  haben?  Vielleicht  ge- 
stattet grade  dieses  2.  Buch  des  Jordanus  in  Verbindung  mit  ähn- 
lichen aber  wieder  nicht  bis  zur  Deckung  übereinstimmenden  Auf- 
gaben bei  Leonardo  von  Pisa  (S.  37)  den  Rückschluss,  es  sei,  an- 
geregt durch  arabische  Bearbeitungen,  wenn  nicht  Uebersetzuugen  der 
euklidischen  tisqI  diatQSöscov  (Bd.  I.  S.  272),  zur  wissenschaftlichen 
Modesache  der  bedeutenderen  Geometer  geworden,  sich  mit  Theilungs- 
aufgaben zu  beschäftigen.  Die  18.  (vorletzte)  Aufgabe  des  2.  Buches 
ist  der  Auffindung  des  Schwerpunktes  des  Dreiecks  gewidmet.  Wir 
erinnern  uns  des  Beweises,  durch  welchen  Leonardo  von  Pisa  (S.  39) 
die  Gemeinschaft  des  Durchschnittspunktes  der  Mittellinien  des  Dreiecks 
feststellte.  Bei  Jordanus  ist  der  Wortlaut  der  Aufgabe  2),  wie  der 
Gang  des  Beweises  ein  ganz  anderer.     Es   soll   der  Punkt  im  Innern 


*)  Jordanus,  Trianguli  S.  8  und  9.  ^  Ebenda  S.  18:  Infra  datum  trian- 
gulum  a  puncto  unö^signato  tres  lineas  ad  angulos  tres,  que  triangulum  per  equalia 
dividunt,  protrahere. 


76 


ii.  Kapitel. 


eines  Dreiecks  gefunden  werden,  dessen  Verbindungsgerade  mit  den 
Eckpunkten  das  Dreieck  in  drei  gleiche  Theile  zerlegen  (Figur  14). 
Man  mache  cd  =  —,  ziehe  de  \\  ca  und  hal- 

bire  de  in  r/,  so  ist  dieses  der  gesuchte  Punkt. 
Es  ist  nämlich 

Aadc  =-  — , 

Aagc  =  ade    und    Aagh  =^  hgc. 

Die  letztere  Behauptung  spricht  Jordanus  nur 
kurz  aus,  ohne  sie  zu  beweisen;  er  traut  also 
seinen  Lesern  zu,  sie  würden  etwa  Aage  ==  cgd  und  Aegb  =  dgh 
einsehen  und  beide  Gleichungen  addiren.  Auch  den  letzten  19.  Satz^) 
wollen  wir  erwähnen.  Ein  Viereck  ah  cd  soll  von  dem  Eckpunkte  h 
aus  durch  eine  Gerade  halbirt  werden.  Halbiren  die  in  g  sich  schneidenden 

Diagonalen  hd,  ac  des  Vierecks  sich 
gegenseitig,  so  halbirt  jede  derselben 
das  Viereck,  wie  aus  dem  Satze 
Euklid  I,  38  (dass  Dreiecke  von  glei- 
chen Grundlinien  zwischen  Parallelen 
flächenglerch  sind)  hervorgeht.  Die 
Aufgabe  ist  also  in  diesem  Falle  schon 
gelöst.     Nun  sei  aber  (Figur  15) 

cg  >  ag, 

so  kann  man  ce  =  ag  abschneide  n. 
Von  e  aus  zieht  man  el  ||  hd  und  halbirt  Id  in  t,  so  löst  ht  die  Auf- 
gabe. Es  verhält  sich  nämlich  Adhc  :  Ihc  =  de:  Ic  und  de :  Ic  =  gc :  ec, 
endlich 

ec    =  ag,  also 

Adhc  :  Ihe    =  gc  :  ag. 
Ferner: 

Adhc  :  dha  ^^  gc:  ag, 

wie  sich  ergiebt,  wenn  man 

Adhc  =  dcg  +  heg  und  Adha  =  dag  -j-  hag 
berücksichtigt.  Aus  den  beiden  Proportionen  folgt  aber  Adha  =^lhc 
und  addirt  man  zu  dieser  Gleichung  die  augenscheinlich  richtige 
Adht  =  Iht,  so  zeigt  sich  die  Halbirung  des  Vierecks  ahcd  mittels  ht 
■  Wir  kommen  zu  dem  3.  Buche,  welches,  wie  wir  oben  an- 
kündigten,  vom  Kreise  handelt,   und  zwar   fast   fortwährend  Verhält- 


Fig    15. 


')  Jordanus,   Trianguli  S.  18— 19:  Ab  ungulo  qiiadranguli  assignati  liiieam 
rectain   cducerc,   que  totani  quadrangnli   siiperticiem  per   duo   equalia  parciatur. 


Jordanus  Nemorarius.     De  uumeris  datis.     De  triangulis.  77 

nisse  von  Kreisbögen  untereinander  mit  solchen  von  geradlinigen 
Strecken  in  Beziehung  setzt.  Das  Grössersein  des  einen  Verhältnisses 
als  das  andere  ist  meistens  Zielpunkt  der  Untersuchung,  wie  es  bei 
dem  bekannten  Satze  des  Ptolemäus  über  Bogenquotiente  und  Sehnen- 
quotiente  (_Bd.  I,  S.  390)  der  Fall  ist,  der  in  der  That  auch  hier  als 
4.  Satz^)  auftritt.  Ptolemäus  freilich  ist  dabei  nicht  genannt,  sondern 
im  Laufe  des  Beweises  nur  der  Satz  Euklid  XII,  2  (^dass  Kreisflächen 
im  quadratischen  Verhältnisse  der  Durchmesser  stehen)  und  ein  Pro- 
portionensatz aus  dem  V.  Buche  desselben  Verfassers,  sowie  zwei 
Bücher-),  welche  die  Titel  führen:  über  gekrümmte  Oberflächen 
und  über  ähnliche  Bögen.  Man  hat  die  Bemerkung  gemacht,  in 
den  Büchern  De  triangulis  berufe  sich  Jordanus  ausser  auf  Euklid's 
Elemente  ausschliesslich  auf  Werke  seiner  eigenen  Feder  ^).  Darnach 
müssten  die  genannten  beiden  Bücher,  von  welchen  das  über  ähn- 
liche Bögen  im  Anschlüsse  an  die  De  triangulis  im  Drucke  heraus- 
gegeben ist^),  von  Jordanus  verfasst  sein.  Demgegenüber  dürfte  in- 
dessen doch  in  Erwägung  zu  ziehen  sein,  dass  die  bekannte  Basler 
Handschrift,  von  der  wir  bei  Gelegenheit  des  Algorithmus  demonstratus 
(S.  63)  gesprochen  haben,  ein  Buch  enthält:  Archimenidis  de  curvis 
superficiehus'") ,  von  dem  wir  dahingestellt  sein  lassen,  ob  es  wirklich 
in  letzter  Linie  auf  Archimed  zurückführt,  oder  ob  die  Ueberschrift 
so  zu  verstehen  ist,  dass  eine  Neubearbeitung  archimedischer  Sätze 
vorliege.  Es  dürfte  ferner  daran  zu  erinnern  sein,  dass  Ahmed  der 
Sohn  Josephs  ein  Buch  schrieb,  welches  Gerhard  von  Cremona 
als  liber  de  similihus  arcuhus^)  übersetzte.  Wir  bemerken  zu  dem 
4.  Satze  überdies,  dass  die  an  der  Figur  angebrachten  Buchstaben 
ganz  andere  sind  als  die,  deren  Leonardo  (S.  38)  sich  beim  Beweise 
bediente.  Nur  Eines  wollen  wir  aus  dem  3.  Buche  noch  erwähnen, 
nämlich,  dass  am  Schlüsse  des  Beweises'  des  letzten  12.  Satzes'')  der 
Begrifi'  und  Name  des  angulus  contingencie  auftritt  als  des  Winkels, 
welchen  die  Berührungslinie,  contingens,  mit  dem  Kreisbogen,  arcus, 
bildet.  Es  ist  derselbe  Winkel,  mit  welchem  (Bd.  I,  S.  250)  Euklid 
III,  16  sich  beschäftigt  hat,  wo  bewiesen  ist,  dass  er  kleiner  sei  als 
irgend  ein  geradliniger  spitzer  Winkel. 

Das  4.  Buch  fesselt  noch  heute   die  Aufmerksamkeit  des  Lesers 
in  einem  Maasse,  dass  wir  fast  Satz  für  Satz  dasselbe  auszuschreiben 


^)  Jordanus,  Trianguli  S.  21.  -)  ut  ostensum  est  in  libro  de  curvis  su- 
perfieiehus  und  etwas  später  ut  habetur  in  libro  de  similibus  arcubus.  ^)  Ebenda 
S.  XII    der    Einleitung.  *)  Ebenda   S.  48 — 50.  '^)   Archimedis   Opera    ed. 

Heiberg  vol.  ni.  Prolegomena  \:>ag.LXXXVll — LXXXIX.  ^)  Steinschneider 
in  Eneström's  Bibliotheca  mathematica  1888  S.  114.  ')  .Tordanus,  Trianguli 
S.  28. 


78  44.  Kapitel. 

uns  versucht  fühlen.  Der  erste  Satz  spricht  aus,  dass  die  Mittel- 
punkte des  Innen-  und  des  Umkreises  eines  solche  Kreise  besitzenden 
unregelmässigen  Vielecks  nicht  zusammenfallen  können.  Der  2.  Satz 
behauptet,  dass  von  Sehnendreiecken  desselben  Kreises  auf  der  gleichen 
Grundlinie  das  gleichschenklige  die  grösste  Fläche  besitze.  Der 
4.  Satz  giebt  an,  dass  Sehnenparallelogramme  lauter  gleiche  Winkel, 
der  6.,  dass  Tangentenparallelogramme  lauter  gleiche  Seiten  besitzen. 
Ersterer  Satz  beruht  auf  dem  aus  Euklid  bekannten  Satze,  dass  je 
zwei  gegenüberliegende  Winkel  eines  Sehnenvierecks  sich  zu  zwei 
Rechten  ergänzen,  letzterer  auf  dem  von  der  gleichen  Summe  je  zwei 
gegenüberliegender  Seiten  eines  Tangentenvierecks.  Da  aber  dieser 
Satz  bei  Euklid  nicht  ausdrücklich  ausgesprochen  ist,  so  hat  Jordanus 
ihn  als  5.  Satz  zwischengeschoben.  Der  8.  Satz^)  und  die  ihm  fol- 
genden stellen  eine  zusammenhängende  Lehre  von  den  gegenseitigen 
Beziehungen  zwischen  regelmässigen  Sehnen-  und  Tangentenvielecken 
her.  Um  dieselbe  übersichtlicher  aussprechen  zu  können,  wollen  wir 
Flächeninhalt  und  Umfang  eines  regelmässigen  Sehnen-w-ecks  durch 
i„  und  «„,  die  entsprechenden  Grössen  für  das  regelmässige  Tan- 
genten-?i-eck  des  gleichen  Kreises  durch  !„  und  Ü7„  bezeichnen.  Im 
8.,  9.,  11.  Satze  beweist  alsdann  Jordanus  die  Proportionen: 


i2n    =kn:  In, 

im  >  Un  '■  Um,   sofern  n  >  m, 

Ih  =  Un  :  U„,    und  I,n>  In, 

sofern  n  >  m 

Der  Beweis  des  8.  Satzes  wird  unter  der  Annahme  «  =  3  geometrisch 
geführt  (Figur  16).  Das  Tangentendreieck  liegt  so,  dass  es  die  Spitzen 
des  Sehnendreiecks  (z.  B.  d  und  f)  zu  Berührangs- 
punkten  hat,  worauf  eine  stetige  Proportion  zwischen 
Abschnitten  der  Verbindungsgeraden  vom  Kreis- 
mittelpunkte zu  einem  Eckpunkte  des  Tangenten- 
dreiecks  sich  leicht  ergiebt.     Es  ist  z.  B. 

dh^  =  liz  ■  ha,      hz^  =  hs  ■  liz, 
dir  -\-  hz~  =  hz{]ia  -\-  liz)  ^  hz  •  az. 

Zugleich  ist  auch  dh^  -\-  hz^  =  dz^  =  gz^,  mithin 
hz:gz  =  gziaz.  Diese  Abschnitte  als  Grundlinien 
von   Dreiecken  benutzt,    deren  gemeinsame  Spitze 


Fig.  16. 


')  Jordanus,  Trianguli  S.  31:  Inter  quaslibet  duas  figuras  poligonias  equila- 
teras  et  similes,  et  quarum  ima  in  circulo  inscripta,  alia  circumscripta  fuerit, 
X>roporcionalis  comistit,  que  duplo  plwrium  laterum  existens  infra  eundem  circu- 
lum  inscribitur. 


Jordamis  Nemorarius.     De  numeris  datis.     De  triangulis.  79 

im  Eckpunkte  d  des  Sehnendreiecks  liegt ,  übertragen  jene  Pro- 
portion einfach  auf  die  Flächen  der  eben  gekennzeichneten  Dreiecke: 

l\dhz  :  l\d(jz  =  l\dgs  :  l\daz , 

also  auch  auf  Gleichvielfache  derselben,  und  damit  ist  der  Satz  be- 
wiesen, dass  in'  Hn  =  Hn'  In-  Wiewohl  Jordanus  eigentlich  w  =  3 
vorausgesetzt  hat,  kommt  also  diese  Voraussetzung  in  der  Beweis- 
führung nirgend  vor,  und  Jordanus  kann  getrost  fortfahren^),  ähn- 
liche Schlüsse  könne  man  ziehen,  sofern  Vielecke  von  viel  mehr 
Seiten  vorliegen.  Auffallend  genug,  dass  Jordanus  sich  dadurch  doch 
nicht  befriedigt  zu  fühlen  schien.  Er  behandelt  vielmehr  im  15.  Satze 
noch  einmal  besonders  den  Fall  n  =  4,  ohne  dabei  des  vorher- 
gegangenen allgemeinen  8.  Satzes  nur  zu  gedenken.  Im  16.  Satze, 
wendet  sich  Jordanus  der  Quadratur  des  Kreises -)  zu.  Dem  Kreise  a 
lässt  Jordanus  ein  Quadrat  de  umschreiben  und  sucht  eine  Fläche  c, 
welche  der  Proportion  c  :  a  ^  a  :  de  genüge.  Ist  nun  das  gefundene 
c  wieder  ein  Kreis,  so  werde  diesem  ein  Quadrat  hJc  umschrieben, 
und  da  sich  Kreise  wie  ihre  umschriebenen  Quadrate  verhalten,  so 
wird  auch  stattfinden  c  :  a  =  hJc :  de.  Eine  Vergleichung  beider  auf- 
gestellter Proportionen  lässt  alsdann  a=  hJc  erkennen.  Ist  dagegen 
c  kein  Kreis,  sondern  eine  gradlinig  begrenzte  Figur,  so  kann  die- 
selbe immer  in  ein  Quadrat  ry  umgewandelt,  ausserdem  ein  Quadrat 
mn  als  geometrisches  Mittel  zwischen  den  Quadraten  ry  und  de  ge- 
funden werden,  und  auch  dann  ist  die  Aufgabe  gelöst,  weil  a  =  mn. 
Offenbar  ist  also  der  Beweis  dialektisch  geführt,  dass  es  ein  dem 
Kreise  a  flächengleiches  Quadrat  geben  müsse,  wenn  die  Voraus- 
setzung wahr  ist,  die  Figur  c  könne  nur  entweder  ein  Kreis  oder 
eine  gradlinig  begrenzte  Figur  sein;  wie  man,  selbst  wenn  man  jene 
Voraussetzung  zugeben  müsste,  c  zu  fiüden  habe,  damit  beschäftigt 
sich  Jordanus  nicht. 

Nehmen  wir  von  dieser  echt  scholastischen  Untersuchung  An- 
lass,  hier  die  Frage  zu  streifen,  ob  Jordanus  ganz  unabhängig  ge- 
arbeitet hat,  oder  ob  irgend  eine  fremde  Vorlage  sich  nachweisen 
lässt '  an  welche  er  in  seinem  Werke  De  triangulis  mehr  oder  weniger 
eng  sich  angeschlossen  haben  mag.  Man  hat  darauf  hingewiesen-''), 
dass  entfernt  Aehuliches  bei  dem  Byzantiner  P  s  e  1 1  u  s  vorkomme. 
Aber  wenn  auch  Psellus  einen  unbestreitbar  mächtigen  Einfluss  auf 
das  Studium  der  Logik  im  Abendlande  ausgeübt  hat,  so  ist  doch  die 
weit  höhere   geometrische  Begabung   des  Jordanus  gewiss  nicht   bei 


^)  Jordanus,  Trianguli  S.  32:    ex   eis   argues   st  proposite  fuerint  figure 
poligonie  [mtilto  plurium  laterum.  *)  Ebenda  S.  36:   Proposito  circulo  equale 

quadratiim  constituere.        ^)  Günther,  Unterricht  Mittela.  S.  161,  Note  2.- 


80  44.  Kapitel. 

einem  Psellus  in  die  Schule  gegangen.  Viel  leichter  könnten  wir  mit 
der  am  gleichen  Orte  ausgesprochenen  Vermuthung  uns  befreunden, 
es  sei  bei  Psellus  und  Jordanus  hier  der  Einfluss  eines  Dritten, 
eines  Schriftstellers  der  griechisch -arabischen  Schule  etwa,  wahr- 
nehmbar, den  Jordanus  besser  verstanden  hat,  als  es  Psellus  möglich 
war.  Immerhin  schweben  solche  Meinungen  ziemlich  haltlos  in  der 
Luft.  Nur  zwei  verneinende  Behauptungen  können  wir  mit  Sicher- 
heit aussprechen.  Des  Jordanus  16.  Satz  im  4.  Buche  De  triangulis 
stammt  nicht  aus  der  Kreisquadratur  des  Franco  von  Lüttich 
(Bd.  I,  S.  822),  er  stammt  auch  nicht  aus  dem  Buche  der  drei 
Brüder  (Bd.  I,  S.  690).  Beide  Schriften  sind  gegenwärtig  heraus- 
gegeben^). Auch  in  der  durch  Gerhard  von  Cremona  in's  Lateinische 
übersetzten  arabischen  Schrift  findet  sich  reiches  Material  zur  Kreis- 
quadratur, aber  nicht  jener  16.  Satz  des  Jordanus.  Andere  Sätze  aus 
dem  Buche  der  drei  Brüder  dagegen  zeigen  mit  solchen  aus  dem 
4,  Buche  De  triangulis  eine  merkwürdige  Aehnlichkeit.  Der  18.  Satz 
der  Araber  hat  es  mit  der  Dreitheilung  des  Winkels,  ihr  16.  Satz 
mit  der  Würfelverdoppelung  zu  thun.  Dieselben  Fragen  beschäftigen 
Jordanus  im  20.,  im  22.  Satze  seines  4.  Buches.  Die  Uebereinstim- 
mung  im  Wortlaute  sowie  in  den  Buchstaben  der  Figuren  ist  eine 
so  vollständige,  dass  man  herüber  und  hinüber  zweifelhafte  Lesarten 
dadurch  festzustellen  befähigt  war.  Da  sollte  man  doch  für  un- 
zweifelhaft halten,  dass  *  Jordanus  sich  jener  Uebersetzung  des  Liber 
tri  um  fratrum  von  Gerhard  von  Cremona  bediente!  Und  dennoch 
tragen  wir  die  grössten  Bedenken  solches  anzunehmen.  Sie  beruhen 
auf  Folgendem:  In  den  neun  letzten  Sätzen  des  4.  Buches,  von  dem 
20.  bis  zum  28.  Satze,  sind  bei  Jordanus  alle  Figuren  mit  Buchstaben 
griechisch -arabischer  Reihenfolge  bezeichnet,  während  vorher  aus- 
schliesslich die  lateinische  Reihenfolge  der  Buchstaben  zu  erkennen 
ist.  Von  dem  Satze  an,  wo  ahg  an  die  Stelle  von  ahc  treten, 
müssen  wir  wohl  an  den  Einfluss  eines  Musterwerkes,  und  dann  mit 
grosser  Wahrscheinlichkeit  an  den  eines  einzigen  denken,  und  doch 
ist  nur  in  Satz  20  und  22,  wie  bemerkt,  eine  Uebereinstimmung  mit 
dem  Buche  der  drei  Brüder,  ist  schon  in  Satz  22  ein  wesentlicher 
Unterschied  neben  der  Aehnlichkeit  zwischen  Jordanus  und  der  Ger- 
hard'schen  Uebersetzung  wahrnehmbar,  sind  die  Sätze  21  und  23  bis 
28  bei  den  drei  Brüdern  gar  nicht  vorhanden.  Da  drängt  sich  doch 
die  Vermuthung  auf,  dem  Jordanus   werde  nicht  das  Buch   der    drei, 

^)  Die  Schrift  des  Franco  gab  Winterberg  in  der  Zeitschi-.  Math.  Phys. 
(1882)  XXVn,  Snpplementheft  S.  137—190  heraus,  den  Liher  trium  fratrum 
sodann  (1885)  Max  Curtze  im  XLIX.  Bande  der  Nova  Acta  der  Kais.  Leop.- 
Carol.  deutschen  Akademie   der  Naturforscher.  '  ^, 

J0- 


.Tordanus  Nemorarius.     De  nnmeris  datis.     De  triancfnlis. 


81 


Brüder  vorgelegen  haben,  sondern  eine  Arbeit,  welche  selbst  ihren 
Stoff  theilweise  dem  Buche  der  drei  Brüder  entlehnt  hatte.  Ist  etwa 
an  Täbit  ihn  Kurra  zu  denken,  den  Schüler  von  Muhammed,  den 
ältesten  unter  den  drei  Brüdern?^)  Solche  Fragen  sind  leichter  auf- 
geworfen als  beantwortet,  und  sie  würden  zu  ihrer  befriedigenden 
Beantwortung  jedenfalls  voraussetzen,  dass  mehr  arabische  Mathe- 
matiker in  Uebersetzungen  vorhanden  wären,  als  es  der  Fall  ist.  Der 
Itj.  Satz  des  Jordanus  aber,  von  welchem  wir  den  Ausgangspunkt  zu 
dieser  Einschaltung  nahmen,  bleibt  von  dem  Ergebnisse,  wie  es  aus- 
fallen möge,  unberührt,  da  er  noch  nicht  zu  der  besonders  kenntlich 
gemachten  Gruppe  von  neun  Sätzen  gehört. 

Wir  haben  bei  einigen  Sätzen  dieser  Gruppe  noch  zu  verweilen. 
Der  20.  Satz,  sagten  wir,  habe  es  mit  der  Dreitheilung  eines  spitzen 
Winkels  zu  thun  (Figur  17).  Um  h,  den  Scheitelpunkt  des  spitzen 
Winkels  ahg,  als  Mittelpunkt  wird  der  Kreis  dzm  beschrieben,  dh 
bis  l  verlängert,  hz  senkrecht  zu  dl 
gezogen  und  ze  gegen  h  verlängert, 
worauf  zq  =  hd  abgeschnitten  wird. 
Die  Gerade  seh  wird  nun  in  gleitende 
und  zugleich  drehende  Bewegung  ge- 
setzt, während  welcher  sie  fortwäh- 
rend durch  e  hindurchgeht  und  z  auf 
der  Kreisperipherie  hinläuft.  Diese 
Bewegung  lässt  man  andauern,  bis 
q  auf  der  früheren  Geraden  hz ,  etwa 
in  5,  ankommt,  d.  h.  bis  auf  est  der 
Theil  st=  qz  =  hd  ist.     Dann  ist 

arc.  tl  =  Y  ^^ß-  f^^- 


Mau  ziehe  nibk  \\  te  und  nit.  We^  ts  parallel  und  gleich  mh,  muss 
auch  mt  parallel  und  gleich  bs  sein.  Nun  war  bsz  senkrecht  zu  dl 
gezogen,  also  ist  auch  mt  senkrecht  zu  dl,  und  daher  halbirt  dl  so- 
wohl die  Sehne  mt  als  den  von  ihr  bespannten  Bogen  mt.  Ferner 
sind  -^mbl  und  dbk  Scheitelwinkel  am   Kreismittelpunkte,  also 


arc.  dk  = 


d  ==  —-  arc.  mt  ==  -—  arc. Ä;e  =  ---  arc.  de. 


2  3 

Ist  der  zu   drittheilende  Winkel  stumpf,    so  wird  seine  Hälfte  spitz, 
also  diese  nach  der  vorgeschriebenen  Regel  behandelt  werden  können. 


^)  Einer  nicht  wese^tlicli  verschiedenen  Meinung  scheint  Max  Curtze  zu 
huldigen,  vergl."  dessen  Beliquiae  Copernicanae  (1875)  S.  26  oder  Zeitschr.  Math. 
Phys.  XIX,  451. 

Cantor,  Goschichte  der  Matliem.    U.     -2.  Aufl.  6 


82  44.  Kapitel. 

Diese  Darstellung  (eine  naliezu  wörtliche  Uebersetzung)  lässt  er- 
kennen, dass  hier  von  Bewegungsgeometrie  Gebrauch  gemacht 
ist,  wie  ein  arabischer  Schriftsteller  in  der  zweiten  Hälfte  des  X.  Jahr- 
hunderts, Assidschzi  (Bd.  I,  S.  706)  es  nannte,  wenn  ein  als  Maass- 
stab eingetheiltes  Lineal  so  um  einen  Punkt  in  gleitende  Drehung 
versetzt  wird,  bis  gewisse  Längen  auf  einer  Richtung  von  einer  ge- 
gebenen Begrenzung  an  ablesbar  werden^).  Würde  man  den  geo- 
metrischen Ort  des  Punktes  q  vollständig  zeichnen,  so  bekäme  man 
eine  Kreisconchoide,  welche  durch  ihren  Durchschnitt  mit  hz  den 
Punkt  s  bestimmen  Hesse,  und  welche  auch  das  8.  Lemma  des  Archi- 
med  (Bd.  I,  S.  284)  zu  einer  Winkeldreitheilungsmethode  verwerthen 
würde,  die  im  Grundgedanken  mit  der  soeben  erörterten  nahe  ver- 
wandt ist.  Wäre  es  wohl  allzugewagt,  aus  den  Bemerkungen  von 
Assidschzi,  aus  dem  Buche  der  drei  Brüder,  aus  Jordanus  den  Schluss 
zu  ziehen,  die  Griechen  hätten  die  Curve  der  Kreisconchoide  wirklich 
gekannt  ? - ) 

Der  22.  Satz  beschäftigt  sich,  wie  wir  erwähnt  haben,  gleich  dem 
16.  Satze  der  drei  Brüder  mit  der  Würfelverdoppelung  und  zwar 
zunächst  nach  der  Methode  des  Archytas  (Bd.  I,  S.  215 — 217).  Bei 
den  drei  Brüdern  ist  Mileus,  d.  h.  Menelaus  als  Erfinder  genannt, 
Jordanus  nennt  keinen  Erfinder.  Dagegen  stimmt  er  mit  der  Ueber- 
setzung des  Gerhard  von  Cremona  darin  überein,  dass  er  die  Um- 
drehuugsaxe  meguar  nennt,  eine  nicht  einmal  sehr  schlechte  Lesung 
des  arabischen  Wortes  für  Axe,  welches  heute  mihwar  geschrieben 
werden  würde  ^).  Jordanus  giebt  sodann  eine  zweite  Auflösung,  welche 
die  heronische  Auflösung  (Bd.  I,  S.  350)  mit  Einschluss  der  bei  der 
Figur  in  Anwendung  kommenden  Buchstaben  genau  wiedergiebt  und 
als  einzige  Abweichung  einen  Kreis  zeichnen  lässt,  den  die  heronische 
Figur  nicht  aufweist.  Auch  das  Buch  der  drei  Brüder  knüpft  eine 
zweite  Auflösung  an,  aber  es  ist  die  Plato's*)  (Bd.  I,  S.  214),  und  in 
diesen  zweiten  Auflösungen  ist  der  neben  sonstiger  Uebereinstimmung 
vorhandene  wesentliche  Unterschied  zwischen  dem  Liber  trium  fra- 
trum  und  Jordanus  zu  finden,  den  wir  oben  schon  betonten. 

Der  zwischen  Winkeldrei theilung  und  Würfelverdoppelung  ein- 
geschaltete   Satz    21    verlangt'')    in    einem    gegebenen   Dreiecke    den 

')  Wöpcke,   L'algebre  d'Omar  Alkayyämt  pag.  120.  *)   Max  Curtze, 

welcher  in  den  Beliquiae  Copernicanae  1.  c.  zuerst  diese  Frage  aufwarf,  ist  ge- 
neigt, die  Kenntniss  der  Kreisconchoide  den  Griechen  zuzusprechen.  ')  Vergl. 
das   grosse  Wörterbuch  von  Freytag  IV,  157.  *)  Liber  trium  fratrum.     Er- 

läuterung zu  XVn,  S.61.  ^)  Jordanus,  Trianguli,  S.  39:  In  omni  triangxüo 

noto  est  punctum  invenire,  quo  continuato  cum  angulis  trianguli  dividetur  trian- 
giihis  per  tres  proporciones  notas. 


Jordanus  Kemorarius.     De  numeris  datis.     De  triangnlis. 


83 


Punkt  zu  finden,  dessen  Verbindungsgerade  mit  den  Ecken  das 
Dreieck  nach  gegebenem  Verhältnisse  theilen.  Die  Aufgabe  ist  die 
Verallgemeinerung  der  18.  des  2.  Buches^  welche  wir  (S.  76)  be- 
sprochen haben.  Aber  Jordanus  erinnert  an  jene  mit  keinem  Worte 
und  bedient  sich  einer  durchaus  anderen  Reihenfolge  der  Buchstaben, 
wogegen  der  der  Auflösung  zu  Grunde  liegende  Gedanke  sich  nicht 
geändert  hat  (Figur  18).  Die  Grundlinie 
ag  wird  nach  dem  gegebenern  Verhältnisse 
in  d  und  e  getheilt.  Dann  werden  von 
diesen  Theilungspunkten  aus  Parallele  zu 
der  jeweils  nächsten  Dreiecksseite  gezogen, 
deren  Durchschuittspunkt  t  der  gesuchte 
Punkt  ist.  Bei  dem  23.  Satze,  welcher 
ein  regelmässiges  Sehnensiebeneck  fordert^),  verweilen  wir  nur  einen 
Augenblick,  um  zu  berichten,  dass  die  Regel:  die  Hälfte  der  Dreiecks-. 
Seite  gebe  die  Siebenecksseite,  welche  Abü'l  Wafä  lehrte  (Bd.  I, 
S.  702)  hier  als  indische  Regel')  vorgetragen  wird.  Aber  Jordanus 
sagt  uns  auch,  die  indische  Regel  gehe  weiter  und  liefere  allgemein 
die  Seite  s„   des   regelmässigen   Sehnenvielecks   von   n  Seiten   in   dem 


Fig.  18. 


Kreise  vom  Halbmesser 
Schrift    s„^  = 


{n  —  l)n 


In  eine  Formel  umgesetzt  lautet  die  Vor- 
Daraus  entsteht,  was  bei  Jordanus  aller- 


dings nicht  gesagt  ist. 


Sonderfälle  sind:    L 


6r 


V(» 


y3, 


-  l)w  +  6 

•1/2,  s,  = 


^;  =  vl/3, 


die  drei  ersten  genau  richtig  sind,  der  vierte  den  Werth  des  Abü'l  Wafä 
darstellt.  Im  25.  Satze  kommt  wie  bei  Leonardo  von  Pisa  (S.  37)  das 
Wort  casus^)  vor  für  den  Abschnitt,  welchen  im  Dreiecke  die  Senk- 
rechte von  einem  Eckpunkte  auf  die  Gegenseite  auf  dieser  hervor- 
bringt. 

Wir  glauben  nicht  einer  Uebertreibung  uns  schuldig  zu  machen, 
wenn  wir  den  Verfasser  der  vier  Bücher  von  den  Dreiecken  unter 
die  hervorragenden  Geometer  zählen.  Mag  Vieles,  mögen  insbeson- 
dere die  oftgenaunten  neun  letzten  Sätze  des  4.  Buches  offenkundig- 
ausländischen  Ursprunges  sein,  Jordanus  hat  sie  doch  verstanden,  hat 


^)  Jordanus,  Triunguli,  S.  42:  Circulo  proposito  eptagonuvi  eqiälaterum  et 
equiangulum  inscribere.  *)  Ebenda  S.  43—44:    Hec  est  questio  Indorum .  .  .et 

scias,  qiiod  ipsi  ponunt  latus  eptagoni  cadentis  in  circulo  per  equalitatem  medieta- 
tis  lateris  trianguli  cadentis  in  illo.         ^)  Ebenda  S.  45. 

6* 


84  -i^-  Kapitel. 

es  berechtigt  gefunden,  sie  in  sein  Werk  aufzunehmen.  Auch  für 
die  vorhergehenden  Bücher  und  die  19  ersten  Sätze  des  4.  Buches 
mag  Jordanus  vielleicht  nicht  als  ganz  unabhängiger  Erfinder  da- 
stehen, aber  was  wir  ihm  unter  allen  Umständen  zu  gut  rechnen 
müssen,  das  sind  manche  Beweisführungen,  das  sind  mindestens  die 
in  denselben  von  Schritt  zu  Schritt  enthaltenen  Verweisungen  auf 
Euklid.  So  erhalten  wir  das  Bild  eines  durchaus  gewissenhaften 
Schriftstellers,  eines  Gelehrten,  der  den  seiner  Zeit  zugänglichen  Stoff 
durchaus  beherrschte  und  denselben  zu  vei-wenden  wusste.  Insbeson- 
dere die  genaue  Kenntniss  der  euklidischen  Elemente  muss  in  einer 
geschichtlichen  Betrachtung  stark  hervorgehoben  werden.  Man  darf 
gewiss  für  einen  Zeitraum,  der  bis  tief  ins  XVI.  Jahrhundert  sich 
erstreckt,  den  Satz  aussprechen:  je  mehr  wissenschaftlicher  Sinn  einer 
Zeit  oder  einer  einzelnen  Persönlichkeit  innewohnte,  um  so  gründ- 
licher wurde  Euklid  studirt. 

Als  wir  vorher  die  schriftstellerische  Thätigkeit  des  Jordanus  in 
den  nicht  geometrischen  Theilen  der  Mathematik  schilderten,  haben 
wir  (S.  67)  am  Schlüsse  des  43.  Kapitels  zugesagt,  auf  die  Ursprungs- 
frage zurückkommen  zu  wollen.  Wir  wenden  uns  zur  Erfüllung 
dieser  Zusage,  so  weit  sie  uns  möglich  ist,  und  zu  gleicher  Zeit 
greifen  wir  auf  die  Schriften  des  Leonardo  von  Pisa  zu  ähnlichem 
Zwecke  zurück.  Haben  doch  die  beiden  Männer  sich  den  Ruhm  ver- 
dient, an  die  Spitze  eines  neuen  Zeitraumes  —  wir  dürfen  vielleicht 
sagen  eines  neuen  Zeitalters  —  gestellt  werden  zu  müssen,  und  sind 
doch  Beide,  wie  ihre  Schriften  mit  Ausschluss  jeden  Zweifels  dar- 
thun,  in  arabischer  Schulung  zu  Mathematikern  geworden,  gleichviel 
ob  sie  selbst  der  arabischen  Sprache  mächtig  waren,  oder  ob  sie 
Arabisches,  beziehungsweise  Griechisch- arabisches,  aus  lateinischen 
Uebersetzungen  kennen  lernten.  Für  Leonardo  geht  man  kaum  irre, 
wenn  man  annimmt,  er  habe  in  Bugia,  er  habe  später  in  der  Levante 
genügende  Kenntnisse  in  der  arabischen  Sprache  gesammelt,  um  Ueber- 
setzungen entbehren  zu  können.  Eine  gleiche  Annahme  auch  für 
Jordanus  zu  machen,  fehlt  es  an  einer  gesicherten  Grundlage.  Bei 
der  hervorgehobenen  Grundähnlichkeit  sind  nun  einzelne  schroffe 
Gegensätze  zwischen  Jordanus  und  Leonardo  um  so  auffallender.  Wir 
wollen  sie,  die  zumeist  den  rechnenden  Abschnitten  angehören,  her- 
vortreten lassen. 

Jordanus  führt  Verdoppelung  und  Halbirung  als  besondere  Rech- 
nungsarten an,  Leonardo  kennt  sie  nicht  als  solche.  Leonardo  lehrt 
die  Neunerprobe,  für  Jordanus  ist  sie  nicht  vorhanden.  Jordanus 
besitzt  eine  Art  complementärer  Multiplication  (ob  freilich  aus  ara- 
bischer Quelle  bezweifeln  wir) ,  bei  Leonardo  nichts  Aehnliches.     Leo- 


Jordanus  Nemorarius.     De  numeris  datis.     De  triangulis.  35 

nardo  gebraucht  für  das  Quadrat  der  unbekannten  Grösse  das  Wort 
census,  bei  Jordanus  ist  es  nicht  zu  finden,  sondern  nur  quadmtus. 
Fast  am  Auffallendsten  ist  der  Gegensatz  beider  Schriftsteller,  wo 
es  sich  um  die  Ausziehung  von  Kubikwurzeln  handelt.  Jordanus 
lehrt  dieselbe,  soweit  sie  ganzzahlig  möglich  ist,  genau  in  der  gleichen 
unbefangenen  Weise  wie  vorher  die  Quadratwurzel,  Leonardo  rühmt 
sich  der  Erfindung  der  Kubikwurzelausziehung  und  lehrt  dabei  eine 
Näherungsmethode,  welche  es  gestattet,  den  rohesten  ganzzahligen 
Annäherungen  noch  Brüche  beizufügen. 

Wie  in  aller  Welt  sind  diese  Verschiedenheiten  bei  Männei-u, 
deren  Lehrjahre  gewiss  nicht  weit  auseinander  lagen,  die  beide,  wie 
wir  oben  sagten,  in  arabischer  Schulung  zu  Mathematikern  geworden 
sind,  zu  deuten?  Wir  glauben  einem  Erklärungsgrunde  auf  die  Spur 
gekommen  zu  sein,  ob  dem  richtigen  müssen  wir  dahingestellt  sein 
lassen.  Er  hat  jedenfalls  ein  Verdienst,  nämlich  das,  der  einzige  zu 
sein,  der  bisher  aufzustellen  versucht  wurde. 

Wir  haben  (S.  34)  einige  algebraische  Aufgaben  Leonardo's  als 
Alkarchi  nachgebildet  nennen  dürfen.  Den  gleichen  Lehrer  erkennen 
wir  in  allen  jenen  Dingen,  die  wir  hier  als  für  Leonardo  besonders 
kennzeichnend  fanden.  Die  Kubikwurzel  insbesondere  hat  Alkarchi 
nicht  ausgezogen,  aber  dafür  hat  er  eine  näherungsweise  Ausziehung 
der  Quadratwurzel,  an  welche  zu  erinnern  wir  gerade  damals  für  an- 
gezeigt hielten,  als  wir  Leonardo's  Kubikwurzelausziehung  schilderten. 
Und  nun  Jordanus.  Wir  könnten  sagen,  er  hat  Alkarchi's  Schriften 
nicht  gekannt,  aber  wir  gehen  um  einen  Schritt  weiter.  Wir  ver- 
muthen  seine  Abhängigkeit  von  Alnasawi.  Diese  erklärt  nämlich 
Alles,  was  wir  von  Jordanus  aussprachen  mit  Ausnahme  der  com- 
plementären  Multiplication,  welche  er  von  irgend  einem  Klostergeist- 
lichen gelernt  haben  kann,  dagegen  mit  Einschluss  der  Kubikwurzel- 
ausziehung, welche  bei  Alnasawi  vorkommt. 

Wunderbarer  Zufall!  Im  fernen  Oriente  ruft  (Bd.  I,  S.  720—721) 
vielleicht  religiöser  und  politischer  Gegensatz  zwei  einander  feindliche 
wissenschaftliche  Schulen  ins  Leben.  Ein  Werk  aus  der  Schule  des 
Alkarchi  fällt  in  die  Hand  eines  geistvollen  Kaufmannes,  ein  anderes 
aus  der  Schule  des  Alnasawi  —  denn  wir  behaupten  keineswegs,  es 
seien  die  Werke  der  Begründer  jener  Schulen  selbst  gewesen,  die 
nothwendig  bei  Leonardo,  bei  Jordanus  dem  Unterrichte  zu  Grunde 
lagen  —  fällt  in  die  Hand  eines  hochbegabten  Mönches,  und  im 
christlichen  Abendlande  spiegelt  sich  ein  Gegensatz  wieder,  der  hier 
auch  nicht  den  Schein  einer  Berechtigung  besitzt!  Jetzt  aber  handelt 
es  sich  darum,  wie  die  Weiterentwickelung  vorgehen  soll,  ob  für  die 
nächsten  Jahrhunderte  in  Europa  Alkarchi,  ob  Alnasawi  sich  siegreich 


86  44-  Kapitel. 

erweist,  oder  wenn  unser  Erklärungsversuch  des  nicht  wegzuleugnen- 
den Gegensatzes  keinen  Beifall  finden  sollte,  wer  der  Lehrmeister 
bleibt,  Leonardo  oder  Jordanus? 

Haben  wir  aber  erst  des  Wortes  Zufall  uns  bedient,  so  ist  jetzt 
aus  inneren  Gründen  die  Antwort  herzuleiten,  welche  /die  zuletzt  auf- 
geworfene Frage  zu  erhalten  hat.  Leonardo  von  Pisa  war  freihch 
nach  unserer  persönlichen  Schätzung  der  bedeutendere  Mathematiker 
von  den  beiden,  zwischen  welchen  die  Wahl  stand.  Er  war  ein 
Kaufmann  unter  tausenden.  Jordanus  Nemorarius  war  ein  Ordens- 
geistlicher wie  vielleicht  sehr  viele,  wenngleich  an  besonderer  mathe- 
matischer Begabung  denselben  überlegen,  und  das  musste  den  Aus- 
schlag geben.  War  die  Wissenschaft  und  ihre  Lehre  noch  fortwährend 
Eigenthum  der  Geistlichkeit,  gipfelte,  wie  wir  (S.  54)  in  kurzem 
Abrisse  anzudeuten  uns  begnügen  mussten,  alles  Wissen  in  der 
Gottesgelehrsamkeit,  so  musste  der  gelehrte  Mönch  einen  ganz  an- 
deren Einfluss  ausüben  als  der  ebenso  gelehrte  Kaufmann.  Und  wenn 
nun  gar  der  Mönch  dem  Orden  angehörte,  der,  wie  wir  gleichfalls 
(S.  55)  gesagt  haben,  in  Predigt  und  Lehre  seine  Aufgabe  fand, 
wenn  er  an  der  Spitze  dieses  Ordens  stand,  wenn  er  zur  Ausbreitung 
des  Ordens  in  grossartiger  Weise  beitrug,  kann  es  da  noch  zweifel- 
haft erscheinen,  wer  im  Wettstreite  siegen  musste,  wenn  überhaupt 
von  einem  solchen  die  Rede  sein  kann?  Und  nun  greifen  wir  auf 
eine  andere  für  Manchen  noch  strittige  Frage  zurück:  wenn  Alles 
so  verlief,  wie  wir  hier  in  Kürze  es  angedeutet  haben,  ist  dadurch 
nicht  ein  bisher  unbeachtet  gebliebener  Grund  für  die  Behauptung 
gefunden,  Jordanus  Nemorarius  und  Jordanus  Saxo  seien  eine  Person? 

Lassen  wir  an  einem  Belege  statt  an  hunderten  zum  voraus 
wenigstens  die  Wahrscheinlichkeit  unserer  Erörterungen  zu  Tage 
treten.  Handschriften  des  Leonardo  von  Pisa  haben  sich  bis  auf  den 
heutigen  Tag  nur  in  Italien  erhalten,  oder  wohin  sie  in  den  letzten 
Jahrhunderten  von  Italienern  .^allenfalls  verschleppt  worden  sind. 
Handschriften  des  Jordanus  Nemorarius  sind  in  Basel,  in  Cambridge, 
in  Dresden,  in  Erfurt,  in  Mailand,  in  München,  in  Oxford,  in  Paris, 
in  Rom,  in  Thorn^  in  Venedig,  in  Wien  vorhanden.  Wir  haben  ab- 
sichtlich die  alphabetische  Reihenfolge  der  Städte  gewählt,  welche  in 
Kreuz-  und  Querzügen  über  ga»z  Europa  hin  und  her  führt. 


Johannes  tie  Sacrobosco,  Jobannes  Campauus  u.  and.  Math.  d.  XIII.  Jahrh.     8' 


45.  Kapitel. 

Johannes  de  Sacrobosco,  Johannes  Campanus  und  andere 
Mathematiker  des  XIII.  Jahrhunderts. 

Was  wir  aus  inneren  Gründen  als  unausbleiblich  erkannten, 
stellt  sich  als  thatsächlich  vorhanden  dar,  sobald  wir  an  die  Persön- 
lichkeiten näher  herantreten,  welche  die  Geschichte  der  Mathematik 
nächst  den  beiden  Männern,  welchen  unsere  seitherigen  Betrachtungen 
gewidmet  waren,  im  XIII.  Jahrhundert  zu  nennen  hat. 

Gehen  wir  von  Paris  aus  als  dem  Sitze  derjenigen  Schule,  welche 
während  der  ganzen  Zeit  der  Scholastik  die  leitende  Rolle  führte,  so 
treffen  wir  dort  auf  Johannes  de  Sacrobosco^).  Der  Name 
kommt  noch  in  mehrfachen  Formen  vor  als  Sacrobusto,  Sacro- 
buschus  oder  englisch  als  John  of  Holywood,  beziehungsweise 
Holybush.  Als  sein  Geburtsort  wird  meistens  Holywood  (jetzt 
Halifax)  in  Yorkshire  angenommen.  Andere  halten  Holywood  bei 
Dubhn  für  die  Heimath  des  Gelehrten,  noch  Andere  lassen  ihn  in 
Nithsdale  in  Schottland  geboren  sein.  Jedenfalls  studirte. Sacrobosco, 
wie  wir  mit  zwar  unrichtiger,  aber  häufiger  alleiniger  Benutzung  des 
Heimathsnamens  sagen  wollen,  in  Oxford  und  lehrte  später  Astronomie 
imd  Mathematik  in  Paris.  Dort  starb  er  im  Jahre  1256,  wie  aus 
seiner  Grabschrift  hervorgeht^).  Die  Geschichte  der  Astronomie^) 
nennt  mit  Fug  und  Recht  sein  Werk  über  die  Weltkugel,  De  sphaera 
mundi,  ein  gutes  Buch  für  eine  schlechte  Zeit  und  begründet  dieses 
Urtheil  mit  dem  Hinweise  auf  den  Beifall,  welchen  volle  drei  Jahr- 
hunderte dem  ganz  unselbständigen  Werke,  einem  Auszuge  aus  dem 
Almagest  und  einigen  arabischen  Astronomien,  spendeten,  indem 
sie  es  dem  Universitätsunterrichte  zu  Grunde  legten  und  der  Ab- 
fassung von  umfangreichen  Erläuterungen  für  würdig  hielten.  Eine 
nicht  viel  andere  Rolle  spielt  Sacrobosco's  Lehrbuch  der  Rechenkunst*), 


^)  Poggendorff,  Biographisch-literarisches  Handwörterbuch  zur  Geschichte 
der  exacten  Wissenschaften  I,  1196 — 1197.  Wir  citiren  dieses  oft  benutzte  vor- 
treffliche Nachschlagewerk  künftig  kurzweg  als  Poggendorff.  —  Nouvelle 
Biographie  universelle  XXVI,  556.  *)  Vossius,  De  scientiis  mathematicis  (1650) 
pag.  179  giebt  die  ganze  Grabschrift.  Kästner,  Geschichte  der  Mathematik 
(1796 — 1800)  n,  310  giebt  allerdings  auffallender  Weise  eine  ganz  andere  Grab- 
schrift an ,  aber  in  dem  Todesjahre  1256  stimmen  beide  überein.  Diese  Werke 
citiren  wir  künftig  kurzweg  als  Vossius  und  als  Kästner.  ^)  R.  Wolf,  Ge- 
schichte der  Astronomie  (1877)  S.  210  Note  2.  *)  Der  Tractatus  de  arte  nume- 
randi  ist  zuletzt  unter  diesem  Titel  von  J.  0.  Halliwell  in  den  Rara  Mathe- 


88  45.  Kapitel. 

tractatiis  de  arte  numerandi.  Es  ist  eine  Sammlung  von  Regeln  ohne 
den  geringsten  Beweis,  ohne  Zahlenbeispiel,  ohne  Erwähnung  einer 
Quelle,  aus  welcher  der  Verfasser  schöpfte.  Aber  in  dieser  Nüchtern- 
heit^ in  dieser  Kürze  eignete  es  sich  vortrefflich  dazu,  den  Grundriss 
zu  einem  die  zahlreichen  Lücken  mündlich  ergänzenden  Unterrichte 
zu  bilden,  und  wurde  es  Jahrhunderte  lang  in  solcher  Weise  benutzt. 
Ob  darum  die  eben  bezeichneten  Lücken  wirklich  ausgefüllt  wurden? 
Mitunter  geschah  es,  aber  die  grosse  Menge  der  Lernenden  wie  nicht 
minder  der  Lehrenden  begnügte  sich  doch  wohl  gerne  mit  dem  Hand- 
werk des  Rechnens,  ohne  auf  die  Wissenschaftlichkeit  des  Algorith- 
mus demonstratus  Ansprüche  zu  erheben:  was  wir  am  Ende  des  vorigen 
Kapitels  von  der  dauernden  Einwirkung  des  Jordanus  sagten,  was  wir 
in  bestimmterer  Weise  von  seinem  Algorithmus  demonstratus  hätten 
sagen  können,  beschränkt  sich  zunächst  ausdrücklich  auf  das  Rechen- 
handwerk. Sacrobosco's  Rechenbuch,  über  welches  wir  kurz  be- 
richten wollen,  lässt  das  Wort  Algorismus  von  einem  Philosophen 
Algus  abstammen.  Es  benutzt  in  bekannter  Weise  die  Wörter 
digitus  und  articidus.  Es  erkennt  Halbiren  und  Verdoppeln  als  be- 
sondere Rechnungsarten  an.  Man  kann  fragen,  wesshalb  diese  beiden 
Operationen  jetzt  in  der  entgegengesetzten  Reihenfolge  auftreten,  als 
die  war,  in  welcher  Jordanus  (S.  G4)  sie  lehrte?  Sacrobosco  selbst 
sowie  ein  gleich  nachher  zu  erwähnender  Commentator  geben  keinerlei 
Auskunft  darüber,  aber  merkwürdig  genug  hat  das  alte  in  der  Wissen- 
schaft längst  abhanden  gekommene  Verfahren  sich  praktisch  erhalten, 
und  aus  ihm  sind  Schlüsse  gezogen  worden^).  In  reindeutschen  Ort- 
schaften Böhmens  wird  in  der  Volksschule  die  Multiplication  2«malZ; 
heute  noch  so  gelehrt,  dass  2n  halbirt,  h  verdoppelt  und  2k  alsdann 
n  mal  unter  einander  geschrieben  wird,  worauf  die  Addition  dieser 
Posten  erfolgt.  Ist  2w  -(-  1  mal  h  zu  rechnen,  so  schreibt  man 
n  mal  2A-,  darunter  h  und  addirt.  Das  Beispiel  .5  mal  36  sieht  so 
aus:  72 

12 
36 
180 
Hier  tritt  das  Halbireu  begrifflich  vor  dem  Verdoppeln  auf,  und  des- 
halb   könnte    es    als    Operation    den   Vorrang    erhalten    haben.     Das 


matica  (1839)  abgedruckt.  Aeltere  Drucke  als  Opusculum  de  praxi  numerorum 
quod  Algorismum  vocant  vielleicht  veranstaltet  durch  Jod.  Clichtoveus  (Paris 
1510)  und  als  Algorismus  domini  Joannis  de  Sacro  Bosco  (Venedig  1523).  Ueber 
die  bezüglich  der  durch  Clichtoveus  veranstalteten  Ausgabe  obwaltenden 
Zweifel  vergl.  Eneström  in  der  Bibliotheca  Mathematica  1894  pag.  63—64. 
')  Briefliche  Mittheilungen  von  F.  J.  Studnicka. 


Johannes  Sacrobosco,  Jobannes  Cumpaniis  u.  and.  Matb.  d.  XIII.  Jabrb.      89 

soeben  geschilderte  Verfahren  hat  sich  auch  bei  russischen  Bauern 
erhalten^).  Sacrobosco's  Rechenbuch  lehrt  ferner  die  Ausziehung  von 
Quadrat-  und  Kubikwurzeln.  Neu,  und  nunmehr  für  Jahrhunderte 
eingeführt,  erscheint  der  Begriff  der  Progressio  zwischen  Division 
und  Wurzelausziehung,  so  dass  im  Ganzen  neun  Rechnungsarten 
erscheinen:  Numeratio,  Additio,  Subtractio,  Mediatio,  Duplatio,  Multi- 
plicatio,  Divisio,  Progressio,  Extractio.  Unter  Progressio  ist  aber 
nicht  etwa  die  Lehre  von  den  Progressionen  im  Allgemeinen,  oder 
auch  nur  von  den  arithmetischen  Progressionen  in  ihrer  Vollständig- 
keit verstanden,  sondern  die  Summirung  der  natürlichen  Zahlenreihe,  der 
Reihe  der  graden  Zahlen  und  der  der  ungraden  Zahlen,  also  die  Summen 
1  +  2  +  3  +  •-  +  ^^  2  +  4  -f  •••  +  2w,  1  +  3  +_•■•  +  {2n  -  1). 
Von  Einzelheiten  bemerken  wir  die  Vorschrift,  beim  Anschreiben 
der  Zahlen,  welches  von  dem  Stellungswerthe  der  neun  Zeichen  und 
von  der  Null  unter  dem  Namen  teca,  oder  circulus,  oder  cifra,  oder 
figura  nihili  Gebrauch  macht,  je  die  dritte  Stelle  durch  ein  Pünktchen 
zu  bezeichnen,  damit  man  wisse,  wie  viele  Tausender  vorhanden  sind^). 
Dann  ist  vor  Allem  zu  beachten,  dass  nur  ganze  Zahlen  berück- 
sichtigt sind.  Brüche  werden  nie  genannt.  Es  scheint  aber,  dass 
man  frühzeitig  begann,  die  Lehre  von  dem  Bruchrechnen  von  der 
vom  Rechnen  mit  ganzen  Zahlen  abzutrennen  und  in  besonderen 
Abhandlungen  zu  erörtern.  Wurde  doch  im  XIV.  Jahrhundert  der 
Algorithmus  demonstratus  selbst  in  der  Basler  Handschrift  aus- 
einandergerissen, so  dass  die  zweite  Abtheilung,  das  Bruchrechnen,  der 
ersten,  dem  Rechnen  mit  ganzen  Zahlen,  vorangeht,  durch  eine  kleine 
Abhandlung  über  Proportionen  von  ihr  getrennt.  Addition  und  Sub- 
traction  fangen  nach  Sacrobosco's  Vorschriften  rechts  bei  der  niedersten 
Stelle  an.  Aber  auch  die  Halbirung  beginnt  ebenda,  was  unserer 
Gewohnheit  widerspricht  und  nur  dadurch  als  thunlich  sich  erweist, 
dass  alle  Rechnungsarten  ü herwärts  erfolgen  und  fortwährende 
Veränderungen  der  entstehenden  Zahlen  als  selbstverständlich  er- 
achtet werden.  Aus  dem  gleichen  Grunde  kann  die  Verdoppelung 
und  Multiplication  ebenso  wie  die  Division  und  Wurzelausziehung 
links  bei  der  höchsten  Stelle  beginnen.  Im  Algorithmus  demonstratus, 
wo  Alles  an  Buchstaben  erörtert  wird,  fehlt  jede  Vorschrift  darüber. 
Sacrobosco  giebt  seine  Regel  bei  Gelegenheit  der  Verdoppelung  in 
den  Versen^) 


1)  Plakhovo  iu  der  Mathesis  XVII,  86—87  (Gand  1897).  °)  Item  scien- 
dum  est  quod  super  quamlibet  figuram  loco  millenarü  positam  componenter  possunt 
poni  quidam  prtnctus  ad  denotandum  quod  tot  millencirios  dehet  ultima  figura 
representare  quot  fuerunt  puncta  pertransita.         ^)  Eara  Mathematica  pag.  11. 


90  iö.  Kapitel. 

Subtrahis  aut  addis  a  dextris  vel  mediabis; 

A  leva  dupla,  divide  muUiplicaque, 

Extrahe  radicem  semper  sub  parte  sinistra. 

Abziehen  sollst  Du  und  beifügen  rechts,  sowie  auch  halbiren; 

Links  verdopple  und  theile,  und  ebendort  multiplicire ; 

Wurzelziehung  erfolge  stets  von  der  Linken  beginnend. 

Genau  die  gleiclien  Zeilen  finden  sieh\)  in  einem  Rechenbuche 
in  Versen,  welches  die  Ueberschrift  Cai-men  de  algorismo  führt, 
Soll  man  daraus  die  Folgerung  ziehen,  Sacrobosco  sei  auch  der  Ver- 
fasser dieser  Dichtung  gewesen,  oder  soll  man  umgekehrt  annehmen, 
das  von  einem  Anderen  verfasste  Gedicht  sei  schon  bekannt  und 
mehrfach  in  Gebrauch  gewesen,  als  Sacrobosco  sein  Lehrbuch  schrieb  ? 
Beide  Schlüsse  sind  gezogen  worden.  Die  an  einen  anderen  Schrift- 
steller glauben,  nennen  als  solchen  den  mit  Sacrobosco  etwa  gleich- 
zeitigen Alexander  de  Villa  Dei  oder  de  Villedieu,  einen 
Minoritenmönch  aus  Dole,  dem  man  allerdings  ähnliche  poetische 
Neigungen  nachrühmt.  Er  schrieb  eine  Doctrinale  puerorum  (latei- 
nische Grammatik)  in  Versen  und  brachte  das  ganze  alte  und  neue 
Testament  in  212  Verszeilen. 

Wir  haben  (S.  88)  einen  der  Commentare  zu  Sacrobosco's  Rechen- 
buch besonders  erwähnt.  Der  Verfasser  ist  Petrus  Philomeni  de 
Dacia^),  und  der  Commentar  ist  am  letzten  Juli  1291  vollendet 
worden.  Petrus  von  Dacien  war,  wie  sein  Name  zu  erkennen  giebt, 
ein  Däne  und  gehörte  dem  Dominikanerorden  an,  welcher  schon  im 
Mai  1228  so  weit  nach  Norden  vorgedrungen  war,  dass  es  eine 
Dominikanerprovinz  Dacien  gab.  Nehmen  wir  dazu,  dass  gleichfalls 
am  Anfange  des  XIII.  Jahrhunderts  schon  eine  dänische  Fürsten- 
tochter, die  unglückliche  Ingeborg,  als  Gemahlin  Philipp  August's 
von  Frankreich  die  Beziehungen  zwischen  beiden  Ländern  vermehren 
half,  so  erscheint  es  weniger  auffallend,  einen  Schriftsteller  dänischer 
Nation  am  Ende  des  Jahrhunderts  in  Paris  zu  finden.  Ein  Petrus 
von  Dacien  soll  sogar,  nach  den  Einen  1326,  nach  Anderen  1337, 
Rector  der  pariser  Universität  gewesen  sein,  doch  dürfte  dieser  ent- 
weder Petrus  Strangonis  de  Dacia  oder  Petrus  dictus  Winter 
de  Dacia  heissend  von  Petrus  Philomeni  unterschieden  werden 
müssen.  Eine  Osterrechnung  auf  das  Jahr  1300  kann  aber  von  un- 
serem   Petrus    herrühren^),    und    ihm    dürfen    wir   sicher    auch    eine 


^)  Bara  Mathematica    pag.  74—75.  ^   Günther,    Unterricht  Mittela. 

S.  167  Note  2.  —  Suter,  Math.  Univ.  S.  43.  —  Petri  Philomeni  de  Dacia 
in  Algorismum  vulgarem  Johannis  de  Sacrobosco  Commentarius  (ed.  M.  Curtze, 
Kopenhagen  1897).  ^)  Vossius  pag.  397.  Anno  MCCC  Petrus  de  Dacia  librum 
contexuit  de  calculo  seu  computo. 


1  .hanues  de  Sacrobosco,  Johannes  Campanus  n.  and.  Math.  d.  XIII.  Jahrh.     91 

Tabula  magistri  Petri  Phüomene  de  Dada  ad  inveniendimi  proposi- 
fionem  cujusvis  numeri'^)  in  einer  Vaticanhandschrift  zuweisen,  in 
welcher  sämmtliche  Producte  von  1  mal  1  bis  zu  49  mal  49  in  Zahlen 
des  Sexagesimalsystems  ausgedrückt  sind.  Der  Commentar  von  Sacro- 
bosco's  Rechenbuch  ist  vorzüglich,  und  wer  ihn  zu  benutzen  verstand, 
musste  sich  eine  für  die  damalige  Zeit  achtunggebietende  Summe  von 
Kenntnissen  erwerben.  Zu  jeder  einzelnen  Regel  sind  lehrreiche 
Beispiele  gegeben,  ausserdem  aber  stossen  wir  auch  auf  theoretisch 
Interessantes.  Wir  heben  nur  die  arithmetischen  Progressionen  her- 
vor. Petnis  von  Dacien  betrachtet  solche  mit  beliebigen  ganzzahligen 
Gliedern.  Die  Summe  wird  bei  grader  Gliederanzahl  gefunden, 
indem  die  halbe  Gliederzahl  mit  der  Summe  des  ersten  und  des 
letzten  Gliedes  vervielfacht  wird.  Bei  ungrader  Gliederzahl  ver- 
vielfacht man  diese  mit  der  halben  Summe  des  ersten  und  des  letzten 
Gliedes.  Gliederzahl  oder  Summe  des  ersten  und  letzten  Gliedes  oder 
beides  muss  immer  grade  sein^).  Wir  erwähnen  ferner,  dass  bei 
Erörterung  von  Quadrat-  und  Kubikzahlen  das  Wort  fluere,  fliessen, 
gebraucht  wird^),  um  eine  ununterbrochene  Bewegung  zu  bezeichnen. 
Eine  Linie  bildet  fliessend  eine  Fläche,  eine  Fläche  fliessend  einen 
Körper.  Das  ist  die  früheste  bisher  bekannte  Anwendung  dieses 
bildlichen  Ausdruckes.  Sacrobosco  hat  der  Null  den  Namen  teca, 
circulus,  cyfra  beigelegt.  Petrus  von  Dacien  berichtet*),  teca  sei  ein 
rundes  Eisen,  mittels  dessen  man  Dieben  ein  Brandmal  auf  die  Stirne 
oder  auf  die  Wange  aufgedrückt  habe.  Sehr  glaubwürdig  erscheint 
diese  Herleitung  freilich  nicht,  da  ausser  bei  Petrus  von  Dacien  und 
bei  anderen  von  ihm  abhängigen  Commentatoren  des  Sacrobosco  ein 
Wort  teca  für  cantherium  (das  ist  Brenneisen)  nirgend  vorkommt, 
viel  wahrscheinlicher  ist  teca  entstellt  von  theta  wegen  der  Aehnlich- 
keit  zwischen  &  und  0. 

Etwa  20  Jahre  nach  Sacrobosco's  Tode  dürften  ein  Rechen- 
buch und  eine  Geometrie  von  unbekanntem  Verfasser  entstanden 
sein,  deren  wesentlichster  Vorzug  darin  besteht,  dass  es  die  ersten 
derartigen  Schriften  in  französischer  Sprache  sind,  welche  sich 
erhalten  haben  ^).  In  dem  sehr  kurzen  Traite  d'algorisme  findet  sich 
die  eben  besprochene  Vorschrift,  wann  man  rechts,  wann  man  links 
mit    dem    Rechnen    beginnen    müsse,   in   die  Worte   gekleidet:   Sc  tu 


1)  Eneström  in   der  Biblioth.  math.  1890  pag.  32.  *)  Petri  Philomeni 

de  Dacia  Commentarius  pag.  68.  ^)  Ebenda  pag.  72  lin.  8  und  11.  *)  Ebenda 
pag.  26.  ^)  Ch.  Henry,  Sur  les  deux  plus  miciens  traites  franQuis  d'Algorisme 
et  de  Geometrie  im  Bulletino  Boncompagni  XV,  49—52.  Dann  folgt  der  Abdruck 
der  Abhandlungen  selbst  und  zwar  Traite  d'algorisme  pag.  53—55  und  Traite 
de  geomürie  pag.  55 — 70. 


92  -iö.  Kapitel. 

assemhles  oti  abas  oii  dimidies  tu  commenceras  a  destre  se  tu  dohbles 
OH  multepUes  oii  dcvises  tu  commenceras  a  senestre.  Wurzelausziehung 
nennt  der  Verfasser  hier  nicht,  lehrt  aber  auffallenderweise  bei  Ueber- 
gehung  der  Quadratwurzel  am  Schlüsse  die  Ausziehung  der  Kubik- 
wurzel. Diese  Lücke  dürfte  wie  die  übermässige  Kürze  des  Ganzen 
die  Frage  anregen,  ob  von  einem  Ganzen  gesprochen  werden  darf, 
ob  die  erhaltene  Handschrift  uns  nicht  etwa  nur  unzusammenhängende 
Bruchstücke  aus  einem  verlorenen  umfang-  und  inhaltsreicheren  Ganzen 
bietet. 

Einen  weit  vollständigeren  Eindruck  macht  der  Traite  de  geo- 
metrie.  Die  Geometrie  handle,  heisst  es  einleitungsmässig^),  erstens 
von  Messungen  in  der  Ebene  (le  mesure  des  planetes),  zweitens  von 
Messungen  der  Höhe,  der  Tiefe  und  des  Körperinhaltes  (le  mesure 
des  hauteches  et  des  profondeces  et  des  crasses  mesures),  drittens 
von  geometrischen  und  astronomischen  Bruchtheilen  (a  trouer  les 
minuces  de  gyometrie  et  dastronomie).  Das  gleichseitige  Dreieck 
wird  durch  Zeichnung  der  Höhe  (linel  oder  lunax)  in  zwei  Hälften 
getheilt  und  dann  Höhe  und  halbe  Grundlinie  vervielfacht;  die  Höhe 

findet    man,    indem    --  der  Grundlinie  von   dieser  abgezogen   wird^), 

eine  Regel,  welche  seit  dem  Briefe  Gerbert's  an  Adelbold  (Bd.  I, 
S.  816)  bekannt  war.  Andere  Dreiecke,  deren  Figuren  uns  dadurch 
eine  kleine  Ueberraschung  bereiten,  dass  sie,  ähnlich  wie  es  in 
Aegypten  (Bd.  I,  S.  55)  Sitte  war,  die  Spitze  links,  die  Grundlinie  in 
verticaler  Lage  rechts  zeigen,  sollen  auch  immer  durch  Vervielfachung 
der  Höhe  mit  der  halben  Grundlinie  gemessen  werden.  Die  Rech- 
nungen freilich  stimmen  mit  den  Zahlenangaben  nur  sehr  dürftig 
überein.  Beim  Fünfeck^)  ist  in  die  Figur  des  nach  aussen  convexen 
Fünfecks  die  des  Sternfünfecks  mit  den  gleichen  Eckpunkten  ein- 
gezeichnet, was  recht  bemerkenswerth  erscheint.    Die  Kreisperipherie 

(la  circonference  del  compas)   ist  Sy  mal   der  Durchmesser.     Bei  der 

Inhaltsberechnung  ist  wieder  vielfach  unrichtig  gerechnet.  Was  der 
Verfasser  orneure  du  cercle  nennt,  findet  sich  durch  Verviel- 
fachung des  Durchmessers  mit  sich  selbst  und  mit  22,  worauf  durch 
7  getheilt  wird;  es  sei  das  Vierfache  des  Kreisinhaltes.  Das  stimmt 
rechnungsmässig  zur  Kugeloberfläche  und  in  der  That  hiess  diese 
inauratura,  woraus  leicht  orneure  entstehen  konnte.  Die  Grund- 
bedeutung von  inauratura  ist  die,   dass  ihre  Grösse  Antwort  auf  die 


*)  eil.  Henry,  Sur  les  deux  plus  anciens  traites  frangais  d'Algorisme  et  de 
Geometrie  im  Bulletino  Boncompagni  XV,  55.  ")  Ebenda  pag.  56.  ^)  Ebenda 
pag.  58. 


Johannes  de  Sacrobosco,  Johannes  Campanus  ii.  and.  Math.  d.  XIII.  Jahrh.     9o 

Frage  gab,  wie  viel  Edelmetall  man  brauche,  um  eine  Kugel  zu  ver- 
golden^). Soll  der  Kreis  vom  Durchmesser  7  in  ein  Quadrat  ver- 
wandelt   werden-),   so   ist  dessen   Seite   6—  d.  h.  also  1/38— ooG^; 

vielleicht  erhalten  mittels  j/sS^^  =  ~  "j/sSöO  r\J  ^  =  Gy  •  Der  Ver- 
fasser wusste  demnach  mit  Brüchen  zu  rechnen  und  setzte  das  Gleiche 
von  seinen  Lesern  voraus,  wodurch  vielleicht  Bestätigung  findet,  was 
wir  (S.  89)  über  die  Möglichkeit  besonderer  Vorschriften  zum  Bruch- 
rechnen geäussert  haben.  Wir  verweilen  nicht  bei  dem  Innenkreise 
eines  Dreiecks,  von  welchem  gleichfalls  die  Rede  ist^),  nicht  bei  der 
zweiten  Abtheilung,  d.  h.  bei  den  Körperinhalten,  da  es  kaum  möglich 
ist,  dem  offenbar  vielfach  irrigen  Texte  ein  volles  Verständniss  ab- 
zugewinnen. Die  Vergleichung  desselben  mit  den  Körpermessungen 
bei  Heron  von  Alexandria  dürfte  wahrscheinlich  eine  lohnende  Unter- 
tersuchung  sein.  In  der  dritten  Abtheilung^)  handelt  es  sich  aus- 
schliesslich um  Rechnungen  und  zwar  um  Multiplicationen,  unter 
welchen  sich  die  Quadraterhebungen  der  Zahlen  11  bis  20  hervor- 
heben lassen.  Nur  13^=  169  und  14^=  196  ist  vermuthlich  beim 
Abschreiben  vermengt  worden,  so  dass  13  mal  13  von  dem  Ergebniss 
196  begleitet  ist.  Von  einigem  Interesse  sprachlicher  wie  arithme- 
tischer Natur  ist  das  vielfache  Vorkommen  des  Vigesimalsystems^). 

XX 

Die  Zahl  60  ist  freilich  LX  geschrieben,   dann   aber  folgt  IUI  =  80, 

VI  =120,  VII  =  140,  XI  =  220,  und  wollte  man  über  die  Lesung 
zweifelhaft  sein,  so  schliessen  Angaben  wie  XVIII  fois  XVIII  sont 
XVI  vins  et  IUI  jede  Möglichkeit  eines  Irrthums  aus.  Von  den 
Zahlzeichen  des  Algorismus  ist  nirgend  Gebrauch  gemacht. 

Bleiben  wir  noch  immer  in  Frankreich,  so  haben  wir  Vincent 
de  Beauvais  oder  mit  lateinischem  Namen  Vincentius  Bello- 
vacensis  zu  nennen.  Noch  im  XII.  Jahrhundert  geboren  starb  er 
1265.  Er  war  Mitglied  des  Dominikanerordens.  König  Ludwig  der 
Heilige  entzog  ihn  dem  Kloster,  um  ihn  persönlich  um  sich  zu 
haben,  und  für  den  Unterricht  der  königlichen  Söhne  verfasste  der 
allseitig  gelehrte  Mönch,  ein  encyklopädisches  Werk  in  10  ungeheuren 
Bänden.  Eine  der  Abtheilungen,  in  welche  das  erschreckend  grosse 
Werk  zerfällt,  heisst  Speculum  doctrinale^),  und  dessen  17.  Buch 


^)  Zeitschr.  Math.  Phys.  XL,  Supplementheft  S.  141.  Bemerkung  von  E.  v. 
Wölfflin.  ^)  Ch.  Henry,  Sw  les  deux  plus  anciens  traites  frangais  d'Algo- 
risme  et  de  Geometrie  im  BulJetino  Boncompagni  XV,  59.  ^)  se  tu  fais  1  comas 
dedens  le  triangle  si  grant  ke  tu  pues.  *)  Sie  beginnt  ebenda  pag.  64  Z.  3  v.  u. 
*)  Ebenda  pag.  67.  ^)  Eine  Druckausgabe  ist  von  1473,  eine  spätere  von  1624. 
Wir  bedienten  uns  der  älteren  Ausgabe. 


94  45.  Kapitel. 

ist  der  Mathematik  gewidmet  \).  Man  sollte  zum  voraus  der  Meinung 
sein,  der  Ordensgenosse  und  fast  Zeitgenosse  eines  Jordanus  müsse 
tief  in  die  Mathematik  eingedrungen  sein,  müsse  dem  entsprechend 
in  seinem  grossartig  angelegten  Sammelwerke  voll  in  die  Fusstapfen 
jenes  Gelehi-ten  eingetreten  sein.  Mau  würde  mit  dieser  Meinung 
sich  täuschen.  Das  mathematische  Buch  entspricht  vollständig  dem 
Ui-theile,  welches  ein  gründlicher  Kenner -j  des  XIII.  Jahrhunderts 
über  das  ganze  Werk  ausgesprochen  hat:  es  habe  entstehen  können, 
weil  das  Wissen  der  Zeit  encyklopädisch  war,  umfassend  und  ober- 
flächlich. Liber  XYII  De  mathematica  et  eins  speciebus  beginnt  mit 
dialektischen  Haarspaltereien,  wie  z.  B.  dass  die  Arithmetik  an  der 
Spitze  der  Mathematik  zu  stehen  habe,  weil  ohne  Zahl  keine  Figur 
gemessen  werden  könne,  wähi-end  die  Zahlen  3,  4  bleiben,  auch  wenn 
kein  Dreieck  oder  Viereck  vorhanden  sei.  Wer  mit  der  Arithmetik 
des  Boethius  bekannt  ist,  erinnert  sich  augenblicklich  dieser  Sätze ^). 
Andere  Stellen  weisen  auf  Isidorus  hin,  wie  z.  B.  der  Satz  (Bd.  I, 
S.  774):  Nimm  die  Zahl  aus  allen  Dingen  weg,  und  Alles  geht  zu 
Grunde.  Boethius  und  Isidorus  werden  auch  dem  entsprechend  von 
Vincentius  häufig  als  seine  Gewähi-smänner  genannt.  Das  9.  Kapitel 
ist  dem  Computus*)  und  dem  Algorismus  gewidmet.  Im  weiteren 
Sinne  des  Wortes  sei  Computus  jegliche  Rechnung,  genauer  genommen 
nenne  man  so  die  Wissenschaft  von  der  Zeit  gemäss  der  Be- 
wegungen von  Sonne  und  Mond"*).  Damit  ist  fi-eilich  die  Aufgabe 
des  Computus  erst  gestellt,  noch  nicht  gelöst,  aber  Vincentius  be- 
gnügt sich  damit,  und  seine  Leser  müssen  die  gleiche  Enthaltsam- 
keit üben.  Im  gleichen  Kapitel  geht  Vincentius  zu  der  scientia  algo- 
rismi  über.  Er  erklärt  Fingerzahlen,  Gelenkzahlen,  zusammengesetzte 
Zahlen.  Eine  Gelenkzahl  sei  irgend  ein  Zehnfaches^).  Zum  Anschreiben 
der  Zahlen  dienen  neun  Zahlzeichen.  Diese  sehen  so  aus,  und  nun 
folgt  in  der  Druckausgabe  ein  leerer  Raum!  Man  war  offenbar  in 
der  Zeit  der  Incunabeln  nicht  im  Stande,  die  Zeichen  der  dem  Drucke 
zu  Grunde  liegenden  Handschrift  nachzubilden.  Ein  Ringelchen  konnte 
man  herstellen,  und  so  fährt  der  Druck  fort:  O  que  cifra  apellatur 
nihilque  representat.    Dann  werden  die  sechs  Rechnungsarten :  Addition, 


*)  Chasles,  A2}erQU  hist.  beruft  sich  fortwährend  auf  das  16.  Buch.  Dieser 
Gegensatz  beruht  darauf,  dass  in  der  älteren  Ausgabe  als  I.  Buch  gezählt  ist, 
was  in  den  späteren  Drucken  Prologus  heisst.  *)  Kaufmann,  Geschichte  der 
deutschen  Universitäten  I,  67.  ^)  Boethius   (ed.  Friedlein)  pag.  10—11. 

*)  In  der   Druckausgabe    von   1473  heisst  es  fortwährend  compotus  neben  dem 
Zeitworte    computare.  ^)    Proprie    vero    compotus  dieitur   scientia   temporum 

distinctiva  secundum  motum  solis  et  lunae  tantum.       ®)  Ärticulus  est  numerus  de- 
cupJus  ad  aliquem. 


Johannes  de  Sacrobosco.  Johannes  Campanus  u.  and.  Math.  d.  XITI.  Jahrh.     95 

Subtractiou,  Verdoppelung,  Halbirung,  Multiplication,  Division  ge- 
nannt, für  -welche  geeignete  Regeln  im  Algorismus  gegeben  seien; 
diese  und  viele  andere  Eintheilungen  und  Verhältnisse  der  Zahlen, 
von  welchen  bei  Isidorus  und  Boethius  die  Rede  sei,  übergehe  der 
Verfasser  gegenwärtig  der  Küi-ze  halber^).  Den  so  stillschweigend 
auf  einen  zukünftigen  Augenblick  ausgestellten  Wechsel  hat  Vin- 
centius  freilich  unseres  Wissens  nie  eingelöst.  Die  Musik  folgt  nun 
und  auf  diese  mit  Kapitel  36  die  Geometrie.  Sie  besteht  aus  drei 
Abtheilungen,  aus  Ebenenmessung,  Höhenmessung,  Weltmessung. 
Eine  entfernte  Verwandtschaft  mit  der  Eintheilung  der  französisch 
geschi-iebenen  Geometrie  wird  man  hier  vielleicht  erkennen  dürfen, 
aber  inhaltlich  geht  Vincentius  nicht  entfernt  so  weit  wie  jene. 
Einise  Definitionen,  eine  Reihe  von  Grundsätzen,  das  ist  nahezu  die 
ganze  Weisheit,  und  mit  Rücksicht  auf  die  Grundsätze  bemerkt  er 
in  einer  Glosse^)  des  40.  Kapitels  —  wenn  anders  diese  Glosse  nicht 
selbst  abgeschrieben  ist  —  Euklid  habe  viel  Grundsätze  übergangen. 
Im  41.  Kapitel  sind  die  beiden  Grundrichtungen  der  römischen  Feld- 
messung, cardo  und  decumanus  (Bd.  I,  S.  498j  erörtert,  dann  kommt 
die  Astronomie  zur  Behandlung.  Wir  fürchten  nicht  es  als  Untreue 
gegen  unsere  Vermeidung  dessen,  was  in  die  Geschichte  der  Astro- 
nomie gehört,  beurtheilt  zu  sehen,  wenn  wir  beiläufig  erwähnen,  dass 
das  46.  Kapitel  einen  ganz  ähnlichen  Unterschied  zwischen  Astronomie 
und  Astrologie  macht,  wie  man  es  heute  gewöhnt  ist. 

Auf  französischem  Boden,  wahrscheinlich  in  Montpellier,  wirkte 
1271  Robertus  Anglicus^)  als  Professor.  Ob  ihn  der  Name 
Anglicus  als  Engländer  von  Geburt  bezeichnen  soll,  ob  er  nur  einer 
früher  englischen  schon  längere  Zeit  in  Südfrankreich  ansässigen 
Familie  angehörte,  lässt  sich  nicht  mit  Sicherheit  bestimmen,  wenn 
auch  Manches  für  die  letztere  Annahme  spricht.  Jedenfalls  hat 
Robertus  Anglicus  in  Montepessulano  (d.  h.  in  Montpellier) 
eine  Abhandlung  über  den  Quadranten  und  dessen  astronomische 
sowie  feldmesserische  Benutzung  verfasst,  welche  in  zahlreichen  Ab- 
schriften aus  zum  Theil  verhältnissmässig  später  Zeit  sich  an  weit 
von    einander    entfernten    Orten    erhalten    hat.      Die   Abhandlung    ist 


^)  De  quibus  singulis  proprie  regule  date  sunt  in  algorismo.  quas  et 
plures  alias  numeri  divisiones  et  proportiones  de  quibus  in  ysidoro  et  boetio 
ad  presens   brevitatis  causa   praetermitto.  ^  Glosa.  Nota  quod  multas   com- 

munes  scientias  preter  misit  Euclides.  ^)  Le  traite  du   Quadrant  de  Maitre 

Robert  Ängles  (Montpellier,  XIII.  Siecle).  texte  latin  et  ancienne  traduction 
grecque  publies  par  M.  Paul  Tannery  (Notices  et  extraits  des  Manuscrits 
de  la  Bibliotheque  nationale  etc.  T.  XXXV,  2^  Partie  pag.  560—640.  Paris 
1897). 


96  45.  Kapitel. 

sogar  in's  Griechische  übersetzt  worden,  und  eine  Abschrift  dieser 
Uebersetzung  stamm^i  etwa  aus  dem  Jahre  1500.  Der  Quadrant  ist 
im  Wesentlichen  die  gleiche  Vorrichtung,  deren  sich  Leonardo  von 
Pisa  (S.  38)  bediente.  Der  Kreisrand  ist  aber  nicht  in  16  Theile, 
sondern  in  90  Grade  eingetheilt.  Das  vorkommende  Wort  umbra 
lässt  auf  unmittelbare  oder  mittelbare  Benutzung  arabischer  Quellen 
schliessen. 

Der  Dominikanerorden  hat  im  XIII.  Jahrhunderte  noch  manches 
hochbedeutenden  Schriftstellers  sich  zu  rühmen.  Albertus  Magnus 
(1193—1280),  Thomas  von  Aquino  (1225—1274)  haben  ihm  an- 
gehört. Die  Geschichte  der  beschreibenden  Naturwissenschaften  sowie 
der  Physik  müssen  bei  ihnen  verweilen,  der  Mathematiker  nennt  sie 
mit  Bedauern  seiner  Wissenschaft  fremd. 

Etwas  mehr,  wenn  auch  nicht  sonderlich  Günstiges  haben  wir 
von  dem  berühmten  Franciskauer  Roger  Baco  (1214 — 1294)  zu  be- 
richten. Die  Physik,  die  Chemie  nennen  seinen  Namen  unter  den 
bedeutendsten.  Er  soU  auch  in  einer  handschriftlich  in  Oxford  noch 
vorhandenen  Schrift  eine  Kalenderreform^)  vorgeschlagen  und 
damit  den  Anstoss  zu  einer  Bewegung  gegeben  haben,  welche  erst 
nach  Jahrhunderten  znr  Ruhe  kam.  Aber  nun  die  Mathematik!  Frei- 
lich wenn  man  ihn  hört  liegt  dort  erst  recht  seine  Stärke.  Ich  habe, 
sagt  er  im  20.  Kapitel  seines  0/>h5  tertium-),  die  Gewissheit,  inner- 
halb einer  Woche  Jeden,  der  Aufmerksamkeit  und  Vertrauen  besitzt, 
mit  der  ganzen  Gewalt  der  Geometrie  bekannt  zu  machen,  und  zwar 
mehr  als  die  Mathematiker  in  zehn  Jahren  lernen.  Und  ebenso  ver- 
hält es  sich  mit  den  Zahlen  in  einer  anderen  Woche.  Denn  sehr 
selten  finden  sich  überhaupt  Lehrer  der  Mathematik  und  diese  haben 
eine  sehr  schlechte  Unterweisungsart  und  lehren  unendlich  vieles 
Ueberflüssige.  Desshalb  verachtet  man  auch  fast  allgemein  die  Ma- 
thematik. Diesen  theils  stolzen,  theils  hämischen  Worten  dürfen  wir 
Eines  entnehmen,  dass  es  damals  in  der  öffentlichen  Meinung  auch 
gelekrter  Männer  schlecht  um  die  Mathematik  und  ihren  Unterricht 
stand.  Bestätigung  giebt  noch  eine  andere  Stelle^):  den  Knaben 
würden  mit  Ruthenschlägen  die  vier  ersten  Sätze  der  euklidischen 
Elemente  beigebracht  und  schon  der  fünfte  Satz  heisse  ihnen  Ele- 
fuga,  das  sei  Flucht  der  Unglücklichen.  Wenn  es  wirklich  so  aus- 
sah, wenn  wenigstens  dort,  wo  Baco  Gelegenheit  hatte,  Lehrer  und 
Lernende  zu  beobachten,  der  Satz  von  der  Gleichheit  der  Winkel  an 


^)  Wolf,  Geschichte  der  Astronomie  S.  328— 329.  — Cantor,  Zeit  und  Zeit- 
rechnung in  den  Neuen  Heidelberger  Jahrbüchern  U,  202.  *)  Fr.  Rogeri 
Bacon  Opera  quaedam  hactenus  inedita  (edidit  J.  S.  Brewer  1859)  I,  66. 
")  Ebenda  pag.  21. 


Johannes  de  Sacrobosco,  Johannes  Campanus  u.  and.  Math.  d.  XIII.  Jahrh.     97 

der  Grundlinie  des  gleichschenkligen  Dreiecks  so  furchtbar  erschien, 
dann  begreift  man  Baco's  Hohn.  Ob  seine  Ruhmredigkeit  eben  so 
festen  Boden  unter  sich  hatte,  darüber  müssen  wir  seine  Schriften 
fragen,  und  die  Autwort,  welche  sie  uns  geben,  klingt  nicht  sehr 
befriedigend.  Im  40.  Kapitel  des  Opus  tertium^)  ergeht  sich  Baco 
in  stereometrischen  Faseleien,  welche  ihm  kein  glänzendes  Zeugniss 
ausstellen.  Es  handelt  sich  um  die  lückenlose  Ausfüllung  des  Raumes. 
Der  Raum  ist  lückenlos  erfüllt,  wenn  8  Würfel  an  einer  Ecke  zu- 
sammenstossen.  Jede  Würfelecke  wird  durch  3  ebene  Winkel  im 
Gesammtbetrag  von  3  Rechten  gebildet,  also  treten  bei  dem  erwähnten 
Eckpunkte  8  mal  3  Rechte  oder  24  Rechte  zusammen,  und  nun  bildet 
Baco  sich  ein,  es  trete  stets  eine  lückenlose  Raumerfüllung  ein,  wo 
die  Summe  sämmtlicher  ebenen  Winkel  bei  dem  Zusammensetzungs- 
punkte 24  Rechte  betrage.  Im  Tetraeder  sind  an  jeder  Ecke  3  Winkel 
von  je   60^,   zusammen    2   Rechte,    also    erfüllen   12   an   einer  Ecke 

zusammenstossende    Tetraeder    den    Raum.      Im    Oktaeder    betragen 

g 
die  4  Winkel  von  je  60''  an  jeder  Ecke  —  Rechte,  also  erfüllen  9  an 

einer  Ecke  zusammenstossende  Oktaeder  den  Raum.  Im  39.  Kapitel 
des  Opus  tertium-)  hatte  Baco  vorher  über  stetige  Raumgrössen  ge- 
sprochen und  die  Unmöglichkeit  betont,  solche  aus  einzelnen  Punkt- 
elementen herzustellen.  Einen  schlagenden  Beweis  dafür  habe  er 
erfunden.  Wäre  die  Ebene  durch  solche  Punkte  gebildet,  so  würde 
(Figur  19)  die  Diagonale  eines  Quadrates  der  Seite  «  ,  »  .  , 
desselben  gleich  sein,  weil  auf  beiden  gleich  viele  Punkte  •  •  •  •  • 
liegen,  und  das  sei  geometrisch  unmöglich.  Hierin  •  •  •  •  • 
liegt  wenigstens  keine  mathematische  Unrichtigkeit.  •  •  •  •  • 
Ein    etwas    höheres    mathematisches  Wissen  verrathen  ^^ 

Baco's    optische    Leistungen^).      So,  wenn    er   die  Lage 
des   Brennpunktes   am  Hohlspiegel  bestimmt,   wenn   er   von   der  An- 
fertigung parabolischer  Spiegel  redet,  wenn  er   von   der  Perspective 
handelt. 

Die  Perspective,  dem  Abendlande  durch  Uebersetzungen  der 
Optik  des  Ibu  Alhaitam  (Bd.  I,  S.  744)  bekannt  geworden,  bildet  nun- 
mehr einen  regelmässig  wiederkehrenden  Gegenstand  schriftstellerischer 
Thätigkeit,  den  wir,  ohne  ihm  eingehende  Würdigung  angedeihen  zu 

')  Fr.  Rogeri  Bacon  Opera  quaedam  hactenus  inedita  (edidit  J.  S.  Brewer 
1859)  I,  137.  Auf  diese  Stelle  hat  K.  Lasswitz,  Geschichte  der  Atomistik 
vom  Mittelalter  bis  Newton  I,  203  aufmerksam  gemacht.  ^)  Ebenda  pag.  132. 
Vergl.  Lasswitz  1.  c.  I,  194  aber  auch  I,  149,  wo  der  Beweis  Baco's  bereits 
bei   den   arabischen   Mutakallimun   nachgewiesen  ist.  ^)  Heller,    Geschichte 

der  Physik  (1882)  I,  201—202. 

Cajitor  ,  Geschichte  der  Mathem.    II.    2.  Aufl.  7 


98  45.  Kapitel 

lassen,  immerhin  kurz  erwähnen  dürfen.  80  schrieb  über  Perspective 
der  Ordensgenosse  Baco's  Johannes  Peckham^),  lateinisch  Pisanus 
aus  Sussex  (um  1240 — 1292),  Bischof  von  Canterbury.  Ein  Schüler 
ßacos  war  Johannes  von  London^).  Baco  führte  ihn  dem  Francis- 
kanerorden  zu  und  nahm  ihn  mit  sich  nach  Paris,  wo  er  als  Philo- 
soph sich  auszeichnete.  Später  vermittelte  Johannes  als  Bote  Baco's 
dessen  Briefwechsel  mit  dem  Papste,  der  ihn  in  Rom  behalten  zu 
haben  scheint.  Ein  Brief  des  Johannes  von  London  über  astrono- 
mische Fragen  hat  sich  in  der  Pariser  Bibliothek  erhalten.  Johannes 
von  London  ist  es  auch,  welchen  Baco  im  11.  Kapitel  seines  Opus 
tertium  als  einen  der  beiden  vollkommenen  Mathematiker  seiner  Zeit 
bezeichnet^).  Der  andere  ist  ihm  Petrus  de  Mahar-curia  aus  der 
Picardie,  d.  h.  also  Pierre  de  Maricourt,  der  in  der  Geschichte 
des  Magnetismus  eine  hervorragende  Rolle  gespielt  hat,  gut  auch 
noch  Magister  Campanus  von  Novaria  (sie).  Ueber  Campanus 
reden  wir  noch  in  diesem  Kapitel.  Peckham's  Perspektive  wurde 
in  den  folgenden  Jahrhunderten  gradezu  akademischer  Leitfaden 
für  die  betreffende  Universitätsvorlesung.  Zu  Baco's  Zeiten  wurde 
in  Paris  noch  nicht  über  Perspektive  gelesen,  dagegen  zweimal  in 
Oxford^). 

Die  Geschichte  der  Perspective  gestattet  uns  auch  Witelo^)  zu 
nennen,  den  Sohn  eines  Thüringers  und  einer  Polin,  der  auf  pol- 
nischem Boden  geboren  in  einer  Prämonstratenserabtei  im  Hennegau 
unweit  von  Valenciennes  lebte.  Durch  Verketzerung  nahm  sein  in 
Thüringen  im  XIH.  Jahrhundert  häufig  vorkommender  Name  die 
lateinische  Form  Vitellio  an,  welche  den  Druckausgaben  seiner 
Perspective  vorgesetzt  ist.  Gewidmet  ist  das  Werk  dem  Bruder 
Wilhelm  von  Moerbecke,  der  uns  gleich  weiter  beschäftigen  wird. 
Von  dem  Inhalte  des  Werkes,  dessen  erstes  Buch  übrigens  eine  ganz 
nette  Geometrie  sein  soll^),  haben  wir  hier  nicht  weiter  zu  reden, 
als  dass  wir  die  Schriftsteller  nennen,  welche  Witelo  erwähnt^).  Er 
beruft  sich  ausser  auf  Ibn  Alhaitam  auf  lauter  griechische  Mathe- 
matiker: Euklid,  Ptolemäus,  Apollonius,  Theodosius,  Menelaus,  Theon, 


^)  Die  Lebenszeit  geben  wir  nach  Poggendorff  11,  385.  Ueber  Peckbam's 
Perspective  vergl.  Kästner  ü,  264—274.  *)  Baco,  Opera  inedita  (ed.  Brewer)  I, 
Biographische  Einleitung  pag.  XC  Note  1.  Fontes  in  den  Memoires  de  l'Aca- 
demie  des  Sciences,  luscriptions  et  Belles-lettres  de  Toulouse.  Annee  1897  und 
ebenda  1898.  ^  Baco,  Opera  inedita  (ed.  Brewer)  I,  34—35.  ^)  Ebenda 

pag.  37.  ^)  Ueber  Name  und  Persönlichkeit  vergl.  Max.  Curtze  in  Bullet. 

Boncompagni  IV,  49   und   78.      Zebrawski    ebenda   XII,    315    und    Curtze's 
letzte    Erwiderung    in     Grunert's    Archiv    LXIV,    432.  «)  Curtze    brieflich. 

•)  Poudra,  Eistoire  de  la  perspective  (1864)  pag.  34, 


Johannes  de  Sacrobosco.  Johannes  Campamis  u.  and.  Math.  d.  XIII.  Jahrh.     99 

Pappus,  Proklus.  Es  möchte  sich  lohnen,  eine  Untersuchung  darüber 
anzustellen,  ob  Witelo  seinem  arabischen  Vorgänger  auch  in  diesen 
Namensnennungen  einfach  folgt,  oder  ob  er  selbst  jene  Schriftsteller 
gelesen,  und  wenn  er  sie  gelesen  haben  sollte,  ob  in  der  griechischen 
Ursprache  oder  in  einer  lateinischen  Uebersetzung,  welche  dann  ver- 
muthlich  den  Umweg  einer  vorhergegangenen  arabischen  Uebersetzung 
als  Text  benutzte. 

Die  griechische  Sprache  muss  man  der  Zeit,  von  welcher  wir 
reden,  keineswegs  für  unzugänglich  halten.  Baco  sagt  im  6.  Kapitel 
seines  Compendium  studii  philosophiae^):  „Das  Griechische  hat  sehr 
bedeutende  Uebereinstimmuugen  mit  dem  Lateinischen,  imd  es  giebt 
Viele  in  England  und  Frankreich,  welche  hinlängliches  Wissen  hierin 
besitzen.  Auch  wäre  es  nicht  zu  viel,  um  solchen  Nutzens  wegen 
nach  Italien  zu  gehen,  wo  Geistlichkeit  und  Volk  an  vielen  Orten  die 
reinen  Griechen  sind."  Die  Sprache  war  also  im  Besitze  der  Ge- 
lehrten des  XIII.  Jahrhunderts,  nur  an  den  Werken,  welche  man  hätte 
lesen  können,  fehlte  es  meistens.  Solche  waren  noch  in  Italien  auf- 
zufinden, sofern  man  es  nicht  wagte,  bis  nach  dem  byzantinischen 
Reiche  den  Spuren  zu  folgen.  Unter  den  Männern,  welche  vielleicht 
in  Griechenland  selbst,  vielleicht  in  Italien  griechische  Mathematiker 
aufzustöbern  wussten,  nennen  wir  den  Dominikaner  Wilhelm  von 
Moerbecke^j.  In  Ostflandern  in  der  Nähe  des  Klosters,  dem  Witelo 
angehörte,  geboren,  machte  er  Reisen  wahrscheinlich  auch  in  Griechen- 
land. Im  Jahre  1268  war  er  bei  Papst  Clemens  IV.  in  Viterbo,  und 
dort  übte  er  seine  Uebersetzungskunst  aus.  Seit  1278  Erzbischof 
von  Korinth  hielt  er  sich  1280  und  1281  persönlich  an  dem  Sitze 
des  Erzbisthums  auf.  Sein  Tod  dürfte  nicht  lange  nach  1281  fallen. 
Unter  den  zahlreichen,  durch  Wilhelm  von  Moerbecke,  wie  man  sagt, 
auf  Anheissen  des  Thomas  von  Aquino  übersetzten  Schriften  nennen 
wir  nur  zwei:  Die  Katoptrik  Herons  von  Alexandria ^),  welche  er 
allerdings  für  ein  Werk  des  Ptolemäus  hielt,  und  die  Schriften  des 
Archimed,  insbesondere  dessen  Abhandlung  über  auf  dem  Wasser 
schwimmende  Gegenstände*),  deren  griechische  Urschrift  seit  jener 
Zeit  spurlos  zu  Grunde  gegangen  ist. 

Aehnliche  Neigung  und  Fähigkeit,  wie  Wilhelm  von  Moerbecke 
sie  besass,  ausländische  Mathematik  dem  Abeudlande  zugänglich  zu 
machen,    können    wir    noch    anderen    Persönlichkeiten    nachrühmen. 


^)  Baco,  Opera  inedita  (ed.  Brewer)  I,  434.  ^)  Allgemeine  deutsche  Bio- 
graphie XXIV,  215.  ^)  Val.  Rose,  Anecdota  Graeca  et  Graecolatina.  Heft  II, 
(1870)   S.  293—294.  *)   Val.  Rose    in    der  Deutschen  Literaturzeitung  1884, 

S.  210.  —   Heiberg,    Neue    Studien    zu    Archiniedes    in    Zeitschr.   Math.  Phys. 
XXXIV  (1889),  Supplementheft. 


100  45.  Kapitel. 

Ein  Engländer  Atelhart  von  Bath  (Bd.  I,  S.  851)  hatte  mit  Reisen 
in  den  Orient  am  Anfange  des  XII.  Jahrhunderts  den  Reigen  er- 
öffnet. Ihm  wollte  um  die  Wende  des  XII.  zum  XIII.  Jahrhundert 
Daniel  von  Morley^)  folgen,  der  noch  1180  in  Oxford  studirte, 
dann  nach  Paris  sich  begab,  um  von  dort  nach  Arabien  aufzubrechen. 
Als  er  aber  in  Erfahrung  brachte,  Toledo  sei  der  Sitz  einer  mathe- 
matischen Schule,  wandte  er  seine  Reise  dorthin  und  kehrte  mit 
reichem  Wissen  in  die  Heimath  zurück,  hier  als  Lehrer  sein  Leben 
beschliessend.  Johannes  von  Basyngstoke^)  studirte  am  An- 
fange des  XIII.  Jahrhunderts  gleichfalls  in  Oxford.  Auf  seinen 
Reisen  kam  er  um  1240  nach  Athen,  wo  er  geraume  Zeit  verweilte 
und  den  Unterricht  der  gelehrten  Tochter  des  dortigen  Erzbischofs 
genoss.  Von  ihr  erlernte  er  das  Griechische.  Nach  England  zurück- 
gekehrt übersetzte  er  Verschiedenes  aus  dem  Griechischen.  Er  starb 
1252.  Der  Chronist  Mathaeus  von  Paris  erzählt  in  seiner  Geschichte 
Englands  zu  dem  Jahre  1252  von  diesem  allgemeine  Betrübniss  er- 
zeugenden Todesfall  und  bemerkt  dabei,  der  Verstorbene  habe  aus 
Athen  die  Kenntniss  der  griechischen  Zahlzeichen  mitgebracht,  welche 
zugleich  auch  Zeichen  für  Buchstaben  sind^j.  Man  wird  nicht  irre 
gehen,  hierin  die  gewöhnliche  griechische  Benutzung  ihrer  sämmt- 
lichen  Buchstaben  mit  Zahlenwerth^)  zu  erkennen.  In  Italien  hat 
jedenfalls  im  XIII.  Jahrhundert  Guglielmo  de  Lunis^)  eine  Algebra 
aus  dem  Arabischen  in  das  Lateinische  übersetzt. 

Wesentlich  ausführlicher  als  mit  diesen  Uebersetzern  müssen  wir 
mit  Johannes  Campanus  von  Novarra  uns  beschäftigen.  Be- 
stimmt das  ihm  von  Roger  Baco  ertheilte  Lob  (S.  98)  schon  seine 
Lebenszeit,  so  ist  eine  weitere  Bestätigung  dadurch  gegeben,  dass 
Campanus  Kaplan  des  Papstes  Urban  IV.  war^),  welcher  1261 — 1281 


^)  Suter,  Mathematik  auf  den  Universitäten  des  Mittelalters  S.  21.  Wir 
citiren  die  sehr  gehaltvolle  Schrift  künftig  als  Suter,  Math.  Univ.  *)  Ebenda 
S.  33—34.  ^)  per  qiias  figuras  etiam  literae  representantur.  *)  Auch  der  bei 
Math.  Paris,  sich  noch  anschliessende  Satz:  De  quibus  figuris  hoc  maxime  ad- 
mirandum  quod  unica  figura  quilibet  numerus  representatur  quod  non  est  in  Latino 
vel  in  Algorismo  stimmt  ganz  gut  mit  dieser  gewöhnlichen  Erklärung,  der 
gegenüber  eine  abweichende  Meinung  (Zeitschr.  Math.  Phjs.  XXX,  Hist.-liter. 
Abthlg.  S.  126)    iirig    erscheint.  ^)   Libri    II,  45.     H.   Gino  Loria  hat  die 

Algebra  im  Codex  216  der  Florentiner  Xationalbibliothek  neuerdings  untersucht 
und  sich  überzeugt,  dass  sie  in  lateinischer  und  nicht,  wie  Libri  behauptet,  in. 
italienischer  Sprache  geschrieben  ist.  Andererseits  ist  freilich  Libri's  Behaup- 
tung gestützt  auf  die  Aussage  Canacci's,  der  dem  XIV.  Jahrhunderte,  und  Gha- 
ligai's,  der  dem  Anfange  des  XVI.  Jahrhunderts  angehörte,  sodass  man  fragen 
möchte,  ob  es  nicht  zwei  Bearbeitungen  gab,  eine  lateinische  und  eine  ita- 
lienische?        «)  Tiraboschi,  Storia  della  letteratura  italiana  IV,  1.54—160. 


Johannes  de  Sacrobosco,  Johannes  Camiianus  u.  and.  Math.  d.  XIII.  Jahrh.     101 

regierte.  Später  selieint  er  Kanonikus  in  Paris  gewesen  7a\  sein,  und 
daher  stammt  vermuthlich  die  in  älteren  Werken  vertretene  irrige 
Ansieht  \\  als  habe  es  zwei  Schriftsteller  gegeben,  welche  beide  den 
Namen  Campanus  fükrten.  Verschiedene  Schriften  werden  als  von 
Campanus  herrührend  genannt.  Er  beschäftigte  sich  mit  der  Mangel- 
haftigkeit der  Kirchenrechnung  ^).  Ferner  geht  auf  seinen  Namen 
eine  Abhandlung  über  die  Quadratur  des  Kreises,  welche  aber 
von  Gelehrten^),  denen  eine  Druckausgabe  aus  dem  Jahre  1503  vor- 
lag, als  eine  so  schwache  Leistung  bezeichnet  wird,  dass  man  Bedenken 
tragen  müsse,  sie  Campanus  zuzuschreiben.  Andrerseits  nennt  Albert 
von  Sachsen*^)  nur  100  Jahre  nach  Campauus  ausdrücklich  diesen  als 
den  Verfasser,  und  so  muss  doch  einen  Augenblick  dabei  verweilt  werden. 

Eine  Linie,  welche  3ymal  die  Länge  des  Durchmessers  habe,  heisst  es, 

sei  gleich   der  Kreisperipherie.      Ebendieselbe   ist    der  Umfang  eines 

Quadrates,  dessen  Seite  somit  der  siebente  Theil  von  5  -  Durchmessern 

ist,  und  dieses  Quadrat  wird  als  das  gesuchte  bezeichnet.  Es  wäre 
immerliin  denkbar,  Campanus  habe  bei  dieser  Darstellung  nicht  an 
Flächengleichheit  gedacht,  das  Wort  Quadratura  circuli  bedeute  ihm 
vielmehr,  allerdings  abweichend  von  dem  Sinne  des  Wortes  bei  Franco 
von  Lüttich,  nur  das  Zusammenbiegen  der  Kreisperipherie  zu  einem 
umfanggleichen  Quadrate.  Das  hervorragendste  Verdienst  des  Cam- 
panus ist  jedenfalls  die  von  ihm  veranstaltete  Ausgabe  der  eu- 
klidischen Elemente  mit  Einschluss  der  beiden  Bücher, 
welche  fälschlich  als  14.  und  15.  Buch  der  Elemente  be- 
nannt werden  (Bd.  I,  S.  342).  Wir  haben  die  wichtige  Frage  nach 
den  lateinischen  Euklidübersetzungen,  deren  das  Mittelalter  sich  be- 
diente (S.  74),  im  Voi-übergehen  gestreift.  Auch  gegenwärtig  wagen 
wir  nicht,  sie  endgültig  zu  beantworten,  da  sie  zu  den  Fragen  ge- 
hört, welche  noch  heftigem  Widerstreit  der  Meinungen  begegnen^). 
Vielleicht  liegt  die  Sache  so:  lateinische  Uebersetzungen  des  grie- 
chischen Euklidtextes  gab  es  sehr  frühzeitig.  Ein  Fragment  einer 
solchen  hat  sich   erhalten  (Bd.  I,  S.  526),    über   eine   durch  Boethius 


^)  Vossius  pag.  178  und  449.  ^)  Neue  Heidelberger  Jahrbücher  II,  201. 
^)  Chasles,  Ä2Jergn  hist.  515  (deutsch  602).  *)  Vergl.  Suter  in  der  Zeitschr. 
Math.  Phys.  XXIX,  Hist.-liter.  Abthlg.  S.  90  und  95.  ^)  Als  Vertreter  der  ver- 
schiedenen Ansichten  vergl.  H.  Weissenborn  in  der  Zeitschr.  Math.'  Phys'.  XXV, 
Supplementheft  S.  143 — 166  und  dessen  Monographie:  Die  Uebersetzungen  des 
Euklid  durch  Campano  und  Zamberti  (1882).  Max  Curtze  in  der  Philologischen 
Rundschau  (1881)  I,  S.  943 — 950  und  in  dem  Jahresbericht  über  die  Fortschritte 
der  classischen  Alterthumswissenschaft  XL  (1884  IE)  S.  19—22.  Heiberg  in 
der  Zeitschr.  Math.  Phys.  XXXV,  Hist.-liter.  Abthlg.  S.  48—58  und  81—86. 


102  45.  Kapitel. 

angefertigte  Euklidübersetziing  wird  jedenfalls  ausdrücklich  berichtet 
(Bd.  I,  S.  535),  um  die  hier  müssige  Frage,  ob  sie  sich  erhalten  hat, 
zu  übergehen.  Auch  aus  dem  Arabischen  stammende  lateinische 
Euklidübersetzungen  hat  es  unzweifelhaft  sehr  früh  gegeben.  Eine 
Münchner  Handschrift  aus  dem  XL  Jahrhunderte,  also  vor  Atelhart 
von  Bath  entstanden,  kann  als  Beweis  dienen,  da  in  ihr  Spuren 
arabischer  Zwischenarbeit  neben  solchen  des  griechischen  Urtextes 
nachgewiesen  worden  sind.  Vielleicht  schon  damals  haben  zwei  wesent- 
liche geschichtliche  Irrthümer  sich  eingeschlichen.  Der  eine,  durch 
den  lateinischen  Geschichtsschreiber  Valerius  Maximus  veranlasst  (Bd.I, 
S.  247),  verwechselt  den  Mathematiker  Euklid  mit  dem  „sokratischen 
Philosophen",  um  die  Redeweise  einer  pariser  Handschrift  zu  ge- 
brauchen, d.  h.  mit  Euklid  von  Megara.  Der  andere  gleichfalls  ver- 
muthlich  ältere  Irrthum  (Bd.  I,  S.  542)  hält  Euklid  nur  für  den  Ver- 
fasser der  Definitionen,  der  Axiome,  der  Lehrsätze  und  nimmt  für  die 
Beweise  einen  anderen  Urheber  an:  Theon  von  Alexandria.  Als  nun 
Atelhart  von  Bath  seine  Euklidübersetzung  anfertigte  (Bd.  I,  S.  670), 
dürfte  ihm  ausser  einem  arabischen  Texte  auch  schon  eine  lateinische 
Bearbeitung,  ganz  oder  in  Bruchstücken,  zur  Hand  gewesen  sein, 
eine  Annahme,  welche  durch  einen  Vers^)  eines  englischen  Dichters 
unbekannten  Zeitalters  unterstützt  wird.  Jener  Dichter  erzählt  näm- 
nch,  die  Geometrie  sei  durch  Euklid  in  Aegypten  erlernt  worden  und 

Thys  craft  com  ynto  England,  as  y  ghow  say, 
Yn  tyme  of  goocl  kyng  Adelstones  day. 

Die  Einführung  in  England  rückt  dadurch  in  die  fast  sagen- 
mässige  Zeit  des  beginnenden  X.  Jahrhunderts  hinauf.  Hat  aber 
Atelhart  auf  einen  Vorgänger  sich  stützen  dürfen,  so  wird  das  Gleiche 
für  Campanus  wahr  sein,  und  die  grosse  Uebereiustimmung  des  Textes 
der  Lehrsätze  bei  Atelhart  und  bei  Campanus  legt  die  Vermuthung 
nahe,  es  sei  die  gleiche  lateinische  Vorarbeit  gewesen,  deren  beide 
sich  bedienten.  Zwar  könnte  diese  Uebereiustimmung  ungezwungen 
dahin  gedeutet  werden,  Campanus  habe  den  Atelhart'schen  Euklid 
vor  sich  gehabt,  wie  man  wahrscheinlich  zu  machen  wusste,  dass  es 
der  Atelhart'sche  Euklid  war,  dessen  Jordanus  Nemorarius  sich  be- 
diente^), doch  lässt  sich  diese  zunächst  sich  bietende  Erklärung  kaum 
aufrecht  halten.  Die  Beweisführungen  von  Atelhart  und  Campanus 
unterscheiden  sich  nämlich  mehr  von  einander,  als  man  mit  einer 
Benutzung    der    ersteren    durch    den    letzteren    in  Einklang   bringen 


0  M.  S.  Bib.  Reg.  Mus.  Brit  17.  A.  1.  f.  2^—3  abgedruckt  in  Halliwell, 
Eara  Mathematica  pag.  56  Note.  ^)  Jordanus,  Trianguli  S.  XII  der  Curtze- 
schen  Einleitung. 


Johannes  de  Sacrobosco,  Johannes  Campanus  u.  and.  Math.  d.  XIII.  Jahrh.     103 

kann.  Erstens  ist  ein  Unterschied  der  Anordnung  vorhanden:  Atel- 
hart's  Bearbeitung  lässt  regelmässig  die  Beweise  den  Lehrsätzen,  zu 
welchen  sie  gehören,  vorausgehen,  Campanus  hält  die  richtige  Reihen- 
folge ein.  Zweitens,  und  dieses  dürfte  noch  schwerer  ins  Gewicht 
fallen,  sind  Atelhart's  Beweise  knapp  und  gedrungen,  die  des  Cam- 
panus ausführlich  und  deutlicher.  Nunmehr  sind  wir  aber  erst  bei 
dem  schwierigsten  Theile  der  ganzen  Frage  angelangt:  Sind  die  so 
verschiedenen  Beweise  Uebersetzungen  aus  arabischen  Euklidausgaben, 
welche  bereits  die  gleichen  Verschiedenheiten  aufwiesen,  oder  ge- 
hören die  zwei  Fassungen  wenigstens  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
den  beiden  Uebersetzern  an?  Sind  Zusätze,  welche  da  und  dort  sich 
finden,  gleichfalls  fremden  Ursprungs?  Ein  bei  Atelhart  wie  bei 
Campanus  vorhandener  Nachtrag  zu  den  Axiomen,  in  welchem  mit 
den  gleichen  Worten,  welche  als  Glosse  bei  Vincent  von  Beauvais 
vorkommen  (S.  95),  Euklid  vorgeworfen  wird,  er  habe  nicht  alle 
Grundsätze  namhaft  gemacht,  wird  bei  dem  Versuche,  auch  auf  diese 
Fragen  Autwort  zu  ertheilen,  nicht  unbeachtet  bleiben  dürfen.  Wir 
wagen  es  nicht  anders  als  mit  der  Bezeichnung  ganz  persönlichen 
Dafürhaltens  unsere  Ansicht  dahin  auszusprechen,  dass  wir  im  ara- 
bischen Grundtexte  die  Quelle  jener  Zusätze  vermutlien,  ebenso  wie 
die  Namen  dmuain  und  elmuharifa,  deren  Atelhart,  deren  auch  Cam- 
panus sich  bedient,  um  den  Rhombus  und  das  unregelmässige  Viereck 
zu  bezeichnen,  ganz  gewiss  arabisch  sind. 

Fällt  damit  jeder  Anspruch  des  Campanus,  den  Platz  in  der  Ge- 
schichte der  Mathematik,  den  er  Jahrhunderte  lang  behauptet  hat, 
auch  fernerhin  zu  behaupten?  Wir  glauben  nicht.  Die  Schilderung 
der  einzelnen  Persönlichkeiten  des  XIII.  Jahrhunderts,  welche  uns 
in  diesem  Abschnitte  beschäftigte,  hat  den  niederen  Stand  damaligen 
geometrischen  Wissens  dadurch  genügend  gekennzeichnet,  dass  Geo- 
metrisches von  so  Wenigen  zu  erzählen  war.  Und  Campanus  hat 
sich  doch  die  Aufgabe  gestellt,  den  Meister  der  Geometrie  seinen 
Zeitgenossen  näher  zu  bringen.  Er  hat  diese  Aufgabe,  wenn  nicht 
für  die  Zeitgenossen,  jedenfalls  für  spätere  Jahrhunderte  erfüllt  und 
damit  ein  grosses  Verdienst  sich  erworben.  Einige  Stellen  in  der 
Euklidausgabe  des  Campanus  haben  durch  den  Einiluss,  welchen  sie 
auf  spätere  Zeiten  zu  üben  vermochten,  geschichtliche  Bedeutung, 
und  wir  erwähnen  sie  ihrer  Reihenfolge  nach  ohne  weitere  Berück- 
sichtigung des  eigentlichen  Ursprunges  dieser  Stellen. 

Der  euklidische  Satz  I,  32  misst  die  Summe  der  Dreiecks  winke  1. 
Im  Anschlüsse  daran  lehrt  Campanus  die  Winkelsumme  des  Stern- 
fünfecks kennen  (Figur  20).  Im  Dreiecke  hhh  sagt  er,  sei  ^fha 
^=  li  -\-  k   als   Aussenwinkel.     Ebenso    zeige    das    Dreieck    agi,    dass 


104 


45.  Kapitel. 


Fig.  20. 


^  fah  =  (J  -\-  i-       Endlich    im    Dreiecke   ahf  ist  ^.  fha  -{-  fah  -\-  f 

Der  Satz  III,  16  sagt  aus,  der  Winkel  zwischen  Kreisbogen  und 
Berührungslinie  sei  kleiner  als  irgend  ein  gradliniger  spitzer  Win- 
kel. Das  ist  der  Coutingenzwinkel,  wie 
Jordanus  (S.  77)  ihn  nannte.  Der  Satz  X,  1 
behauptet,  dass  von  zwei  Grössen  die  grössere 
durch  fortgesetztes  Wegnehmen  von  mehr  als 
der  Hälfte  schliesslich  kleiner  werde  als  die 
kleinere.  Campanus  stellt  die  beiden  Behaup- 
tungen in  Gegensatz  zu  einander  und  findet 
die  Lösung  des  Gegensatzes  darin,  dass  der 
Satz  X,  1  nur  von  Grössen  gleicher  Art 
Geltung  habe,  womit  zugleich  ausgesprochen 
ist,  der  Coutingenzwinkel  sei  nicht  gleicher 
Art  mit  einem  gradlinigen  Winkel.  Ausser  dieser  gewiss  richtigen 
Bemerkung  folgert  aber  Campanus  noch  weiter  das  Unzutreffende 
eines  Satzes,  der,  seit  Bryson  ihn  gemäss  des  aristotelischen  Berichtes 
(Bd.  I,  S.  190)  bei  seiner  Kreisquadratur  anwandte,  als  unumstösslich 
wahr  galt,  und  den,  was  das  Auffallendste  ist,  Campanus  selbst  am 
Anfange  seiner  Euklidausgabe  mit  den  Worten  ausspricht:  quanta  est 
aliqua  quantitas  ad  quamlibet  aliam  eiusdem  generis,  tantam  esse 
quamlihet  tertiani  ad  aliquam  quartam  eiusdem  generis  in  quantita- 
tihus  continuis,  wo  das  Schwergewicht  auf  die  Worte  in  quantita- 
tibus  continuis  fällt.  Bei  der  stetigen 
Grösse  muss  ein  Viertes  sich  finden  las- 
sen, zu  welchem  ein  Drittes  in  dem  Ver- 
hältnisse steht,  wie  ein  Erstes  zu  einem 
Zweiten.  Das  ist  aber  nur  dem  Ausdrucke, 
nicht  dem  Sinne  nach  verschieden  von 
dem  Satze,  dass  beim  stetigen  Uebergange 
von  einem  Kleineren  zu  einem  Grösseren 
unbedingt  ein  Zwischenzustand  eintreten 
müsse,  der  irgend  einem  zwischen  dem 
Kleineren  und  dem  Grösseren  Liegenden  genau  gleich  sei,  und  dieses 
Satzes  Unwahrheit  behauptet  Campanus  an  dieser  zweiten  SteUe  der 
Euklidausgabe  (Fig.  21).  Der  Winkel,  welchen  der  Kreis  mit  dem 
Durchmesser  ac  bilde,  sei  grösser  als  der  Winkel  dac,  kleiner  als 
fac,  und  doch  finde  sich  kein  ihm  gleicher  Winkel,  wenn  der 
Schenkel  ad  um  den  Drehungspunkt  a  gegen  die  Lage  af  hin- 
bewegt werde. 

Am   Schlüsse  des  IV.  Buches  lehrt  Campanus  die  Dreitheilung 


Johannes  de  Sacrobosco,  Johannes  Campanus  u.  and.  Math.  d.  XIII.  Jahrh.     IQö 

des  Winkels^).  Es  ist  genau  das  gleiche  Verfahren,  welches  wir 
(S.  81)  als  20.  Satz  im  4.  Buche  De  triangulis  kennen  gelernt  haben, 
mit  dem  einzigen  Unterschiede,  dass  die  Buchstaben  an  den  Figuren 
des  Campanus  stets  in  lateinischer  Reihenfolge  gewählt  sind,  wäh- 
rend sie  bei  Jordauus,  wie  wir  uns  erinnern,  nach  griechisch -arabi- 
schem Brauche  aufeinander  folgten.  Merkwürdigerweise  fehlt  die 
VVinkeldreitheilung  in  den  Handschriften  der  Euklidausgabe  des  Cam- 
panus ^). 

Die  5.  Definition  des  V.  Buches  3)  (Bd.  I,  S.  263)  machte  Schwie- 
rigkeiten, welche  in  der  verkehrten  Uebersetzung  wurzelten.  Cam- 
panus konnte  diese,  mochte  sie  von  einem  Anderen  herrühren  oder 
von  ihm  selbst,  nicht  gut  anders  als  in  dem  Sinne  verstehen,  dass 
Euklid  gesagt  hätte,  damit  Grössen  in  stetiger  Proportion  stehen, 
müssten  alle  Vielfache  derselben  gleichfalls  in  stetiger  Proportion 
stehen,  was  doch  nur  eine  Definition  durch  sich  selbst,  ein  Zirkel 
im  Erklären  sei.  Wir  wiederholen,  es  war  Uebersetzungssünde,  nicht 
Unverständniss,  welche  hier  sich  rächte,  und  welche  eine  stetige 
Proportion  einführte,  wo  es  nur  um  eine  aus  irgend  vier  Grössen 
bestehende  sich  handelte. 

Zu  IX,  16  hat  Campanus  13  Zusätze  ausgesprochen,  deren  letzter 
die  Unmöglichkeit  behauptet,  irgend  eine  Zahl  so  zu  theilen,  dass 
das  Product  des  Ganzen  in  den  kleineren  Theil  dem  Quadrate  des 
grösseren  Theiles  gleich  werde.  Der  Gang  des  Beweises  ist  in 
algebraischer  Bezeichnung  folgender^).  Sei  (x^  -\-  x^)  :  x^  =  x^:  x^, 
so  folgt  x^:  x.2  =  x.^'.  {x^  —  x^  oder  wenn  ä^^  —  x.,  =  x^  d.  h. 
x^  =  x^-\-  x^  gesetzt  wird,  was  wegen  x^  >  x^  geschehen  darf,  auch 
(x.2  -\-  iTg)  '.  X2  =  x^:  x^  und  damit  ist  zugleich  x^  >  x^  erwiesen. 
Fortsetzung  des  gleichen  Verfahrens  führt  zu  (x^  -f~  ^4)  '•  x^  ==  x^  '•  x^ 
mit  x^=^  x^  —  ^3  <  ^3  ^^-  s.  w.  ins  Unendliche.  Weil  aber,  wie 
Euklid  in  VII,  31  es  ausdrücklich  ausgesprochen,  hat,  nicht  unend- 
lich viele  immer  kleiner  werdende  Zahlen  möglich  sind,  so  ist  gleich 


')  Ein  wortgetreuer  Abdruck  der  ganzen  Stelle  findet  sich  in  Kästner's 
Geometrischen  Abhandlungen  I.  Sammlung  (1790),  S.  235—240.  Ferner  auch  in 
Curtze's  Beliquiae  Copernicunae,  Zeitschr.  Math.  Phys.  XIX,  S.  81.  '^)  Curtze 
brieflich.  ^)  Kästner,    I,  297—298  giebt   den  Worlaut  dieser  Uebersetzung 

als :  Quantitates  qiiae  dicuntitr  continuam  habere  proportionalitatevi,  sunt,  quarum 
aeque  multipUcia  auf  aequa  sunt,  aut  aeque  sihi  sine  interruptione  addunt  mit 
minunt.  Was  Kästner  dabei  von  dem  mit  simul  zu  übersetzenden  ccfia  sagt, 
ist  irrig.  Das  griechische  Wort  heisst  gar  nicht  afia ,  sondern  Iccixig  und  ist 
ganz  richtig  mit  aeque  wiedergegeben.  Der  Uebersetzungsfehler  steckt  in  den 
Worten  iv  zw  avtü  löyo) ,  wo  von  einer  contimia  proportionalitas  nicht  die 
Rede  ist.  *)  Genocchi  in  den  Annali  di  scienze  matematiche  e  fisiclie  von 
Tortolini  VI,  307—308. 


106  iö.  Kapitel. 

die     erste    Annahme     falsch,    die     Irrationalität     des    goldenen 
Schnittes  somit  festgestellt. 

So  sind  wir  am  Ende  des  XIII.  Jahrhunderts  augelangt,  ein 
Abschnitt  durch  die  Zeitrechnung,  kein  solcher  durch  innere  Gründe. 
Wir  müssen  gleichwohl  der  Uebersichtlichkeit  das  Opfer  bringen, 
ein  Ende  eintreten  zu  lassen,  wo  kein  Schluss  ist,  und  uns  zunächst 
von  Jahrhundert  zu  Jahrhundert,  dann  in  kürzeren  Abschnitten  den 
Abgrenzungen  zufälliger  ZeiteintheiJung  fügen.  Eine  Zusammen- 
fassung der  Ergebnisse  dieses  neunten  Abschnittes  überhaupt,  des 
ersten  des  11.  Bandes,  ist  leicht  veranstaltet.  Haben  wir  doch  das 
XIII.  Jahrhundert  als  ein  solches  kennen  gelernt,  in  welchem  zwei 
wirklich  hervorragende  Mathematiker,  ein  Laie  und  ein  Geistlicher, 
zu  Beginne  des  Jahrhunderts  auftreten.  Sie  leisten  auf  allen  Ge- 
bieten der  Mathematik  Gewaltiges,  zu  Gewaltiges,  als  dass  die  Zeit- 
genossen mitkommen,  oder  gar  über  sie  hinaus  den  Weg  fortsetzen 
konnten.  Kein  Dritter  findet  sich  im  XIII.  Jahrhunderte,  der  neben 
Leonardo  von  Pisa  und  neben  Jordanus  Nemorarius  gestellt  werden 
dürfte,  ja  vielleicht  kein  Dritter,  der  in  sich  aufzunehmen  suchte,  was 
Jene  in  Rechenkunst  und  Zahlentheorie,  in  Algebra  und  Geometrie 
hervorgebracht  haben.  Die  handwerksmässige  Rechenkunst,  wie  sie 
aus  dem  geistvollen  Algorithmus  demonstratus  unter  Verflüchtigung 
allen  Geistes  als  Niederschlag  zurückblieb,  wurde  von  Ordensbrüdern 
geübt  und  weiter  verbreitet.  So  kam  wohl  allmälig  die  Kenntniss 
der  Zahlzeichen  und  ihres  Stellungswerthes  in  die  grosse  Menge. 
In  den  Handschriften  des  Lehrgedichtes  der  Wälsche  Gast,  deren 
älteste  auf  die  zweite  Hälfte  des  XIII.  Jahrhunderts  zurückgeht  und, 
wie  man  annimmt,  nicht  in  Klosterkreisen  entstand^),  erscheint  auf 
einem  Bildehen  die  Arithmetik,  welche  solche  Zahlzeichen  vor  sich 
hat.  Neben  den  eigentlichen  Schriftstellern,  wenn  man  so  sagen 
darf,  erscheinen  einzelne  Uebersetzer,  Campanus  wohl  der  mathe- 
matisch begabteste  unter  ihnen,  welche  neuen  Lehrstoff  der  alten 
Wissenschaft  entnahmen.  Wird  auch  dieser  zunächst  nur  als  Ballast 
mitgeführt  werden"?  Diese  Frage  hat  das  XIV.  Jahrhundert  zu  be- 
antworten. 


')  A.  von  Oechelhäuser,  Der  Bilderkreis  zum  Wälschen  Cxaste  von 
Thomasin  von  Zerclaere  (1890),  S.  79.  Die  Abbildung  selbst  in  photographischer 
Nachbildung  auf  Tafel  VI.     Erörterungen  dazu  auf  S.  64. 


X.   Die  Zeit  von  1300—1400. 


46.  Kapitel. 

Englische  Mathematiker. 

Die  Frage,  mit  welcher  der  vorige  Abschnitt  schloss,  vollständig 
zu  bejahen  ist  für  den  Geschichtsschreiber  insofern  nicht  ohne  Ge- 
fahr, als  neue  Entdeckungen  einem  solchen  Ausspruche  leicht  seine 
Grundlage  rauben  könnten.  Das  XIV.  Jahrhundert  ist  in  mehr  als 
nur  einer  Beziehung  dem  XIII.  vergleichbar.  Vor  Allem  ist  der 
äussere  Umstand  hervorzuheben,  dass,  als  Montucla\)  am  Ende  des 
XVni.  Jahrhunderts  sein  Meisterwerk  der  Geschichte  der  Mathematik 
schuf,  dem  man  heute  noch  keinen  weiteren  Fehler  vorwerfen  kann, 
als  dass  es  nicht  mehr  und  nicht  Anderes  enthielt  als  damals  den 
Gelehrtesten  bekannt  war,  dass,  sagen  wir,  in  jener  Zeit  das  XIII. 
und  XIV.  Jahrhundert  für  den  Mathematiker  etwa  so  aussah,  wie  eine 
Landkarte  des  Innern  von  Afrika,  gedruckt  während  Montucla  die 
Presse  beschäftigte.  Eine  weisse  Fläche  bot  sich  dem  Beobachter, 
unterbrochen  hier  und  da  durch  einen  Namen,  dem  meistens  ein  vor- 
sichtiges Fragezeichen  beigefügt  war,  oder  doch  beigefügt  hätte  sein 
sollen.  Das  hat  sich  wesentlich  geändert.  Wie  in  der  mathematischen 
Entwicklung  des  XIII.  Jahrhunderts  treten  auch  in  der  des  XIV.  Jahr- 
hunderts bestimmte  gesicherte  Höhepunkte  deutlich  hervor.  Auch 
der  Charakter  ihrer  Umgebung  ist  so  weit  bekannt,  dass  man  die- 
selbe, ohne  ungerecht  zu  sein,  eine  Tiefebene  wird  nennen  dürfen. 
Aber  davon  ist  die  Gegenwart  doch  weit  entfernt,  dass  sie  genau  alle 
Verbindungsstrassen  von  einem  zum  anderen  Punkte  nachzuweisen  im 
Stande  wäre,  dass  sie  sicher  wäre,  nicht  an  ganz  Wesentlichem,  aber 
noch  nicht  bekannt  gewordenem,  vorbeigeirrt  zu  sein.  Der  Verfasser 
dieser  Vorlesungen  ist  durchdrungen  von  dem  Gefühle  der  Lücken- 
haftigkeit des  vorigen  wie  dieses  Abschnittes.  Er  hofft  auf's  Höchste, 
ein  künftiger  Geschichtsschreiber  möge  ihm  keinen   anderen  Vorwurf 


')  Montucla,  Histoire  des  Mathematiques.  IP.  edition.  Paris  1799 — 1802. 
Die  beiden  ersten  Bände  sind  von  Montucla  selbst  bearbeitet,  der  dritte  und 
vierte  nach  Montucla's  Tode  (18.  December  1799)  von  Lalande.  Wir  citiren  das 
in  diesem  Bande  mehrfach  benutzte  Werk  kurzweg  als  Montucla. 


110  46.  Kapitel. 

zu  macheu  habeu,  als  deu  wir  heute  gegen  Montucla  erheben  müssen. 
Unter  solchen  Voraussetzungen  ist  jedem  Ausspruche  ein  grosses 
„vielleicht"  hinzuzudenken,  und  nur  innerhalb  dieser  selbstgezogenen 
Grenzen  glauben  wir  eine  wissenschaftliche  Aehnlichkeit  des  XIV. 
mit  dem  XIII.  Jahrhunderte  behaupten  zu  dürfen. 

Dem  XIV.  Jahrhunderte  gebrach  es  so  wenig  als  dem  XIII.  an 
erhaltender  Thätigkeit.  Uebersetzungen  mathematischer  Werke  aus 
dem  Griechischen,  aus  dem  Arabischen  sind  wir  zwar  nicht  im  Stande 
mit  besonderen  bekannten  Namen  zu  belegen,  aber  das  Vorhanden- 
sein hochwichtiger  mathematischer  Handschriften  aus  dem  XIV.  Jahr- 
hunderte in  fast  allen  bedeutenderen  Bibliotheken  ist  Zeugniss  von 
der  Wahrheit  unserer  Behauptung.  Die  Uebersetzung  des  Buches 
der  drei  Brüder  in  BaseP)  ist  mit  grösster  Wahrscheinlichkeit 
von  Gerhard  von  Cremona  angefertigt.  In  dem  vorhandenen  Ver- 
zeichnisse der  von  ihm  herrührenden  Uebersetzungen  ist  das  Buch 
der  drei  Brüder  erwähnt.  Dort  findet  sich  auch  die  Bemerkung,  Ger- 
hard habe  in  seinen  Uebersetzungen  sich  nie  genannt-).  Ist  aber 
die  Uebersetzung  anderer  in  dem  gleichen  Sammelbande  befindlicher 
Schriften  erst  im  XIV.  Jahrhunderte  angefertigt?  Sind  sie  bereits 
Abschriften  der  Ergebnisse  früherer  Uebersetzungsarbeit?  Sehen  wir 
in  ihnen  wie  in  den  gleichzeitigen  Abschriften  von  Werken  des  Jor- 
danus,  von  Euklidübersetzungen  des  Atelhart  und  des  Campanus  den 
Fleiss  emsiger  Mönche,  der  Werthvolles  aus  alter  wie  aus  für  damals 
jüngerer  Zeit  aufzubewahren  half?  Wir  wissen  es  nicht.  Jedenfalls 
aber  zeigt  das  Vorhandensein  solcher  Handschriften  so  viel  Interesse 
für  die  Erhaltung  mathematischer  Werke,  sei  es  bei  dem  abschrei- 
benden Mönche  selbst,  sei  es  bei  dem  Vorsteher  des  Klosters,  der 
solche  Abschriften  zu  fertigen  befahl,  dass  wir  nicht  schweigend  an 
der  Thatsache  vorübergehen  durften. 

Wir  wollen  nun  versuchen,  die  Mathematiker  des  XIV.  Jahr- 
hunderts in  ihrem  Heimathslande  nach  gebildete  Gruppen  zu  ordnen 
und  beginnen  mit  England. 

Das  Rechnen  mit  Zahlzeichen,  denen  Stellungswerth  beigelegt  ist, 
machte  in  diesem  Jahrhunderte  offenbar  Fortschritte.  Ausser  einem 
die  Numeration  klar  darlegenden  Schriftstücke  in  englischer  Sprache^) 
hat  auch  eine  Rechentafel  für  Kaufleute*)  sich  erhalten,  deren  Text, 
so  gering  er  ist,  ebenfalls  der  englischen  Sprache  angehört,  während 
die  Zeichen  von  der  eben  erwähnten  Art  sind. 

Wichtiger  ist   was  wir  über   bestimmte  Schriftsteller   auszusagen 


>)  Wir  reden  von  der  berühmten  Handschrift  F  II,  33.        *)  Curtze  brief- 
lich.        ^)  Halliwell,  ßara  Maihemcdica  pag.  29—31.         *)  Ebenda  pag.  72. 


Englische  Mathematiker.  111 

haben.  Richard  von  Wallingford^j,  welcher  etwa  um  1326  die 
freien  Künste  und  Philosophie  in  Oxford  lehrte,  ist  uns  nur  durch 
die  Titel  einiger  Abhandlungen  bekannt,  welche  jedoch,  in  englischen 
Bibliotheken  handschriftlich  erhalten,  wohl  verdienten  einmal  von 
einem  Fachmanue  durchgesehen  zu  werden.  Titel  wie:  De  sinibus 
demonstrativis.  De  chorda  et  arcu.  De  chorda  et  versa  deuten  darauf 
hin,  dass  dem  Verfasser,  der  solche  Ueberschriften  wählte,  arabische 
Trigonometrie  und  darunter  jedenfalls  neben  anderen  Quellen,  die 
damit  nicht  geleugnet  sein  sollen,  Albategnius  in  der  Uebersetzung 
Plato's  von  Tivoli  (Bd.  I,  S.  693),  wo  erstmalig  das  Wort  Sinus  vor- 
kam, bekannt  gewesen  sein  muss.  Eine  Abhandlung,  welche  sich  in 
zahlreichen  Abschriften  erhalten  hat,  ist  einer  Art  von  Zeitmesser 
gewidmet,  der  von  seiner  Brauchbarkeit  den  Namen  Insh-utnentum 
Älhyon  (d.  h.  all  by  one  =  Alles  durch  Eines)  empfingt). 

In  das  Gebiet  der  Trigonometrie  gehört  weiter  eine  Schrift  von 
Johannes  Maudith^),  welcher  um  1340  in  Oxford  lehrte.  Auch  ihr 
Titel:  De  chorda  recta  et  umbra  fordert  eine  Untersuchung  nur  um 
so  dringender  heraus,  als  umbra,  die  Tangente  der  heutigen  Trigo- 
nometrie, eine  den  Arabern  besonders  eigenthümliche  Winkelfunction  war. 

Und  wieder  dasselbe  Ergebniss  erhalten  wir  aus  einer  vereinzelt 
bekannt  gewordenen  Stelle  der  Perspective  von  Bradwardinus^). 
In  einer  Handschrift  des  Vatican  ist  nämlich  die  Absicht  Bradwardin's 
Perspective  mitzutheilen  von  einem  Abschreiber  gehegt,  aber  mit  der 
Begründung  aufgegeben  worden,  dieselbe  enthalte,  abgesehen  von 
vier  Sätzen,  ausschliesslich  das,  was  in  der  allgemeinen  (in  communi 
perspectiva)  d.  h.  in  der  Peckham'schen  Perspective  sich  vorfinde; 
darum  werden  nur  die  erwähnten  vier  Sätze  berichtet.  In  diesen 
kommen  aber  die  Wörter  umbra  recta  und  umbra  versa  wiederholt 
vor,  welche  bekanntlich  unserer  Cotangente  und  Tangente  ent- 
sprechen, und  von  ihnen  wird  im  dritten  Satze  ^)  ausgesagt,  dass  sie 
die  Längeneinheit  als  mittlere  geometrische  Proportionale  besitzen. 

Simon  Bredon  oder  Biridanus^)  von  Winchecombe  gehört, 
wiewohl  eigentlich  Mediciner,  auch  durch  einige  mathematische  und 
astronomische  Abhandlungen  hierher.  Er  verfasste  sie  um  1380  unter 
König  Richard  IL  So  wird  von  ihm  namentlich  eine  Sehnentafel  er- 
wähnt, deren  Anfangsworte  lauten  sollen  Arcus,  sinus  rectus,  sinus 
versus.      Englische    Gelehrte    werden    in    erster   Linie   Veranlassung 


1)  Montucla,    I,  529.   —    Suter,    Math.  Univ.  S.  45— 46.  -)    Curtze 

brieflich.  ^)  Suter,  Math.  Univ.  S.  46.  *)  Max  Curtze  in  den  Beliquiae 

Copernicanae ,    Zeitschr.  Math.  Phys.  XX,  224.  ^)   Inter  umbras  et  timbrosum 

testis  est  proportio,   quod  ipsa  res  sempier  est  medio   loco  proportionalis  inter  um- 
bram  stiam,  rectam  seilicet  et  versam.        ^)  Suter,  Math.  Univ.  S.  46. 


12 


46.  Kapitel. 


haben,  diesen  und  den  weiter  oben  genannten  insgesammt  ungedruckten 
Abhandlungen  diejenige  Beachtung  zu  verschaffen,  welche  sie  zu  ver- 
dienen scheinen  und  ihrer  Heimath  den  Ruhm  zu  sichern,  von  den 
ersten  europäischen  Schriftstellern  über  Trigonometrie  er- 
zeugt zu  haben.  Die  allerersten  waren  sie  indessen  doch  nicht.  Das 
war  ein  Anonymus,  der  bereits  dem  Ende  des  XIII.  Jahrhundert  an- 
gehörte, dann  der  in  Avignon  lebende  spanische  Jude  Levi  ben 
Gerson  mit  einer  Abhandlung  von  1321,  endlich  ein  weiterer  Ano- 
nymus mit  einer  Schrift:  De  tribus  notis^). 

Eine  Abhandlung  von  hohem  Interesse  ist  dem  Drucke  übergeben^). 
Sie  ist  in  englischer  Sprache  verfasst  und  in  einer  Handschrift  des 
XIV.  Jahrhunderts  erhalten,  und  aus  diesem  letzteren  Umstände 
leiten  wir  das  Recht  ab,  sie  hier  zu  besprechen,  wenn  ihre  eigent- 
liche Entstehungszeit  uns  gleich  unbekannt  ist.  Der  Inhalt  ist  feld- 
messerisch, wie  schon  die  Ueberschrift  besagt:  J^oive  sues  liere  a 
Tretis  of  Geometrl  wherhy  you  may  Inoive  the  lieglite,  depnes,  and  the 
hrede  of  moshvhat  erthely  thynges  und  stellt  eine  Uebersetzung  einer 
unter  dem  Titel  Ars  metrica  gehenden  Bearbeitung  des  zweiten 
Theiles  der  Schrift  des  Robertus  Anglicus  über  den  Quadranten  dar^). 
Geometrie,  sagt  der  der  griechischen  Sprache  etwas  mächtige  Ver- 
fasser, ist  zusammengesetzt  aus  geos,  die  Erde  und  metros,  das  Maass. 
Zum  Höhenmessen,  welches  am  Ausführlichsten  behandelt  ist,  werden 
verschiedene  Verfahren  gelehrt.  Die  Schattenmessung ^),  wie  sie  seit 
Thaies  in  Uebung  war  (Bd.  I,  S.  128j,  eine  Messung  mit  Hilfe  eines 
Spiegels  °),  eine  Messung  mit  Hilfe  des  Quadranten  und  des  Quadra- 
tes '')  sind  auseinandergesetzt,  aber  leider  nicht  durch  Zeichnungen 
erklärt.  Ergänzt  man  sich  solche  für  den  Quadranten  (Figur  22)  und 
für  das  genauer  beschriebene   Quadrat  (Figur  23),    so   mag  man  die 


Fig.  22.  Fig.  23. 

Benutzung  auch   dieser  letzteren  Vorrichtung  leichter   zum  Verstand- 
niss   bringen.     Das  Quadrat  ist  aus    vier   gleichen  je    in    12    Theile 

*)  Curtze    brieflich.  ^)  Halliwell,    Bara   Matliematica    pag.  56 — 71. 

^)   Curtze  brieflich.       ■*)  Halliwell,  Bara  Mathematica  pag.  G2.       '")    Ebenda 
pag.  66.        *)  Ebenda  pag.  58—59. 


Englische  Mathematiker.  113 

eingetheilten  Stäben  zusammengesetzt.  In  dem  einen  Eckpunkte  ist 
ein  Senkel  aufgehängt,  und  die  eine  Seite  ist  ein  Diopterlineal,  durch 
welches  man  nach  dem  zu  bestimmenden  Höhepunkt  hinsieht.  Man 
hat  dann  nur  zu  bemerken,  welcher  Punkt  der  eingetheilten  Quadrat- 
seiten von  dem  Senkel  eingeschnitten  wird,  um  die  Höhe  mittels 
Proportionen  zu  finden.  Die  betreffenden  Eintheilungen  der  das 
Quadrat  bildenden  Stäbe  heissen  wieder  wnhre. 

Und  nun  kehren  wir  zu  dem  hervorragendsten  Vertreter  der 
Mathematik  in  England  im  XIV.  Jahrhunderte  zurück,  dessen  Namen 
wir  schon  im  Vorbeigehen  genannt  haben.  Thomas  de  Brad- 
wardina^),  eigentlich  Bredwardiu,  aber  gewöhnlich  Bradwar- 
dinus  genannt,  ist  geboren  zu  Hartfield  bei  Chichester.  Als  sein 
Geburtsjahr  wird  mitunter  1290  angegeben,  jedenfalls  fällt  es  noch 
in  das  XIII.  Jahrhundert.  Er  war  Ordensgeistlicher,  muthmasslich 
Franciskaner.  Sicherheit  über  seine  Lebensverhältnisse  beginnt  mit 
dem  Jahre  1325,  in  welchem  er  Proctor,  d.  h.  Procurator,  der  Uni- 
versität Oxford  wurde.  Dort  las  er  im  Collegium  Mertonense  über 
Theologie,  Philosophie  und  Mathematik  mit  solchem  Erfolge,  dass 
man  ihm  den  Beinamen  Doctor  profundus  beilegte.  Solche  ehrende 
Beinamen  waren  übi-igens  damals  an  der  Tagesordnung.  Roger  Baco 
wurde  Doctor  mirabilis,  Thomas  von  Aquino  bald  Doctor  angelicus, 
bald  Doctor  universalis  genannt;  Duns  Scotus  hiess  Doctor  subtilis, 
Raimundus  LuUus  Doctor  illuminatus,  Wilhelm  von  Occam 
Doctor  invincibilis  oder  Doctor  singularis,  Henricus  Gandavensis 
Doctor  solenmis,  Johann  Baconthorp  Doctor  resolutus,  um  nur 
einige  der  bekanntesten  Namen  aufzuzählen.  Später  wurde  Brad- 
wardinus  Kanzler  der  St.  Paulskirche  in  London,  und  Johann  Strat- 
ford,  Erzbischof  von  Canterbury,  empfahl  ihn  dem  Könige  Eduard  III. 
als  Beichtvater.  In  dieser  Stellung  erwarb  er  sich  die  Gunst  des 
Königs,  welchen  er  auf  seinen  Kriegszügen  in  Frankreich  begleitete, 
in  so  hohem  Maasse,  dass,  als  1348  nach  Stratford's  Tode  das  Kapitel 
Bradwardinus  zum  Erzbischof  von  Canterbury  erwählte,  der  König 
ihn  nicht  entliess.  Ein  an  seiner  Stelle  neu  Gewählter  starb  aber 
noch  vor  der  Weihe,  das  Kapitel  einigte  sich  abermals  auf  Brad- 
wardinus, und  nun  gab  der  König  nach.  Die  Weihe  fand  am 
19.  Juli  1349    in    Avignon    statt.     Wenige    Wochen    nachher    wurde 


^)  Encyclopaedia  Britannica  (1875),  IV,  199.  —  Poggendorff  I,  272.  — 
Chasles,  Äpergii  liist.  p.  480  und  521—523  (deutsch  550  und  611—614).  Sehr 
viel  mehr  bei  Max  Curtze:  Ueber  die  Handschrift  R.  4".  2  der  König! . 
Gymnasialbibliothek  zu  Thorn.  Insbesondere  das  Biographische  entnehmen  wir 
fast  wörtlich  dieser  im  Supplementheft  der  Zeitschr.  Math.  Phys.  XIII  abgedruck- 
ten Abhandlung. 

Cantor,  Geschichte  der  Mathem.    II.    2.  Aufl.  8 


114  46.  Kapitel. 

Bradwardinus  in  Lambetli  von  eiuer  pestartigen  Krankheit  befallen 
und  starb  am  26.  August.  Die  mathematischen  Schriften,  welche 
früh  (seit  1495)  im  Drucke  bekannt  geworden  sind,  vorher  natürlich 
abschriftlich  umliefen,  führen  die  Titel:  Arithmetica  speculativa,  De 
proportionibus  velocitatum,  Geometria  speculativa,  Tractatus  de  qua- 
dratura  circuli  editus  a  quodam  archiepiscopo  ordinis  fratrum  mino- 
rum.  Diese  Quadratur  ist  dieselbe  Schrift,  von  welcher  wir  (S.  101) 
unter  Campanus  gesprochen  haben,  und  kann  unmöglich  von  Brad- 
wardinus herstammen.  Die  Drucke  der  drei  anderen  vermuthlich 
echten  Schriften  sind  von  grosser  Seltenheit.  Es  wäre  wünschens- 
werth,  wenn  die  Schrift  von  den  Proportionen  —  oder  sind  es  gar 
deren  zwei?  —  einmal  genau  untersucht  würde,  wie  weit  sie  eine  Ab- 
hängigkeit von  Jordanus  (S.  ßö),  wie  weit  sie  eine  solche  von  Ahmed 
Sohn  des  Josephus  vermuthen  lassen  kann.  Wir  könneu  nur  über  die 
Geometria  speculativa  nach  Auszügen  berichten,  welche  deren 
wissenschaftliche  Bedeutung  erkennen  lassen.  Wenn  zwei  Handschriften, 
die  eine  von  1365,  die  andere  von  1414  datirt,  beide  gegenwärtig  in 
Rom,  Bradwardin's  Geometrie  dem  Petrus  von  Dacien  zuschreiben^), 
so  beruht  das  wohl  auf  Irrthum.  Die  Geometrie  besteht  aus  vier 
Abschnitten,  von  denen  jeder  mit  Voraussetzungen,  Erklärungen,  For- 
derungen beginnt,  an  welche  die  eigentlichen  Untersuchungen  sich 
anschliessen. 

Im  1.  Abschnitte  beschäftigt  sich  Bradwardinus  mit  den  ßgiiris 
angulorum  cgredienfihiis.  Sternvielecke,  denn  diese  sind  unter 
jenem  Namen  verstanden,  waren  ja  seit  der  Zeit  der  Pythagoräer  be- 
kannt. Das  Sternfünfeck  insbesondere  (Bd.  I,  S,  166)  war  mehrfach 
der  Aufmerksamkeit  empfohlen.  Wir  haben  seine  Gestalt  ausser  im 
grauen  Alterthum  in  jener  französisch  geschriebenen  Geometrie  (S.  92) 
aufti-eten,  seine  Winkelsumme  im  Euklide  des  Campanus  (S.  104)  be- 
stimmen sehen.  Auch  die  Gestalt  eines  anderweitigen  Sternvielecks 
lässt  sich  in  benachbarter  Zeit  nachweisen.  Raimundus  Lullus, 
dessen  schriftstellerische  Thätigkeit  zwischen  1285  und  1315  fällt, 
muss  in  einer  Geschichte  der  Mathematik  immerhin  genannt  werden. 
Er  hat  eine  eigene  Schrift  über  die  Quadratur  des  Kreises  und  eine 
Geometrie  verfasst,  welche  in  dem  Uebermaasse  religiösen  Beiwerkes 
unverständlich  sind.  Ebenderselbe  hat  in  seiner  Ars  magna,  einem 
Gemenge  von  Logik,  kabbalistischer  und  eigener  Tollheit,  unter 
welches,  man  weiss  nicht  wie,  einige  Körner  gesunden  Menschen- 
verstandes gerathen  sind,   den  Umfang   eines  Kreises  in  9  Theile  ge- 


1)  BibUoth.  vwfli.  von  G.  Eneström  1885,  pag.  94  und  196. 


Englische  Mathematiker.  115 

theilt  ^)  und  von  jedem  Theilungspunkte  Verbindungsgerade  nach 
allen  übrigen  gezogen.  So  entsteht,  ob  ihm  bewusst  oder  nicht 
müssen  wir  in  Frage  lassen,  ein  Sternneuneck.  Als  Frage  werfen 
wir  ferner  auf,  ob  in  hebräischen  kabbalistischen  Schriften  noch 
andere  Stern vielecke  gebunden  werden  mögen?  Keinesfalls  sind  es 
wissenschaftliche  Untersuchungen  über  Sternvielecke,  welche  uns  irgend- 
wo ausser  bei  Campanus  gegenübertreten,  und  nun  behandelt  Bradwar- 
dinus  mit  ausdrücklicher  Betonung  der  Neuheit  des  Gegenstandes, 
den  nur  Campanus  beiläufig  gestreift  habe ,  die  allgemeine  Figur 
ähnlichen  Charakters.  Je  mehr  wir  auch  auf  unserem  Wissensgebiete 
die  Wahrheit  der  Aussprüche  anerkennen,  dass  auf  Jahrhunderte  hin 
eine  gänzliche  Abhängigkeit  von  der  äusserlichen  Stofizufuhr  den 
eigentlichen  Grundton  des  Mittelalters  bildete-),  und  dass  dessen 
alleiniges  geistiges  Motiv  in  der  Macht  der  Ueberlieferung  zu  suchen 
ist^),  um  so  stärker  treten  die  wenigen  Persönlichkeiten  hervor, 
denen  gegenüber  jene  Regel  versagt.  Dass  aber  Bradwardinus  zu 
ihnen  gehörte,  mögen  folgende  Sätze  beweisen :  Ein  Vieleck  mit  aus- 
springenden Winkeln  (egrediens)  wird  erzeugt,  indem  man  die  Seiten 
eines  gewöhnlichen,  nach  aussen  convexen  Vielecks  bis  zum  erneuten 
Durchschnitte  verlängert.  Vollzieht  man  das  Gleiche  bei  dem  ent- 
standenen Sternvielecke  erster  Ordnung,  so  entsteht  ein  Sternvieleck 
zweiter  Ordnung,  aus  welchem  immer  durch  das  gleiche  Verfahren 
ein  Sternvieleck  dritter  Ordnung  hervorgeht.  Das  Sternfünfeck  ist 
das  erste  Stemvieleck  erster  Ordnung  und  hat  die  Winkelsumme  2  E. 
Bei  wachsender  Zahl  der  Ecken  wächst  die  Winkelsumme  immer  um 
2R  für  jedes  neue  Eck,  wie  es  bei  den  convexen  Vielecken  auch  der 
Fall  ist.  Im  Sternvieleck  erster  Ordnung  mit  6,  7,  8,  ...  9^  Eck- 
punkten ist  also  die  Winkelsumme  42?,  6R,  8R,...(2n  —  8)B.  Die 
allgemeine  Formel  spricht  Bradwardinus  allerdings  nicht  aus,  aber  sie 
ist  doch  in  seiner  Regel  des  gleichmässigen  Anwachsens  um  je  2R 
enthalten.  Aus  dem  convexen  Dreieck  und  Viereck  entsteht  kein 
Stern vieleck,  sondern  erst  aus  dem  Fünfeck.  Aus  dem  Sternvieleck 
erster  Ordnung  mit  5  oder  6  Ecken  entsteht  kein  Sternvieleck  zweiter 
Ordnung,  sondern  erst  aus  dem  mit  7  Ecken.  So  hat  man  den  Satz, 
dass  das  erste  Sternvieleck  irgend  einer  Ordnung  durch  Verlängerung 
der  Seiten  des  dritten  Sternvielecks  nächstniedrigerer  Ordnung  ge- 
bildet wird.  Von  den  Winkeln  der  Sternvielecke  höherer  Ordnung 
zu  reden,  meint  Bradwardinus,  würde  zu  weit  führen;  er  wolle  einen 
Satz  aussprechen,  an  dessen  Richtigkeit  er  glaube,  ohne  sie  mit  aller 


^)  Prantl,   Geschichte   der  Logik  im  Abendlande  III,  158.     Künftig  citiren 
wir  Prantl ,  Gesch.  Log.         -')  Ebenda  III,  2.         ^)  Ebenda  III,  9. 

y  8* 


116  46.  Kapitel. 

Bestimmtheit  behaupten  zu  wollen:  die  Summe  der  Winkel  in  dem 
ersten  Vielecke  jeder  Ordnung  sei  2R,  und  sie  nehme  mit  jedem 
neuen  Eckpunkte  um  2It  zu  ^).  Irgend  welche  Beweise  scheint 
Bradwardinus  nicht  geführt  zu  haben,  an  den  Rand  sind  aber  Stern- 
vielecke der  drei  ersten  Ordnungen  gezeichnet,  solche  der  ersten  Ord- 
nung mit  5,  6,  1,  8  Ecken,  solche  der  zweiten  Ordnung  mit  7,  8,  9 
Ecken,  solche  der  dritten  Ordnung  mit  9,  10,  12  Ecken. 

Der  2.  Abschnitt  enthält  unter  Anderem  die  Lehre  von  den 
isoperimetrischen  Figuren.  In  vier  Sätzen  wird  gezeigt:  1.  dass 
unter  miteinander  verglichenen ,  isoperimetrischen  Figuren  diejenige 
die  flächengrösste  ist,  welche  die  grösste  Eckenzahl  besitzt;  2.  dass 
bei  gleicher  Eckenzahl  die  Gleichheit  aller  Winkel  den  Ausschlag 
giebt;  3.  dass  unter  der  Voraussetzung  gleicher  Eckenzahl  und  unter 
sich  gleicher  Winkel  das  regelmässige  Vieleck,  welches  auch  unter 
sich  gleiche  Seiten  besitzt,  die  grösste  Fläche  einschliesst;  4.  dass 
der  Kreis  endlich  die  flächengrösste  unter  allen  ebenen  isoperimetri- 
schen Figuren  ist,  wie  auch  der  Kugel  die  räumhch  entsprechende 
Eigenschaft  unter  den  Körpern  zukommt.  Für  diese  Sätze  giebt 
Bradwardinus  einen  Ursprung  nicht  an,  beansprucht  sie  aber  ebenso- 
wenig als  sein  Eigenthum.  Es  kann  kaum  einem  Zweifel  unter- 
worfen sein,  dass  er  sie  dem  Buche  des  Zenodorus  (Bd.  I,  S.  341)  ent- 
nahm, welches  jedenfalls  in's  Arabische  und  aus  letzterer  Sprache  in's 
Lateinische  übersetzt  dem  XIV.  Jahrhunderte  wohl  bekannt  war. 
Zeugniss  dafür  ist  eine  noch  vorhandene  Niederschrift  einer  solchen 
Uebersetzung  aus  der  erwähnten  Zeit,  welche  die  Mittelbarkeit  ihres 
Ursprunges  durch  Benutzung  der  Namensform  Archimenides  statt 
Archimedes  (Bd.  I,  S.  663)  an  den  Tag  legt.  Ein  gewisser  Frater 
Fridericus,  welcher  in  der  Mitte  des  XV.  Jahrhunderts  lebte,  und 
dem  wir  im  54.  Kapitel  begegnen  werden,  hat  übrigens  Bradwardin's 
Quellen  sehr  gut  erkannt,  indem  er  sagte,  dieser  habe  aus  den  Büchern 
des  Euklid,  des  Campanus,  des  Archimed,  des  Theodosius,  des  Jor- 
danus  und  aus  den  Büchern  über  die  isoperimetrischen  Gebilde  ge- 
schöpft ^). 

Der  3.  Abschnitt  beschäftigt  sich  der  Hauptsache  nach  mit  der 
Lehre  von  den  Verhältnissen.  Die  Proportion  einer  Grösse  zu  einer 
andern  wird  benannt  nach  der  Art,  wie  die  erste  zur  zweiten  sich 
verhalte^).  Stehen  verschiedene  Grössen  in  fortlaufender  stetiger  Pro- 
portion, so  ist  die  Proportion  der  äussersten  Glieder  aus  denen  aller 


^)  Dass  in  der  That  die  Winkel  summe  des  ä;  -  Stemvielecks  n*^^  Ordnung  mit 
2n-\-Jc  -\-  2  Ecken  durch  2k R  sich  darstellt,  hat  Poinsot  im  Journal  de  VEcdle 
polytechnique  Tome  IV  (eahier  10)  bewiesen.  *)  Curtze  brieflich.  ^)  Quanta 
est  aliqiui  quantitas  ad  idiam  tanta  denominatur  jy)'oportio  eins  ad  ipsain. 


Englische  Mathematiker.  117 

dazwischenliegeuden  zusammengesetzt.  Proportionen  gleicher  Benen- 
nung sind  einander  gleich^).  Grössen  sind  gleich,  wenn  sie  zu  einer 
Vergleichsgrösse  in  gleichem  Verhältnisse  stehen;  Grössen  sind  aber 
auch  dann  gleich,  wenn  Gleichvielfaehe  von  ihnen  unter  einander 
gleich  sind-).  Diese  beiden  Regeln,  fügt  Bradwardinus  sogleich  hinzu, 
lassen  widersprechende  Folgerungen  ziehen.  Der  ersteren  gemäss 
sind  alle  unendlichen  Grössen  gleich,  der  zweiten  gemäss 
kann  dieses  nicht  der  Fall  sein.  Verhältnissmässigkeit  und  Mess- 
barkeit  sind  nicht  an  einander  gebunden,  jede  Grösse  steht  zu  jeder 
anderen  in  einem  Verhältnisse,  hat  aber  nicht  mit  jeder  ein  gemein- 
sames Maass^).  Haben  zwei  Grössen  ein  gemeinsames  Maass,  sind 
sie  comrminicantcs,  so  verhalten  sie  sich  zu  einander  wie  zw^ei  Zahlen, 
wobei  Zahl  jedenfalls  als  ganze  Zahl  gemeint  ist.  Findet  kein  der- 
artiges Verhältniss  statt,  so  haben  die  Grössen  kein  gemeinsames 
Maass,  sind  inconumimcantcs.  Diagonale  und  Quadratseite  stehen  in 
irrationalem^)  Verhältnisse,  weil  jede  Diagonale  zur  Seite  ihres 
Quadrates  eines  gemeinsamen  Maasses  entbehrt.  In  diesen  letzteren 
Regeln  ist  der  wechselnde  Gebrauch  der  Wörter  commensurabilis  und 
communicans,  irrationalis  und  assimetrus  bemerkenswerth.  Die  einen 
gehören  schon  dem  uns  bereits  bekannten  Sprachschatze  an.  Boethius 
sagt  commensurabilis,  Leonardo  von  Pisa  communicans  (S.  11);  ob 
die  Wörter  assimetrus  und  namentlich  irrationalis  schon  vor  Brad- 
wardinus in  mathematischem  Zusammenhange  irgendwo  vorkommen, 
ausser  in  Gerhard's  von  Cremona  Uebersetzung^)  des  arabi- 
schen Commentars  des  An-Nairizt  zum  X.  Buche  des  Euklid V 
Jedenfalls  sieht  man,  dass  eine  Kunstsprache  in  ihrer  Bildung  be- 
griffen, wenngleich  noch  nicht  ganz  fertig  war.  Der  Kreis,  sagt 
Bradwardinus  in  demselben  3.  Abschnitte,  ist  einem  Rechtecke  flächen- 
gleich, dessen  Seiten  die  halbe  Peripherie  und  der  halbe  Durchmesser 
des  Kreises  sind.  Bradwardinus  beruft  sich  dafür,  wie  auch  für  das 
Verhältniss  22  :  7  der  Kreisperipherie  zum  Durchmesser,  auf  das  Buch 
über  Kreisquadratur  des  Archimenides.  Ihm  ist  also  auch  die  ara- 
bische Ueberlieferung  des  Namens  Archimedes  und  eine  Uebersetzung 
von  dessen  Kreismessung  bekannt  gewesen. 

Der   4.  Abschnitt    endlich   geht    von    der    Ebene    zum    Räume 
über,  handelt  von  Oertern,  von  körperlichen  Winkeln,  von  den  fünf 


^)  Proportiones  sunt  equales  quortim  denominationes  equales.  ^)  Quanti- 

tates  sunt  equales  que  ad  unam  quantitatem  conporate  (sie!)  proportionem  habent 
equalevi.  Quantitates  quariim  equimultiplices  smit  equales  ipse  inter  se  sunt 
equales.  ^)  Omnis  quantitas  omni  quantitati  pi-oportionalis,  sed  non  omnis  omni 
commensurabilis.  *)  Dyametri  quadrati  ad  latus  eiusdem  est  proportio  irratio- 

nalis quia  omnis  dyameter  coste  sui  quadrati  assimetrus.  ^)  Curtze  brieflich. 


118  46.  Kapitel. 

regelmässigen  Körpern,  von  der  Kugel  und  von  Kreisen  auf  deren 
Oberfläche,  wobei  für  die  letzteren  Sätze  die  Spliärik  des  Theodosius 
als  Quelle  angerufen  wird,  eine  Schrift,  welche  vielleicht  auch  schon 
Witelo  (S.  98)  vorgelegen  hat. 

Ausser  den  im  Drucke  längst  herausgegebenen  Werken  des  Brad- 
wardinus  hat  sich  noch  eines  handschriftlich  ganz  oder  wahrschein- 
licher theilweise  erhalten,  aus  welchem  werthvolle  Auszüge  bekannt 
geworden  sind^),  der  Tractatus  de  continuo.  Diese  Abhandlung 
steht  in  ihrem  Zwecke  wie  in  ihrem  Inhalte  nicht  vereinzelt  da.  Sie 
richtet  sich  als  besondere  Schrift  gegen  diejenige  atomistische  Welt- 
anschauung, welche  in  der  Scholastik  überhaupt  vorhanden  war,  und 
welche  auf  der  Zusammensetzung  der  stetigen  Grösse  aus  unstetigen 
Bestandth^ilen  beruhte^).  Roger  Baco  hatte  sich  (S.  97)  in  einem 
Kapitel  seines  Opus  tertium  mit  der  Widerlegung  dieser  Ansicht  durch 
mathematische  Gegengründe  beschäftigt.  Andere  Scholastiker  gingen 
gleichfalls  gelegentlich  auf  die  Streitfrage  ein,  welche  schon  seit 
Aristoteles  und  länger  (Bd.  I,  S.  191)  die  Geister  anregte  und  auf- 
regte. Bradwardinus  gehörte  unbedingt  zu  den  Männern,  deren  Ge- 
dankenfolge eine  vorzugsweise  mathematische  genaimt  zu  werden 
verdient,  und  wenn-  sein  Tractatus  de  continuo  einem  Grenzgebiete 
angehörte,  wenn  die  Geschichte  der  Mathematik,  die  der  Physik,  die 
der  Philosophie  verpflichtet  sind,  der  Auffindung  dieser  merkwürdigen 
Schrift  Rechnung  zu  tragen,  und  bald  diese,  bald  jene  ihrer  Sätze 
zur  Sprache  zu  bringen,  so  ist  die  Geschichte  der  Mathematik  dabei 
in  der  günstigen  Lage  loben  ^u  dürfen,  worüber  sie  zu  berichten  hat. 
Zu  den  Vorgängern  des  Bradwardinus  in  den  erwähnten  Untersuchungen 
gehörte  ja  auch  bis  zu  einem  gewissen  Grade  Jordanus  Nemorarius. 
Er  gab  an  der  Spitze  seiner  Bücher  De  triangulis  (S.  73)  Begriffs- 
bestimmungen, welche,  so  scholastisch  abstossend  sie  waren,  immerhin 
zeigten,  dass  der  Verfasser  manchem  verborgen  liegenden  mathemati- 
schen Gedanken  nachzugraben  für  lohnend  erachtete,  und  dass  er 
auch  auf  der  richtigen  Spur  war,  wo  das  Vertiefen  ansetzen  müsse. 
Aehnliches  müssen  wir  von  Bradwardinus  rühmen.  Der  Wortlaut 
beider  Schriftsteller,  des  Jordanus  und  des  Bradwardinus,  ist  freilich 
ein  ganz  verschiedener  und  nur  die  eine  Aeknlichkeit  glauben  wir 
bemerklich  machen  zu  soUen,  dass  der  Punkt  bei  Beiden  punctus, 
nicht,  wie  es  sonst  allgemeiner  Gebrauch  war,  punctum  heisst.  Bei 
Bradwardinus  ist  das  Stetige   ein  Quantum,  dessen  Theile  unter  ein- 

^)  Vergl.  Max.  C  u  r  t  z  e  in  der  schon  angeführten  Abhandlung  über 
die  Thomer  Handschrift  R.  4«.  2  Zeitschr.  Math.  Phys.  XIH,  Supplementheft. 
*)  K.  Lasswitz,  Geschichte  der  Atomistik  vom  Mittelalter  bis  Newton  I,  197 
bis  199. 


Englische  Mathematiker.  119 

ander  verbunden  sind^),  ein  offenbar  dem  aristotelischen  öwe^sg  nach- 
gebildeter Ausdruck.  Es  giebt  zweierlei  Stetigkeiten,  bleibende 
und  aufeinander  folgende.  Das  bleibende  Stetige,  contimmm  per- 
manens (Körper,  Flächen,  Linien)  ist  ein  solches,  dessen  einzelne 
Theile  zugleich  bleiben,  das  aufeinander  folgende  Stetige,  contimmm 
successiviim  (Zeit,  Bewegung)  ist  ein  solches,  unter  dessen  Theilen 
frühere  und  spätere  sich  unterscheiden  lassen.  Bei  der  näheren  Er- 
örterung des  bleibend  Stetigen  tritt  der  Begriff  der  Untheilbarkeit 
hervor  und  des  Punktes,  der  die  Untheilbarkeit  an  einen  bestimmten 
Ort  bindet^).  Die  Zeit  ist  dasjenige  aufeinanderfolgende  Stetige,  wel- 
ches die  Aufeinanderfolge  misst.  Ihr  üntheilbares  ist  der  Augen- 
blick^). Die  Bewegung  ist  das  aufeinanderfolgende  Stetige,  welches 
in  der  Zeit  gemessen  wird.  Im  weiteren  Verlaufe  der  Erklärungen 
kommt  das  Anfangen  und  das  Aufhören  zur  Rede.  Daran  schliesst 
sich  von  selbst  der  Begriff  des  Unendlichen,  dem  drei  ganze  Seiten 
gewidmet  sind.  Bradwardinus  hatte  demnach  das  volle  Bewusstsein 
von  der  Wichtigkeit  und  zugleich  von  der  ganz  ungeheuren  Schwierig- 
keit dieses  Begriffes.  Er  unterscheidet  zwei  Unendlichkeiten,  die 
kathetische  imd  die  synkathetische^).  Kathetisch  oder  einfach  un 
endlich  ist  eine  Grösse,  die  kein  Ende  hat.  Synkathetisch  unendlich 
ist  eine  Grösse,  der  gegenüber  es  eine  endliche  Grösse  giebt  und  ein 
anderes  grösseres  Endliche,  und  wieder  Eines  grösser  als  jenes 
Grössere,  und  so  ohne  dass  ein  Letztes  sich  fände,  welches  den  Ab- 
schluss  bildete;  auch  dieses  ist  immer  eine  Grösse,  aber  nicht  wenn 
es  mit  Grösserem  verglichen  wird.  Man  erkennt  leicht,  dass  das 
kathetisch  Unendliche  Bradwardinus'  das  Ueberendliche  oder 
Transfinite  unserer  neueren  Philosophen  ist,  dem  von  Anfang  an 
das  Merkmal  der  Begrenztheit,  welches  den  endlichen  Grössen  zu- 
kommt, fehlt,  während  das  synkathetisch  Unendliche  mit  dem 
Endlosen  oder  Infiniten  übereinstimmt,  welches  aus  der  end- 
lichen Grösse  durch  unbegrenztes  Wachsen  hervorgeht-'').  Wie  das 
Unendliche  und  das  Untheilbare  in  Bradwardin's  Geiste  in  Wechsel- 
beziehung traten,  zeigt  die  Fortsetzung  des  Tractates.  Jede  Wissen- 
schaft, heisst  es^),  sei  wahr,  in  welcher  nicht  die  Voraussetzung  ge- 


^)  Contimmm  est  quantum  cujus  partes  ad  invicem  copulantur.  *)  Indivi- 
sibile  est  quod  niinquavi  dividi  potest.  Punctus  est  indivisihile  situatmn.  ^)  In- 
stans  est  certus  atlwmus  (sie!)  temporis.  ^)  Infinitmn  cathetice  et  simpliciter  est 
quantum  sine  fine.  Infinitum  sitikathetice  est  secundum  quid  est  quantum  flnitum 
et  fmitum  maius  isto  et  finitum  maius  isto  maiori  et  sie  sine  fine  ultimo  terminante, 
et  Jwc  est  quantum  et  non  tarnen  contra  maius.  ^)  Wilh.  Wundt,  Logik  II, 
128  (1883).  ^)  Omnes  scientias  veras  esse,  uhi  non  supponitur  continuum  ex 

indivisihilihus  componi. 


120  46.  Kapitel. 

macht  werde,  Stetiges  setze  sich  aus  Untheilbarem  zusammen.  Kein 
Untheilbares  ist  grösser  als  ein  anderes^).  In  der  gleichen  untheil- 
baren  Lage  können  nicht  viele  Untheilbare  ihren  Ort  besitzen,  so 
lautet  der  Satz,  in  welchen  Brandwardinus  den  Begriff  der  Undurch- 
dringlichkeit kleidet.  Das  Stetige  setzt  sich  nicht  aus  einer  endlichen 
Anzahl  von  Untheilbaren  zusammen;  es  setzt  sich  ebensowenig  aus 
einer  unendlichen  Anzahl  von  solchen  zusammen,  es  hat  nur  unend- 
lich viele  Untheilbare  in  sich^).  Jede  gerade  Linie  z.  B.  hat  unendlich 
viele  Linien  in  sich,  die  als  ihre  Theile  aufgefasst  werden  können. 
Jede  Oberfläche  hat  unendlich  viele  Oberflächen  in  sich  und  unend- 
lich viele  Linien  und  ähnlicherweise  unendlich  viele  Punkte.  Jedes 
Stetige  ist  zusammengesetzt  aus  unendlich  vielen  Stetigen  derselben 
Art  und  hat  unendlich  viele  eigene  Atome  ^).  Aus  unendHch  vielen 
Untheilbaren  lässt  kein  Stetiges  sich  ergänzen  oder  zusammensetzen^). 

Wir  haben  diese  wenigen  Sätze  ziemlich  zusammenhanglos  dem 
uns  vorliegenden  weit  umfangreicheren  Auszuge  bald  da,  bald  dort 
entnommen.  Auch  die  Wörter  Contingenzwinkel  und  Form^)  kommen 
dort  vor.  Wir  fügen  hinzu,  dass  Bradwardinus,  wie  es  dem  Zwecke 
seiner  Auseinandersetzung  entsprach,  es  auch  an  Bemängelung  fremder 
Ansichten  nicht  fehlen  lässt.  Ein  Waltherus  modernus  und  ein 
Henricus  modernus  sind  besondere  Zielpunkte  seiner  Angriffe,  die 
regelmässig  nach  der  Methode  der  Zurückführung  auf  Widersinniges 
und  Sichwidersprechendes  erfolgen.  Ob  der  moderne  Walther  ein 
W altern s  Evesham  war,  der  1316  astronomische  Beobachtungen 
machte^),  ob  nicht  eher  Walter  Burleigh,  welcher  1337  starb,  und 
welcher  über  Formen  schrieb '')  —  ein  Gegenstand  damaliger  Forschung, 
von  dem  wir  gleich  zu  reden  haben  —  sei  dahingestellt.  Der  moderne 
Heinrich  ist  mit  grosser  Wahrscheinlichkeit  kein  Anderer  als  Hen- 
ricus Goethaels  von  Gent  oder  Gandavensis^),  welcher  1217 
bis  1293  gelebt  hat  und  als  Lehrer  der  Philosophie  in  Paris  sich  den 
Beinamen  des  Doctor  solemnis  (S.  113)  erwarb. 

Der  Begriff  der  Form  gehört  in  seiner  ausführlichen  Erörterung 
der  Geschichte  der  Logik  an,  genauer  gesprochen  der  Geschichte 
jener  Streitigkeiten,  in  welchen  so  viele  Geisteskraft  unfruchtbar  ver- 


^)  Nullum  indivisibile  malus  alio  esse.         *)  Omnia  continua  habere  atlwma 
infinita,  sed  ex  athomis  non  componi.  ^)  Omne  continuum  componitur  ex  in- 

finitis  continuis  eiusdem  speciei  et  habet  athoma  propria  inßnita.  "•)  Nullum 

continuum  ex  indivisihilibus  infinitis  integrari  vel  componi.  ^)  Max.  Curtze 
1.  c.  S.  92  Z.  4  V.  u.  6)  Ebenda  S.  88  in  der  Note  **.  ')  Prantl,  Gesch. 

Log.  m,  297.  ^)  Prantl,  Gesch.  Log.  III,  190  flgg.  und  Quetelet,  Histoire 
des  Sciences  mathematiques  et  physiques  chez  les  Beiges  (1864)  pag.  46  ügg.  Letz- 
teres Werk  citiren  wir  künftig  als  Quetelet  kurzweg. 


Englische  Mathematiker.  121 

braucht  wurde,  die  als  Streit  zweier  Gelehrtenschulen  ihren  Anfang 
nahmen,  und,  weil  Thomas  von  Aquino  und  Duns  Scotus,  welche 
jene  Schulen  gegründet  hatten,  den  beiden  auf  einander  eifersüchtigen 
Orden  der  Dominikaner  und  Franciskaner  augehörten,  in  einen  Streit 
der  beiden  Orden  selbst  ausarteten.  Es  war  eiu  Beispiel,  wie  solche 
im  Laufe  der  Geschichte  menschlicher  Geistesentwicklung  wiederholt 
vorgekommen  sind,  dass  wissenschaftliche  Meinungsverschiedenheiten 
mit  zufällig  vorhandenen  politischen  imd  religiösen  Gegensätzen  sich 
verquickend  zu  einer  heftigen  den  Streitpunkt  selbst  überdauernden 
Fehde  geworden  sind.  Duns  Scotus^),  der  1308  verstorbene  Francis- 
kaner, hatte  forma  diejenige  Denkweise  genannt,  welche  das  Vor- 
handensein des  gedachten  Gegenstandes  voraussetzt,  so  dass  dessen 
Sinneswahrnehmung  möglich  wird.  Die  Sinneswahruehmung  ist  eine 
wechselnde,  und  wechselnd  sind  die  Formen.  Eine  zeitliche  Reihen- 
folge findet  in  ihnen  statt,  so  dass  die  frühere  Form  auf  die  spätere 
wirkt,  und  ganz  besonders  die  Gradabstufung  der  Formen,  die  bald 
zu  grösserer  Vollkommenheit  sich  erheben,  bald  zu  allmählicher  Un- 
vollkommenheit  herabsinken,  ist  der  Beachtung  würdig.  Sie  äussert 
sich  vorzugsweise  bei  den  Formen  der  Natur:  Kälte  und  Wärme  sind 
ein  oft  und  gern  gebrauchtes  Beispiel.  Dort  heisst  die  Steigerung  und 
der  Nachlass  der  Formen,  deren  Vielheit  Glaubenssatz  ist,  intensio  et 
remissio  formarum.  Mit  dem  zuletzt  Ausgesprochenen,  d.  h.  mit 
einem  Gradunterschiede,  der  im  Formenbegrifie  hervortrete,  ist  nun 
auch  die  gegnerische  Schule  einverstanden,  aber  die  Form  selbst  sei 
eine  einzige,  und  gerade  das  Beispiel  des  Warmen  und  Kalten  diene 
als  Beweis.  So  der  Chronist  Aegidius  Romanus^),  f  1316. 
Wir  dürfen  den  Verlauf  des  Streites  nicht  genauer  verfolgen.  Nur 
einzelne  Namen  solcher  Schriftsteller  seien  genannt,  welche  bald  der 
einen,  bald  der  anderen  Richtung  huldigend  in  Frankreich  und  England 
über  die  intensio  et  remissio  formarum  schrieben:  ein  Antonius  An- 
dreas^) f  1320,  ein  Armand  von  Beauvoir*)  f  1334,  ein  Wal- 
ter Burlei gh^)  f  1337,  den  wir  oben  erwähnt  haben,  ein  Petrus 
Aureolus*^)  f  nicht  vor  1,345,  ein  Wilhelm  Occam'^  f  1347, 
ein  Johann  Baconthorp^)  f  1346.  Der  zuletzt  Angeführte  hat 
in  Oxford  und  Paris  Philosophie  und  Theologie  studiert,  hat  in  Paris 
mit  einer  Entschiedenheit,  die  in  dem  Beinamen  des  Doctor  resolutus 
(S.  113)  sich  geltend  machte,  seine  Lehrmeinungen  verfochten,  sowohl 
über  die  eine  nur  gradweise  verschiedene  Form,  als  auch  auf  einem 
anderen  nicht  weniger  dornenvollen  Gebiete.     Glaubte  er  doch  weder 

1)  Prantl,  Gesch.  Log.  III,  202  und  222.      ^)  Ebenda  EI,  263.      =*)  Ebenda 
III,  281.  ")  Ebenda  III,  309.  ^)  Ebenda  III,  297.  ^)  Ebenda  IH,  327. 

')  Ebenda  III,  361.         »)  Ebenda  III,  318  und  Suter,  Math.  Univ.  S.  49. 


122 


46.  Kapitel. 


all   Sterndeutung   nocli    au  Zauberei   uud    schrieb  gegeu  beide.     Nach 
Eugland  zurückgekehrt  wurde  er  Provinzial  des  Karmeliterordeus. 

Unter  den  Schriftstellern,  welche  über  das  Wachsen  und  Ab- 
nehmen der  Formen  sich  äusserten,  hätte  vielleicht  schon  im  45.  Kapiel 
Roger  Baco  genannt  werden  müssen,  für  welchen  eine  Handschrift 
eine  derartige  Abhandlung  in  Anspruch  zu  nehmen  scheint^).  Wir 
müssen  Gelehrten,  denen  die  Geschichte  der  Logik  als  Forschungs- 
gebiet angehört,  die  Beantwortung  der  Frage  überlassen,  ob  so  weit 
zurück  schon  von  Formen  die  Rede  gewesen  sein  kann;  uns  will  es 
mehr  als  zweifelhaft  erscheinen,  und  so  neigen  wir  eher  der  Meinung 
zu^),  es  sei  hier  eine  falsche  Benennung  vorhanden,  und  der  eigent- 
liche Verfasser  der  Schrift  über  die  Linie  der  Zu-  und  Abnahme  der 
Formen  sei  nicht  Roger  Baco,  sondern  Roger  oder  Johann  oder 
Richard  Suicet  oder  Suisset  oder  Swinshed^)  gewesen.  Er 
soll  den  Namen  Swnished  von  einem  Cisterzienserkloster  Vinshed  auf 
der  Insel  Holy  Island  an  der  Küste  von  Northumberland  geführt 
haben,  wohin  er  sich  im  Alter  zurückzog.  Dem  Orden  selbst  ge- 
hörte er  seit  1350  an.  Sein  1520  in  Venedig  gedrucktes,  aber  schon 
nach  einem  Jahrhunderte  kaum  in  den  berühmtesten  Büchersamm- 
lungen aufzufindendes  Hauptwerk  führt  den  Titel  Calculator,  woraus 
Manche  einen  Beinamen  des  Verfassers  gemacht  haben.  Vom  Rechnen 
ist  trotz  des  Titels  keine  Rede.  Dagegen  heisst  die  Ueberschrift 
gleich  des  1.  Kapitels:  De  intensione  et  remissione,  woraus  ein  Schluss 
auf  den  allgemeinen  Inhalt  sich  ziehen  lässt.  Im  2.  Kapitel  De  diffor- 
mibus,  ein  Wort,  dessen  Bedeutung  uns  bald  klar  sein  wird,  befinden 
sich  zwei  Zeichnungen   (Figur  24  und  25),    die  wir  allerdings  nicht 


A  medium  non  qualificativum. 

Fig.  24. 


B  medium  qualificativum. 

Fig.  25. 


')  Suter,  Math.  Univ.  S.  49  Note  1  sagt  hierüber:  der  Catalogiis  Uhr. 
mspt.  Angl.  et  Hib.  (2.Th.  pag.  55)  enthält  unter  den  Mss.  des  Colleg.  Corp.  Christ. 
ein  solches  mit  Nro.  254  Vol.  I,  8,  betitelt  Bogerus  Bacon,  De  linea  intentionis 
et  remissionis.  Der  Katalog  von  Coxe  hat  Tractatus  Bogeri  Baconi  de  gradua- 
tione  rerum  compositarum  sive  de  linea  etc.  *)  Suter  1.  c.  hat  diese  Meinung 
ausgesprochen.  =*)  Vossius  pag.  78.  —  Kästner  I,  50—52.  —  Brucker,  Hi- 
storia  critica  philosopldae  (1743)  III,  849—853.  —  Suter,  Math.  Univ.  S.  47. 
Von  den  drei  im  Textegenannten  Vornamen ,  die  sämmtlich  vorkommen,  scheint 
Richard  der  richtige  zu  sein. 


Französische  Mathematiker.  123 

vollständig  verstehen,  welche  aber  immerhin  nur  die  Deutung  zu- 
lassen dürften,  dass  gewisse  Veränderungen  durch  Latitudines  ver- 
sinnlicht  werden  sollen.  Was  aber  unter  dem  Worte  latitudo  seit 
dem  XIV.  Jahrhunderte  verstanden  wurde,  wird  uns  gleichfalls  dem- 
nächst begegnen. 


47.  Kapitel. 
Französisclie  Matliematiker. 

Wir  gehen  nach  Frankreich  über.  Paris  war  im  XIV.  Jahr 
hunderte,  was  es  vorher  im  XIII.  gewesen  war,  die  geistige  Haupt- 
stadt der  wissenschaftlich  gebildeten  Welt.  Die  Zeit  nahte,  in  welcher 
dieses  Ueberge wicht  ein  Ende  nehmen  sollte,  aber  sie  war  noch  nicht 
da,  und  wenn  wir  in  unserer  doppelt  angeordneten,  nach  Ländern 
und  Jahren  sich  gliedernden  Uebersicht  mit  England  statt  mit  dem 
Lande,  zu  welchem  Paris  gehört,  den  Anfang  gemacht  haben,  so  war 
diese  Abweichung  von  der  eigentlich  richtigeren  umgekehrten  Reihen- 
folge uns  durch  einen  einzigen  Umstand  empfohlen:  Bradwardinus 
erscheint  nämlich  der  Zeit  nach  früher,  als  der  einzige  Franzose, 
welcher  in  mathematischem  Range  neben  ihn  zu  treten  hat,  als 
Oresme. 

Nicht  als  ob  Paris,  und  Paris  war  Frankreich^),  gar  keinen  an- 
deren Mathematiker  des  XIV.  Jahrhunderts  als  nur  Oresme  zu  nennen 
hätte;  aber  wie  in  England  unsere  Betrachtung  den  einen  Bradwar- 
dinus als  Mittelpunkt  anerkannte,  ganz  ähnlich  wird  sein  französischer 
Nebenbuhler  der  hervorragende  Vertreter  seines  Vaterlandes  sein. 

Am  Anfange  des  Jahrhunderts  begegnet  uns  Johannes  de 
Muris^)  mit  seinem  heimathlichen  Namen  Jean  deMeurs,  geboren 
etwa  1310  in  der  Normandie,  gestorben  nach  1360.  Er  war  ein  sehr 
fleissiger  Schriftsteller,  dem  die  verschiedensten  Wissensgebiete,  welche 
damals  zur  Mathematik  mit  eingerechnet  wurden,  zum  Danke  ver- 
pflichtet sind.  Er  schrieb  eine  Arithmetik  nach  Art  der  gleich- 
benannten  Schrift  des  Boethius,  wie  wir  vermuthen  dürfen,  für  solche. 


*)  Darin  macht  uns  nicht  irre,  dass  nach  einer  Handschrift  der  Bodley. 
Bibl.  Toulouse  als  vorwiegend  mathematische  Universität  gerühmt  wird.  Wie 
Suter,  Math.  Univ.  S.  36  bei  Anführung  jener  Handschrift  mit  Recht  bemerkt, 
ist  von  mathematischen  Leistungen  in  Toulouse  nicht  das  Mindeste  bekannt. 
*)  Poggendorff  H,  132.  —  Suter,  Math.  Univ.  S.  43.  —  Alfr.  Nagl,  Das 
Quadripartitum  des  Joannis  de  Muris  und  das  praktische  Rechnen  im  XIV. 
Jahrhundert.     Zeitschr.  Math.  Phys.  XXXIV,  Supplementheft  S.  135—146. 


124  47.  Kapitel. 

denen  die  Arithmetik  des  Jordanus  zu  schwer  war,  und  die  Bearbeitung 
des  Johannes  von  Muris,  welche  auch  1515  im  Drucke  erschien,  blieb 
Jahrhunderte  lang  ein  vielgebrauchtes  Schulbuch^).  In  der  Musik 
vervollkommete  er  die  Noten,  indem  er  die  Stufenzeichen  mit  Zeit- 
zeichen versah^);  die  Abhandlung  Speculum  musicae  stammt  aus  dem 
Jahre  1321.  Von  einem  theils  in  Versen,  theils  in  Prosa  geschrie- 
benen Werke:  Quadriparütum  rimatum  sind  mehrere  Handschriften 
erhalten,  darunter  eine  aus  dem  XIV.  Jahrhundert  selbst,  also  der 
Lebenszeit  des  Verfassers  sehr  nahestehend.  Aus  dieser  in  Wien  be- 
findlichen Handschrift  sind  zwei  Kapitel,  das  11.  und  14.  des  IL  Buches, 
im  Drucke  veröffentlicht^).  Darnach  scheint  das  Quadripai-titum  unter 
Anderem  auch  das  Rechnen  mit  ganzen  Zahlen  gelehrt  zu  haben, 
wobei  die  Unterstützung  des  Rechners  durch  ein  Rechenbrett  an 
Zeiten  erinnert,  welche  damals  doch  schon  recht  weit  zurück  lagen. 
Beim  Multipliciren  soll  beachtet  werden,  in  welchen  Kolumnen,  etwa 
der  ÄJj*®"^  und  \*'^^,  die  beiden  Factoren  sich  befinden.  Die  Einer  des 
Productes  kommen  dann  in  die  \  +  Jc^  —  1*^  Kolamne.  Aber  ausser 
der  Stelle  ist  auch  die  eigentliche  Ziffer  zu  beachten  nebst  ihrer  Ver- 
änderung bei  Vereinigung  der  einzelnen  Theilproducte,  und  dazu 
dient  eben  das  Rechenbrett  (tabula  numerorum  quam  abacus  adin- 
venit)  die  Erfindung  von  Abacus*),  aus  welchem  Worte  hier  ein 
Personennamen  geworden  ist,  wie  es  anderwärts  mit  Algebra  (Bd.  I, 
S.  672)  ungefähr  um  die  gleiche  Zeit  geschah.  Das  Rechenbrett  be- 
steht bis  aus  27  Kolumnen  (Bd.  I,  S.  837),  doch  begnügte  Johannes 
de  Muris  sich  damit,  neun  solcher  Kolumnen  zu  benutzen,  welche  er 
oben  durch  einen  kleinen  Bogen,  arcus,  abschliesst.  Er  schreibt  dabei 
in  die  Bogen,  rechts  anfangend  und  nach  links  fortschreitend,  die 
Zahlen  1  bis  9  und  unter  jeden  Bogen  von  oben  nach  unten  fort- 
schreitend die  Zahlen  1  bis  9,  welche  folglich  in  jeder  Kolumne 
schon  geschrieben  vorhanden  sind.  Wird  nun  beispielsweise  365  mit 
24  vervielfacht^),  um  zu  erfahren,  wie  viele  Stunden  in  einem  Jahre 
enthalten  sind,  so  soll  man  so  verfahren.  2  mal  3  sind  6  und  zwar 
in  der  2  -f-  3  —  1  =  4*®'^  Kolumne.  Man  nimmt  einen  Rechenstein 
(calculus)  und  bedeckt  damit  die  6  der  4.  Kolumne.  2  mal  6  sind  12. 
Man  bedeckt  die  2  der  3.  Kolumne  mit  einem  neuen  Rechenstein, 
hebt  den  über  der  6  der  4.  Kolumne  auf,  weil  sie  mit  1  zu  vereinigen 
ist,  und  bedeckt  die  7.  2  mal  5  sind  10.  Man  hebt  den  Rechen- 
steiu  über  der   2   der  3.  Kolumne   auf  und   bedeckt  dafür  die  3  der 


')  Günther,  Unterricht  MitteLi.  S.  183,  Note  1.  ^)  Poggendorff  1.  c. 
•■')  Nagll.  c.  hat  die  Veröffentlichung  unter  Vorausschickung  einer  kurzen  Ein- 
leitung besorgt.         ^  Ebenda  S.  140  und  144.         '")  Ebenda  S.  145. 


Französische  Mathematiker.  125 

gleichen  Kolumne,  weil  eine  1  dort  hinzukam.  So  liegen  jetzt  die 
beiden  Rechensteine  der  Art,  dass  sie  7300  bedeuten.  Nun  wird  die 
Darstellung  kürzer^).  Man  soll  mit  der  zweiten  und  letzten  Stelle 
des  Multiplicators  4  —  denn  mehr  Stellen  sind  eben  nicht  vorhanden  — 
den  ganzen  Multiplicandus  der  Reihe  nach  vervielfachen.  Zuletzt 
werde  8760  erscheinen,  wenn  man  sich  die  Rechensteine  ansehe, 
welche  über  den  Zahlzeichen  liegen^).  Im  Folgenden  wird  alsdann 
eine  kurze  Anweisung  gegeben,  wie  man  8760  durch  24  dividiren 
solle.  Auch  hier  zerfällt  das  Verfahren  in  zwei  Theile;  man  fragt 
nach  der  Kolumne,  in  welcher  die  Quotientenziffer  zu  erscheinen  hat 
und  nach  der  Quotientenziffer  selbst;  beim  Abziehen  der  Theilproducte 
bedient  man  sich  wieder  der  zu  verschiebenden  Rechensteine.  Der 
Gegensatz  gegen  die  ältere  Benutzung  von  mit  Zahlzeichen  versehenen 
Rechensteinen,  während  jetzt  die  Zahlzeichen  in  jeder  Kolumne  vor- 
räthig  erscheinen  und  die  Steine  selbst  ohne  Bezeichnung  sind,  ist 
sehr  bemerkenswerth.  In  der  Frage  der  nothwendigen  Verbesserung 
des  Kalenders  ist  Johannes  de  Muris  als  einer  der  Ersten,  und  wenn 
die  Angabe  von  Baco's  Vorgang  auf  diesem  Gebiete  (S.  96)  unzu- 
verlässig sein  sollte,  als  der  Erste  überhaupt  zu  nennen,  der  1337  mit 
bestimmten  Vorschlägen  hervortrat"),  die  dahin  gipfelten,  man  solle, 
um  den  wirklichen  und  den  kalendermässigen  Frühlingsanfang  in 
Uebereinstimmung  zn  bringen,  etwa  40  Jahre  lang  die  Schalttage 
ausfallen  lassen. 

Hierbei  sei  gelegentlich  bemerkt,  dass  für  Johann  von  Muris 
gleich  wie  für  die  Uebrigen,  welche  die  Kalenderverbesserung  von 
nun  an  dringender  und  immer  dringender  verlangten,  zunächst  kein 
wissenschaftlicher  Grund  der  bestimmende  war.  Ob  Sommer  und 
Winter  in  vorauszusehender  Frist  in  kalendermässigem  Gegensatze  zu 
den  wirklichen  Jahreszeiten  erscheinen  würden,  das  kümmerte  diese 
Männer  viel  weniger,  als  die  Sorge,  es  könne,  wenn  man  aufhöre, 
darauf  zu  achten,  dass  Ostern  stets  auf  die  Zeit  des  Vollmondes  falle, 
irgend  einmal  auf  Charfreitag  eine  Sonnenfinsterniss  eintreten,  und 
es  möchte  dann  die  wunderbare  Sonnenfinsterniss  beim  Kreuzestode 
des  Heilandes,  von  welcher  der  Evangelist  berichtet,  für  eine  natür- 
liche erklärt  werden.  Auch  der  Umstand,  es  könnten  durch  die  Un- 
richtigkeit des  Kalenders  die  gebotenen  Fasttage  nicht  eingehalten 
werden,  wirkte  auf  die  Gemüther  und  erklärt  eine  bis  zur  Erregung 


*)  Sicut  de  ultima  figura  multiplicantis  in  omnes  multixUicandi  iam  operatus 
sum,  sie  de  alia  id  est  prima  multiplicantis,  cum  plures  modo  non  sint,  in  aliarum 
singulas  operubor.  ^)  aspectis  calculis  super  mimeros  situatis.  ^)  Schubring, 
Zur  Erinnerung  an  die  gregorianische  Kalenderreform  (1883)  S.  7,  wo  auch  die 
Quelle  für  unsere  Darstellung  der  Gründe  der  Kalenderreform  ist. 


126  ^7.  Kapitel. 

sich  steigernde  Sorge  um  Abstellung  des  einmal  erkannten  Miss- 
standes. Waren  es  sonach  kirchliche  Bedenken,  die  zur  Kalender- 
reform führten,  so  waren  es  andere  kirchliche  Bedenken,  die  sich  dem 
Verlangen  widersetzen  Hessen.  Man  fürchtete,  es  möchten  nach  ge- 
troffener Veränderung  die  alten  Messbücher  nicht  mehr  zu  benutzen 
sein,  und  es  brauchte  zwei  und  ein  halb  Jahrhunderte,  bis  diese 
Furcht  durch  Aufstellung  eines  vollständigen  für  denkbare  Zeit  aus- 
reichenden Reformplanes  beseitigt  war. 

Hier  dürfte  die  richtige  Stelle  sein,  einen  schwedischen  Magister 
Sunon,  vielleicht  richtiger  Sven^),  zu  erwähnen,  der  ohne  der  Pa- 
riser Universität  anzugehören  sich  1340  erbot,  in  seiner  Wohnung 
über  die  Sphäre  zu  lesen.  Im  Anschlüsse  an  diesen  aber  nennen  wir 
auch  gleich  einen  Norweger  des  XIV.  Jahrhunderts,  mag  er  nun 
irgend  eine  Zeit  in  Paris  zugebracht  haben  oder  nicht.  Es  ist 
Hauk  Erlendssön^),  geboren  um  1264,  f  1334,  ein  richterlicher 
Beamter,  welcher  einen  Algorismus  geti-eu  nach  dem  Muster  des  von 
Johannes  von  Sacrobosco  verfassten  zusammengestellt  hat,  der  nur 
darin  eine  Abweichung  zeigt,  dass  am  Schlüsse  die  neun  ersten  Quadrat- 
Lind  Kubikzahlen  angegeben  sind,  sowie  platonisch-naturphilosophische 
Erörterungen  über  die  Beziehungen  der  vier  Elemente  zu  den  Zahlen 
8,  12,  18,  27. 

Johannes  de  Lineriis^)  würden  wir  bei  der  trostlosen  Menge 
von  Unsicherheiten,  die  sich  an  diesen  ;Namen  knüpfen,  am  liebsten 
gar  nicht  zur  Rede  bringen.  War  er  ein  Picarde,  ein  Deutscher,  ein 
Sicilianer?  Muss  man  einen  Lehrer  Johannes  de  Liveriis  von 
seinem  Schüler  Johannes  de  Lineriis  (de  Ligneres)  unter- 
scheiden? Gehörten  beide  im  XIV.  Jahrhunderte  dem  Pariser  Lehr- 
körper an?  Das  sind  die  Hauptfragen,  welche  bald  so,  bald  so  ent- 
schieden worden  sind*).  Die  meisten  Schriften  dieses  Mannes,  oder 
wahrscheinlicher  dieser  Männer  sind  astronomischen  Inhaltes,  haben 
also  für  uns  unberücksichtigt  zu  bleiben.  Gedruckt  wurde  1483  eine 
Schrift  des  Johannes  de  Liveriis  über  Brüche^).  Zahlreiche  Hand- 
schriften nennen  freilich  den  Verfasser  des  Algorismus  de  minutiis 
Johannes  de  Lineriis,  so  dass  der  Titel  des  Druckes  irrig  zu  sein 
scheint.     In  einer  Erfurter  Handschrift  ist  der  Verfasser  genauer  als 


^)  Günther,  Unterricht  Mittela.  S.  206.  ^)  Eneströmin  seiner  Bihlio- 
theca  mathematica  1885,  S.  199.  ^)  Libri  II,  210  und  528.  —  Steinschneider 
im  Bulletino  Boncompagni  XU.  —  Günther,  Unterricht  Mittela.  S.  169 — 171.  — 
Suter,  Math.  Univ.  S.  42  und  46,  Note  6.  *)  M.  Steinschneider,  der  die 
letzten  eigenen  Untersuchungen  über  den  sehr  verworrenen  Gegenstand  angestellt 
hat,  entscheidet  sich  dafür,  es  seien  zwei  Persönlichkeiten  in  eine  verschwommen. 
^)  Bulletmo  Boneompagni  XII,  41  sqq. 


Französische  Mathematiker.  127 

Johannes  de  Lineriis  Anbionensis  bezeichnet,  wodurch  die 
französische  Heimath  dieses  Schriftstellers  und  seine  Verschiedenheit 
von  einem  Johannes  de  Lineriis  aus  Sicilien  gesichert  ist^).  Ausser- 
dem ist  ^ine  in  Oxford  vorhandene  Tabula  sinus  Mag.  Joh.  de  Lig- 
neriis namhaft  zu  machen,  weil  sie  den  bis  jetzt  einzigen  Beleg  dafür 
bildet,  dass  auch  in  Paris  im  XIV.  Jahrhunderte  die  Trigonometrie 
nicht  unbekannt  war. 

Eine  zu  Seitenstetten  aufbewahrte  Handschrift  aus  dem  XIV. 
Jahrhunderte  mit  der  Bezeichnung  Cod.  LXXVII  enthält  einen  ano- 
nymen Algorismus  de  minutiis,  d.  h.  also  einen  Lehrgang  der  Bruch- 
rechnung, welcher  sich  durch  eine  sonst  nirgend  wahrgenommene 
Erörterung  auszeichnet^).  Der  Verfasser  bemerkt  nämlich,  das  Kenn- 
zeichnende der  Sexagesimalrechnnng  bestehe  nicht  in  der  Zahl  60, 
sondern  in  der  systematischen  Anordnung.  Man  könne  statt  60  auch 
10  oder  12  und  dergleichen  benutzen,  und  60  sei  der  grossen  Anzahl 
seiner  Theiler  wegen  gewählt. 

Dominicusde  Clavasio^),  gewöhnlich  nach  seiner  Heimath  Do- 
minicus  Parisiensis  genannt,  war  in  der  zweiten  Hälfte  des 
XIV.  Jahrhunderts  Hofastrolog  des  Königs  von  Frankreich.  Er 
schrieb  eine  Practica  Geomctriae  in  drei  Büchern,  welche  sich  in 
zahlreichen  Abschriften  erhalten  hat.  In  Erfurt  allein  sind  deren 
vier,  von  welchen  eine  aus  dem  Jahre  1378.  Das  I.  Buch  be- 
handelt Längenmessungen,  das  IL  Flächenberechnungen,  das  III. 
Körperinhalte.  Dominicus  bedient  sich  in  Quadratform  gebrachter 
Messwerkzeuge  für  Winkel,  beziehungsweise  deren  trigonometrische 
Tangenten  (S.  112j.  Seine  Verfahren  sind  vielfach  die  altherge- 
brachten, die  Gerbert  schon  übte  (Bd.  I,  S.  812 — 814),  aber  Domi- 
nicus begnügt  sich  nicht  mit  Vorschriften,  sondern  fügt  Beweise 
hinzu,  in  welchen  Verweisungen  auf  Euklid  vorkommen.  Er  weiss, 
dass  der  Kreisumfang  nur  näherungsweise  Sy,  Durchmesser  beträgt 
(yel  ea  circa),  er  weiss,  dass  auch  von  einer  Quadratur  des  Kreises 
nur  soweit  die  Rede  sein  kann,  dass  kein  merklicher  Fehler  bleibt 
(ifa  qiiod  error  sensibilis  non  relinquatur).  Soll  die  Fläche  eines  un- 
gleichseitigen Dreiecks  auf  dem  Felde  bestimmt  werden,  so  schlägt 
Dominicus  vor,  man  solle  ein  ähnliches  Dreieck  auf  eine  Tafel  oder 
eine  Wand  (in  tabulis  suis  vel  in  pariete)  entwerfen,  dessen  Fläche 
mit  Hilfe  einer  auf  der  Zeichnung  gemessenen  Höbe  berechnen  und 


')  M.  Curtze  in  Zeitschr.  Math.  Phys.  XL,  Histor.-liter.  Abtlg.  S.  161  Note. 
^)  Curtze  brieflich.  =*)  Curtze  brieflich  unter  beigefügter  Hinweisung  auf 
Bulletino  Boncompagni  VIT,  3.50  Note,  wo  eine  Perspective  eines  Magister  de 
Clavasio  genannt  ist. 


128  17.  Kapitel. 

sich  danu  durch  Proportionen  helfen.  Wie  das  ähnliche  Dreieck 
herzustellen  sei,  ob  aus  den  Seitenlängen,  oder  ob  Dominicus  gar  an 
eine  dem  späteren  Messtische  verwandte  Vorrichtung  dachte,  ist  nicht 
angegeben.  Jedenfalls  erkennen  wir  in  Dominicus  de  Clav^sio  einen 
für  seine  Zeit  hervorragenden  Mathematiker. 

Wir  gelangen  zu  Nicole  Oresme^)  (ungefähr  1323 — 1382). 
Der  Name  kommt  in  sehr  verschiedenen  Formen  vor,  z.  B.  Orem, 
Horem,  Hören;  auch  für  den  Vornamen  findet  man  mitunter  Jean 
statt  Nicole  oder  Nicolas.  Ob  Oresme,  wie  eine  Ortssage  berichtet, 
in  dem  Dörfchen  AUemagne  bei  Caen,  ob  in  Caen  selbst  geboren  ist, 
steht  nicht  fest.  Jedenfalls  kommt  der  Name  Oresme  in  Urkunden 
der  Stadt  Caen  zu  sehr  verschiedenen  Zeiten  vor,  im  XIV.  und  noch 
im  XVII.  Jahrhunderte.  Im  Jahre  1348  trat  Oresme  in  das  College 
de  Navarre  in  Paris  ein,  dem  er  bis  1361  angehörte,  zuerst  als 
Schüler,  dann  als  Lehrer,  zuletzt  als  Vorsteher.  Da  die  Schüler  der 
Regel  nach  zwischen  dem  20.  und  30.  Lebensjahre  standen,  so  hat 
mau  daraus  auf  das  etwaige  Geburtsjahr  des  Oresme  schliessen  können. 
Auch  ein  Datirungsversuch  einiger  Schriften  ist  versucht  worden. 
Nach  den  Satzungen  des  College  de  Navarre  durfte  kein  Angehöriger 
desselben  in  anderer  Sprache  als  in  der  lateinischen  schreiben,  daher 
müssen  französische  Schriften  des  Oresme  nach  1361  entstanden  sein, 
während  natürlich  die  umgekehrte  Folgerung,  alle  seine  lateinischen 
Schriften  müssten  vor  1361  zurückgreifen,  nicht  gezogen  werden  darf. 
In  dem  genannten  Jahre  wurde  Oresme  zum  Decan  der  Kirche  zu 
Ronen  ernannt  und  musste  trotz  anfänglichen  Widerstrebens  seinen 
Wohnsitz  dort  nehmen.  Dort  trat  er  in  Beziehung  zu  Karl  V.  dem 
Weisen  von  Frankreich,  der  1337  geboren  und  seit  1356  Regent,  nicht 
Oresme's  Schüler  gewesen  sein  kann,  wie  man  sonst  annahm.  Auf 
Veranlassung  des  Königs  übersetzte  Oresme  mehrere  aristotelische 
Schriften  aus  den  schon  vorhandenen  lateinischen  Uebersetzungen 
in's  Französische.  Seine  Ausdrucksweise  in  dieser  letzteren  Sprache 
wird  sehr  gerühmt.  Auch  sein  Latein  war  vorzüglich,  und  eine  Pre- 
digt,   welche    er    am  Weihnachtsabend    1363    in    Aviguon    hielt    (the 

^)  Max.  Curtze  hat  diesen  Mathematiker  so  gut  wie  neu  entdeckt  und 
ihm  drei  Abhandlungen  gewidmet,  welche  wir  als  Curtze,  Oresme  I,  II,  III 
citiren  werden.  I.  Der  Alfjorismus  Proportionum  des  Nicolaus  Oresme  zimi  ersten 
Male  nach  der  Handschrift  R.  4".  2  der  Gymnas. -Bibliothek  zu  Thom  heraus- 
gegeben (1868).  IL  Zeitschr.  Math.  Phys.  XIII,  Supplementheft  S.  92—97.  HI.  Die 
mathematischen  Schriften  des  Nicole  Oresme  (1870).  —  Ein  Commentar  des 
Oresme  zu  den  Meteorologica  des  Aristoteles,  welchen  H.  Suter  in  der  Stifts- 
bibliothek zu  St.  Gallen  entdeckte  und  Zeitschr.  Math.  Phys.  XXVII,  Hist.-liter. 
Abthlg.  S.  121 — 125  zum  Theil  bekannt  machte,  scheint  sehr  interessant  für  die 
Geschichte  der  Physik  zu  sein. 


Französische  Mathematiker.  129 

Veranlassung  seines  Aufenthaltes  dort  ist  unbekannt),  und  in  welcher 
er  schonungslos  die  Schwächen  und  Fehler  des  Papstes  und  seiner 
Cardinäle  geisselte,  wird  als  nach  Form  und  Inhalt  vollendet  be- 
zeichnet. Ein  zweiter  Aufenthalt  in  Avignon  von  1366  ist  unwahr- 
scheinlich. Den  gleichen  Muth  wie  in  der  erwähnten  Predigt  legte 
Oresme  in  einer  1374  verfassten  Schrift  gegen  Astrologie  und  Zeichen- 
deuterei  an  den  Tag,  den  gleichen  in  einer  vielleicht  derselben  Zeit 
entstammenden  Schrift  gegen  die  Bettelorden.  Am  16.  November 
1377  wurde  Oresme,  unterstützt  von  dem  König,  zum  Bischof  von 
Lisieux  gewählt.  Als  solcher  starb  er  am  11.  Juli  1382.  Wann  der 
französisch  geschriebene  Traite  de  la  sphere  verfasst  ist,  lässt  sich 
ausser  durch  die  nothwendige  oben  begründete  Begrenzung  auf  die 
Zeit  nach  1361  nicht  bestimmen.  Das  in  50  Kapitel  zerfallende 
Werk  gehört  überdies  seinem  Inhalte  nach  nicht  hierher,  abgesehen 
davon,  dass  es  wesentlich  Neues,  was  nicht  auch  schon  in  dem  ähn- 
lich betitelten  Werke  Sacrobosco's  (S.  87)  gestanden  hätte,  kaum 
gebracht  zu  haben  scheint.  Neu  war  nur  die  Sprache,  diese  aber 
mustergiltig  für  alle  Zukunft,  so  dass  heute  noch  die  französischen 
Kunstausdrücke  der  Sternkunde  und  der  Erdbeschreibung  fast  durch- 
gängig die  von  Oresme  eingeführten  sind. 

Unter  Oresme's  mathematischen  Schriften  nennen  wir  zuerst  den 
Tractatus  de  latitudinibus  formarum.  Ob  er  vor  1361  ge- 
schrieben wurde,  während  Oresme  Lehrer  am  College  de  Navarre 
war,  ob  die  noch  zu  nennenden  mathematischen  Schriften  aus  dem 
gleichen  Zeiträume  stammen,  lassen  wir  dahingestellt.  Sicher  ist, 
dass  dieses  Werk  einen  mächtigen  Lehreinfluss  übte,  dass  es  1482, 
1486,  1505,  1515  im  Drucke  erschien  mit  einer  Raschheit  der  Auf- 
einanderfolge dieser  Ausgaben,  welche  die  Häufigkeit  der  Benutzung 
verbürgt.  Oresme  selbst  legte  offenbar  dem  Gegenstande  nicht  ge- 
ringere Wichtigkeit  bei,  da  er  ihn  noch  einmal,  und  wie  es  scheint 
ausführlicher  in  einem  handschriftlich  gebliebenen  Tractatus  de 
Uniformitate  et  difformitate  intensionum  behandelte^).  Der 
Anfang  dieses  erweiterten  Werkes  lautet:  „Bei  Ordnung  der  Erzeug- 
nisse der  Einbildungskraft  der  Alten  oder  meiner  eigenen  über  Gleich- 
artigkeit oder  Ungleichartigkeit  der  messbaren  Naturerscheinungen 
begegnete  mir  einiges  Andere,  was  ich  mit  hinzuzog."  Wer  sind 
die  Alten,  veteres,  welche  Oresme  hier  unzweideutig  als  seine  Vor- 
gänger bezeichnet?     Man   hat  die  Worte   auf  arabische  Schriftsteller 


^)  Curtze,  Oresme  III,  11—13  besonders  S.  12  Z.  6—8:  Cum  ymacjinacio- 
nem  veterum  vel  meam  de  uniformitate  et  difformitate  intensionum  ordinäre  in- 
cejnssem  occurerunt  mild  quaedam  alia  que  huic  proposito  interieci. 

Cantoij,  Geschichte  der  Mathem.    11.    2.  Aufl.  9 


130  47.  Kapitel. 

deuten  wollen^).  Wir  können  uns  dieser  Meinung  nicht  anschliessen, 
so  lange  der  logische  BegriiF  der  forma  noch  nicht  bei  Arabern  nach- 
gewiesen worden  ist,  wenn  wir  auch  anerkennen,  dass  Oresme  ihm 
zeitlich  so  nahe  stehende  Männer,  wie  etwa  einen  Suicet,  gewiss 
nicht  als  „Alte"  bezeichnet  haben  wird.  Wir  haben  bei  unserer 
Wiedergabe  der  Anfangsworte  einer  freieren  Uebertragung  uns  be- 
dienen zu  dürfen  geglaubt,  als  da  wir  (S.  120 — 121)  den  Spuren  des 
Formbegriffes  nachgingen,  aber  dass  wir  dem  Sinne  treu  geblieben 
sind,  ist  aus  jenen  Auseinandersetzungen  und  nicht  weniger  aus  dem 
zu  erkennen,  was  bei  Oresme  an  jene  Anfangsworte  sich  anschliesst. 
Dort  heisst  es  ungefähr-),  dass  das  Ausmaass  der  Erscheinungen 
(latitudines  formarum)  vielfältigem  Wechsel  unterworfen  sei,  und 
dass  solche  Vielfältigkeit  nur  sehr  schwer  unterschieden  werde,  wenn 
ihre  Betrachtung  nicht  auf  die  von  geometrischen  Figuren  zurück- 
geführt sei.  Das  klingt  fast  ebenso,  als  wenn  ein  Schriftsteller 
unserer  Tage  verspricht,  den  Verlauf  gewisser  Erscheinungen  durch 
eine  Zeichnung  zu  versinnlichen,  und  thatsächlich  ist  es  auch  das 
Gleiche.  Ausser  der  latitudo  kommt  regelmässig  eine  longitudo 
vor,  welche  das  vorstellt,  was  wir  heute  Abscisse  nennen,  während 
die  Latitudo  unserer  Ordinate  entspricht.  Als  Länge  wird  nämlich 
die  eine  Grösse  z.  B.  die  Zeit  aufgetragen,  welche  bei  den  in  Frage 
stehenden  Erscheinungen  als  veränderlich  auftritt,  und  senkrecht  zu 
der  Länge  als  Breite  zeichnet  man  das  an  jenen  Erscheinungen  als 
messbare  Menge  sich  Aeussernde,  z.  B.  die  Wärme.  Der  Unterschied 
auf  einander  folgender  Breiten  heisst  gradus  latitudinis.  Wo  gar 
keine  Breite  vorhanden  ist  oder,  wie  man  heute  sagen  würde,  wo 
die  Ordinate  Null  ist,  spricht  man  von  nou  gradus,  wo  sie  eine  be- 
stimmte Ausdehnung  besitzt,  von  certus  gradus.  Die  Erscheinung 
kann  nun  entweder  als  unveränderliche  sich  zeigen,  die  latitudo  ist 
uniforntis  eiusdem  gradus  per  totmn,  bleibt  einförmig  von  der  gleichen 
Ausdehnung  über  die  ganze  Länge  hin,  oder  aber  die  Erscheinung 
ist  eine  veränderliche,  die  latitudo  ist  difformis  per  qppositum,  miss- 
förmig  durch  den  Gegensatz.  Die  latitudo  secundum  se  totam  dif- 
formis zeigt  als  Verbindung  der  Endpunkte  aller  Breiten  eine  auf- 
oder  abwärts  gerichtete  krumme  oder  grade  Linie,  die  latitudo  secun- 
dum partem  difformis  besitzt  als  solche  Verbindung  theilweise  eine 
der  Längenlinie  parallele  Gerade.  Die  Veränderlichkeit  der  Breite 
kann  dieselbe  als  uniformiter  difformis   oder  als  difformiter  difformis 


1)  Suter,  Math.  Univ.  S.  48—49.  -)  Curtze,   Oresme  11,  92:  Quia  for- 

marum latitudines  multipliciter  variantur  et  multiplicitas  difficilUme  discernitur 
nisi  ad  figuras  geometrlcas  consideratio  referatur  etc. 


Französische  Mathematiker.  131 

erscheinen  lassen.  Im  ersten  Falle  ist  der  excessus  graduum,  welcher 
die  Veränderlichkeit  niisst,  immer  derselbe,  im  zweiten  nicht;  im 
ersteren  Falle  liegen,  würden  wir  sagen,  die  Endpunkte  der  Breiten 
auf  einer  geneigten  Geraden,  im  zweiten  auf  einer  eigentlichen  Curve. 
Unter  der  letzteren  Voraussetzung  können  die  excessus  graduum, 
welche  also  hier  ungleich  sein  müssen,  eine  arithmetische  Progression, 
die  latitudines  selbst  also  eine  arithmetische  Reihe  zweiter  Ordnung 
bilden.  Oresme  benennt  diese  latitudines  als  uniformiter  difformiter 
difformes  und  giebt  als  Beispiel  0,  1,  2,  4,  7,  11,  16,  22,  29,  37,  46, 
56,  67,  79,  wobei  allerdings  der  Anfang  mit  0  statt  mit  1  als  irrig 
erscheint.  Diese  Erläuterungen  sind  wohl  geeignet  rückwärts  einiges 
Licht  auf  die  Figuren  24  und  25  zu  werfen,  welche  wir  (S.  122) 
Suicet  entnahmen.  Wir  verstehen  jetzt  ihr  Vorkommen  in  einem 
Kapitel,  welches  die  Ueberschrift  De  diff'ormihus  führt.  Noch  einen 
Kunstausdruck  Oresme's  haben  wir  zu  erörtern,  die  figura.  Sie  wird 
gebildet  durch  zwei  latitudines,  das  Stück  longitudo,  welches  zwischen 
ihnen  sich  findet,  und  die  Verbindungslinie  der  Endpunkte  aller 
latitudines.  Diese  figura  wird  zum  mindesten  zwei  Winkel  besitzen, 
wenn  sie  mit  einem  non  gradus  beginnt  und  mit  einem  eben  solchen 
aufhört,  z.  B.  wenn  sie  aus  der  Längenlinie  und  einem  Kreisbogen 
besteht,  welch  letzterer  nicht  grösser  als  der  Halbkreis  sein  darf, 
eine  ganz  natürliche  Einschränkung,  ohne  welche  Curvenpunkte  auf- 
treten würden,  deren  Längen  rückwärts  vor  dem  Anfange  der  Längen 
sich  befinden  müssten,  während  von  solchen  negativen  Abscissen,  um 
wieder  den  heutigen  Ausdruck  zu  benutzen,  keine  Rede  sein  kann. 

Oresme  hat  den  ganzen  Gegenstand  in  drei  Abschnitten  be- 
handelt und  dabei  die  auftretenden  Figuren  geschildert.  Zuletzt  er 
geht  er  sich  in  einigen  Bemerkungen^),  auf  welche  wir  besonders 
aufmerksam  machen  müssen,  wenn  wir  auch  nicht  wissen,  ob  Oresme 
selbst  grosses  Gewicht  auf  sie  gelegt  hat.  Wird  die  Figur  durch 
einen  Kreisabschnitt  gebildet,  welcher,  wie  wir  sahen,  nicht  grösser  als 
der  Halbkreis  sein  darf,  so  wächst  in  ihr  die  latitudo  vom  Anfang 
bis  zur  Mitte  und  nimmt  dann  wieder  bis  zum  Ende  ab.  Bei  einer 
solchen  Figur  ist  die  Aenderung  der  Geschwindigkeit 
des  Wachsens  und  Fallens  am  obersten  Punkte  am  lang- 
samsten, dagegen  ist  die  grösste  Geschwindigkeit  der  Zunahme, 
beziehungsweise  der  Abnahme,  am  Anfang  und  am  Ende  der  Figur 
vorhanden.  Das  Verhältniss  zwischen  Form  und  Form  ist 
dasselbe  wie   zwischen  den  entsprechenden  Figuren. 

Unser  nothdürftiger  Auszug  wird,  denken  wir,  die  Tragweite  der 


1)  Curtze,  Oresme  II,  96. 


132  47.  Kapitel. 

Untersuchungen  des  Oresme  und  seiner  Vorgänger,  gleichviel  wer  sie 
waren,  und  wie  viel  einem  Jeden  angehört,  erkennen  lassen.  Wir 
sehen  hier  eine  curvenmässige  Darstellung  des  Verlaufes  von  Natur- 
erscheinungen vor  uns.  Wir  sehen  die  Anwendung  von  Coordinaten, 
d.  h.  von  gewissen  in  allen  Fällen  gleichmässig  benutzten,  an  sich 
willkürlichen  Linien,  welche  also  keineswegs  jenen  Hilfslinien  zu 
vergleichen  sind,  deren  die  griechischen  Geometer  des  grossen  Jahr- 
hunderts, die  Archimed  und  ApoUonius,  sich  bedienten.  Wohl  haben 
auch  jene  gewisse  Hilfslinien  in  einer  ganzen  Anzahl  von  Beweis- 
führungen gezogen  und  dadurch  die  Beweise  gleichmässiger  zu  machen 
gewnsst,  aber  es  waren  Linien,  die  den  Curven,  um  deren  Eigen- 
schaften es  sich  handelte,  schon  angehörten,  welche  zweckmässig 
auszuwählen  eine  Entdeckung  genannt  werden  mag,  keine  Erfindung 
war.  Nur  die  geographische  Länge  und  Breite  kann  als  Vorbild 
gedient  und  die  Wahl  der  Kunstausdrücke  beeinflusst  haben.  Haben 
wir  bis  hierher  verhüten  wollen,  dass  man  das  Neue  an  den  latitu- 
dines  unterschätze,  so  ist  nicht  minder  vor  Ueberschätzung  zu  warnen. 
Die  Lehre  von  den  latitudines  ist  keineswegs  der  Methode  der  späteren 
analytischen  Geometrie  gleich  zu  achten.  Ihr  fehlt  das  Entscheidende 
jener  Methode:  neben  der  begrifflichen  Uebereinstimmung  zwischen 
analytischer  Formel  und  geometrischer  Form  die  Möglichkeit  von  der 
Einen  zur  Anderen  überzugehen,  in  welcher  Richtung  man  wolle, 
und  auch  nachdem  gewisse  Zwischenschlüsse  nur  innerhalb  der  einen 
Vorstellungsreihe  vorgenommen  wurden.  Auch  die  zuletzt  oben  im 
Drucke  hervorgehobenen  Stellen  ändern  nichts  an  dieser  Beschränkung. 
Oresme's  Augen  offenbarte  sich  die  Wahrheit  des  Satzes,  den  man 
300  Jahre  später  in  die  Worte  kleidete:  an  den  Höhen-  und  Tief- 
punkten einer  Curve  sei  der  Differeutialquotient  der  Ordinate  nach 
der  Abscisse  Null;  dass  er  ihn  bewiesen,  nur  nach  einem  Beweise 
sich  umgethan  hätte,  davon  ist  keine  Spur  zu  entdecken,  und  erst 
mit  dem  Beweise  wurde  das  scharfsinnige  Sehen  zum  tiefsinnigen 
Verstehen.  So  ist  uns  die  Methode  Oresme's  eine  Vorläuferin  der 
analytischen  Geometrie.  Sie  wird  den  Erfindern  derselben,  wenn  sie 
ihnen  bekannt  war,  die  wesentlichsten  Dienste  geleistet  haben,  min- 
destens eben  so  wesentliche  als  das  Studium  der  griechischen  Curven- 
lehre,  wenn  auch  von  ganz  anderer  Seite  her,  aber  eine  Erfindung 
blieb  noch  immer  zu  machen. 

Eine  weitere  mathematische  Abhandlung^)  Oresme's,  welche  1505 
in  Venedig  zugleich  mit  dem  Tractatus  de  latitudinibus  im  Drucke 
erschien,  ist  der  Tractatus   proportionum.     Wir  können  rasch 


^)  Curtze,  Oresme  III,  4—6. 


Französische  Mathematiker.  133 

an  ihm  vorübergehen,  da  sein  Inhalt  ein  längeres  Verweilen  zu  be- 
anspruchen nicht  angethan  ist.  Es  handelt  sich  um  Addition  und 
Subtraction  von  Verhältnissen,  den  bekannten  Kunstausdrücken,  statt 
deren  richtiger  von  Multiplication  gesprochen  worden  wäre,  da  sie 
a  :  &  mit  c  :  d  vereinigend  ac  :hd  hervorbringen  und  nur  darin  sich 
unterscheiden,  dass  die  zu  vereinigenden  Verhältnisse  das  eine  Mal 
beide  direct  oder  beide  indirect  sind,  das  andere  Mal  Eines  direct 
und  Eines  indirect.  Dergleichen  Ausdrücke  hat  sich  Jordanus  im 
fünften  Buche  seiner  Arithmetik  bedient,  während  der  Anhang  zum 
Algorithmus  demonstratus  (S.  67),  wie  wir  hier  bei  passenderer  Ge- 
legenheit ergänzen  wollen,  eine  andere  Redewendung  gebraucht  und 
nur  von  einer  Proportion  spricht,  die  aus  zwei  anderen  zusammen- 
gesetzt ist^).  Dann  kommen  bei  Oresme  mittlere  Proportionalen  zur 
Rede,  hierauf  Verhältnisse  von  Verhältnissen,  endlich  in  den  drei 
letzten  Kapiteln  Verhältnisse  von  Bewegungen  überhaupt  und  Be- 
wegungen der  Himmelskörper,  sowie  die  gegenseitige  Messbarkeit 
solcher  Bewegungen. 

,  Ein  Werk  von  ganz  anderer  wissenschaftlicher  Bedeutung  ist  der 
Algorismus  proportionum  ^).  Drei  Abschnitte  bilden  den- 
selben. Der  1.  Abschnitt  beginnt  mit  Definitionen,  was  man  unter 
halbem,  doppeltem,  anderthalbfachem  u.  s.  w.  Verhältnisse  verstehe. 
Die  Bedeutung  ist  die  der  Quadratwurzel,  des  Quadrates,  der  Quadrat- 
wurzel aus  dem  Kubus  u.  s.  w.  unter  einer  bestimmten,  wenngleich 
nirgend  ausgesprochenen  Voraussetzung,  dass  nämlich  das  Vorderglied 
grösser  sei  als  das  Folgeglied.  Im  entgegengesetzten  Falle  ist  nie 
von  proportio,  sondern  nur  von  fractio  die  Rede.  So  ist  z.  B. 
4^  =  64,  1/64  =  8,  also  steht  8  zu  4  in  anderthalbfachem  Verhält- 
nisse.    Heute   schreibt  man   8  =  4",  Oresme  schrieb 


1^1    4     oder      It^    4. 


Er  war  somit  der  Erfinder  der  Potenzgrössen  mit  gebroc^'henen 
Exponenten  und  einer  Bezeichnung  derselben,  welche  der  viel 
später  eingeführten  Schreibweise,  deren  man  heute  sich  bedient,  dem 
Begriffe  nach  gleichkommt.  Ein  Verhältniss  zweier  ganzer  Zahlen, 
die  als  solche  gegeben  sind,  z.  B.  13  :  9,    wobei    die    erste  Zahl   die 

zweite    um  —  übertrifi't,    ist    rational^).     Irrational    ist    ein  Ver- 


*)  Si  proportio  primi   ad  secundum   constituitur    ex   proportione   tertii   ad 
quartum  et  quinti  ad  sextum.  *)  Der  erstmalige  Abdruck  der  in  zahlreichen 

Abschriften  erhaltenen  Abhandlung  bei  Curtze,  Oresme  I.  ^)  Et  quecunque 


134  47.  Kapitel. 

hältniss,  bei  welchem  ein  gebrochener  Exponent  auftritt.  Wir  haben 
(S.  117)  Bradwardinus  im  Besitze  dieses  Wortes  gesehen,  und  wenn 
es  sich  auch  weder  bei  Bradwardinus  noch  bei  Oresme  um  das  Erst- 
lingsrecht der  mathematischen  Benutzung  von  irrational  handelt,  so 
lässt  das  doppelte  Vorkommen  eine  sehr  rasche  Verbreitung  ver- 
muthen.  Neue  Regeln  lehren  nun  das  Rechnen  mit  rationalen  sowie 
mit  irrationalen  Verhältnissen.  Addition  und  Subtraction  der  Ver- 
hältnisse in  dem  Sinne,  wie  jene  auch  im  Tractatus  proportionum 
vorkommen,  bilden  die  beiden  ersten  Regeln.  Die  dritte  RegeP) 
lässt  gleich  den  übrigen  sich  nur  sehr  schwer  aus  ihrem  Wortlaute 
verstehen,  während  die  überall  vorhandenen  Zahlenbeispiele  den  wenn 
auch   nicht   mühelos    zu    benutzenden   Schlüssel    in    die  Hand  geben. 

Setzt  2)  z.  B.  die  dritte  Regel  4-'  =  (4^)^=  16^,  so  ist  der  Zusatz, 
genau  so  müsse  man  bei  anderen  Zahlen  verfahren,  sicherlich  mit 
dem  Sinne  verbunden 


(«»)"', 


wozu   die  Folgerung  sich  noch  beifügt^),   es  sei  [a'P  =^  ci'  und   all- 
gemein 


(.^)S 


Ohne  dem  Texte  weiter  genau  uns  anzuschliessen,  begnügen  wir  uns 
mit  der  Angabe  der  sechs  übrigen  Regeln  in  den  Zeichen  heutiger 
Buchstabenrechnung : 

p  1  1 

ycT)'^  =  \a"'y  =  \«'V  *  -unter  der  Voraussetzung   —  =  — , 


h"  =  {a"  -h)"  , 


1 

a 

1 

p 

poHio  rationalis  scribitur  per  suos  terminos  sev  numeros   ininwws,  sicut  dicitur 
proportio.     13.  ad.  9.  qiie  vocatur  supopartiens  quatuw  nonas. 

^)  Si  proportio  irrationalis  fuerit  partes  alicuius  rationalis,  ipsam  possibile 
est  partem  notare.  *)  Proponatur  propoHio,  que  sit  due  tertie  quadruple;  et 
quia  duo  est  numerator,  ipsa  erit  una  tertia  quadruple  duplicate  seu  sedecuple, 
et  sie  de  aliis.  ^  I)u£  tertie  suhduple  proportionis  sunt  una  tertia  duple.  Et 
sie  de  quihuslihet  partibus. 


Französische  Mathematiker.  135 

und  unter  Anwendung  dieses  Satzes 

a^.h"  =  {aby. 
Das    Zahlenbeispiel ^)    zur  Regel    a  ■  h"  =  (^a«  •  6J"    lautet  folgender- 

massen:    2-^  .  y  =  ( 2  •  (— j  j  =  (y)'=  (*^t)  '     ^^^^^^    ^^^S^    sich 

in  diesem  ganzen  Abschnitte  einestheils  als  bewandert  in  der  Arith- 
metik des  Jordanus,  auf  welche  er  gleich  bei  der  ersten  Regel  sich 
beruft,  und  der  er  in  der  Anwendung  von  Buchstaben  als  Vertreter 
allgemeiner  Zahlen  nacheifert^),  er  geht  aber  anderntheils  so  weit 
über  seinen  Vorgänger  hinaus,  dass  ihm  selbst  erst  nach  mehreren 
Jahrhunderten  Nachfolger  entstehen.  Oresme  fühlt  auch  ganz  gut 
das  Unzutreffende  in  der  Redewendung  Addition  und  Subtraction  von 
Verhältnissen;  er  wendet  sie  nur  an,  weil  er  eben  einer  einmal  ein- 
gebürgerten Ausdrucks  weise,  sei  sie  auch  falsch,  entgegenzutreten  für 
misslich  hält.  Er  empfindet,  dass  man  eine  Multiplication  von  Ver- 
hältnissen zu  fordern  berechtigt  wäre,  während  er  keine  Operation 
sieht,  welche  dieses  Verlangen  erfüllte^).  Verhältnisse,  sagt  er,  kann 
man  nicht  miteinander  vervielfachen,  so  wenig  als  man  die  Multipli- 
cation eines  Menschen  mit  einem  Esel  vollziehen  kann^).  Der  2.  Ab- 
schnitt enthält  Anwendungen  der  im  1.  Abschnitte  gegebenen 
Regeln.  Zuerst  ist  von  dem  Verhältnisse  von  Würfeln  die  Rede, 
welches,  um  in  der  Sprache  Oresme's  zu  bleiben,  als  das  Andert- 
halbfache des  Verhältnisses  der  Grundflächen  sich  berechnet.  Ein 
Würfel  a  habe  eine  zweimal  so  grosse  Grundfläche  wie  der  Würfel  &, 

eine  dreimal  so  grosse  wie  der  Würfel  c,   dann  ist  a  so  viel  wie  8^ 

/27\"? 

von  h,  und  h  ist  1^1     von  c.     Das  Vorkommen  eines   Schreib-   oder 

Rechenfehlers,  miteis  dessen  h  als  (-';-)  von  c  angesetzt  wird,  kann 
kaum  überraschen,   da  wir  volles   Recht  haben  zu  zweifeln,   ob   der 

^)  Addatwr  una  tertia  duple  proportiotie  sesquialtere ;   continuentur  ergo  3 
sesquialtere    cum    dupla   et   exibit   proportio    seoctupla    superpartiens   —    que   est 

proportio  27  ad  4.  Et  ista  proportio  sie  resultans  scribitur  sie  y  •  6^  •  -j- ' 
*)  So  bei  der  9.  Regel:  si  tertia  pars  a  addatur  tertie  parti  b  exibit  tertia 
pars  illius  quod  fieret  ex  additiotie  a  ad  b.  ^)  Una  vero  proportio  per  altera  m 
non  multiplicatur    nee  dividitur  nisi  inproprie.  ^)  sicut  nee  muUiplicare  ho- 

minem  per  asinum. 


136  47.  Kapitel. 

Abschreiber  überall  verstand,  fähig  war  zu  verstehen,  was  er  schrieb. 
Aehnlich  wie  bei  den  Würfeln  mit  gegebenen  Grundflächen  ist  die 
Verhältnissmässigkeit  bei  Kugeln  mit  gegebenen  Grösstenkreisen.  Eine 
musikalische  Aufgabe  ist  folgende.  Es  seien  h  und  c  die  Seiten 
zweier  Quadrate,  a  =  c  •  ]/2  die  Diagonale  des  ersten  Quadrates.  Nach 
Boethius  ^)  geben  über  h  und  c  gespannte  Saiten  Töne  von  einem 
Halbton  Unterschied,  wenn  a  :b  =  256  :  243  oder 

c:h  =  y^  :  y243"2 


d.h.  =]/32768  :y59Öi9.  Auffallend  genug  ist,  dass  das  Verhält- 
niss  des  grösseren  zum  kleineren  Quadrate  nicht  einfach  als  das  von 
59049  :  32768  bezeichnet  wird,  sondern  als  das  halbe  Verhältniss 
(d.h.  Verhältniss  der  Quadratwurzeln)  aus  3486784401  und  1073741824. 
Oresme  schiebt  jetzt  plötzlich  wieder  eine  Regel  ein.  Er  nimmt  als 
bekannt  an  a  :h  =  c  :  1,  ferner  d  =  e  ■  a,  f=(/-b,  endlich  h  als 
Verhältniss  zwischen  g  und  e  und  sucht  nun  das  Verhältniss  zwischen 
d  und  f  zu  bestimmen.  Dabei  sind  drei  Fälle  zu  unterscheiden:  e  =  g, 
6  >  ö';  9>ß-  Idi  ersten  Falle  ist  d:f=^a:h  sofort  ersichtlich. 
Im  zweiten  Falle  ist  e  :  g  =  h  :  1,  ausserdem  a  :h  =  c  :  1  und  durch 
Addition  (Vereinigung)  der  beiden  letzteren  Proportionen  ae:hg  =  ch:l 
d.  h.  d:  f  =  ch  :  1.  Der  dritte  Fall  g  :  c  =  h  :  1  unterscheidet  selbst 
wieder  die  drei  Unterfälle  c  =  h,  c  >  //,  Ji  >  c.  Ist  c  =  h,  so  ist 
a  :h  =  g  :  e,  ea  ^=  gh  d.  h.  d  =  f.  Ist  c':>h,  so  ist  a:h  =  c:\, 
g  :  e  =  h  :  1  und  durch  Subtraction  der  Verhältnisse  ae  :  hg  ^  c  :  h 
d.  h.  d :  f  =  c  :  li.  Endlich  bei  Jt^  c  findet  die  Subtraction  der 
Proportionen  im  entgegengesetzten  Sinne  statt,  es  folgt  hg:ae  =  ]i  '.c 
oder  f:d^^1i  :  c.  Dem  heutigen  Leser  wird  die  Nothwendigkeit  der 
Unterscheidung  aller  dieser  Fälle  nur  dann  einleuchten,  wenn  er  sich 
stets  in  Erinnerung  hält,  dass,  wie  oben  gesagt  wurde,  ein  Verhält- 
niss nur  von  dem  Grösseren  zum  Kleinereu  angenommen  wird,  nie 
umgekehrt.  Anwendungen  für  diese  Auseinandersetzung  findet  Oresme 
in  Aufgaben,  welche  eine  Subtraction  von  Verhältnissen  bei  ihrer 
Lösung  erfordern.  Wir  übergehen  ein  Beispiel,  welches  dem  Zahlen- 
kampf genannten  Spiele  entnommen  ist,  ohne  mehr  darüber  zu 
sagen,  als  dass  es  immerhin  bemerkenswerth  erscheint,  dass  jenes 
Spiel,  über  welches  ein  gewisser  Fortolfus  um  das  Jahr  1100  eine 
Abhandlung  schrieb"),  auch  250  Jahre  später  noch  in  Uebung  war. 
Dagegen  führen  wir  die  Aufgabe   an,   das  Verhältniss  der  dreifachen 


^)  Oresme  meint,  wie  Curtze,  Oi'esme  II,  75  Note  richtig  bemerkt  hat,  die 
Stelle  Boethius:  De  institutione  inusica  I,  17  (ed.  Friedlein  pag.  204  Z.  8 — 9). 
2)  R.  Peiper  in  Zeitschr.  Math.  Phys.  XXV,  Supplementheft  S.  210. 


Deutsche  Mathematiker.  137 

Diagonale  eines  Quadrates  zu  dessen  vierfacher  Seite  zu  finden.  Hier 
ist,  wenn  a  die  Seite,  d  die  Diagonale  bedeuten  soll,  3f?:a  =  3")/2  :1 
neben    4a:a  =  4:l,     Subtraction    der    zweiten   Proportion    von    der 

ersten    giebt    3f7 :  4«=  3"|/2  :  4  =1/--- :  1.     In    den   beiden    letzten 

Aufgaben  des  Abschnittes  handelt  es  sich  um  die  Ermittelung  des 
Verhältnisses  zweier  Geschwindigkeiten,  nämlich  derer  zweier  Punkte, 
die  einmal  die  Umfange  zweier  Kreise  von  gegebenem  Grössenver- 
hältnisse,  das  andere  Mal  die  Diagonale  und  die  Seite  eines  Quadrates 
in  gegebenen  Zeiten  durchlaufen.  Der  3.  Abschnitt  beschäftigt 
sich  mit  regelmässigen  Sehnen-  und  Tangentenvielecken  desselben 
Kreises.  Derartige  Dreiecke  und  Vierecke,  Sechsecke  und  Achtecke 
werden  ihren  Flächen  nach  in  Verhältniss  gesetzt.  Der  letzte  Satz 
dieser  Gruppe  sagt  aus^),  das  Sehnenachteck  sei  mittlere  geometrische 
Proportionale  zwischen  dem  Sehnen-  und  Tangentenvierecke,  und  eine 
Handschrift  des  Algorismus  proportionum  fügt  noch  hinzu  ^),  was 
vom  Achtecke  ausgesagt  sei,  gelte  auch  von  anderen  Figuren.  Wir 
erinnern  uns  des  gleichen  Satzes  mit  der  gleichen  Ausdehnung  bei 
Jordanus  Nemorarius  (S.  78).  Den  Schluss  des  Ganzen  bildet  eine 
kürzere  Untersuchung  über  die  sogenannten  Aspecten  und  ihre  Ver- 
hältnisszahlen, zeigt  also  Oresme  als  auch  in  astronomischen  Dingen 
nicht  ganz  unerfahren,  zeigt  zugleich  ebenso  wie  die  mechanischen 
Aufgaben  des  2.  Abschnittes  eine  immerhin  vorhandene  Gedanken- 
verwandtschaft zwischen  dem  Tractatus  proportionum  und  Theilen 
des  2.  und  3.  Abschnittes  des  Algorismus  proportionum,  so  hoch  der 
letztere  über  dem  ersteren  stand.  In  ihm  hat  Oresme  einen  Gipfel- 
13unkt  erreicht,  der  so  weit  über  das  Vorherbekannte  sich  erhob,  dass 
gespannte  Erwartung  sich  äussern  darf,  nach  welcher  Richtung  der 
nächste  Fortschritt  sich  vollziehen  werde. 


48.  Kapitel 
Deutsche  Mathematiker. 

Jetzt  grade  trat  das  ein,  was  wir  (S.  123)  angekündigt  haben. 
Frankreich  wich  von  der  ersten  Stelle,  welche  es  wissenschaftlich 
eingenommen  hatte.  England,  das  wir  als  nächstberechtigten  Erben 
zu    betrachten     nach     den    vorhergegangenen    Untersuchungen    allen 

^)  Octogonus  circiüo  inscriptus  est  medium  proportionale  inter  quadratum 
eidem  circulo  inscriptum    et    quadratum    eidem   circumscriptum.  ^)    Curtze, 

Oresme  I,  11  Note. 


138  i^-  Kapitel. 

Grund  haben,  trat  die  Erbschaft  nicht  an.  Deutschland  und  Italien 
sind  die  beiden  Länder,  in  welchen  der  edle  Wettstreit  um  das  Ueber- 
gewicht  innerhalb  der  Wissenschaft  beginnt.  Die  Gründe  dieser  erst 
im  XV.  Jahrhundert  sich  vollziehenden  Wandelung  liegen  bereits  im 
XIV.  Jahrhunderte  und  müssen  hier  auseinandergesetzt  werden.     " 

Zwei  grosse  geschichtliche  Ereignisse  sind  es  vorzugsweise ,  welche 
die  Verschiebung  der  geistigen  Machtverhältnisse  begleiten,  wenn  nicht 
hervorrufen.  Genannt  haben  wir  beide  im  Vorübergehen,  und  zwar 
in  Verbindung  mit  dem  Xamen  des  grössten  englischen,  des  grössten 
französischen  Mathematikers  des  XIV.  Jahrhunderts.  Von  Bradwar- 
dinus  berichteten  wir  (S.  113),  dass  er  1340  bis  1346  König  Eduard  III. 
auf  seinen  Ea-iegszügen  in  Frankreich  begleitete,  von  Oresme  (S.  128), 
dass  er  1363  in  Avignon  eine  berühmte  Predigt  über  oder  gegen  den 
Papst  hielt.  Und  nun  wiederholen  wir  ausdrücklich,  dass  wir  unter 
den  Ereignissen,  welche,  so  fern  sie  wissenschaftlichen  Bestrebungen 
zu  liegen  scheinen,  in  der  Geschichte  der  Mathematik  eine  keines- 
wegs unwesentliche  Rolle  spielen,  den  englisch-französischen  Erbfolge- 
krieg und  den  vorübergehenden  Aufenthalt  der  Päpste  in  Avignon 
verstehen. 

Philipp  IV.  mit  dem  Beinamen  der  Schöne  war  1314  gestorben, 
und  der  französische  Thron  vererbte  sich  auf  seinen  Sohn.  Aber 
dieser  Mannesstamm  erlosch  1328,  und  die  Krone  ging  an  die  Seiten- 
linie der  Valois  über.  Eduard  III.  von  England  erhob  als  Schwieger- 
sohn Philipp  des  Schönen  Einsprache  und  verlangte,  entgegen  dem 
in  Frankreich  geltenden,  weibliche  Erbfolge  ausschliessenden,  salischen 
Gesetze,  die  französische  Krone  für  sich.  Das  war  der  Anfang  des 
langwierigen,  auf  französischem  Boden  mit  wechselndem  Glücke  ge- 
führten Erbfolgekrieges,  der  erst  1436  mit  dem  Einzüge  Karls  VII. 
in  Paris  als  beendigt  angesehen  werden  kann.  Wogte  wildes  Krieges- 
treiben ein  Jahrhundert  lang  in  Frankreich,  so  genoss  England 
keineswegs  viel  grösseren  Friedens ,  da  Kämpfe  zwischen  England 
und  Schottland  in  Abwechslung  mit  den  inneren  Streitigkeiten,  die 
man  unter  dem  Namen  der  Kämpfe  zwischen  der  weissen  und  der 
rothen  Rose  kennt,  das  Land  zerfleischten.  Schiller's  Jungfrau  von 
Orleans,  Shakespeare's  Königsdramen  haben  die  Kenntniss  aUer  dieser 
Kämpfe  in  weite  Kreise  getragen.  Sie  bilden  die  eine  Gruppe  von 
Ereignissen,  welche  wir  als  daza  angethan  erwähnten,  den  schönen 
wissenschaftlichen  Anlauf  zu  hemmen,  welchen  die  Geschichte  der 
Mathematik  aus  England  wie   aus  Frankreich   zu    verzeichnen  hatte. 

Und  nun  die  andere  Gruppe  von  Thatsachen  folgereicher  Natur. 
Wieder  bis  zu  Philipp  dem  Schönen  müssen  wir  zurückgreifen,  zu 
dessen  Kämpfen  mit  Papst  Bonifacius  VIII.     Bannfluch  und  Interdict 


Deutsche  Matliematiker.  139 

erwiesen  sich  als  unwirksam  dem  Könige  sein  Land  zu  entfremden. 
Bonifacius  starb  1303  moralisch  besiegt.  Sein  Nachfolger,  Benedict  XL, 
folgte  ihm  vor  Jahresfrist  iu's  Grab,  und  als  nun  eine  französische 
Partei  unter  der  hohen  Geistlichkeit  die  Wahl  des  Bischofs  von 
Bordeaux  zum  Papste  als  Clemens  V.  durchsetzte,  verlegte  dieser  1305 
den  Sitz  der  päpstlichen  Gewalt  nach  Avignon.  Nur  Franzosen 
wurden  70  Jahre  lang  zu  Päpsten  gewählt.  Sie  fühlten  sich,  wie 
nicht  mit  Unrecht  gesagt  worden  ist,  als  französiche  Hofbischöfe 
auf  ihrem  Sitze  zu  Avignon.  Gregor  XL  zog  erst  1377  wieder  nach 
Rom,  mit  endlosem  Jubel  begrüsst.  Sein  baldiger  Tod  brachte  Urban  VI. 
die  päpstliche  Würde,  die  aber  nicht  ohne  Anfechtung  blieb.  Ein 
französischer  Gegenpapst,  Clemens  VII.,  nahm  seinen  Sitz  in  Avignon, 
und  die  grosse  Kirchenspaltung  begann,  welcher  erst  die  1417  auf 
dem  Concile  zu  Constanz  getroffene  Wahl  des  Papstes  Martin  V. 
ein  vorläufiges  Ende  setzte.  Die  Kirchenspaltung  hatte,  wie  nicht 
anders  denkbar,  auch  den  Universitäten  sich  mitgetheilt,  den  Stätten, 
aus  welchen  die  Geistlichkeit  hervorging.  Bis  in  die  pariser  Uni- 
versität drang  der  Zwist,  und  wenn  im  Grossen  und  Ganzen  die  Fran- 
zosen auf  der  Seite  des  Papstes  von  Avignon  standen,  so  traten  in 
naturgemässem  Gegensatze  die  nicht  französischen,  meist  deutschen 
Lehrer  und  Schüler  der  pariser  Universität  auf  die  Seite  des  in  Rom 
befindlichen  Papstes.  Sie  kehrten  Paris,  mehr  oder  weniger  dazu 
gezwungen,  den  Rücken,  und  diese  Auswanderung  war  erleichtert, 
ermöglicht,  vielleicht  mit  hervorgerufen  durch  die  schon  vor  der 
Kirchenspaltung  erfolgte  Entstehung  neuer  Universitäten  in 
Deutschland.  Prag  wurde  1348,  Wien  1365,  Heidelberg  1380,  Köln 
1388,  Erfurt  1392  zur  Universität,  gegründet  nach  dem  Muster  von 
Paris  und  dennoch  dessen  eifrige  Nebenbuhler.  Hierhin  zog  sich 
freiwillig  oder  einem  Rufe  folgend,  wer  in  Paris  sich  nicht  mehr  am 
richtigen  Orte  fühlte,  und  Wien  vor  allen  wurde  die  vorzugsweise 
mathematische  Universität. 

Hier  dürfte  der  Ort  sein  zunächst  einzuschalten,  was  an  mathe- 
matischem Stoffe  die  Universität  des  XIV.  Jahrhunderts  dem  Stu- 
direnden  bot  ^).  In  Paris  gewährte  das  College  de  Navarre,  dem 
Oresme  seit  1348  angehörte,  gemäss  seiner  Satzungen  von  1315  nicht 
mehr,  als  dass  der  leitende  Magister  vei-pflichtet  war,  täglich  in  einer 
Stunde  über  ein  logisches,  mathematisches  oder  grammatisches  Werk 
in  seiner  Behausung  zu  lesen,   je   nach   dem  Wunsche   der  Mehrzahl 


^)  Quelle  ist  hierfür  das  vorzügliche  Kapitel  „Die  Mathematik  auf  den 
Universitäten"  in  Hankel,  Zur  Geschichte  der  Mathematik  im  Alterthum  und 
Mittelalter  S.  354 — .359,  zu  welchem  Suter,  Math.  Univ.  weitere  wesentliche 
Ergänzungen  hinzufügte. 


140  48.  Kapitel. 

der  Zuhörer^).  Etwas  besser  wurde  die  Mathematik  in  der  1366  durcli 
Papst  Urban  V.  vorgenommenen  Durchsicht  der  Universitätssatzungen 
von  Paris  bedacht-).  Das  Licentiat  solle  nur  ertheilt  werden  können, 
wenn  der  Baccalaureus  Vorlesungen  über  einige  mathematische  Bücher 
gehört  habe,  aliquos  libros  mathematicos  atidiverit.  Ob  freilich  mehr 
als  das  Gehörthaben,  ob  auch  ein  Verstehen  jener  Vorlesungen  ge- 
fordert wurde,  davon  steht  in  den  Satzungen  nichts,  und  ein  beson- 
derer Nachweis  dürfte,  wenn  er  verlangt  worden  sein  sollte,  nicht 
mit  unüberwindlichen  Schwierigkeiten  verbunden  gewesen  sein.  Ge- 
nügte doch  noch  im  XVI.  Jahrhundert  ein  Eid^),  man  habe  eine 
Vorlesung  über  die  sechs  ersten  Bücher  des  Euklid  gehört,  statt  der 
Prüfung. 

Aus  Prag  kennen  wir^)  Satzungen  von  1367  und  ein  Vor- 
lesungsverzeichniss  von  1366.  In  jenen  sind  gewisse  Vorlesungen 
mit  der  dazu  erforderlichen  Zeit  und  dem  gesetzlich  dafür  zu  ent- 
richtenden Honorare  vorgeschrieben.  Für  1  Groschen  wurde  während 
6  Wochen  Sphaera  materialis  vorgetragen,  für  8  Groschen  während 
eines  halben  Jahres  sechs  Bücher  Euklid  —  natürlich  die  sechs  ersten 
Bücher  der  Elemente.  Am  billigsten  und  schnellsten  erlernte  man 
Algorismus  für  8  Heller  in  3  Wochen;  am  theuersten  und  längsten 
war  die  Vorlesung  über  den  Almagest  angesetzt:  sie  dauerte  ein 
Jahr  und  kostete  1  Gulden.  Einmal  wenigstens  scheint  diese  kost- 
spielige Vorlesung  gehalten  worden  zu  sein ,  wenn  man  den  Schluss 
aus  ihrer  Ankündigung  ni  dem  erwähnten  Vorlesungsverzeichnisse 
neben  fünf  anderen  mathematischen  Vorlesungen  ziehen  darf.  Dar- 
unter sind  die  sechs  ersten  Bücher  des  Euklid,  darunter  sonderbarer- 
weise auch  Computus  cjrometricalis,  welcher  das  Handrechnen,  d.  h. 
Kopfrechnen  unterstützt  durch  Zahlendarstellung  mittels  der  Finger 
lehrte. 

Auch  für  Wien^)  stehen  Satzungen  von  1389  und  Vorlesungs- 
verzeichnisse aus  den  neunziger  Jahren  zur  Verfügung.  Die  Satzungen 
schreiben  neben  den  von  Prag  aus  uns  bekannten  Gegenständen  noch 
Vorlesungen  über  die  Proportionen  und  über  die  Latitudines  formarum 
vor,  während  die  über  den  Almagest  fehlen.  Die  Satzungen  lassen 
uns  allerdings  andrerseits  erkennen,  dass  die  beiden  neuen  Lehr- 
gegenstände nicht  so  vollkommen  eingeübt  worden  sein  werden,  wie 
die  Schriften  des  Oresme  es  wohl  möglich  gemacht  hätten,  wenn 
auch  dessen  Latitudines  formarum  dem  Unterrichte  zu  Grunde  lagen; 


^)  Suter,  Math.  Univ.  S.  26.  *)  Hankel  1.  c.  S.  355,  wo  aber  irrigerweise 
1336  als  Jahreszahl  steht.  Suter  I.e.  S.  36.  ^)  Kästner  I,  260.  ')  Hankel 
1.  c.  S.  356.     Suter  ]    c.  S.  36—39.  ")  Suter  1.  c.  S.  39—40  und  51. 


Deutsche  Mathematiker.  141 

für  3  Groschen  Proportionen,  für  2  Groschen  Latitudines,  das  kann 
nicht  sehr  viel  gewesen  sein,  wo  die  fünf  ersten  Bücher  Euklid's 
6  Groschen,  die  Perspectiva  communis  5  Groschen  kostete!  Nichts- 
desto  weniger  war  es  ein  Fortschritt,  der  Wien  als  das  kennzeichnet, 
was  wir  oben  andeuteten,  als  die  mathematischste  unter  den  vor 
1400  entstandenen  Universitäten.  Und  ein  Fortschritt  war  es  ferner, 
dass  verhältnissmässig  hohe  Anforderungen  für  die  Erwerbung  der 
Grade  gestellt  waren.  Schon  das  Baccalaureat  erforderte,  dass  voll- 
ständig und  ohne  Trug,  complete  et  sine  dolo,  nachgewiesen  werde 
die  Vorlesung  über  die  Sphäre,  die  über  den  Algorismus,  die  über 
das  erste  Buch  Euklid's.  Für  das  Licentiat  waren  erforderlich  die 
fünf  ersten  Bücher  Euklid's,  Planeten theorie.  Perspective  und  irgend  ein 
Buch,  aliquis  tractatus,  über  Latitudines,  irgend  eines  über  Musik, 
irgend  eines  über  Arithmetik.  Endlich  ist  Wien  die  einzige  Uni- 
versität, deren  Satzungen  mit  Bestimmtheit  auch  Disputationen  über 
mathematische  Dinge  anerkennen,  während  fast  nur  Philosophisches 
dem  mündlichen  Wettstreite  unterworfen  war.  Den  satzungsmässigen 
Anforderungen  zu  genügen  hielt  aber  nicht  allzuschwer,  wo  die  Vor- 
lesungsverzeichnisse eine  reiche  Auswahl  von  Lehrern  aufzeigten,  die 
zu  den  einzelnen  Unterrichtsgegenständen  sich  anboten.  War  doch 
ein  solcher  Zudrang  von  Lehrern,  dass  am  1.  September  1391  die 
Artistenfacultät  beschloss,  die  Auswahl  der  Gegenstände,  über  welche 
Jeder  zu  lesen  habe,  an  eine  Auslosung  zu  knüpfen.  Da  finden  wir 
in  dem  genannten  und  in  den  Folgejahren  Vorlesungen  über  Algoris- 
mus de  integris  und  Algorismus  de  minutiis,  über  Ai'ismetica,  über 
Proportiones  Bradwardini,  über  Euclides  und  über  Latitudines  for- 
marum,  über  Computus  physicus  und  Theoria  planetarum,  lauter  uns 
bekannte  oder  doch  leicht  verständliche  Gegenstände^). 

Die  Zeitfolge  der  Gründung  führt  uns  nach  Heidelberg^).  Auch 
hier  sind  für  Erwerbung  des  Licentiates,  dagegen  noch  nicht  für  die 
des  Baccalaureates,  gewisse  mathematische  Voraussetzungen.  Auch 
hier  freilich  gilt  wie  in  Paris  ein  Eid  als  hinlänglicher  Beweis  der 
Erfüllung  jener  Voraussetzungen.  Wer  das  Licientiat  erwerben  will, 
muss  schwören,  dass  er  einige  mathematische  Bücher  ganz,  nicht 
dIoss  theilweise  gehört  habe,  dass  er  insbesondere  die  Vorlesung  über 
die  Weltkugel  gehört  habe,  und  dass  er  an  Disputationen  sich  be- 
theiligt habe,  wobei  die  Frage,  ob  diese  Disputationen  einem  anderen 
mathematischen  Wissensgebiete  als  dem  Tractatus  de  spera  (sie) 
mundi  angehört  haben,  für   uns   eine   offene   ist.     Später  werden  in 

^)  Eine  sehr  übersichtliche  Tabelle  bei  Günther,  Unterricht  Mittela.  S.  199. 
-)  Suter,  Math.  Univ.  S.  41  unter  Anlehnung  an  Winkelmann,  Urkundenbuch 
der  Universität  Heidelberg  (1886)  S.  33,  38,  42. 


142  48.  Kapitel. 

den  Eidschwur  auch  die  Latitudines  formarum  einbegritfen,  natürlich 
unter  der  Vorbedingung,  dass  sie  zur  Zeit  gelesen  worden  seien,  si 
saltem  legerentur. 

In  Köln  vei-langten  ^)  die  Satzungen  von  1398  buchstäblich 
gleichlautend  mit  den  Wiener  Vorschriften  als  Voraussetzung  für  das 
Licentiat  irgend  ein  Buch  über  Proportionen,  irgend  eines  über  La- 
titudines, irgend  eines  über  Musik,  irgend  eines  über  Ai-ithmetik, 
daneben  aber  nur  drei  Bücher  des  Euklid  und  angewandte  Fächer 
wieder  wie  in  Wien. 

Diese  kurze  Zusammenstellung  genügt,  um  die  Wahrheit  unserer 
Behauptung  erkennen  zu  lassen,  dass  schon  am  Ende  des  XIV.  Jahr- 
hunderts die  deutschen  Bildungsstätten  mehr  als  die  Frankreichs  die 
Eigenschaften  in  sich  vereinigten,  welche  Mathematiker  zu  erziehen 
unerlässlich  sind,  dass  sie  Gelegenheit  zum  Lernen  boten  und  satzungs- 
mässig  darauf  hielten,  dass  von  dieser  Gelegenheit  Gebrauch  gemacht 
wurde.  Selbst  ,die  Unsitte  des  Schwures,  diese  oder  jene  Vorlesung 
gehört  zu  haben,  als  hinreichenden  Nachweises  des  erlangten  Wissens 
verliert  auf  deutschem  Boden  etwas  von  ihrer  Missgestalt,  denn  der 
Eid,  allgemein  aliquos  libros  mathematicos  gehört  zu  haben,  reicht 
nicht  mehr  aus;  die  zu  hörenden  Schriften  sind  besonders  genannt 
und  erstrecken  sich  auf  alle  damals  bearbeiteten  Gebiete  der  Mathe- 
matik, wenn  auch,  wie  wir  oben  vermuthungsweise  ausgesprochen 
haben,  nicht  in  ihrer  ganzen  Ausdehnung. 

Eines  freilich  blieb  ungeändert:  die  Art  des  Unterrichtes  an 
der  Universität -j.  Sie  bestand  einzig  darin,  dass  Lehrer  und 
Schüler  das  gleiche  Buch,  dessen  Vervielfältigung  man  daher  frühe 
angestrebt  haben  muss,  in  Händen  hatten,  dass  Ersterer  vorlas  und 
im  freien  Vortrage  erläuterte  und  ergänzte,  dass  Letztere  wenig  oder 
nichts  schriftlich  aufzeichneten.  Irgend  ein  Befragen  der  Schüler 
durch  den  Lehrer  fand  nicht  statt.  Nur  die  von  uns  wiederholt  er- 
wähnten öffentlichen  Disputationen  gaben  Gelegenheit,  einigermassen 
zu  erkennen,  wie  viel  oder  wenig  einer  der  Disputirenden  in  den 
Vorlesungen  gelernt  hatte.  So  war  das  Verfahren  in  allen  Wissens- 
zweigen, so  auch  in  der  Mathematik. 

Wir  müssen  nun  die  Persönlichkeiten  nennen,  durch  welche  die 
örtliche  Verschiebung  nach  Osten  ins  Werk  gesetzt  wurde.  Es  sind 
besonders  zwei  Gelehrte,  die,  obwohl  Deutsche  von  Geburt,  den  An- 
fang ihrer  Berühmtheit  in  Paris  erlangten,  die  also  auch  dort  hätten 
genannt  werden  können,  wenn  nicht  genannt  werden  sollen,  und  die 


\ 

1)  Suter  1.  c.  S.  41.         ^  Günther,  Unterricht  Mittela.  S.  192—197. 


Deutsche  Mathematiker.  143 

als  schon   allgemein   bekannte  Männer   in    die  Heimatli  übersiedelten: 
Albert  von  Sachsen,  Heinrich  von  Hessen. 

Albertus  de  Saxonia^)  war,  nach  der  gebräuchlichsten  An- 
gabe, aus  Riggensdorf  in  Sachsen.  Er  war,  wie  es  scheint,  Schüler 
der  eben  gegründeten  Universität  Prag,  ging  dann  nach  Paris  und 
wurde  hier  Magister  der  freien  Künste,  später  Doctor  der  Theologie. 
Seit  1350  lehrte  er,  ein  hervorragender  Vertreter  der  Occam'schen 
Richtung,  aristotelische  Philosophie  und  Mathematik.  Da  berief  ihn 
1365  Herzog  Rudolf  IV.  von  Oesterreich  als  Rector  an  die  in  der 
Gründung  begriffene  Universität  Wien,  aber  schon  im  folgenden  Jahre 
vertauschte  Albert  diese  Stellung  mit  der  des  Bischofs  von  Halber- 
stadt, und  als  solcher  starb  er  1390.  Mitglied  irgend  eines  Mönchs- 
ordens scheint  Albert  von  Sachsen  nicht  gewesen  zu  sein,  da  bei 
einer  so  bedeutenden  Persönlichkeit  die  Zugehörigkeit  zu  einem  be- 
stimmten Orden  sich  nahezu  immer  nachweisen  lässt.  Widersprechende 
Angaben  wie  die  drei  über  Albert  vorhandenen,  er  sei  Dominikaner, 
Franciskaner,  Augustiner  gewesen,  sind  meistens  alle  unrichtig.  Seine 
philosophischen  Schriften  kümmern  uns  hier  nicht.  Ob  eine  in 
Venedig  handschriftlich  erhaltene  Abhandlung  De  maximo  et  minimo^) 
ihnen  zuzuzählen,  ob  sie  mathematischen  Inhaltes  ist,  lässt  sich  nicht 
entscheiden,  so  lange  sie  noch  nicht  von  einem  Fachmanne  unter- 
sucht ist,  was  jedenfalls  sehr  wünschenswerth  wäre.  An  mathema- 
tischen Schriften  des  Albert  von  Sachsen  ist  ein  Tractatiis  de  latitu- 
(linihus  fonuarum  1505  gedruckt,  ein  Liber  pro2)ortionum  gar  in  zehn 
verschiedenen  Ausgaben,  deren  erste  auf  1482  zurückgeht^).  Der 
Inhalt  der  ersten  Schrift  scheint  sich  dem  der  gleichnamigen  von 
Oresme,  der  der  zweiten  der  Schrift  Bradwardin's  über  Proportionen 
zu  nähern.  Allgemein  zugänglich  sind  zwei  Abhandlungen,  welche 
aus   einer  Handschrift   der  berner   Stadtbibliothek  ■^)    in   einer  mathe- 


^)  Die  Hauptquelleu  sind  zwei  Abhandlungen  von  H.  Suter,  Zeitschr. 
Math.  Phys.  XXIX,  Hist.-liter.  Abthlg.  S.  81—101  und  XXXII,  Hist.-liter.  Abthlg. 
S.  41 — 56,  in  welchen  die  beiden  Tractate  über  Kreisquadratur  und  über  Irra- 
tionalität der  Diagonale  des  Quadrates  erstmalig  abgedruckt  sind.  Biographi- 
sches in  der  Allgem.  deutsch.  Biographie  I,  182—183.  Dort  heisst  Alberts 
Geburtsort:  lackmersdorf.  Ein  Aufenthalt  in  Pavia  wird  nur  von  Jacoli  in 
Bullet.  BoncotnjMgni  IV,  495  ohne  jede  Quellenangabe  behauptet.  Vielleicht  ist 
es  ein  Druckfehler  Pavia  statt  Parigi,  ebenso  auch  die  dortige  Angabe,  Alberts 
Blüthezeit  sei  1330  gewesen  statt  1350.  Ueber  seine  philosophischen  Schriften 
vergl.  Prantl,   Gesch.  Log.  IV.  ^)  Aschbach,   Geschichte  der  Wiener  Uni- 

versität I,  365.  ^)    Bald.     Boncompagni     im    Bullet.    Boncomjmgni  IV, 

498 — 511.  *)   Codex  A.  50  geschrieben   am  Anfange   des   XV.  Jahrhunderts. 

Eine  Beschreibung  der  Handschrift  von  Suter,  Zeitschr.  Math.  Phys.  XXIX,  Hist.- 
liter.  Athlg.  S.  84—85. 


144  4.S.  Kapitel. 

matischen  Zeitschi-ift  dem  Drucke  übergeben  wurden.  An  der  Rich- 
tigkeit der  Annahme,  dass  hier  wirklich  in  allein  erhaltener  Nieder- 
schi-ift  zwei  Abhandlungen  Alberts  von  Sachsen  vorhanden  seien,  ist 
nicht  mehr  zu  zweifeln,  seit  stylistische  Vergleichung  derselben  mit 
philosophischen  Schriften  des  gleichen  Verfassers  die  täuschendste 
Aehnlichkeit  an  den  Tag  gelegt  hat^).  So  schreibt  z.  B.  Albert,  und 
fast  nur  er  unter  seinen  Zeitgenossen,  Est  dare  in  der  Bedeutung 
von:  es  giebt  oder  es  muss  geben.  So  ist  in  philosophischen  Schriften 
die  Zusage  gegeben  über  Dinge,  wie  sie  in  den  beiden  Abhandlungen 
sich  vorfinden,  später  wo  möglich  sich  äussern  zu  wollen,  womit 
zugleich  eine  Datining  dieser  Abhandlungen  als  zu  den  letzten  Er- 
zeugnissen von  Alberts  schriftstellerischer  Thätigkeit  gehörend  ge- 
sichert ist. 

Die  eine  Abhandlung-)  beschäftigt  sich  mit  der  Quadratur  des 
Kreises.  In  echt  scholastischer  Weise  wird  zunächst  untersucht, 
ob  die  gestellte  Aufgabe  gelöst  werden  könne,  ob  nicht.  Gründe  für 
und  gegen  werden  aufgezählt.  Bei  jedem  werden  mit  gleicher  Un- 
parteilichkeit Gegengründe  gesucht.  Es  ist  ein  Hin-  und  Hertasten 
zwischen  Ja  und  Nein.  Es  giebt,  sagt  der  Verfasser,  ein  jedem 
Kreise  umschriebenes,  ein  ihm  eingeschriebenes  Quadrat;  jenes  ist 
grösseren,  dieses  kleineren  Inhaltes  als  der  Kreis;  gäbe  es  kein  dem 
Kreise  genau  gleiches  Quadrat,  so  wäre  der  Uebergang  vom  Grösseren 
zum  Kleineren  durch  alle  Mittelwerthe  vollzogen,  ohne  dass  man 
dabei  zu  einem  bestimmten  mittleren  gelangt  wäre^).  Der  Quadratur 
des  Kreises  zur  Seite  steht  die  Kubatur  der  Kugel;  die  Kugel  aber 
kann  kubirt  werden,  wie  offenbar  wird,  wenn  wir  das  Wasser, 
welches  ein  kugelförmiges  Gefäss  füllt,  in  ein  würfelförmiges  über- 
giessen*).  Nein,  heisst  es  dann,  die  Quadratur  des  Kreises  ist  doch 
nicht  möglich,  denn  gäbe  es  eine  solche,  so  müsste  es  auch  eine 
Circulatur  des  Quadrates  geben  ^)  und  eine  solche  ist  noch  niemals 
überhefert  worden.  Ein  zweiter  Gegengrund  wird  dem  Buche  über 
isoperimetrische  Figuren  entnommen,  worunter  offenbar  jene  im  Mittel- 
alter bekannte  Nachbildung  der  Schrift  des  Zenodorus  gemeint  ist*^); 
gäbe    es    ein    dem  Kreise    flächengleiches    Quadrat    und    wölbte    man 

1)  Suter  in  Zeitschr.  Math.  Phys.  XXXII,  Hist.-liter.  Abthlg.  S.  41— 42. 
-)  Zeitschr.  Math.  Phys.  XXIX,  Hist.-liter.  Abthlg.  S.  87—94.  ^)  Fieret  tran- 

situs  de  majore  ad  minus,  sive  de  extremo  ad  extremum  transemido  per  omnia 
media  et  tarnen  nunquam  perveniretur  ad  equale  vel  ad  medium.  *)  Sed  sphera 
potest  cuhicari,  %it  patet,  si  aquam  replentem  vas  sphericum  infundamus  ad  vas 
quadraticum  sive  cubicum.  ^)    Si  eirculus  posset  quadrari,   quadratum  posset 

circulari.  So  ist  das  Wort  Circulatur  des  Quadrates,  welches  wir  Bd.  I,  S.  546 
als  Neubildung  wagten,  schon  im  XIV.  Jahrhunderte  in  Gebrauch  gewesen! 
®)  Sie  ist  z.  B.  im  Basler  Codex  F  2,  .33  enthalten. 


Deutscho  Mathematiker.  145 

dessen  Seiten  nach  aussen,  so  dass  jeder  Punkt  der  neuen  Gestaltung 
gleich  weit  vom  Mittelpunkte  entfernt  wäre,  ohne  dass  dabei  der 
Umfang  eine  Aenderung  erlitte^),  so  müsste  eine  Fläche  entstehen, 
die  weit  grösser  wäre,  als  der  ursprüngliche  Kreis.  Drittens  müsste 
die  Hälfte  des  dem  Kreise  gleichen  Quadrates  dem  Halbkreise  gleich 
sein,  eine  Figur  mit  rechten  Winkeln  einer  Figur  mit  Winkeln,  die 
keinem  gradlinigen  Winkel  gleich  sind,  während  Figurengleichheit 
durch  Euklid  und  Campanus  aus  der  Winkelgleichheit  bewiesen  wird-). 
Viel,  meint  der  spitzfindige  Schriftsteller,  hängt  davon  ab,  was  man 
Quadriren  nennt.  Dem  Einen  ist  Quadriren  Viertheilung  des  Kreises 
durch  zwei  im  Mittelpunkte  sich  senkrecht  schneidende  Durchmesser. 
So  Campanus  in  seiner  Theorie  und  viele  andere  Doctoren*^).  Zwei- 
tens meinen  Ungelehrte,  man  könne  den  Kreis  in  eine  einem  Quadrate 
einigermassen  ähnliche  Figur  verwandeln,  indem  man  Stücke  rings- 
herum abschneidet  und  anders  anlegt.  Die  Dritten  verstehen  unter 
Kreisquadratur  die  Auffindung  eines  Quadrates,  welches  nicht  etwa 
dem  Kreise  gleich  sei,  sondern  dessen  aneinander  gelegte  Seiten  der 
zur  Geraden  ausgespannten  Kreisperipherie  gleichkommen,  und  so  hat 
Campanus  den  Kreis  quadrirt^).  Viertens  können  wir  unter  Quadri- 
ren des  Kreises  verstehen  ein  dem  Kreise  gleiches  Quadrat  zu  finden, 
dessen  Seiten  überdies  (cum  hoc)  der  zur  Geraden  ausgespannten 
Peripherie  gleich  kommen^).  Fünftens  können  wir  den  Kreis  so  zu 
quadriren  wünschen,  dass  wir  ein  dem  Kreise  flächengleiches  Quadrat 
auffinden  wollen.  Nun  werden  wieder  alle  diese  Auffassungen  der 
Reihe  nach  kritisch  untersucht.  Die  erste  Kreisquadratur  ist  mög- 
lich, führt  aber  zu  nichts.  Die  zweite  ist  unmöglich,  denn  die  ab- 
geschnittenen Stückchen  geben,  wie  man  sie  auch  an  einander  legen 
mag,  keinen  rechten  Winkel.  Die  dritte  Art  hat  Campanus  vollzogen, 
indem    er    der  Aussage    vieler    Philosophen    folgend,    die    Länge    der 

Kreisperipherie  zu  3y  Durchmesser  annahm,  eine  Annahme,  welche, 

wie  es  an  einer  späteren  Stelle  heisst,  schwer  beweisbar,  aber  doch 
beweisbar    ist^).      Für   Albert    von    Sachsen    war    demnach    wie    für 

Campanus,  wie  für  das  ganze  Mittelalter,  jr  ^  3—  kein  Näherungswerth, 


^)  si  latera  quadrati  extendantur  equcditer  a  centro.  ")  per  eqiialitatem 

angulorum  Euclides  et  Campanus  probant  equaUtatem  figurarmn.  ^)  Isto  modo 
loquitur  Campanus  in  theorica  sua  et  multi  alü  doctorum.  Welche  Schrift  des 
Campanus  gemeint  ist ,  wissen  wir  nicht.  *)  et  isto  modo  Campanus  quadravit 
circulum.  Unsere  Leser  erinnern  sich,  dass  wir  uns  S.  101  zum  voraus  auf  diese 
Stelle  berufen  haben.  ^)  Dass  wir  die  sprachlich  schwierige  Stelle  richtig  über- 
setzt haben,  folgt  aus  Alberts  späterer  eigener  Polemik  gegen  diese  vierte  Auf- 
fassung.   S.  S.  146  Note  2.        ^)  est  demonstrahile  ad  intellectuvi  quamvis  difficile. 

Cantor,  Geschichte  der  Mathem.    II.     2.  Aufl.  10 


146  48.  Kapitel. 

sondern  genau  richtig^).  Die  vierte  Auffassung  der  Kreisquadratur 
ist  wieder  unmöglich,  weil  unter  isoperimetrischen  Figuren  der  Kreis 
die  grösste  Fläche  einschliesst ,  also  mit  einem  isoperimetrisfchen 
Quadrate  nicht  flächengleich  sein  kann  ^).  Somit  bleibt  nur  eine 
Quadratur  des  Kreises  im  fünften  Sinne  des  Wortes  zu  vollziehen, 
und  jetzt  wird  bewiesen,  dass  der  Kreis  genau  gleich  sei  einem 
rechtwinkligen  Dreiecke,  dessen  eine  Kathete  dem  Kreishalbmesser, 
die  audere  dem  Kreisumfange  an  Länge  entspricht.  Zum  Schlüsse 
erscheinen  neuerdings  scholastische  Haarspaltereien  über  die  am  An- 
fange der  Untersuchung  gegen  die  Möglichkeit  einer  Quadratur  er- 
hobenen Einwürfe.  Wir  erwähnen  daraus  nur  den  letzten  Satz  der 
Abhandlung:  Wenn  man  sagt,  Euklid  und  Campanus  beweisen  Figuren- 
gleichheiten aus  Winkelgleichheiten ,  so  gebe  ich  das  zu,  aber  daraus 
folgt  nicht,  dass  aus  Ungleichheit  von  Winkeln  Ungleichheit  von 
Figuren  zu  folgern  sei^).  Wir  haben  den  eigentlichen  geometrischen 
Beweis  für  die  Flächengleichheit  des  Kreises  mit  dem  erwähnten  recht- 
winkligen Dreiecke  noch  nachzutragen.  Wäre  besagtes  Dreieck  kleiner 
als  der  Kreis,  so  müsste  es  einem  Sehnenvielecke  desselben  gleich 
sein,  das  selbst  in  ein  rechtwinkliges  Dreieck  übergeht,  dessen  eine 
Kathete  kleiner  als  der  Halbmesser,  die  andere  kleiner  als  die  Peri- 
pherie wäre,  und  das  widerspricht  der  Annahme.  Wäre  dagegen  be- 
sagtes Dreieck  grösser  als  der  Kreis,  so  müsste  es  einem  Tangenten- 
vielecke desselben  gleich  sein,  das  selbst  in  ein  rechtwinkliges  Dreieck 
mit  dem  Halbmesser  als  einer  Kathete  übergeht,  dessen  andere  Ka- 
thete jetzt  grösser  als  die  Peripherie  wäre,  und  das  widerspricht  aber- 
mals der  Annahme.  Folglich  müssen  Dreieck  und  Ki-eis  einander 
genau  gleich  sein. 

Die  zweite  Abhandlung^)  ist  dem  Verhältnisse  der  Diago- 
nale eines  Quadrates  zu  dessen  Seite  gewidmet.  Albert  be- 
ginnt auch  hier  mit  Erörterung  der  irrigen  Meinung,  als  sei  die 
Diagonale  doppelt  so  lang  als  die  Quadratseite,  welche  mit  drei 
Gründen  gestützt  zu  werden  pflege.  Erstens  sei  (Fig.  26)  der  Weg, 
den  ein  Bewegtes  von  a  über  h  nach  d  zurücklege,  das  Doppelte  des 
Weges  hd]    er  könne  aber  durch   den  Weg  ad  ersetzt   werden,   also 


^  »)  Hieraufhat  H.  Suter,   Zeitschr.  Math.  Phys.  XXIX,  Hist.-Iiter.  Abthlg. 
S.  94  aufmerksam  gemacht.  *)  (impossibüe  est)  aliquod  quadratum  esse  equale 

eirculo  cujus  latera  simul  juncta  sint  equalia  circumferentiae  circuli  in  rectavi 
extense;  haec  (condusio)  patet  ex  eo  qnod  figura  circularis  inter  omnes  alias  est 
capacissima.  ^)  Quando  dieitur,  Euclides  et  Campanus  per  equalitatem  angu- 

lorum  prohant  equilitatem  figiirarum,  hene  volo,  ex  hoc  tarnen  non  sequitur,  quod 
inequalitatem  angulorum  sequeretur  inequalitas  figurarum.  *)  Zeitschr.  Math. 

Phys.  XXXn,  ffist.-liter.  Abthlg.  S.  43—52. 


Deutsche  Mathematiker.  147 

sei  ad  =  2hd.  Zweitens  verhalte  sich  das  Quadrat  ah  de  zu  seiner 
Diagonale  ad  wie  das  Quadrat  cfdg  zu  seiner  Diagonale  cd-^  durch 
Vertausehung  der  inneren  Glieder  zeige  sich,  dass 
das  Quadrat  ahdc  zum  Quadrate  cfdg  in  gleichem 
Verhältnisse  stehen  müsse  wie  ad  zu  cd-^  aber  das 
Quadrat  ah  de  sei  das  Doppelte  von  dem  Quadrate 
cfdg,  mithin  auch  ad  =2 cd.  Drittens  stehe  nach 
dem  Satze  Ij  18  von  Euklid^)  dem  grösseren  Winkel 
im  Dreiecke  die  grössere  Seite  gegenüber;  nun  sei 
■^acd  =2  ^adc,  also  finde  das  gleiche  Verhält- 
niss  bei  den  gegenüberliegenden  Seiten  statt,  iind  es 
sei  ad  =  2ae.  Alle  Geometer  aber  missbilligen  diese 
Beweisführungen  und  das  Doppelte  der  Quadratseite  ist  die  Dia- 
gonale nicht.  Commensurable  Grössen  (commensurabilia)  stehe.n 
immer  im  Verhältnisse  ganzer  Zahlen.  Wären  also  Quadratseite 
und  Diagonale  commensurabel,  so  müssten  auch  sie  in  solchem  Ver- 
hältnisse stehen,  und  zwar  entweder  im  Verhältnisse  zweier  grader, 
oder  zweier  ungrader,  oder  einer  graden  und  einer  ungraden  Zahl. 
Alle  diese  Annahmen  widersprechen  aber  der  Thatsache,  dass  das 
Quadrat  der  Diagonale  das  Doppelte  des  Quadrates  der  Seite  sein 
muss,  wie  genau  nach  euklidischem  Muster  (Bd.  I,  S.  170)  gezeigt 
wird.  Es  findet  folglich  zwischen  Seite  und  Diagonale  zwar  ein  Ver- 
hältniss  statt,  aber  kein  rationales,  sondern  ein  irrationales  (pro- 
portio  irrationalis).  Also  auch  Albert  von  Sachsen  ist  im  Besitze 
dieses  Wortes.  Im  weiteren  Verlaufe  der  Abhandlung  wird  erläutert, 
wie  wenig  ein  Schluss  von  dem  Umfange  einer  Figur  auf  deren 
Inhalt  gerechtfertigt  sei.  Man  halbire  ein  Quadrat  und  setze  die 
beiden  so  entstehenden  Rechtecke  an  der  kürzeren  Seite  an  einandei-, 
so  vergrössere  sich  der  Umfang  bei  gleich  bleibendem  Inhalte.  Eben- 
so könne  man  mit  dem  eben  erzeugten  Rechtecke  verfahren  u.  s.  w., 
so  dass  es  keinen  noch  so  grossen  Umfang  gebe,  den  man  nicht  ohne 
Veränderung  des  Inhaltes  noch  übertrefi^en  könnte.  Den  kleinsten 
Umfang  eines  gegebenen  Inhaltes  stellt  dagegen  die  Kreislinie  dar. 
Ganz  ähnliche  Schlüsse  werden  für  Körper  gezogen,  und  zwar  nicht 
bloss  für  eckige,  auch  für  runde  Körper.  Um  einen  ersten  runden 
Körper  herum  kann  man  einen  zweiten  biegen,  der  gleichen  Inhaltes, 
aber  weniger  dick  ist.  Soll  die  Dicke  des  Körpers  unverändert  bleiben, 
so  hindert  nichts  ihn  in  zwei  Körper  von  der  halben  Höhenausdehnuug 
zu  zerschneiden  und  diese  beiden  der  Länaje  nach  an  einander  setzen 


^)    Albert  von  Sachsen    citix-t    nach    der  Euklidausgabe    des   Campanus 
In  den  gewöhnlichen  Ausgaben  (nach  Theon)  ist  der  Satz  I,  19  bezeichnet. 

10* 


148  48.  Kapitel. 

ZU  lassen.  Setzt  man  das  gleiche  Verfahren  immer  fort,  und  bedarf 
es  etwa  der  Hälfte  einer  Stunde,  um  die  erste  Zerschneidung  und 
Vereinigung  vorzunehmen,  die  Hälfte  der  noch  übrigen  halben  Stunde 
um  die  zweite  Zerschneidung  und  Vereinigung  zu  vollziehen  u.  s.  w., 
ein  Gedanke,  den  Albert  in  die  lakonischen  Worte  kleidet,  man  be- 
dürfe stets  einen  verhältnissmässigen  Theil  einer  Stunde  (pars  pro- 
portionalis  horae),  so  sind  in  einer  Stunde  unendlich  viele  Körper  zu 
einem  einzigen  vereinigt,  und  es  giebt  überhaupt  keine  Grenze  für 
die  Menge  der  Körper,  die  vereinigt  werden  können,  oder  für  die 
Grösse  der  Oberfläche,  die  ein  einfacher  Körper  durch  wiederholte 
Spaltung  zu  erhalten  im  Stande  ist.  Nur  die  untere  Grenze  bleibt, 
dass  nämlich  ein  gegebener  körperlicher  Raum  als  Kugel  gedacht  die 
geringste  Oberfläche  besitzt.  Jetzt  kommt  der  Verfasser  auf  die  In- 
commensurabilität  der  Seite  und  der  Diagonale  eines  Quadrates  zurück, 
welche  auch  gleichmässigen  Vielfachen  beider  Längen  anhafte.  Seien 
zwei  Kreise  a  und  h,  die  in  d  sich  schneiden,  und  deren  Umfange 
wie  jene  Längen  sich  verhalten^).  Dass  zu  diesem  Zwecke  genüge, 
die  betreffenden  Strecken  als  Halbmesser  der  Kreise  zu  wählen,  wird 
nicht  gesagt.  Zwei  bewegliche  Punkte  c  und  /"  sollen  von  d  aus, 
e  auf  a  und  f  auf  h ,  in  gleichmässiger  Bewegung  fortrücken,  so  wird 
niemals,  auch  nicht  in  der  Ewigkeit,  ein  wiederholtes  Zusammen- 
treffen von  e  und  f  in  d  stattfinden-).  Ein  zweites  Beispiel  liefern 
Sonne  und  Mond.  Sind  die  Bewegungen  beider  um  ihren  Bewegungs- 
mittelpunkt incommensurabel,  wie  es  wahrscheinlich  der  Fall,  oder 
wovon  das  Gegentheil  wenigstens  noch  nicht  bewiesen  sei,  und  be- 
schreiben in  Folge  dessen  die  Mittelpunkte  von  Sonne  und  Mond  in 
gleichen  Zeiten  Bögen,  denen  unter  sich  incommensurable  Winkel 
im  Mittelpunkte  der  Erde  als  Centriwinkel  entsprechen,  findet  ferner 
in  einem  Augenblicke  genau  gradlinige  Conjunction  oder  Opposition 
der  drei  Mittelpunkte  statt,  so  war  von  Ewigkeit  an  nie  eine  damit 
genau  übereinstimmende  Finsterniss  und  wird  in  Ewigkeit  nicht 
wiederkehren.  Als  wenigstens  mittelbare  Folge  zeigt  sich,  dass  die 
Urtheile  der  Astrologen  mitunter  sehr  ungewiss  sind^).  Eine  weitere 
sich  anschliessende,  aus  dem  Wesen  der  Incommensurabilität  selbst 
hervorgehende  Bemerkung  zeigt  die  Unmöglichkeit,  dass  Stetiges  aus 
üntheilbarem  in  endlicher  Anzahl  zusammengesetzt  sei,  weil  es  sonst 
keine  incommensurable  Längen  gäbe.  Der  Schluss  kehrt  zu  den  am 
Anfange    ausgesprochenen    Scheingründen    dafür,    dass    die  Diagonale 

^)  haheat  se  circumferentia  unius  ad  circumferentiam  alterms  siciit  dyameter 
guadrati  et  costa  ejusdem.  *)  si  isla  in  eternum  moverentur,  nunquam  amplius 
in  puncto  d  eonjunger entur.  ^)  Ex  quibus  sequittir  quod  judicia  astrologoruvi 

sunt  aliqiiando  valde  incerta. 


Deutsche  Mathematiker.  149 

das  Doppelte  der  Quadratseite  sei,  zurück  und  widerlegt  sie.  Dem 
scharfsinnigsten  Scheinbeweise,  den  wir  der  Abhandlung  folgend  als 
zweiten  auftreten  Hessen,  der  aber  am  Schlüsse  plötzlich  der  dritte 
heisst,  weiss  Albert  von  Sachsen  nur  entgegenzuhalten,  man  dürfe 
die  Vertauschung  von  Gliedern  einer  Proportion  nicht  vornehmen, 
wenn  es  sich  nicht  um  Grössen  derselben  Art  handle^).  Die  Aus- 
führlichkeit, in  welcher  wir  über  die  beiden  Abhandlungen  berichtet 
haben,  war  vielleicht  durch  deren  mathematische  Bedeutung  nicht  ge- 
rechtfertigt, allein  es  lag  uns  daran,  unseren  Lesern  recht  hervor- 
ragende Beispiele  davon  zu  geben,  Avas  die  Scholastik  als  würdig  ein- 
gehender Bekämpfung  erachtete,  und  wie  sie  ein  Schema  dialektischen 
Hin-  und  Herschwankeus  zwischen  entgegengesetzten  Meinungspolen 
festhielt,  welches  auszufüllen  war. 

Henricus  Hassianus"^)  war  die  zweite  von  uns  genannte  Per- 
sönlichkeit. Er  wurde  1325  in  Langenstein  bei  Marburg  geboren  und 
gehörte  wahrscheinlich  dem  adligen  Geschlechte  von  Langenstein  an. 
Er  lehrte  schon  1363  in  Paris  vermuthlich  mathematische  und  astro- 
nomische Dinge.  Später  ging  er  zur  Theologie  über.  Man  nennt  ihn 
als  Vater  des  Gedankens,  die  Missbräuche,  welche  damals  —  von  Jedem 
zugestanden,  durch  keinen  einzelnen  Willen  zu  beseitigen  — •  in  der 
Kirche  herrsehten,  durch  ein  allgemeines  Concilium  abschaffen  zu 
lassen^).  Er  war  eines  der  Mitglieder  der  Sorbonne,  welche  1378 
durch  eine  Abordnung  an  Papst  Urban  VL  in  Rom ,  an  der  Heinrich 
selbst  theilgenommen  haben  dürfte,  sich  für  diesen  und  gegen  Cle- 
mens VII.  in  Avignon  entschied.  Als  fünf  Jahre  nachher  die  An- 
hänger des  letzteren  in  Paris  die  Oberhand  gewannen,  ging  Heinrich 
1383  nach  Deutschland  zurück,  wo  er  im  Kloster  Eberbach  im  Rhein- 
gau gastliche  Aufnahme  fand.  Noch  in  demselben  Jahre  folgte  er 
einem  Rufe  an  die  Universität  Wien,  um  welche  er  grosse  Verdienste 
sich  erwarb.  Er  erlangte  wahrscheinlich  die  vorher  verweigerte 
päpstliche  Genehmigung  zur  Einrichtung  auch  einer  theologischen 
Facultät.  Er  starb  in  Wien  am  11.  Februar  1397  und  liegt  in  der 
dortigen  St.  Stephanskirche  begraben.  Eigentlich  mathematische 
Schriften  sind  von  ihm  nicht  bekannt.  Astronomisches  soll  in  dem 
ersten  Buche  seines  Commentars  zur  Genesis  enthalten  sein^),  auch 
verfasste  er  einige  astronomische  Abhandlungen,  darunter  die  Contra 
astrologos  conjunctionistos  de  eventibus  futurorum,  welche  schon  1374 


*)  quod  iste  modus  arguendi  a  commutata  proportloncäitate  non  tenet  in  Ulis 
quae  sunt  diversarum  specienom.  ^)  Allgem.  deutsche  Biographie  XVII,  672 — 673. 
—  Hartwig,  Henricus  de  Lamjenstein  dictus  de  Hassia  (1857).  —  Aschbach, 
Geschichte  der  Wiener  Universität  I,  366—402.  ^)    The  od.    Stumpf,    Die 

politischen  Ideen  des  Nicolaus  von  Cues  (1865)  S.  6.         ^)  Kästner,  II,  529. 


150  48.  Kapitel. 

in  Paris  geschrieben  ist.  In  der  Geschichte  der  Mathematik  muss 
Heinrich  von  Langenstein  nnr  nm  deswillen  überhaupt  genannt  werden, 
weil  ein  berühmter  Gelehrter  des  XVI.  Jahrhunderts  ihm  das  Ver- 
dienst zugeschrieben  hat^),  der  Mathematik  in  Deutschland  zu  einer 
bleibenden  Stätte  verhelfen  zu  haben. 

Da  nun  weder  Heinrich  von  Hessen  noch  Albert  von  Sachsen  in 
Wien  eine  eigene  mathematische  Lehrthätigkeit  ausübten,  so  ist  jeden- 
falls ihre  Bedeutung  für  jene  östliche  Verschiebung  des  geistigen 
Uebergewichtes,  so  weit  es  um  mathematische  Wissenschaft  sich  han- 
delt, eine  mehr  mittelbare  gewesen,  deren  Erfolg  sich  erst  im  XV.  Jahr- 
hunderte deutlich  erkennen  liess.  Aber  ein  einzelnes  vorhandenes 
Werk  aus  dem  XIV.  Jahrhunderte  zeigt,  dass  schon  vor  ihnen  Ein- 
flüsse von  Paris  aus  sich  geltend  gemacht  hatten,  welche  den  deutschen 
Boden  dazu  vorbereiteten,  wissenschaftlichen  Samen  aufzunehmen. 
Wir  reden  von  einer  am  Ende  des  Jahrhunderts  lateinisch  verfassten, 
aber  frühzeitig  in  deutscher  Sprache  neu  bearbeiteten  Geometrie^). 
Conrad  von  Jungiugen^)  war  von  1393  bis  1407  Hochmeister 
der  Deutschordensritter.  Kraftvoll  im  Kriegführen,  wenn  derselbe 
aufgedrungen  war,  neigte  er  von  Natur  weit  mehr  zu  friedlichen  Be- 
strebungen und  liess  sich  die  Ausmessung  der  von  ihm  beherrschten 
Lande  angelegen  sein.  Lantmesser,  auch  einfach  Messer  werden 
genannt,  die  mit  IV^  Mark  wöchentlich  für  ihre  Arbeit  gelohnt 
wurden;  Andere  verrichteten  den  Dienst  mit  der  „landtmosse"  als 
Lehendienst.  Wir  müssen  uns  diese  Landmesser,  laycos  men- 
sores*),  als  blosse  Handwerker  vorstellen,  welche  lediglich  in  der 
Ausführung  von  übungsmässigen  Verfahren  geschult  waren,  deren 
Gründe  sie  kaum  zu  begreifen  befähigt  waren.  Um  je  handwerks- 
mässiger  wir  sie  uns  denken,  um  so  noth wendiger  war  ihnen  ein 
Vorgesetzter,  der  wirklich  die  Sache  verstand,  die  er  zu  leiten  hatte  ^), 
und  ein  solcher  war  offenbar  der  Verfasser  der  Geometria  Cul- 
mensis.  Dieser  Name,  welcher  vom  Herausgeber  der  Schrift  bei- 
behalten wurde  und  ihr  daher  auch  bleiben  mag,   findet  sich  freilich 


^)  Petrus  Ramus,  Scholae  mathematicae  (1627)  pag.  61:  Henricus  Hassia- 
nus  centesivio  abhinc  et  octogesimo  fere  anno  (tärca  1390)  primus  mathematicas 
artes  Lutetia  Viennam  transtulit',  unde  hrevi  tempore  per  universam  Germaniam 
proseminatue  matliematicorum  tamquam  familiae.  *)  Geometria  CuJmensis.  Ein 
agronomischer  Tractat  aus  der  Zeit  des  Hochmeisters  Conrad  von  Jungingen 
(1393—1407)  herausgegeben  von  Dr.  H.  Mendthal  (1886).  ^)  Allgem.  deutsche 
Biographie  XIV,  718—720.  ')  Geometria  Cuhnensis  S.  15,  Z.  4—8:  laycos  men- 
sores  in  arte  tum  calculatoria  quam  geometrica  inperitos  sepius  in  agrorum  men- 
swra  contingit  oherrare.  ^)  Ebenda  S.  47,  Z.  7—8:  ideo  laycas  mensor  debet  esse 
minister  geometre. 


Dei;tsche  Mathematiker.  151 

nur  in  einer  Handschrift^)  und  ist  nur  dadurch  unterstützt,  dass 
Kulmer  Maasse^)  vorkommen.  Der  Verfasser  selbst  nennt  sich  gar 
nicht,  und  sein  Buch  führt  im  lateinischen  Texte  die  Ueberschrift : 
Liber  magnitici  principis  Conradi  de  Jungegen,  magistri  generali 
Prusie,  geometrie  practice  usualis  manualis,  während  in  der  deutschen 
Bearbeitung,  welche  vielleicht  von  dem  Verfasser  in  eigener  Person 
herrührt,  weil  man  kaum  annehmen  kann,  ein  Anderer  sei  so  frei 
mit  dem  Wortlaute  umgegangen,  der  Titel  folgeudermassen  klingt: 
„Eyn  buch  des  irluchten  vorsten,  Heren  Conrad  von  Jungegen,  Ho- 
meysters  czu  Pruseu  der  wirkende  ortmose  myt  Hanvbungen,  in 
dem  so  sal  man  leren,  wy  man  messen  sal  eyn  yclych  ackerlant  unde 
Gevilde".  Der  Gedanke,  der  Hochmeister  könne  wirklich  der  Ver- 
fasser des  Buches  sein,  wird  dadurch  natürlich  sofort  erzeugt,  aber 
beim  Weiterlesen  vollständig  vernichtet.  Die  Einleitung  spendet  dem 
Hochmeister  so  überschwängliches  Lob,  dass  es  ausgeschlossen  ist,  er 
könne  sie  selbst  geschrieben  haben.  Auf  eigenen  Füssen  steht  übrigens 
der  Verfasser  nicht,  und  damit  erklärt  sich  vielleicht  die  bescheidene 
Zurückhaltung  seines  Namens.  Er  habe,  sagt  er,  den  Stoff  zusammen- 
getragen^), und  er  beruft  sich  oft  auf  Euklid,  einmal  —  im  letzten 
Abschnitte  allerdings  —  auf  einen  Dominicus*),  und  es  ist  geglückt, 
in  diesem  Schriftsteller  Dominicus  de  Clavasio  (S.  127)  zu  er- 
kennen. Ihn  hat,  wie  genaue  Vergleichung  erkennen  liess^),  der 
Verfasser  der  Geometria  Culmensis  ausgiebig  benutzt,  an  manchen 
Stellen  wörtlich  ausgeschrieben,  während  er  freilich  dadurch  über  den 
gewöhnlichen  Abschreiber  sich  erhob,  dass  er  bald  Dinge,  die  dem 
Landmesser,  für  welchen  er  schrieb,  unverständlich  gewesen  wären, 
wegliess,  bald  durch  erläuternde  Zusätze  sie  ergänzte.  Ein  wichtiger 
Zusatz    ist    vor    allen    Dingen    die    Lehre    von    der    Ausziehung    der 

Quadratwurzel,  welche  nach  der  Formel  ]/  a^  -{-  r  rx)  a  -|-  —  unter  der 

Voraussetzung  r  <  2a  -f"  1  vollzogen  wird.  Consulo  quod  nullus  sit 
mensor  tum  clericum  quam  laycus,  nisi  prius  in  algorissmo  tam  de 
integris  quam  minuciis  sciat  computare  sagt  dabei  der  Verfasser,  und 
noch   bestimmter  erwähnt  er   in    der    deutschen  Bearbeitung  „czween 


^)  Geometria  Ciihnensis  S.  10,  Z.  13 — 14.       ^)  Ebenda  S.  21 :  duo  pedes  fa- 
ciunt  ulnam  Colmensem.  ^)  Ebenda   S.  16 — 17:  praesentem  librum  compilavi. 

*)  Ebenda  S.  69 :  ut  patet  per  Doviinicum  in  geometria  sua  ==  als  sprycht  magister 
Dominicus  in  syuer  ortmose  unde  aucli  andir  meister.  ^)  Auf  das  Tom.  III, 
pars  I,  Nr.  410  des  münchner  Handschriftenkatalogs  angeführte  Wei'k  hat  Max. 
Curtze  den  Herausgeber  der  Geometria  Culmensis  aufmerksam  gemacht.  Dieser 
hat  dann  die  Vergleichung  vorgenommen  und  im  Drucke  die  dem  II.  Buche  des 
Dominicus  entnommenen  Stellen  durch  Anführungszeichen  kenntlich  gemacht. 
Geometria  Culmensis  S.  6—7, 


152  48.  Kapitel. 

bucheren,  dy  do  heyssen  algorismus,  der  eyne  von  ganczen,  der  andir 
von  teilen"^).  Dieser  Ausspruch  bestätigt  neuerdings,  was  wir  schon 
verschiedentlich  bemerken  durften.  Wie  die  zwei  Abtheikingen  des 
Algorithmus  demonstratus,  welche  das  Rechnen  mit  ganzen  Zahlen 
und  das  mit  Brüchen  lehren,  in  der  Basler  Handschrift  räumlich  ge- 
trennt und  in  verkehi-ter  Reihenfolge  vorkommen,  wie  in  Wien  an 
der  Universität  zwei  verschiedene  Vorlesungen  über  beide  Algorismen 
(de  integris  und  de  minuciis)  gehalten  wurden,  wie  Sacrobosco  über 
ganzzahliges  Rechnen,  De  Lineriis  über  Bruchrechnen  schrieb,  so  gab 
es  am  Ende  des  XIV.  Jahrhunderts  in  Deutschland  zwei  Bücher, 
vielleicht  Nachbildungen  der  beiden  zuletzt  genannten,  aus  welchen 
der  gemeine  Mann  und  nicht  bloss  der  Gelehrte  das  Rech- 
nen mit  ganzen  Zahlen,  das  Rechnen  mit  Brüchen  sich  an- 
eignen konnte.  Jedenfalls  sind  aus  dem  Anfange  des  XV.  Jahr- 
hunderts deutsche  Uebersetzungen  des  Rechenbuches  des  Sacrobosco 
und  eine  deutsche  Abhandlung  über  das  Bruchrechnen  bekannt^). 

Die  Geometria  Culmensis  zerfällt  in  fünf  Abtheilungen.  Die  beiden 
ersten  sind  der  Berechnung  des  Dreiecks  gewidmet,  die  dritte  dem 
Viereck,  die  vierte  dem  Vieleck,  die  fünfte  den  ganz  oder  theil- 
weise  krummlinig  begrenzten  Räumen.  Man  kann  im  Allgemeinen 
sagen,  überall  sei  Falsches  mit  Geschick  vermieden.  Wenn  z.  B.  in 
der  1.  Abtheilung  das  Dreieck  durch  das  halbe  Pro duct  von  Grund- 
linie und  Höhe  gemessen  wird,  wenn  im  rechtwinkligen  Dreiecke  die 
beiden  den  rechten  Winkel  bildenden  Seiten  als  Grundlinie  und  Höhe 
gelten,  so  warnt ^)  der  Verfasser  davor,  in  nichtrechtwinkligen  Drei- 
ecken das  halbe  Product  aneinanderstossender  Seiten  als  Flächen- 
maass  zu  benutzen.  Die  Höhe  (kathetus)  wird  auf  dem  Felde  mit 
Hilfe  eines  rechten  lüinlielmos  (gnomon)  oder  eines  crueze^  (Winkel- 
kreuz) hergestellt  und  wirklich  gemessen.  Sie  heisst  meistens  Dre- 
hom'^).  In  der  2,  Abtheilung  wird  mehr  rechnend  vorgegangen. 
Auch  wo  die  drei  Seiten  des  Dreiecks  auf  dem  Felde  gemessen  wurden, 
soll  man  zu  Hause  ein  verkleinertes  Bild  herstellen.  So  lehrte  Domi- 
nicus,  so  lehrt  etwas  weitläufiger  der  Kulmer  Schriftsteller").  Zwei 
Stangen  sollen  durch  einen  Nagel  verbunden  werden.  Auf  ihnen 
werden    die  Längen   von    zwei   Dreiecksseiten   in  verjüngtem  Maasse 


^)  Geometria  Culmensis  8.  il .  *)  Curtze  brieflich.  ■')  Geometria  Culmensis 
S.  31:  Vidi  pliires  laycos  mensores  et  audivi  eorum  inpericiam,  qui  volehant  in 
wreis  triangularibus  indifferenter  in  omnihus  medietatem  lateris  unius  in  totale 
latus  alterum  muUiplicare  ut  sie  aree  continencium  invenirent,  nescientes  kuthetuni 
invenire.  *)  Ebenda  S.  31:  Ueber  Drebom  =  Driboum  ==  triarbor  yergl.  ebenda 
S.  8.  ^)  Ebenda  S.  36 — 37:  De  hiis  tribus  virgis  duus  coniunge  simul  cum 
clavo  etc. 


Deutsche  Mathematiker. 


153 


aufgetragen.  Eine  dritte  Stange,  der  dritten  Dreiecksseite  ent- 
sprechend, wird  beiden,  die  zu  dem  Behufe  um  den  verbindenden 
Nagel  drehbar  sind,  angepasst.  Dieses  verjüngte  Dreieck  lässt  jeden- 
falls es  zu,  dass  man  die  Höhe  wirklich  ziehe  und  messe,  was  auf 
dem  Felde  vielleicht  nicht  möglich  war.  Bei  rechnender  Ermittelung 
der  Höhe,  d.  h.  beim  gleichschenkligen  und  beim  gleichseitigen  Drei- 
ecke^), wird  der  pythagoräische  Lehrsatz  mit  seiner  Quadratwurzel- 
ausziehung  in  Anwendung  gebracht.  Es  mag  erwähnt  sein,  dass  die 
alterthümlichen     Annäherungswerthe    einiger    Quadratwurzeln    z.    B. 

]/^  oo  "y   in  der   Geometria   Culmensis  ebensowenig  vorkommen  wie 

die  heronische  Dreiecksformel,  welche  die  drei  Seiten  des  Dreiecks 
in  Anwendung  bringt.  Die  3.  Abtheilung  geht  zum  Vierecke  über. 
Hier  begegnen  uns  im  lateinischen  wie  nicht  minder  im  deutscheu 
Wortlaute  die  arabischen  Namen  EUmihahym  und  Elmipharipha  des 
Rhombus  und  des  unregelmässigen  Vierecks^),  die  uns  aus  den  dem 
Arabischen  entstammenden  Euklidübersetzungen  (S.  103)  bekannt  sind, 
deren  aber  auch  Dominicus  von  Paris  sich  bediente.  Ueberall  werden 
wieder  Höhen  gezogen,  und  dadurch  neue  Figuren  auf  schon  im 
Verhergehenden  behandelte  zurückgeführt.  So  ist  unter  den  unregel- 
mässigen Vierecken  zuerst  dasjenige  besprochen,  welches  2,  dann 
dasjenige,  welches  1,  zuletzt  das,  welches  keinen  rechten  Winkel  be- 
sitzt, wobei  die  Figuren  (Figur  27,  2^,  29)  erkennen  lassen,  wie  wir 


Fig.  27.  Fig.  28. 

jene  Zurückführung  auf  schon  Bekanntes  meinen.  Ebendenselben 
Figuren  mag  man  entnehmen,  dass  in  der  ganzen  Geometria  Cul- 
mensis die  Buchstabenfolge  ausnahmslos 
die  lateinische  ist.  Dass  in  Figur  28  der 
Buchstabe  i  nicht  benutzt  ist,  muss  als  Zu- 
fall angesehen  werden,  in  anderen  Figuren 
kommt  er  vor.  In  der  4.  Abtheilung 
werden  Vielecke   ausgemessen,    und    zwar 

zuerst  regelmässige,  dann  unregelmässige.  Durch  gerade  Linien  von 
einem  innerhalb  des  Vielecks  gelegenen  Punkte  aus  nach  den  Eck- 
punkten wird  das  Vieleck  in  ebensoviele  Dreiecke  zerlegt  als  es  Seiten 


Fig.  20. 


')  Geometria  Culmensis  S.  38  und  42.        ^  Ebenda  S.  52. 


154  49.  Kapitel. 

besitzt,  und  diese  Dreiecke  werden  sodann  gemessen.  Als  Punkt  im 
Innern  des  Vielecks  wird  der  Durchschnittspunkt  der  Halbiruugslinien 
zweier  benachbarter  Vieleckswinkel  gewählt,  der  beim  regelmässigen 
Vielecke  dessen  Mittelpunkt  ist.  Grelegentlich  wird  dabei  dieHalbirung 
eines  Winkels  und  die  Auffindung  der  Winkelsiimme  des  Vielecks  ge- 
lehrt^). Auch  das  Vieleck  mit  einspringenden  Winkeln^),  cam])us 
tortuosus  seu  extraeminens,  oder  wie  der  deutsche  Kunstausdruck  lautet, 
„eyn  wanschaifen  geuilde"  wird  berücksichtigt  und  durch  Zerlegung 
in  Theilfiguren,  welche  nicht  aus-  und  einspringen  („yczunt  us  darnoch 
wedir  yn'^  verlaufen)  gemessen.  Die  5.  Abtheilung  stellt  die  Auf- 
gabe, solche  Figuren  zu  messen,  in  deren  Begrenzung  krumme  Linien 
vorkommen.  Das  Verhältniss  des  Kreisumfangs  zum  Durchmesser 
wird  wie  gewöhnlich  „als  waren  22  kegen  7"  angenommen^),  aber 
immerhin  ist  ein  wesentlicher  Unterschied  gegen  die  Art,  wie  etwa 
Albert  von  Sachsen  jene  Zahlen  auffasst.  In  der  Geometria  Culmensis 
ist,  genau  anschliessend  an  Dominicus  (S.  127),  das  Bewusstsein  blosser 
Annäherung  deutlich  ausgesprochen:  das  Verhältniss  gelte  nur  so  weit, 
dass  kein  fühlbarer  Irrthum  übrig  bleibe').  So  der  Hauptinhalt  jenes 
für  die  Zeit  und  für  den  Ort  seiner  Entstehung  sehr  bemerkens- 
wertheu Lehrbuches.  Sein  Verfasser  —  dahin  darf  mau  gewiss  das 
Urtheil  zusammenfassen  —  wusste  gute  Quellen  gut  zu  benutzen  und 
hat,  wenn  man  die  vielfachen  Zahlenbeispiele  näher  ansieht,  auch  als 
zuverlässiger  Rechner  sich  bewährt. 


49.  Kapitel. 
Italienische  Mathematiker. 

Wir  wenden  uns  nach  dem  letzten  Lande,  dessen  mathematische 
Erzeugnisse  aus  dem  XIV.  Jahrhunderte  wir  noch  zu  besprechen 
haben,  nach  Italien.  Wer  sich  des  geistvollen  Kaufmannes  erinnert, 
der  am  Anfange  des  XIII.  Jahrhunderts  in  Italien  lebte,  wer  damit 
unsere  Ankündigung  (S.  138)  verbindet,  Italien  ringe  nunmehr  bald 
mit  Deutschland  um  den  ersten  mathematischen  Preis,  wird  schon  im 
XIV.  Jahrhunderte   erwarten   Bedeutendes  sich   vorbereiten  zu  sehen. 

Dass  diese  Erwartung  sich  erfüllen  könnte,  wenn  aus  den  Hand- 
schriften bekannt  würde,  was  italienische  Schriftsteller  damals  leisteten, 
will  nicht  unbedingt  in  Abrede  gestellt  werden.     Bei  aller  Vorsicht, 


^)  Geometria  Culmensis  S.  57  und  60.  '"■)  Ebenda  S.  63 — 64.  =*)  Ebenda 
S.  07.  ^)  Ebenda  S.  69:  circuli  et  quadrati  adinvicem  mala  est  certa  proporcio 
et  precise  demonstrata,  sed  in  tantiim  est  quod  non  relinquitur  error  sensibilis. 


Italienische  Mathematiker.  155 

welche  unbewiesenen  Behauptungen  des  Geschichtsschreibers  der 
italienischen  Mathematik  gegenüber  geboten  ist,  nehmen  wir  als 
richtig  an,  was  er  mittheilt ^),  dass  im  XIV.  Jahrhunderte  mehrere 
hundert  Bände  mathematischen  Inhaltes  in  Italien  verfasst  worden 
seien,  und  es  wäre  gewiss  wünschenswerth,  dass  ein  Fachmann  sich 
der,  wenn  auch  sicherlich  grossen  und  keineswegs  immer  lohnenden 
Mühe  unterzöge,  an  Ort  und  Stelle  die  Handschriften  zu  prüfen  und 
das  geschichtlich  Wichtige  vollständig  oder  mindestens  im  Auszuge 
zu  veröffentlichen. 

Eine  Veröffentlichung^),  welche  stattgefunden  hat,  erweist  sich 
bei  allem  Interesse,  das  ihr  innewohnt,  als  geeignet,  das  Bild  weit 
eher  eines  Rückganges  als  einer  fortschreitenden  Entwicklung  hervor- 
zurufen. Introdiictonns  liher  qui  et  jnilveris  clicüur  in  mathcmaticain 
(Usciplinam  lautet  der  Titel  einer  Niederschrift  aus  der  zweiten  Hälfte 
des  XIV.  Jahrhunderts,  und  schon  dieser  Titel  muss  unser  Staunen 
erregen  und  giebt  zunächst  zu  verwunderten  Fragen  Anlass.  Ist  das 
kleine  Buch  in  Italien  entstanden,  oder  nur  nach  Rom  verbracht 
worden?  Ist  es  eine  lateinisch  •  verfasste  oder  aus  dem  Arabischen 
übersetzte  Arbeit?  Ist  sie  im  XIV.  Jahrhunderte  verfasst  oder  damals 
nur  abgeschrieben?  Diese  drei  Fragen  stellen  sogar,  je  nachdem  sie 
beantwortet  werden,  unsere  Berechtigung  grade  hier  von  jener  Schrift 
zu  reden  in  Zweifel.  Die  erste  Frage  wird  kaum  genügend  beant- 
wortet werden  können,  die  zweite  aber  muss  wohl  dahin  entschieden 
werden,  dass  dieses  „einleitende  Buch  des  Staubes"  nicht  übersetzt 
ist^).  Erstens  fehlt  jede  gebetartige  Gottesanrufiing,  ohne  welche 
eine  arabische  Schrift  kaum  denkbar  ist;  zweitens  fehlt  jede  Bezug- 
nahme auf  Inder,  Pythagoras,  jede  Vergleichuug  der  Zahlzeichen  mit 
arabischen  Buchstaben,  wie  sie  gleichfalls  kennzeichnend  für  die  Er- 
zeugnisse arabischer  Rechenmeister  sind;  drittens  ist  ein  Kapitel,  wie 
wir  noch  sehen  werden,  den  römischen  Minutien  gewidmet,  was  bei 
arabischem  Ursprünge  gradezu  unmöglich  wäre.  Wie  aber  dann  die 
dritte  Frage  zu  beantworten  sei,  scheint  uns  gleichfalls  kaum  zweifel- 
haft. Der  Inhalt  ist  so  viel  geringer  als  der  von  irgend  anderen  im 
XIV.  Jahrhunderte  vorhandenen  Schriften,  dass  wir  an  eine  Abschrift 
zu  glauben  uns  nicht  im  Stande  fühlen.  Ein  so  schwaches  Erzeugniss 
kann  in  jedem  Jahrhunderte  einmal  niedergeschrieben  werden,  und 
der  ungerechte  Zufall  kann   es  vor  dem  Untergange   bewahren,  aber 


^)  Libri  II,  204  und  212  Note.  ^)  Sur  un  manuscrit  du  Vatican  du  XI V« 
siede  contenant  un  traue  de  calcul  emprunte  ä  la  methode  Gohäri.  Lettre  de 
M.  Henri  Narducci  ä  M.  Aristide  Marre  (1883),  Sonderabdruck  aus  dem  Bulletin 
JDarboux.  ^)  Der  gleichen  Meinung  ist  H.  Narducci:   il  s'agit  ici  d'un  tra- 

vail  original  ecrit  et  public  en  Occident. 


156  49.  Kapitel. 

man  vervielfältigt  es  nicht,  es  sei  denn,  dass  man  geschichtliche 
Forschungen  dabei  im  Auge  habe,  uud  das  können  wir  bei  einem  Ab- 
schreiber des  XIV.  Jahrhunderts  einem  solchen  Schriftchen  gegenüber 
nicht  voraussetzen.  Die  Schrift  ist  nicht  mehr  und  nicht  weniger 
als  ein  sieben  Blätter  füllendes  dürftiges  Lehrbuch  der  Rechenkunst. 
Der  Verfasser  benutzt  die  Ziffern  mit  Stellungswerth ,  er  benutzt  zu 
deren  Erläuterung  auch  die  römischen  Zahlzeichen.  Er  kennt  Finger- 
und Gelenkzahlen.  Er  lehrt  Addition  und  Subtraction,  Verdoppelung 
und  Halbirung,  Multiplication  und  Division.  Er  geht  dann  zu  den 
Brüchen,  deren  Multiplication  und  Division  über,  zuerst  sofern  nur 
Brüche,  dann  sofern  aus  ganzen  Zahlen  und  Brüchen  gemischte 
Zahlen  vorliegen.  Dann  kommt  die  Ausziehung  der  Quadratwurzel, 
endlich,  wie  schon  erwähnt,  ein  Kapitel  über  die  Zerlegung  der  Ein- 
heit in  12  Unzen,  der  Unze  in  weitere  Duodecimaltheile.  Ein  solches 
Lehrbuch  aber,  in  den  Rechnungsarten  an  Jordanus  Nemorarius  und 
an  Johannes  de  Sacrobosco  erinnernd,  mehr  als  anderthalb  Jahr- 
hunderte nach  ihnen  geschrieben,  bildet  entschieden  einen  Rückgang, 
wo  immer  sein  Verfasser  wohnte,  einen  noch  merkwürdigeren  Rück- 
gang, wenn  wir  als  Heimath  das  Land  betrachten  müssen,  in  welchem 
Leonardo  von  Pisa  gelebt  hatte. 

Für  eine  geschichtliche  Erscheinung  nachträglich  Gründe  zu- 
sammenzustellen ist  ja  nicht  immer  unmöglich,  manchmal  auch  nicht 
schwierig.  Man  könnte  sagen:  es  war  ein  Rückgang  in  mathema- 
tischer Beziehunof  eingetreten.     Noch  war  für  Italien  die  Zeit  nicht 


wohnlich  und  bleibend  einzurichten,  weil  die  vorzugsweise  begabten 
Geister  anderen  Bestrebungen  zugewandt  waren.  Giotto  1270 — 1336, 
Dante  1265-1321,  Petrarca  1304—1374,  Bocaccio  1313  —  1375 
drücken  dem  Jahrhunderte  ihren  Stempel  auf.  Eine  Kunstschule  in's 
Leben  rufen,  die  italienische  Sprache  bilden,  sie  beherrschen  in 
Versen  und  Prosa,  sich  versenken  in  die  so  gut  wie  neu  entdeckten 
Schätze  römischer  und  griechischer  Dichter,  das  war  es,  was  den  in 
Italien  jetzt  schon  erwachenden  Humanismus  kennzeichnete.  Natur- 
beschreibung, selbst  ein  hoher  Gegenstand  dichterischer  Schilderung, 
welche  ihr  die  schönsten  Bilder  entlieh,  mochte  daneben  blühen,  für 
Mathematik  erwärmte  sich  keiner  von  den  genannten  Meistern.  Nun 
könnte  ja  freilich  in  kaufmännischen  Kreisen  die  Erinnerung  an 
Leonardo  von  Pisa  wach  geblieben  sein,  könnte  wenigstens  auf  dem 
Felde  der  Rechenkunst  Nacheiferer  grossgezogen  haben. 

Wir  werden  sehen,  dass  in  der  That  der  italienische  Kaufmann 
Wissenstrieb  im  Sinne  unseres  Faches  besass,  aber  einer  sehr  gedeih- 
lichen  Entwickelung,   kann   man   weiter  sagen,  war  der  Umstand  im 


Italienische  Mathematiker.  157 

Wege,  dass,  während  Leonardo  ara  Anfange  des  XIII.  Jahrhunderts 
die  Grenze  bezeichnete,  you  der  an  der  unblutige  Kampf  zwischen 
Abacisten  und  Algorithmikern  eudgiltig  als  zu  Gunsten  der  letzteren 
entschieden  gelten  musste,  im  letzten  Jahre  desselben  Jahrhunderts 
ein  Rückschritt  in  die  alte  Zeit,  wenigstens  in  die  alte  Zahlenbezeich- 
nung gesetzlich  anbefohlen  wurde  \).  Ein  Verbot  aus  dem  Jahre  1299 
hat  sich  nämlich  in  Florenz  erhalten,  wonach  es  den  Kaufleuten 
untersagt  wurde,  ihre  Bücher  mit  dem  Abbacus  zu  führen. 
Es  wurde  ihnen  vielmehr  vorgeschrieben,  römische  Zeichen  oder  die 
ausgeschriebenen  Zahlwörter  zu  benutzen.  Abbacus  heisst  hier  offen- 
bar, ähnlich  wie  in  dem  Werke  des  Leonardo  von  Pisa,  das  was 
ausserhalb  Italiens  den  Namen  Algorithmus  führte.  Das  Florentiner 
Verbot  war  sicherlich  z.u  Gunsten  grösserer  Sicherheit  der  kauf- 
männischen Buchführung  erlassen,  sei  es,  dass  man  meinte,  römische 
Zahlzeichen  Hessen  nicht  so  leicht  fälschende  Einschiebungen  zu,  wie 
die  auf  dem  Stellungswerthe  beruhenden  Ziffern,  sei  es,  dass  man 
voraussetzte,  nicht  Jeder  würde  im  Stande  sein,  letztere  lesen  zu 
können,  was  doch  auch  nöthig  war,  wenn  die  Bücher  auf  öffentlichen 
Glauben  Anspruch  machten;  aber  mochte  die  Absicht  des  Verbotes 
sein,  welche  sie  wolle,  sicherlich  musste  in  Folge  desselben  das  Ziffern- 
rechnen mindestens  keine  Fortschritte  macheu. 

Solche  Bemerkungen  also  könnte  man  machen,  und  vielleicht  ist 
in  ihnen  mehr  als  nur  ein  Körnchen  Wahrheit  enthalten.  Vielleicht 
aber  auch  haben  wir  uns  durch  eine  Missgeburt  eines  Verfassers,  der 
das  Verweilen  nicht  lohnte,  zu  ungerechtfertigten  Schlüssen  verlocken 
lassen,  zu  deren  Prüfung  es  nothweudig  wäre,  dass,  wie  wir  (S.  155) 
sagten,  der  Inhalt  der  zahlreichen  Handschriften,  welche  vorhanden 
sein  sollen,  bekannt  würde.  Eine  Handschrift  aus  Kaufmannskreisen 
ist  bekannt^),  und  sie  macht  freilich  einen  ganz  anderen  Eindruck, 
als  das  armselige  einleitende  Buch  des  Staubes.  Sie  ist  in  italieni- 
scher Sprache  verfasst,  mithin  jedenfalls  von  einem  Italiener.  Die 
vorhandene  Niederschrift  stammt  aus  dem  XIV.  Jahrhunderte,  einem 
älteren  Ursprünge  widerspricht  der  hochbedeutende  Inhalt.  Ort  und 
Zeit  weisen  daher  uns  an,  uns  in  diesem  Kaj)itel  mit  dem  auszugs- 
weise veröffentlichten  Werke  zu  beschäftigen. 

Der  Verfasser  hat  seinen  Namen  nicht  genannt,  dagegen  äussert 


^)  Darauf  hat  für  Mathematiker  zuerst  Hankel,  Zur  Geschichte  der  Mathe- 
matik im  Alterthum  und  Mittelalter  S.  341,  Note  unter  Berufung  auf  Archivio 
storico  Appendice  T.  III  (Florenz  1846)  pag.  528  aufmerksam  gemacht.  Die  be- 
treffende Stelle  lautet:  si  proibisce  ai  mercatanti  di  teuere  i  loro  registri  in  ul>- 
haco  e  si  prescrive  Vuso  delle  lettere  romane  e  la  covipleta  scritttira  del  numero. 
■)  Libri  11,  214,  Note  1  und  III,  302—349. 


158  49.  Kapitel. 

er  .sich  über  die  Veranlassung,  welche  ihn  zum  Schriftsteller  machte. 
Er  sei  gebeten  worden,  Einiges  über  den  Abacus  zu  schreiben,  was 
für  Kaufleute  nothwendig  sei,  und  zwar  von  einer  solchen  Seite,  dass 
die  Bitten  ihm  Befehle  gewesen  seien,  daher  werde  er  nicht  in 
dünkelhafter  Weise,  sondern  um  Gehorsam  zu  zeigen,  sich  anstrengen. 
Auch  hier  ist  das  Wort  alcune  cose  di  abaco  keineswegs  so  aufzu- 
fassen, als-  wäre  von  einem  Rechenbrette  die  Rede.  Nach  den  im 
Drucke  bekannten  Auszügen  war  es  vielmehr  ein  algebraisches  Werk, 
über  welches  sich  der  Verfasser  so  ausspricht,  und  auch  au  die  Kauf- 
leute erinnern  nur  gewisse  eingekleidete  Gleichungen,  welche  mit 
Zinsaufgaben  sich  beschäftigen,  und  zwar  ausschliesslich  mit  solchen, 
bei  welchen  Zinseszinsen  in  Anwendung  kommen,  die  damals  die 
allein  gebräuchlichen  gewesen  zu  >■  sein  scheinen,  da  immer  nur  von 
merito,  Zins,  schlechtweg  ohne  jeden  unterscheidenden  Zusatz  die 
Rede  ist. 

Die  gebrauchten  Kunstausdrücke  sind  folgende.  Die  Constante 
der  Gleichung  heisst  numero,  die  Unbekannte  cosa  und  deren 
höhere  Potenzen  der  Reihe  nach  quadrato  censo  (oder  quadrato 
allein,  oder  auch  censo  allein),  censo  cubo  (oder  cubo  allein), 
censo  di  censo,  censo  di  cubi.  Ausdrücke,  welche  einer  weiteren 
Erklärung  kaum  bedürfen,  da  censo  nur  die  italienische  Form  von 
census  ist,  dessen  Gerhard  von  Cremona  (Bd.  I,  S.  755)  wie  Leonardo 
von  Pisa  fS.  34j  sich  schon  bedienten  und  höchtens  könnte  cosa  be- 
merkenswerth  erscheinen,  die  Uebersetzung  von  res,  während  Ger- 
hard von  Cremona  und  I^eonardo  meistens  radix  sagten,  Leonardo 
allerdings  einmal  (S.  22)  auch  res.  Eine  höhere  Potenz  der  Un- 
bekannten als  die  fünfte  kommt  in  den  Auszügen  nicht  vor.  Die 
zweite  bis  fünfte  Wurzel  heissen  radice,  radice  cubo,  radice  de 
radice,  radice  relata^j,  wo  besonders  der  letztere  eigenthümliche 
Namen  zu  beachten  ist.  Der  Verfasser  gebraucht  beim  allmählichen 
Bilden  des  Ansatzes  sowohl  additive  als  subtractive  Zahlen,  letztere 
mit  meno,  weniger,  verbunden,  aber  die  schhesslich  gebildete  Glei- 
chung ist  immer  so  geordnet,  dass  auf  beiden  Seiten  der  Gleichung 
nur  Positives  erscheint,  wie  wir  heute  sagen  würden,  und  dass  der 
letzte  Schritt  zur  Vorbereitung  der  Auflösung  in  der  Division  durch 
den  Coefficienten  der  höchsten  Potenz  der  Unbekannten  besteht,  beides 
Gewohnheiten  der  arabischen  Algebrakundigen  seit  Alchwarizmi  (Bd.  I, 
S.  682 — 683).  Von  der  Möglichkeit  zweier  Auflösungen  einer  quadrati- 
schen Gleichung  ist,  so  viel  wir  bemerken  konnten,  nie  die  Rede. 
Wie  weit   der  Verfasser  in  Wurzelausziehungen  geübt  war,  ist  nicht 


1)  Libri,  TU,  Uö  und  :^46:  radice  reluta  di  5153632  e  22. 


Italienische  Mathematiker.  159 

zu  entscheiden.  Wo  immer  eine  nur  angenäherte  Berechnung  irratio- 
naler Wurzelgrössen  vorkommen  musste,  hat  er  sie  vermieden  und 
sich  mit  der  Nemiung  der  Wurzelgrösse   begnügt.     Auffallen  möchte 

nur,  dass  einmal^)  ohne  weiteres  ]/lO  —  1/4— =  1/1 -^  gesetzt  ist, 
dass  also  die  Umwandlungen  |/l0  =  3l/l  — ,  1/4— =21/ 1—  dem 

Verfasser  klar  gewesen  sein  müssen.  Dass  er  y  5153632  =  22  ^)  anders 
als  durch  die  Vollziehung  der  umgekehrten  Rechnung  22*^  =  5153632 
ermittelt   haben    sollte,    ist    gewiss    nicht    anzunehmen.     Die    Grösse 

1/  '<^  V  H~  K  ^T  scheint  er  für  gleichbedeutend  mit  1/  '7  .^  +  1/  l/S-ir- 

gehalten  zu  haben  •^),  ein  Irrthum,  der  in  so  früher  Zeit,  avo  wieder- 
holte Wurzelausziehungen  zu  dem  Schwierigsten  gehört  haben  müssen, 
nicht  Grund  zur  Missachtung  bietet,  der  uns  aber  immerhin  an  die 
Mangelhaftigkeit  damaligen  Wissens  deutlich  mahnt.  Noch  lebhafter 
klingt  diese  Mahnung  aus  der  Auflösung  vieler  unter  den  gestellten 
Aufgaben. 

Den  Dreisatz  beherrscht  der  Verfasser  allerdings  vollkommen, 
so  wenn  er  fragt,  was  aus  100  Lire  in  zwei  Jahren  durch  Verzinsung 
Averde'^).  Nach  einem  Jahre  wird  1  cosa  daraus;  im  zweiten  Jahre 
muss  100  Lire  zu  1  cosa  in  dem  gleichen  Verhältnisse  stehen  wie 
1  cosa  zu  der  Fragezahl.  Diese  findet  sich  also  durch  Vervielfachung 
von  1  cosa  mit  1  cosa  zu  1  quadrato    censo  und  Division  durch  100. 

Auch  quadratische  Gleichungen  und  solche,  die  auf 
quadratische  Gleichungen  sich  zurückführen,  löst  er  tadel- 
los. Unter  den  letzteren  verstehen  wir  solche,  Avelche  in  unserer 
heutigen  Schreibart  auf  Null  gebracht  x^  -{-  ax'^  -}^  hx  =  0  und 
x^  -j-  «.<■"-  -{-  h  =  0  heissen  würden.  Aus 
IG 


.,    ,      5  .    ,  8      ,     l/l99 

X-'+^X    AVird   ^=27+    Vl29' 


aus   a^-\-20  =  9x^    wird   a;  =  1/ -^  —  j/*^^^  —  20  =  2    gefunden^), 

wobei  in  dem  letzteren  Falle  mit  keiner  Silbe  begründet  wird,  weshalb 
bei  der  erstmaligen  Wurzelausziehung  die  negative  Quadratwurzel  und 


1)  Libri  HI,  339.  ")  Ebenda  S.  346.  ^)  Ebenda  S.  316,  Z.  3.  *)  Ebenda 
S.  318 :  Foni  que  li  rendesse  il  primo  anno  1  cosa  tra  merito  e  capitale:  Jiora  di' 
100  i  da  1  cosa,  che  dura  1  cosa?   multiplica  1  via  1  cosa  fa  1  quadrato  censo; 

XMrtendolo  100  ne  vene  —-  di  quadrato  di  censo.  ^)  Ebenda  S.  30G  und  314, 


V 


160  49.  Kapitel. 

nicht  die  positive  genommen  wurde.  Vielleicht  war  ihm  doch  be- 
kannt, dass  auch  die  andere  Wahl  ihm  freistand,  dass  also  zwei 
Grleichungswurzeln   hier   möglich    waren,    und    er    entschied    sich    für 

20,    weil  sonst  a;  =  ]/5  herausgekommen   wäre,   während 

hier,  wo  es  einen  rationalen  Werth  x  =  2  gab,  dieser  auch  gefunden 
werden  sollte. 

Bei  den  genannten  Gleichungsformen  bleibt  der  Verfasser  bei 
weitem  nicht  stehen.  Er  behandelt  vielmehr  Gleichungen  3.,  4. 
und  5.  Grades  nach  allgemeinen  Regeln,  denen  leider  nur  die 
Begründung  fehlt  und  fehlen  muss,  da  die  Regeln,  wie  man  zu  er- 
warten berechtigt  war,  falsch  sind^).  Wurden  schon  bei  den  unreinen 
quadratischen  Gleichungen  die  drei  bekannten  Fälle  unterschieden,  so 
ist  bei  den  kubischen  Gleichungen  eine  Unterscheidung  von  noch  mehr 
Fällen  nur  natürlich.  Dass  diejenigen  Fälle,  welche  durch  Division 
durch  die  Unbekannte  zur  quadratischen  Gleichung  führen,  richtige 
Lösungen  finden,  haben  wir  schon  erwähnt.  Dass  Gleichungen  mit  nur 
zwei  Gliedern  wie  aaf'  =  hx'  oder  ax^  =  ex  oder  ax^  =  k  ebenfalls 
richtig  gelöst  werden,  ist  wieder  nicht  zu  verwundern.  Bemerkt  sei 
nur,  dass  von  den  zur  Auflösung  führenden  Divisionen  durch  die  Un- 
bekannte  nie  gesprochen  wird.     Der  Verfasser  wird    sich    dessen  ja 

bewusst    gewesen    sein,    wieso    aus    8it;^  ==  3ä^    der    Werth  a;=|/-^- 

folgt,  aber  gesagt  hat  er  es  nicht-).  Bei  Gleichungen  mit  drei  und 
vier  Gliedern  sind  folgende  Verfahren  eingeschlagen,  welche  theils 
aus  den  ausdrücklich  ausgesprocheneu  Vorschriften,  theils  aus  den 
Zahlenbeispielen     in    übereinstimmender    Weise    hervorgehen.      Aus 

ax^  =^  cx-\-h  wird  x^  =  —  x  -\ gebildet  und  diese  Gleichung  als 

quadratische  weiter  behandelt: 


So  'Sx^=  bx  -\-  16,   welche  zu 

5      I     1  /o~25' 
^=l6  +  y2256 

^)   Was  Libri  II,  213,  Note  1  darüber  sagt,   beruht  auf  einem  fast  unbe- 
greiflichen Missverständnisse  der  Stelle,  um  die  es  sich  handelt.       ")  Libri  III, 

305:   8  cuhi  sono  equali  a  3  cose;  parti  3  per  8  cuhi,  ne  vene  —  e  la  radice  de 

8 

—  vcde  la  cosa. 
8 


Italienische  Mathematiker.  101 

führt  ^).     ax^  =  hx'  -4-  l-    mebt   zunächst    x^  =  —  x-  4-  ~    und  auch 
diese  wird  weiter  behandelt,  als  stände  links  x-    rechts  x,  also 


So  Sx'  =  9a-2  +  12  mit  .^'  =  ^^  +  l/lSs")-  ^i^  viergliedrige  Glei- 
chung ax'^  =  hx-  -{-  ex  -)-  k  wird  so  angefasst,  als  hätte  auch  die 
Constante  k  noch  den  Factor  x.     Sie  führt  mithin  zu 


-  =  ^  +  l/^=»- 
Wunderlich  genug  findet   später   «a" -|-  hx-  -{-  ex  =^  /.•   die  Auflösung 

a;  =  [/ (t")   H — r?  welche  nur  dann  richtig  ist,  wenn  h-=^oae, 

wie  es  in  dem  entsprechenden  Zahlenbeispiele  a;^-f-60a;^-f-  1200.t=4000 

wirklich  der  Fall  ist*),  so   dass  a;  =  y  12000  —  20  eine  Gleichungs 
Wurzel  ist. 

Ganz  ähnlich   verhält   es   sich  mit    der  Gleicliung  vierten  Grades 

ax^  +  hx^  +  ex-  +  dx  =  Je,  deren  Wurzel  x  ^  ]/{^f  +  4  "  Vt 
nur  dann  als  richtig  sich  erweist,  wenn  h^  =  li) a'-d  und  zugleich 
hc  =  6ad,  wie  es  in  dem  entsprechenden  Beispiele 

x^  +  80a;=^  +  2400a,--  +  32000a:  =  96000 
wirklich  der  Fall  ist^),  so  dass  hier 


X  =  y4002  +  96000  —  y400  =  y  256000  —  20 

die  Gleichung  erfüllt.  Aber  auch  die  Gleichung  ax'^-\-cx^-\-  dx=hx^-\-h 
wird  besprochen**),  und  hier  wird  als  Auflösung 

angegeben!  Während  in  dem  vorhin  beigezogenen  Falle  das  Nicht- 
auftreten  des  Coefficienten  c  sich  aufdrängte,  während  doch  wenigstens 
eine  vierte  Wurzel  und  sämmtliche  übrige  bekannte  Grössen  der 
Gleichung  vorkommen,  ist  hier  sowohl  c  als  h  aus  dem  Wurzel werthe 
verschwunden  und  eine  vierte  Wurzel  ist  nicht  zu  sehen.  Die  zur 
Auflösung  vorgelegte  Gleichung  x^  -\-  2^6  x^  -\-  120 x  =  20a;^+  1800 
wird  aber  gleichwohl  durch  it  =  y43  —  ]/l8-|-^^  in  Folge  glücklicher 

1)  Libri  III,   306—307.        -;  Ebenda  S.  307— 308.      ')   Ebenda  S.  308— 309. 
*)  Ebenda  S.  316.         ^)  Ebenda  S.  318.         ^)  Ebenda  S.  346. 

Cantor,  Geschichte  der  Mathem.    II.     -'.  Aufl.  11 


162  49.  Kapitel. 

Coefficienteuwahl  erfüllt.  Bei  diesem  Beispiele  gelingt  es,  dem  Ver- 
fasser auf  die  Spur  seines  Verfahrens  zu  kommen.  Er  sagt  zwar,  es 
handle  sich  um  die  Auflösung  der  genannten  Gleichung  vierten  Grades, 
aber  diese  entsteht  auf  folgende  Weise.  Die  Zahl  10  soll  in  zwei 
Theile  zerlegt  werden,  deren  Product  durch  ihre  Diiferenz  getheilt 
]/l8  als  Quotient  geben  soll.  Verallgemeinern  wir  die  Bedingungen 
dahin,  dass  wir  10  durch  a,  18  durch  ß  ersetzen,    so  lautet  also  der 

erste  Ansatz  _  =  l//3,  und  wird  derselbe  quadrirt  und  die  Glei- 
chung geordnet,  so  erscheint  x^-\-{a^ — Aß)x-  -\-  Aaßx  =  2ax^-\-  a^ß 
genau  wie  oben.  Die  Auflösung  kann  aber  auch  ohne  Quadrirung 
vollzogen  werden.  Durch  Multiplication  mit  a  —  2x  geht  sie  über 
in   x^  4~  ^Yß  =^  (^  +  2yß)x  und  daraus  wird 


Beide  Theile  von  a  fallen  aber  nur  dann  positiv  aus,  wenn  von  dem 
Doppelzeichen  gegen   alle   sonstige  Uebuug   älterer   Mathematiker  das 

untere  gewählt  wird;  dann  sind  die  beiden  Theile  y  +  ]//3— l/(^)  -\- ß 

und  -J  —  ]/^+  ]/(y)^+  ß-    Wird  wieder  rückwärts  a  =  10,  /?  =  18 

eingesetzt,  so  ist  y  -  l/^  +  Vi^f  +  ß^  ^  —  V^  +  /^^  ^i^ 
der  Verfasser  aussagt.  Es  fällt  schwer  anzunehmen,  die  Schlüsse  seien 
so,  wie  wir  sie  hier  vortrugen,  gezogen  worden,  insbesondere  bezüg- 
lich des  Doppelzeichens.  Es  fällt  noch  schwerer  unter  Abweisung 
unserer  Wiederherstellung  einen  anderen  Weg  zu  erkennen,  den  der 
Verfasser  eingeschlagen  haben  könnte.  Jedenfalls  hat  er,  und  diese 
Erkenntniss  halten  wir  für  nicht  unwichtig,  in  die  Form  einer  Glei- 
chung vierten  Grades  verlarvt,  was  nur  einer  Gleichung  zweiten  Grades 
bedurfte. 

Wir  erwähnen  endlich   eine  Gleichung  fünften  Grades^)  von  der 
Form    ax'^  -\-  bx'^  -{-  cx^  -\-  dx^  -\-  ex  =  h,   als  deren  Wurzel 

3  , — 


-=y^+i-i/i 


auftritt!     In  dem  Zahlenbeispiele 

^5  _|_  ioo.#  +  4000^^  +  80000a;2  +  SOOOOOa;  =  1953632 

bringt  die  Vorschrift  allerdings  a:==yol53632—|^8Ö(X)  =  22  —  20= 
hervor,  welcher  Wurzelwerth  der  Gleichung  genügt. 


1)  Libri  III,  345— 34G. 


Italienische  Mathematiker.  163 

Was  soll  inau  aus  diesen  tolleu  uud  doch  die  jedesmaligen  Zahleu- 
beispiele  befriedigenden  Wurzelwerthen  machen?  Gewiss  ist  keine 
andere  Folgerung  zu  ziehen,  als  diejenige,  welche  wir  an  dem  einen 
Falle  einer  Gleichung  vierten  Grades  zu  erörtern  versucht  haben. 
Der  Verfasser  jener  Algebra  hat  irgend  welche  zum  Theil  recht  kraus 
aussehende  Wurzelwerthe  bald  von  vornherein  angenommen,  bald 
durch  Mittel,  die  er  nachträglich  zu  verbergen  wusste,  aus  den  Glei- 
chungen sich  verschafft;  er  hat  mit  ihrer  Hilfe  Gleichungen  dritten, 
vierten,  fünften  Grades  gebildet;  er  hat  dann  gesucht,  die  ihm  be- 
kannten Wurzeln  aus  den  Coefficienten  der  ihm  gleichfalls  bekannten 
Gleichung  herauszurechnen;  er  hat  endlich  sieh  und  seine  Leser  mit 
der  Hoffnung  getäuscht,  die  Kunststückchen,  welche  er  unter  saurem 
Schweisse  und  nack ungezählten  vergeblichen  Versuchen  herausgeklügelt 
hatte,  würden  auch  in  anderen  Zahleubeispielen  ihre  Schuldigkeit  thuu. 
Er  war  ein  ungemein  geübter  Rechner.  Er  litt  an  der  Krankheit 
der  ungenügenden,  aber  für  genügend  gehaltenen  Induction,  welche  er 
nebst  den  Aufgaben  der  kubischen  und  biquadratischen  Gleichungen 
seinen  Landsleuten  hinterliess.  Er  war  trotz  der  hervorgehobenen 
Schwäche  nichts  weniger  als  ein  unbegabter  Mathematiker.  Den  Be- 
weis für  diese  unsere  letzte  Behauptung  würden  vermuthlich  die  Kennt- 
nisse des  Verfassers  auf  anderen  mathematischen  Gebieten  als  dem 
der  Gleichungen  höherer  Grade  zu  liefern  vermögen,  wenn  die  Aus- 
züge aus  seiner  Schrift  etwas  ausgiebiger  in  dieser  Beziehung  wären. 
Einmal  ist  ein  Schild  in  Gestalt  eines  gleichseitigen  Dreiecks  auf 
seinen  Flächeninhalt  zu  prüfen^).     Ist  cosa  die  Seite,  heisst  es,  dann 

ist  die  halbe  Summe  der  drei  Seiten   1^  cose,   und  diese  um  1  cosa 

verringert    geben    ^  cosa,  also   müsse   das  Product  gebildet  werden 

aus  1—  cose,  --  cosa,  -^  cosa,  —  cosa,  und  dieses  oder  -^-  de  censo 
de  censo  gebe  das  Quadrat  des  Flächeninhaltes;  hier  ist  augenschein- 
lich die  heronische  Dreiecksformel 


t- 


-\-  b  -\-  c     a  -\-  b  —  c     a  —  ö-fc     —  a  -\-  b  -\-  c 


2  2  2 

unter  Berücksichtigung  von  a  =  h  =  c  in  Anwendun« 
dem  sollen  auch  folgende  Aufgaben  behandelt  sein^):  In  einen  Kreis, 
in  ein  Dreieck,  in  ein  Quadrat  eine  gegebene  Anzahl  von  Kreisen, 
von  gleichseitigen  Dreiecken,  von  Quadraten  einzuzeichnen,  so  dass 
die  Flächensumme  der  eingezeichneten  Figuren  die  grösstmögliche 
sei,  und  ebenso  die  Aufgabe,  in  einen  Würfel  ein  Tetraeder  von 
grösstmöglichem  Rauminhalte  einzubeschreiben. 

1)  Libri  III,  311—312.         -;  Ebenda  11,  214  Note. 

11* 


164  49.  Kapitel. 

Von  einem  Scliriftsteller  des  XIV.  Jahrhunderts^  von  Antonio 
Biliotti,  genannt  dall'  Abaco  aus  Florenz,  wissen  wir  nur^),  dass 
er  1383  in  Bologna  lehrte. 

Den  gleichen  Beinamen  dall'  Abaco  führte  Paolo  Dagomari-). 
Er  ist  etwa  1281  in  Prato  geboren,  1374  in  Florenz  gestorben.  Er 
führte  neben  dem  angegebenen  Beinamen  auch  den  als  Paolo  Astro- 
logo,  als  Paolo  Geometra,  als  Paolo  Arismetra.  Nach  einer 
Angabe  seien  seine  Werke  nebst  erläuternden  Zusätzen  des  Micillus 
1532  in  Basel  im  Drucke  erschienen,  doch  ist  diese  Ausgabe  von 
Niemand  je  beschrieben  worden,  wenn  sie  überhaupt  vorhanden  war. 
Er  schrieb  ein  Werk,  in  welchem  die  Gleichungen  ersten  und  zweiten 
Grades  und  diejenigen  kubischen  Gleichungen,  welche  nur  aus  zwei 
Gliedern  bestehen,  behandelt  sind^).  Auch  unbestimmte  Aufgaben 
kommen  in  der  für  Kaufleute  verfassten  Schrift  vor,  z.  B.  die  Auf- 
gabe, eine  ganze  Zahl  von  der  Eigenschaft  zu  finden,  dass  ihr  Quadrat 
mit  dem  um  36  verminderten  Quadrate  vervielfacht  wieder  ein  Quadrat 
werde  ^).  Paolo  Dagomari  hat  zuerst  unter  den  Nicht-Arabern,  freilich 
wahrscheinlich  nach  arabischem  Muster  einen  Almanadi  unter  dem 
Titel  tacmino  verö£Fentlicht,  welcher  dieser  Gattung  von  Schriften 
lange  beigeblieben  ist.  Dem  Almanach  muss  allem  Anscheine  nach 
ein  arabisches  Wort  zu  Grunde  liegen,  doch  ist  dasselbe  mit  Sicher- 
heit noch  nicht  erkamit.  Taccuino  dagegen  ist  unverkennbar  das 
arabische  taqwim,  die  Tabelle  ='').  Am  bekamitesten  sind  die  mehrfach 
gedruckten  Regoluzze  di  Maestro  Paolo  dall'  Abbaco^).  Es 
sind  52  sehr  kurz  gefasste  Regeln,  welche  zu  einigen  Bemerkungen 
Anlass  geben.  Die  1.  Regel  schreibt  vor,  man  solle  die  Zahlen  zum 
besseren  Ueberblick  beim  Lesen  derselben  durch  Pünktchen  in  Gruppen 
von  je  drei  Ziffern  abtheilen.  Wir  wissen,  dass  Johaimes  von  Sa- 
crobosco  das  Gleiche  vorschrieb.  Das  Gleiche  wird  auch  von  einem  wie 
Dagomari  dem  XIV.  Jahrhunderte  augehörenden  Paolo  von  Pisa^) 
berichtet,  der  aber  eine  ziemlich  zweifelhafte  Persönlichkeit  ist  und 
vielleicht  mit  unserem  Paolo  sich  deckt.  In  der  11.  Regel  sind 
Brüche,  rotti,   erklärt.     Man   schreibt  sie  mittels    eines  Bruchstriches, 


')  Libri  11,  205,  Note  1.  -)  Boncompagni,   Intorno   ad  alcune  opere 

di  Leonardo  Pisano  pag.  183,  134,  137,  138,  274—327,  353—397.  »)  Libri  II, 
r)27.  **)  Damit  x^{x-  —  36)  Quadrat  sei,  muss  x^  —  36  ein  solches  sein,  d.  h. 
X  muss  die  Hypotenuse  eines  rechtwinkligen  Dreiecks  sein,  dessen  eine  Kathete 
6  ist,  und  ein  solches  Dreieck  ist  z.  B.  6,  8,  10.  Man  kann  daher  x  =  10, 
x^{x^  —  36)  =  6400  =  80^  setzen.  ^)  M.  Steinschneider  in  der  BiUiotheca 
matliematica  von  G.  Eneström  1888,  pag.  13—16.  **)  Libri  III,  296— .301.  — 
Frizzo,  Le  Eegohtzze  di  Maestro  Paolo  daW  Ahhaco  (Verona  1883).  ')  Libri 
II,  206,  Note  5  und  526;  III,  295. 


Italienische  Mathematiker.  165 

verga,  über  welchem  der  denommato,  unter  welchem  der  denominafore 
sich  findet.  Die  12.  Regel  lehrt  die  rotti  infiUafi  kennen,  jene  auf- 
steigenden Kettenbrüche,  deren  Leonardo  von  Pisa  nach  arabischem 
Vorbilde  (S.  10)  sich  bediente.  In  der  14.,  15.,  16.  Regel  kommt  die 
Multiplication  und  nach  ihr  die  Addition  von  Brüchen  zur  Sprache, 
das  Dividiren  durch  eine  gemischte  Zahl  erst  in  der  38.  Regel. 
Dazwischen  schieben  sich  Regeln  des  Dreisatzes,  der  Zinsberechnung, 
die  Angabe ,  dass  man  den  Kreisumfang  erhalte ,  wenn  man  den 
Durchmesser  mit  22  multiplicire  und  durch  7  dividire,  die  Sum- 
mirung  der  Reihe  der  natürlichen  Zahlen.  Die  Regeln  42  bis  45 
beziehen  sich  auf  Kalenderanfertigung.  Regel  46  lehrt  die  Subtrac- 
tion  ganzer  Zahlen  von  einander  mit  Borgen  von  10  im  Minuenden, 
wo  es  nöthig  ist,  worauf  die  nächste  Subtrahendenstelle  um  1  erhöht 
wird.     Regel  47   lässt   die   Quadratwurzel  einer  Zahl    näherimgsweise 

nach    der    Formel    VA  c^  a  -\ berechnen    u.  s.  w.     Ordnung 

kann  man,  wie  diese  Auszüge  beweisen,  den  Regeln  nicht  nachrühmen! 

Giovanni  Danti  von  Arezzo  ^)  wird  als  Verfasser  eines  der 
Arithmetik  des  Boethius  entnommenen  (?)  Algorithmus  und  einer 
Geometrie  nach  arabischen  Quellen  genannt. 

Zu  eher  0  Bencivenni")  übersetzte  Mancherlei  astronomischen 
und  mathematischen  Inhaltes  aus  dem  Arabischen  in  das  Italienische. 
Bekannter  ist  freilich  sein  Name  wegen  eines  grammatischen  Ver- 
dienstes, da  er  es  gewesen  sein  soll,  der  zuerst  den  Mitlauter  v  von 
dem  Selbstlauter  u  unterscheiden  lehrte. 

Rafaele  Canacci  aus  Florenz^)  hat  gleichfalls  in  italienischer 
Sprache  über  Algebra  geschrieben  und  zwar,  wie  es  scheint  im 
Anschlüsse  an  Guglielmo  de  Lunis,  wenn  man  an  die  italienische 
Algebra  dieses  von  Canacci  selbst  genannten  Vorgängers  (S.  100) 
glauben  darf.  Diese  Schrift  soll  namentlich  geschichtliche  Angaben 
in  bemerkenswerther  Anzahl  enthalten,  deren  Bekanntmachung  zu 
wünschen  wäre,  allerdings  unter  der  Voraussetzung,  dass  sie  nicht 
alle  jener  Angabe  gleichen,  die  sich  von  Canacci  aus  fortgeerbt  zu 
haben  scheint  (Bd.  I,  S.  679),  als  führe  die  Algebra  ihren  Namen 
nach  einem  gewissen  Geber. 

Schriftsteller  wie  Pietro  d'Abano,  Cecco  d'Ascoli,  Andalo  di  Negro, 
denen  eine  ausführliche  Geschichte  der  Physik  und  der  Astronomie 
in  Italien  gerecht  werden  müsste,  übergehen  wir  und  nennen  nur 
noch  Biagio  da  Parma^).     Sein  eigentlicher  Name  war  Pelacani. 

1)  Libri  II,  207.  *)  Ebenda  S.  207,  Note  4.  ^)  Ebenda  S.  208.  Die  Hand- 
schrift der  Algebra  des  Canacci  gehört  der  Bibliotheca  Palatina  in  Florenz  an. 
*)  Ebenda  209.    —   Gherardi,   Einige  Materialien    zur  Geschichte   der  mathe- 


166  49.  Kapitel. 

Er  trat  an  den  verschiedensten  Orten  als  Lehrer  auf,  so  auch  in 
Paris,  wo  man,  wie  erzählt  wird,  auf  ihn  den  Ausspruch  erfand:  „Aut 
diabolus  est,  aut  Blasius  Parmensis."  Seine  erste  Lehrthätigkeit  ent- 
wickelte er  seit  1374  in  Pavia,  wo  er  selbst  sich  den  Doctorgrad  er- 
worben hatte.  In  der  üniversitäb  Bologna  hatte  er  die  Professur  der 
Astrologie,  später  die  der  Philosophie  in  den  Jahren  1378 — 1384  inne. 
Von  Bologna  kam  er  nach  Padua  bis  1388,  wo  er  wieder  in  Bologna 
Astrologie  las.  Die  Jahre  1404,  1406,  1407  gehören  wieder  Pavia, 
die  Zeit  von  1408  bis  zum  15.  Oetober  1411  neuerdings  Padua  an. 
Dann  kehrte  er  in  seine  Vaterstadt  Parma  zurück,  in  welcher  er  am 
23.  April  1416  starb.  Sein  Charakter  scheint  den  häufigen  Aufent- 
haltswechsel verschuldet  zu  haben;  wenigstens  wird  glaubwürdig  be- 
richtet, er  sei  seiner  Stellung  in  Padua  verlustig  geworden,  weil  die 
Studirenden,  entrüstet  über  seine  Rohheit  und  Habgier,  seine  Vor- 
lesungen nicht  länger  besuchten,  worauf  die  Regierung  ihn  entliess. 
Er  beschäftigte  sich  unter  anderem  mit  Statik  und  mit  Perspective 
und  schrieb  überdies  Erläuterungen  zu  den  Latitudines  formarum  des 
Oresme.  Letztgenannter  Commentar  ist  1482  in  Padua  im  Drucke 
erschienen,  gehört  aber  heute  zu  den  kaum  auffindbaren  Seltenheiten, 
imd  doch  wären  Nachrichten  über  ihn  sehr  erwünscht,  sowohl  wegen 
der  uns  bekannten  Bedeutsamkeit  des  erläuterten  Werkes,  als  auch 
um  ein  Urtheil  zu  gewimien,  wie  weit  die  Berühmtheit  des  Verfassers 
eine  verdiente  war. 

Wir  haben  das  Ende  des  XIV.  Jahrhunderts  erreicht.  Ueber- 
blicken  wir  dasselbe  mit  nach  rückwärts  gewandten  Augeu,  so  sind 
es  etwa  folgende  Punkte,  die  vorzugsweise  sich  bemerkbar  machen. 
Die  beiden  Schulen,  deren  Vorhandensein  im  XIII.  Jahrhunderte  wir 
erkannten,  sind  noch  immer  getrennt  vorhanden.  Die  geistliche  Schule 
der  Universitäten,  an  Zahl  und  Bedeutung  der  ihr  angehörenden  Per- 
sönlichkeiten überwiegend,  bringt  in  England  einen  Bradwardinus,  in 
Frankreich  einen  Dominicus  de  Clavasio,  einen  Oresme  hervoi',  schickt 
Sendboten  einer  künftigen  Grösse  nach  Deutschland.  Die  weltliche 
oder  kaufmännische  Schule  bleibt  noch  in  Italien  haften  ohne  durch 
diese  Einengung  des  Bodens  ganz  zu  verkümmern.  Sie  zählt  auch 
Pej-sönlichkeiten  von  geistiger  Bedeutung,  wenn  auch  keineswegs 
dem  Gründer  der  Schule,  Leonardo  von  Pisa,  nur  annähernd  gleich- 
zustellen. 

Ohne  Alles,  was   das  XIII.  Jahrhundert  hinterlassen  hatte,    voll- 


matischen  Facultät  der  alten  Universität  Bologna  (deutsch  von  Max.  Curtze 
1871)  S.  19.  —  Favaro,  Galileo  Galilei  e  lo  studio  di  Padova  (1883),  I,  112—114. 
—  Suter,  Math.  Univ.  S.  50. 


Italienische  Mathematiker.  167 

ständig  zu  beherrschen,  ist  das  XIV.  Jahrhundert  dennoch  in  wich- 
tigen Dingen  fortgeschritten.  Neue  mathematische  Begriffe  kommen 
zur  Entstehung,  deren  Reife  noch  Jahrhunderte  auf  sich  warten  lassen 
wird.  Bradwardinus  legt  den  Grund  zu  einer  allgemeinen  Lehre  von 
den  Sternvielecken.  In  seine  philosophisch -mathematischen  Unter- 
suchungen spielt  schon  die  Frage  des  Unendlichgrossen,  des  Unend- 
lichkleinen hinein,  die  nicht  mehr  zur  Ruhe  kommen  soll.  Der  Con- 
ti ngenzwinkel ,  schon  von  Campanus,  der  auch  die  Untersuchung  der 
Sternvielecke  in  Fluss  gebracht  hatte,  der  Beachtung  würdig  erkannt, 
bietet  einen  Gegenstand  der  Forschung  wie  des  Streites.  Oresme 
giebt  einer  noch  ziemlich  fernen  Zukunft  gebrochene  Exponenten. 
Er  giebt  ihr  eine  Yersinnlichung  von  Veränderungen,  aus  welcher 
neue  Wissenschaften  entstehen  werden.  Sind  diese  Keime  den  Ge- 
lehrten der  Universitäten  zu  verdanken,  so  sehen  wir  italienische 
Kauflente  mit  Gleichungen  von  höherem  Grade  als  dem  zweiten  sieh 
beschäftigen.  Es  war  ein  Schritt  nicht  über  Leonardo  von  Pisa  hinaus, 
aber  neben  dem  von  diesem  gebahnten  Wege,  den  sie  wagen.  Leo- 
nardo hatte  eine  bestimmte  kubische  Zahlengleichung  annähernd  ge- 
löst, nachdem  er  gezeigt  hatte,  welche  Gestalt  die  Gleichungswurzel 
nicht  haben  könne.  Jetzt  ist  von  bestimmten  Zahlengleichungeu  als 
solchen  nicht  die  Rede,  die  Frage  nach  der  allgemeinen  Auflösung 
der  kubischen,  der  biquadratischen  Gleichung  drängt  sich  mächtig  in 
den  Vordergrund.  Auch  diese  Frage  wird  nun  nicht  mehr  zur  Ruhe 
kommen.  Versuche,  dieselbe  zu  bewältigen,  scheitern  und  werden 
noch  scheitern.  Ungenügende  Inductionen  führen  höchstens  zur  Nei- 
gung, in  geheimnissvoller  Weise  zu  verbergen,  wie  man  die  der 
Induction  zu  Grunde  liegende  einzelne  Gleichung  behandelt  hatte. 
Auch  diese  Neigung  wird  sich  vererben,  in  Italien  vererben,  bis 
wieder  in  Italien  der  wiederholt  vergebliche  Versuch  gelingen  und  die 
kubische,  die  biquadratische  Gleichung  bewältigt  sein  wird. 


XI.   Die  Zeit  von  1400—1450. 


50.  Kapitel. 

Deutsche  Rechenlehrer.     Johann  von  Gemundeii, 
Georg  von  Peurbach. 

Wir  haben  zu  Beginn  des  48.  Kapitels  ein  Zurückweichen  der 
mathematischen  Wissenschaften  in  Frankreich  und  England  für  den 
Anfang  des  XV.  Jahrhunderts  angekündigt. 

Was  die  englische  Mathematik  betriift,  so  könnten  vielleicht  For- 
schungen im  Lande  selbst  ein  günstigeres  Ergebniss  liefern,  als  wir 
anzunehmen  geneigt  sind,  wenn  es  wahr  sein  sollte,  was  ein  Schrift- 
steller^) berichtet,  dass  gerade  damals  ein  ganzer  Flug  von  Mathe- 
matikern (a  coye  of  mathematicians)  aufstieg.  Zur  Veröffentlichung 
gelangten  indessen  bisher  nur  ärmliche  Zeugnisse.  Wenn  z.  B. 
Höhenmessungen  mit  der  festen  Stange  (Bd.  I,  S.  812)  vor- 
genommen werden^),  so  ist  das  doch  ein  entschiedener  Rückschritt, 
und  einen  grossen  Fortschritt  können  wir  auch  nicht  in  den  Vor- 
lesungen von  Johannes  Norfolk^)  über  Progressionen,  Johannis 
Norfolk  in  artem  progressionis  Summula,  erkennen,  welche  1445  ge- 
halten wurden.  Als  eigene  Erfindung  wird  der  Inhalt  ohnehin  nicht 
vorgebracht.  Progressionen  seien  von  einem  gewissen  Könige  Algor 
von  Castellieu  (sie!)  in  seinem  Algorismus  der  ganzen  Zahlen  gelehrt 
und  sollen  hier  nur  vor  Vergessenheit  bewahrt  werden.  Die  Ver- 
gessenheit scheint  aber  allerdings  schon  angefangen  zu  haben,  denn 
1,  2,  o,  4,  5,  6  oder  2,  7,  12,  17,  22  wird  eine  geometriscJie ,  und 
1,  2,  4,  8,  16  oder  1,  3,  9,  27  eine  arithmetische  Progression  genannt! 
Nehmen  wir  diese  Benennungen  in  den  Kauf,  so  besteht  Norfolk's 
obendrein  geborgte  Weisheit  darin,  dass  die  von  ihm  sogenannte 
geometrische  Progression  in  stetige  und  unterhrochene  zerfällt,  je  nach- 
dem die  Differenz  1  oder  grösser  als  1  ist,  dass  ferner  unterschieden 
wird,  ob  die  Gliederzahl  grad  oder  ungrad  ist,  und  dass  für  alle  vier 


1)  Füller,  History  of  the  worthies  of  England  (ed.  1811)  II,  41.^.  ^)  Halli- 
well,  Eara  MathemaUca  pag.  29—31.  ^)  Ebenda  pag.  94-106.  Die  üatmmg 
pag.  103. 


172  50.  Kapitel. 

Fälle  Regeln  der  Summenbilduug  angegeben  werden.  Von  seinen 
arithmetischen  Progressionen  nennt  Norfolk  nur  die  der  Potenzen 
von  2,  also  2,  4,  8,  16  u.  s.  w.  Sie  werde  summirt,  indem  man  das 
erste  Glied  von  dem  verdoppelten  letzten  Gliede  abziehe.  Namen 
von  Lehrern  der  Astronomie  an  englischen  Universitäten  in  diesem 
Zeiträume  sind  uns  gleichfalls  aufbewahrt,  aber  von  mathematischen 
AVerken  derselben  etwa  über  das  Grenzgebiet  der  Trigonometrie  ist 
nicht  mehi"  die  Rede,  so  dass  ein  Uebergehen  jener  blossen  Namen 
mehr  als  nur  gerechtfertigt  für  uns  erscheint.  Ferner  sind  uns  Prü- 
fungsordnungen der  Universität  Oxford  erhalten^}.  Für  das 
Baccalaui-eat  war  im  Jahre  1408  Rechnen  mit  ganzen  Zahlen  und 
Kirchenrechnung  vorgeschrieben.  Die  Anforderungen  für  das  Licen- 
tiat  sind  von  1431  bekannt.  Sie  belaufen  sich  auf  die  Arithmetik 
und  Musik  des  Boethius,  auf  euklidische  Geometrie  ohne  Angabe  der 
geforderten  Bücherzahl  oder  statt  ihrer  auf  die  Perspective  des 
Witelo,  endlich  auf  astronomische  Kenntnisse  nach  Ptolemäus.  Man 
kann  ja  zugeben,  dass  diese  Anforderungen  schon  über  das  in  Paris 
nicht  gar  lange  vorher  geforderte  Maass  (S.  1401  hinausgehen,  aber 
den  Anforderungen  wie  den  Leistungen  von  Prag  und  Wien  sind  sie 
nicht  zu  vergleichen. 

Haben  wir  soeben  der  Satzungen  der  Universität  Paris 
aus  dem  XIV.  Jahrhunderte  gedacht,  so  brachte  eine  1452  durch  den 
päpstlichen  Legaten  Tuttavilleo  vorgenommene  Neuordnung'^)  keine 
Besserung.  Für  das  Baccalaureat  war  Mathematik  gar  nicht  vor- 
geschrieben, für  das  Licentiat  aliqui  libri  mathematici,  eine  irgend 
nähere  Bestimmung  dieser  Schriften  fehlt. 

Den  niedrigen  Stand  der  mathematischen  Studien  in  Frankreich 
bestätigt  ferner  die  geringe  Anzahl  von  Namen,  welche  wir  auffinden. 
Höchstens  eine  einzige  Persönlichkeit  haben  wir  aus  der  ersten  Hälfte 
des  XV.  Jahrhunderts  zu  nennen:  Pierre  d'Ailly^),  gewöhnlich 
Petrus  de  Alliaco  genannt,  wurde  1350  in  Compiegne  geboren. 
Er  war  eine  Zeit  laug  Vorsteher  des  College  de  Navarre  in  Paris, 
später  Rector  der  pariser  Universität.  Papst  Johann  XXHL  ernannte 
ihn  zum  Bischof  von  Cambray  und  zum  Cardinal-Legaten  für  ganz 
Deutschland.  Er  starb  in  Avignon  etwa  70  Jahre  alt;  als  sein  Todes- 
tag wird  allgemein  der  8.  August  genannt,  für  das  Todesjahr  wech- 
seln aber  die  Angaben  zwischen  1419,  1420  und  1425.  D'Ailly  nahm 
am  Concile  von  Konstanz  theil  und  legte  demselben  einen  Vorschlag 
zur  Kalenderverbesseruuff  vor.    Man  solle  alle  130  Jahre  einen  Schalt- 


»)  Sutcr,  Math.  Univ.  S.  52.         «)  Ebenda.        "■)  Weidler,  Historia  astro- 
nomiae  pag.  295— 296.  —  Poggendorff    I,  19.  —  Suter,  Math.  Univ.  S.  44. 


Deutsche  Rechenlebver.  .Toliann  von  OemmKleii,  Georg  von  Peurbach.  173 
tag  weglassen,  um  eleu  Iirthum  wieder  gut  zu  machen,  der  in  der 
/u  grossen  Annalime  der  Jahresdauer  von  365—  Tagen  läge.  Das  ist 
die  ganze  Thätigkeit,  um  derenwillen  wir  D'Ailly  allenfalls  erwähnen 
durften.  Die  Geschichte  der  Geographie  nennt  noch  sein  1410  ge- 
schriebenes Buch  de  imagine  Mundi ,  aus  welchem  Columbus  sich 
mancherlei  für  seine  Reisepläne  nicht  unwichtige  Kenntnisse  angeeig- 
net haben  soll. 

Wir  begeben  uns  nach  Deutschland.  Gleich  mit  Anfang  des 
XV.  Jahrhunderts  haben  wir  als  kennzeichnend  das  Auftreten  der 
Modisten^)  anzuführen.  Ein  Modist  war  ein  Kenner  der  „ala- 
modischen"  Schreibkunst,  d.  h.  der  damals  zur  Mode  gelangenden 
Kanzleischrift  im  Gegensatze  zu  den  alten  Schriftzügen.  Solche  Kunst 
und  die  Anfangsgründe  des  Wissens  überhaupt  lehrte  der  Modist 
die  zu  ihm  zur  Schule  gehenden  Kinder,  vorzugsweise  Knaben,  aber 
auch  Mädchen  genossen  schon  einen  gewissen  Unterricht  ^).  Der 
Lehrplan  für  die  Knaben  umfasste  frühzeitig  die  Anfangsgründe  der 
llechenkunst,  und  seitdem  kann  man  den  Modisten  auch  als  Rechen- 
lehrer betrachten,  der  gewerbsmässig  dieser  Beschäftigung  sieb 
widmete  und  daraus  seinen  Lebensunterhalt  zog.  Schon  1409  wird 
von  Jobs  Kapfer,  stulschreiber  in  Nürnberg,  berichtet,  der  „kint 
lernt".  1422  war  in  Frankfurt  am  Main  ein  gewiser  Heiucze, 
kiuderlehrer,  der  auch  unter  dem  Namen  Heincze  schriber  der 
modiste  vorkommt.  Aehnliche  Verhältnisse  walteten  aller  Orten  in 
Deutsehland,  und  aus  den  von  Einzelnen  ins  Leben  gerufenen  und 
geleiteten,  aber  amtlich  erlaubten  und  besteuerten  Unterrichtsanstalten 
entwickelte  sich  allmählich  die  deutsche  Schule  im  Gegen satze 
zur  Lateinschule,  im  ferneren  Gegensatze  zur  nicht  erlaubten,  aber 
darum  doch  in  halb  öffentlichem  Geheimnisse  entstehenden  Winkel- 
schule. Auf  allen  diesen  Schulen,  welcher  Art  sie  angehörten,  kann 
der  Rechenunterricht  nicht  elementar  genug  gedacht  werden.  Kaum 
irgendwo  wird  er  das  Rechnen  mit  ganzen  Zahlen  überschritten  haben, 
Lehrbücher  der  Modisten  scheinen  sich  nicht  erhalten  zu  haben,  wohl 
aber  ein  solches  für  die  Lateinschule^).  Es  ist  durch  eine  basler 
Handschrift  bekannt  und  in  derselben  nach  Zeit  und  Bestimmung 
gekennzeichnet.     An  das  R,echenbuch  schliesst  sich  nämlich  eine  von 

1)  Günther,  Unterricht  Mittela.  S.  294—297;  über  das  Wort  Modist  S.  295. 
—  Unger,  Methodik  der  i^raktischen  Arithmetik  in  historischer  Entwickeluug 
vom  Ausgange  des  Mittelalters  bis  auf  die  Gegenwart  (1888)  S.  17 — 19.  Wir 
citiren  dieses  Buch  künftig  als  Unger  schlechtweg.  ^)  Unger  S.  20.  ^)  Das 
älteste  deutsche  Rechenbuch  herausgegeben  und  übersetzt  von  Friedrich 
Unger,  Zeitschr.  Math.  Phys.  XXXHI,  Histor. - liter.  Abthlg.  S.  125—145.  Der 
Text  stammt  aus  der  Handschrift  F.  VII.  12  der  basler  Universitätsbibliothek 


174  50.  Kapitel. 

derselben  Hand  geschriebene  andere  Abhandlung  an,  und  an  deren 
Ende  hat  der  Schreiber  sich  als  einen  Hildesheimer  Stiftsschüler 
Bernhard  unterzeichnet  und  das  Jahr  1445  als  das  der  Vollendung 
jener  Schrift  angegeben.  Spätestens  1445  muss  also  Bernhard  der 
Stiftsschüler  auch  das  Rechenbuch  zu  Ende  geschrieben  haben,  und 
man  geht  wohl  kaum  in  der  Annahme  fehl,  er  würde  des  Beiwortes 
„Hildesheimer  Stiftsschüler"  sich  nicht  bedient  haben,  wenn  das 
Rechenbuch  nicht  für  jene  Stiftsschule  bestimmt  gewesen  wäre, 
welche  unzweifelhaft  eine  Lateinschule  war.  Um  so  verwunderlicher 
freilich  erscheint  es,  dass  das  Rechenbuch  nicht  in  lateinischer,  son- 
dern in  niederdeutscher  Sprache  verfasst  ist,  wobei  die  Kunstaus- 
drücke natürlich  lateinische  blieben.  Ob  Bernhard  es  selbst  verfasst, 
ob  nur  abgeschrieben  hat,  darüber  fehlt  jegliche  Auskunft.  Das 
Rechenbuch  Bernhardts,  wie  wir  uns  deshalb  etwas  doppelsinnig  aus- 
zudrücken bescheiden  müssen,  lehrt  nur  das  Rechnen  mit  ganzen 
Zahlen  in  dem  uns  schon  oft  bekannt  gewordenen  Umfange  mit  den 
7  Rechuungsarten  der  Addition  und  Subtraction,  der  Verdoppelung 
und  Halbirung,  der  Multiplication  und  Division,  der  Wurzelausziehung. 
Addition,  Subtraction  und  Halbirung  beginnen  rechts  (an  die  recht 
syde),  die  übrigen  Rechnungsarten  links  (an  die  slinker  syde).  Bei 
der  Lehre  vom  Anschreiben  der  Zahl  ist  der  numerus  digitus  vom 
numerus  articulus  und  vom  numenis  compositus  oder  mixtus  unter- 
schieden. Beim  Subtrahiren  (äff  treeken)  ist  das  Borgen  (äff  dren) 
einer  Einheit  von  der  Ziffer  nächsthöherer  Ordnung,  welche  10  werth 
ist  (die  een  is  10  weerf)  vorgeschrieben,  die  nächste  Ziffer  bleibt  um 
die  geborgte  Einheit  erniedrigt.  Beim  Multipliciren  wird  9  mal  8 
in  10  weniger  1  mal  S  verwandelt,  also  8  von  80  abgezogen.  Das 
Dividiren  erfolgt  überwärts.  Quadrat-  und  Kubikwurzeln  werden  so 
weit  ausgezogen,  als  es  ganzzahlig  möglich  ist,  von  weitergehender 
Annäherung  ist  keine  Rede.  Man  sieht,  es  ist  das  alte  in  den 
Klosterschulen  bekannte  und  gelehrte  Rechnen,  welches  wir  bis  auf 
Jordanus  in  Europa  zurückverfolgen  können.  Kaum  dass  im  Wortlaut 
ein  Unterschied  von  dem  ältesten  handwerksmässigen  Leitfaden,  dem 
des  Johannes  von  Sacrobosco,  wahrnehmbar  wäre. 

Klopfen  wir  an  die  Thüre  der  deutschen  Universitäten,  so  finden 
wir  zwar  Mathematik  über  das  Rechnen  hinaus,  das  Rechnen  selbst 
aber  auf  keiner  höheren  Stufe  als  an  den  vorbereitenden  Schulen. 
Wien  war,  wie  wir  (S.  141)  gesagt  haben,  die  vorzugsweise  mathe- 
matische Universität.     An  ihr  wirkte  Johann  von  Gemunden^). 

')  Allgem.  deutsch.  Biogr.  XIV,  456—457.  Ueber  die  wissenschaftlichen 
Leistungen  vergl.   M.  A.  Stern   in   Ersch.   und   Gruber's  Allgeiu.   Encyklop.  der 


Peutsche  Reclienlehrer.     Johann  von  riemunden,  Georg  von  Peurbach.     175 

Er  mag  um  1380  geboren  sein.  Für  seine  Heimatli  hielt  man  bald 
(imuuden  am  Traunsee,  bald  ein  Dorf  Gemünd  in  Xiederösterreicli, 
bald  suchte  man  sie  in  Schwäbisch  Gemünd.  Die  letztere  Meinung 
stützt  sich  auf  die  Auffindung  eines  Computus,  welchen  im  Jahre 
1404  Johannes  Wissbier  de  Gamundia  ulme  studens  verfasst 
hat.  Dieser  Yerfassersangabe  hat  man  einestheils  entnommen,  dass 
schon  um  die  Wende  des  XIV.  zum  XV.  Jahrhundert  die  ober- 
schwäbische Reichsstadt  eine  Art  von  Bildungsmittelpunkt  für  die 
süddeutschen  Länder  abgab,  und  dieses  Ergebniss  wird  unter  allen 
Umständen  zu  bemerken  sein,  andern theils  dass  ein  in  Ulm  dem 
Studium  Obliegender  mit  grösserer  AVahrscheinlichkeit  dem  benach- 
l)arten  schwäbischen  Gemündeu  als  dem  Städtchen  im  Salzkammer- 
gute oder  gar  einem  niederösterreichischen  Dorfe  entstammte.  Fraglich 
bleibt  die  Sache  immer,  so  lange  der  Familienname  des  gemünder 
Professors  in  Wien  nicht  gesichert  ist,  ob  er  Wissbier  hiess  oder  wie 
sonst.  Man  findet  zwar  die  Angabe^),  jener  Professor  sei  in  dem 
Todtenregister  der  Domherren  zu  St.  Stephan,  unter  welche  er  1411 
aufgenommen  wurde,  als  Johannes  Nyden  de  Gemünden  einge- 
tragen, doch  scheint  sie  urkundlich  nicht  nachweisbar.  Besser  gestützt 
ist  ein  dritter  Familienname  Schindler,  der  gleichfalls  berichtet 
wird.  Fünf  Handschriften  der  Wiener  Bibliothek  aus  dem  XV.  Jahr- 
hundert nennen  sämmtlich  Johannes  Schindler  de  Gamundia 
als  Verfas.ser.  Von  ihm  müsste  man  dann  einen  Johannes  Schin- 
del aus  Königgrätz")  unterscheiden.  Letzterer  ist  um  1375  in 
Königgrätz  geboren,  lehrte  zwischen  140G  und  1410  in  Wien,  dann 
in  Prag,  wo  er  vor  1450  starb.  Im  Auslande  war  er  als  Joannes 
Pragensis  weit  und  breit  berühmt.  Wäre  Wissbier  doch  der  rich- 
tige Name,  so  könnte  der  Umstand,  dass  Johannes  Wissbier  1404  in 
Ulm  studirte  und  Johannes  von  Gemunden  am  21.  März  1406  in 
Wien  zum  Magister  der  freien  Künste  wurde,  bei  der  oftmals  sehr 
langen  Zeit,  über  welche  Studien  sich  ausdehnten,  einen  Widerspruch 
nicht  bilden.  Die  Lehrthätigkeit  an  den  Universitäten  war  damals 
noch  keine  nach  Fächern  streng  gesonderte,  so  wenig  es  Studirende 
dieses  oder  jenes  Einzelfaches    in   der  Artistenfacultät  gab.     Eigent- 


Wissenscb.  u.  Kunst  H.  Section,  22.  Theil  S.  188—190.  —  C.  J.  Gerhardt,  Ge- 
schichte der  Mathematik  in  Deutschland  (1877)  S.  5 — 8.  "Wir  citiren  dieses 
Buch  künftig  als  Gerhardt,  Math.  Deutschi.  —  Günther,  Unterricht  Mittela. 
S.  232—235. 

^)  B.ud.  Wolf,  Geschichte  der  Astronomie  S.  86.  -)  Czerny  im  Archiv 
für  Oesterreichische  Geschichte  (1888)  LXXII,  300—301.  F.  J.  Studnicka  in 
den  Sitzungsberichten  der  königl.  böhm.  Gesellschaft  der  Wissenschaften.  Jahr- 
gang 189-2.  S.  103  —  104. 


176  50-  Kapitel. 

liehe  Fachwissenschaften  waren  noch  nicht  so  hoch  entwickelt,  um 
eine  besondere  Lebensaufgabe  des  Einzelnen  bilden  zu  müssen.  Wer 
lehren  wollte,  war  bereit  Alles  zu  lehren  und  musste  um  so  mehr 
dazu  bereit  sein,  nachdem  (S.  141)  die  Ueberzahl  der  Lehrer  in  Wien 
den  uns  heute  so  unmöglich  scheinenden  Ausweg  betreten  liess,  dass 
am  Jahresanfang  durch  Verlosung  die  Reihenfolge  bestimmt  wurde, 
nach  welcher  die  Professoren  Gegenstand  und  Stunde  der  Vorlesung 
sich  wählen  durften.  Wer  spät  zur  Wahl  kam,  musste  in  beiden 
Beziehungen  mit  dem  vorlieb  nehmen,  was  die  Vorgänger  verschmäht 
hatten.  Vor  und  nach  Johannes  von  Gemunden  finden  wir  daher 
Nichtmathematiker  mit  mathematischen,  Mathematiker  mit  nichtmathe- 
matischen Vorlesungen  betraut,  wenn  wir  unseren  eigenen  Aeusserungen 
entgegen  diese  Bezeichnuugen  beibehalten  dürfen.  Mathematiker  nennen 
wir  nicht  solche  Persönlichkeiten  einer  frühen  Zeit,  welche  ausschliess- 
lich der  Mathematik  ihr  öffentliches  Leben  widmeten,  denn  solche 
gab  es  nicht,  sondern  Männer,  deren  Spuren  die  Geschichte  erhalten 
hat;  von  wem  derartige  Spuren  nicht  vorhanden  sind,  der  ist  für  uns 
Nichtmathematiker  gewesen.  Johannes  von  Gemunden  selbst  begann 
mit  philosophischen  Vorlesungen,  wie  z.  B.  mit  einer  Vorlesung  De 
sensu  et  sensato.  Im  Jahre  1412  lehrte  er  den  Algorismus  de  in- 
tegris,  1414  Perspectiva  communis,  1416  und  1417  Algorismus  de 
minutiis.  Seit  1420  las  er  über  die  verschiedensten  mathematischen 
Gegenstände,  aber  ausschliesslich  über  solche  bald  über  die  Elemente 
Euklid's  und  die  Sphaera  materialis,  bald  über  die  Theoriae  planeta- 
rnm,  bald  über  den  Gebrauch  des  Astrolabiums,  welche  letztere  Vor- 
lesung er  zuerst  in  Wien  einführte.  Es  mag  wohl  allmälig  die  Ge- 
wohnheit sich  herausgestellt  haben,  ihm,  zu  welchem  Augenblicke 
auch  die  Reihe  ihn  traf,  denjenigen  Gegenstand  freizuhalten,  den  er 
gerade  vorzutragen  wünschte,  und  damit  war  der  allmälige  Uebergang 
von  der  Professur  in  der  Artistenfacultät  überhaupt  zur  Fachprofessur 
der  Mathematik  in  Wien  angebahnt.  Allerdings  setzte  eine  solche 
Rücksichtnahme  auf  persönliche  Wünsche  des  Einzelnen  eine  hohe 
Achtung  voraus,  in  welcher  er  selbst  und  seine  Lehrthätigkeit  bei  den 
Mitprofessoren  stehen  musste.  Dass  dem  bei  Johannes  von  Gemun- 
den so  war,  wird  auch  dadurch  bestätigt,  dass  man  ihm  1418  ge- 
stattete, während  einer  Unpässlichkeit  von  längerer  Dauer  seine  Vor- 
lesungen im  eigenen  Hause  zu  halten,  was  gegen  alle  Regel  war.  Er 
setzte  seine  erspriessliche  Thätigkeit  bis  zu  seinem  am  23.  Februar 
1442  erfolgenden  Tode  fort.  Seine  Bücher  und  Instrumente  hatte  er, 
unter  dem  Vorbehalte  sie  lebenslänglich  frei  benutzen  zu  dürfen, 
schon  1435  der  Universität  geschenkt.  Die  Bücher  sollten  in  der 
Bibliothek   cresondert   aufsfestellt  und    tjetjen  Entriehtuuof  eines  in  die 


Deutsche  Rechenlehrer.     Johann  von  Gemunclen,  Georg  von  Peurbach.     177 

Facultätskasse  fliessenden  Betrages  auch  ausgeliehen  werden.  So  war 
Johannes  von  Gemunden  gewiss  eine  hochansehnliche  Lehrkraft.  Die 
Geschichte  der  Astronomie  hebt  rühmend  hervor,  dass  er  einen,  viel- 
leicht auch  zwei  Kalender  anfertigte,  die  in  Holz  geschnitten  und  auf 
diese  Weise  vervielfältigt  wurden  ^),  dass  auch  andere  Tabellen,  z.  B. 
die  ersten  Ephemeriden,  von  ihm  berechnet  wurden.  In  seinen  Vor- 
lesungen über  den  Algorismus  de  integris  hat  Johannes  von  Gemun- 
den stets  Sacrobosco's  Leitfaden  zu  Grunde  gelegt.  In  den  Vor- 
lesungen über  das  Bruchrechnen  benutzte  er  sicherlich  wenigstens 
zum  Theil  eine  von  ihm  selbst  verfasste  Anleitung,  welche  1515  in 
Wien  gedruckt  worden  ist,  und  welche  den  Titel  führt:  Tractatus  de 
Minutiis  phisicis  compositus  Viennae  Austriae  per  M.  Joannem  de 
Gmunden-).  Welches  Buch  er  bei  dem  Rechnen  mit  gewöhnlichen 
Brüchen  benutzte,  darüber  sind  wir  leider  ohne  Auskunft.  Unter  den 
minutiae  phisicae  nämlich  sind,  wie  immer  unter  diesem  Ausdrucke, 
Sexagesimalbrüche  verstanden.  Dass  der  360.  Theil  des  Kreis- 
umfanges  als  Grad  bezeichnet  wird,  der  in  GO  Minuten  zerfällt,  wäh- 
rend jede  Minute  aus  GO  Secunden  u.  s.  w.  besteht  (Bd.  I,  S.  388),  ist 
bekannt  genug.  Aber  auch  nach  aufwärts  war  ein  Zusammenfassen 
von  Graden  wünschenswerth.  Dazu  pflegte  man  sich  des  Thierkreises 
mit  seinen  12  Zeichen  zu  bedienen,  so  das  ein  Zeichen,  signum,  aus 
30  Graden  bestand.  Das  war  freilich  eine  Regelwidrigkeit  gegen  die 
Sechzigtheilung,  und  ihr  konnte  entgangen  werden,  wenn  zwei  Thier- 
kreiszeichen,  also  60  Grade,  als  eine  höhere  Einheit  zusammengefasst 
wurden.  Dieses  vollzog  Johann  von  Gemunden  und  nannte  die  60 
Grade  ein  signum  pliisicimi,  von  welchen  also  6  den  Kreisumfang 
bildeten.  Diese  Neuerung,  die  keineswegs  als  eine  ganz  unbedeutende 
zu  erachten  ist,  da  sie  ein  deutliches  Erfassen  des  Grundgedankens 
der  Sexagesimalrechnung  verräth,  war  übrigens  nicht  Eigenthum  des 
Johannes  von  Gemunden,  noch  wurde  sie  von  ihm  als  solche  in  An- 
sprach genommen.  Er  beruft  sich  vielmehr  ausdrücklich  auf  König 
Alfons  X.  von  Leon  als  Vorgänger^),  und  wirklich  sind  auch  in  dessen 
1252  vollendeten  astronomischen  Tafeln  die  60  gradigen  Zeichen  ein- 
geführt, die  nur  keine  Nachahmung  fanden.  Jordanus  Nemorarius 
ging  bei  seiner  Darstellung,  wie  wir  (S.  66)  ausdrücklich  hervorge- 
hoben haben,  überhaupt  nicht  vom  Kreise  aus.     Für  ihn  gab  es  dess- 


')  von  Zach,  Monatliche  Corresijondenz  zur  Beförderung  der  Erd-  und 
Himmelskunde  XVIII,  583  —  593  mit  einem  Abdruck  einer  der  erhaltenen  Origi- 
nalholzschnitttafeln. Ferner  ebenda  XIX,  196—198  und  284—292.  *)  Wir  be- 
richten nach  dem  Auszuge  bei  Gerhardt,  Math.  Deutschi.  S.  5 — 8.  ^)  In 
tabulis  vero  alphoncii  et  in  tabulis  meis  non  ponuntur  talia  signa,  sed  signa 
phisica  quorum  quodlihet  valet  duo  signa  communia. 

Cantob,  Geschichte  der  Mathem.    II.    2.  Aufl.  12 


178  50.  Kapitel. 

halb  weder  Zeichen  noch  Grade,  sondern  nur  Ganze  und  deren  Bruch- 
theile,  die  Minuten,  Secunden,  Tertien.  Johannes  von  Gemunden  zeigt 
nun  an  einem  Beispiele  die  Verwerthung  der  Stellung  zur  Angabe 
des  Ranges  der  Sexagesimalbrüche.  Auch  davon  war  bei  Jordanus 
keine  Rede  und  konnte  vermöge  der  rein  theoretischen  Anlage  seines 
Algorithmus  demonstratus,  in  welchem  Zahlenbeispiele  grundsätzlich 
bald  gar  keine,  bald  eine  Nebenrolle  spielten,  kaum  die  Rede  sein. 
Johannes  von  Gemunden  dagegen  lehrt  2  Zeichen  24  Grade  36  Minu- 
ten 45  Secunden  werden  .2.  24.  36.  45.  geschrieben.  Diese  Schreibweise, 
repraesentatio  minuciarum  phisicarum,  inbegriffen,  lehrt  er  10  Rech- 
nungsarten. Nämlich  2.  Verwandlung  von  Ganzen  in  Brüche  und 
umgekehrt,  sowie  Zurückführung  von  Brüchen  vei-schiedener  Be- 
nennung auf  den  gleichen  Nenner  und  umgekehrt,  3.  Addition,  4.  Sub- 
traktion, 5.  Halbirung,  6.  Verdoppelung,  7.  Multiplication,  8.  Division, 
9.  Quadratwurzel,  10.  Kubikwurzel.  Addiren,  Subtrahiren,  Halbiren 
beginnen  nach  alter  Gewohnheit  rechts,  dazu  kommt  aber  abweichend 
von  dem  früheren  Brauche  die  Verdoppelung;  sie  sei  nur  Addition 
zweier  gleicher  Zahlen,  und  desshalb  müsse  bei  ihr  wie  bei  der  Ad- 
dition verfahren  werden.  Bei  der  Multiphcation  und  Division  kommen 
als  Sexagesimalbrüche  höchster  Ordnung  solche  mit  dem  Nenner  60^, 
also  ausser  den  Tertien  noch  Quarten,  Quinten,  Sexten  vor.  Beim 
Ausziehen  der  Quadratwurzel  wechseln  plötzlich,  sofern  die  Annähe- 
rung weiter  getrieben  werden  will,  als  der  unmittelbar  gegebene  Radi 
cand  es  zulässt,  Sexagesimalbrüche  mit  Decimalbrüchen.  Ganz 
neu  ist  ja  deren  Anwendung  auch  nicht.  Johannes  von  Luna  hat 
schon  (Bd.  I,  S.  752)  sich  ihrer  ganz  ähnlich  bedient.  Aber  dort 
waren  Sexagesimalbrüche  nicht  schon  im  Laufe  der  Rechnung  benutzt. 
Man  soll,  so  ist  die  Vorschrift  des  Johann  von  Gemunden,  den  ganzen 
Radicanden  auf  die  Benennung  des  letzten  Sexagesimalbruches  bringen, 
der  aber  noth wendig  von  grader  Ordnung  (60'")  gewählt  werden 
muss  und  ihm  rechts  noch  Nullenpaare  in  beliebiger  Anzahl  beifügen. 
Dann  theilt  man  von  der  Rechten  anfangend  den  als  ganze  Zahl  be- 
trachteten neugestalteten  Radicanden  in  zweistellige  Gruppen  und  zieht 
die  Wurzel,  bleibt  ein  Rest,  so  wird  er  weggelassen  ^).  Von  der  ge- 
fundeneu  Wurzel  schneidet  man  rechts  halb  so  viele  Ziffern  ab,  als 
Nullen  angefügt  waren,  und  verwahrt  sie.  Die  nach  links  übrigen 
Stellen  bilden  den  Zähler  der  Wurzel,  deren  Nenner  von  halb  so 
hoher  Ordnung  (60")  ist,  als  der  anfängliche  Radicand.  Nun  nimmt 
man  die  vorher  verwahrten  Stellen,  vervielfacht  sie  mit  60,  schneidet 
wieder  genau   so   viele  Ziffern  rechts   ab   als   vorher,  nämlich  immer 


*)  si  Sit  aUfßiid  residuum  x>ro  nihüo  computetur. 


Deutsche  Rechenlehrer.     Johann  von  Gemunden,  Georg  von  Peurbach.     179 

halb  so  viele  als  Nullen  angefügt  worden  waren  n.  s.  w.  So  findet 
man  die  Zähler  weiterer  Sexagesimalbrüche,  und  je  mehr  Nullen  an- 
gefügt worden  waren,  um  so  genauer  erhält  man  die  Wurzel^).  Das 
ist  ein  um  so  eigenthümlicher  gemischtes  Verfahren,  als  Theon  von 
Alexandria  (Bd.  I,  S.  461)  die  Aufsuchung  angenäherter  Quadratwur- 
zeln unmittelbar  an  Sexagesimalbrüchen  genau  gelehrt  hatte,  ein 
Verfahren,  welches  ofienbar  nicht  zu  den  Arabern  gelangt  oder  durch 
deren  Vermitteluug  noch  nicht  wieder  in  das  Abendland  gedrungen 
war,  so  wenig  dieses  mit  dem  griechischen  Texte  der  Fall  gewesen 
sein  muss. 

Wir  haben  somit  in  Johann  von  Gemunden  einen  Mathematiker 
und  Astronomen  kennen  gelernt,  der  in  mancher  Leistung,  als  Schrift- 
steller (wofür  wir  auch  eine  Abhandlung  De  arcubus  et  sinihus  an- 
führen könnten)  wie  als  Lehrer,  über  das  schon  Vorhandene  hinaus- 
ging, der  aber  trotzdem  es  nicht  verschmähte,  noch  dem  Bildungsgange 
der  damals  Studirenden  gegenüber  es  verschmähen  durfte,  ab  und  zu 
das  niedrigste  Rechnen  mit  ganzen  Zahlen  zu  lehren.  Nicht  anders 
wurde  es  an  den  anderen  deutschen  Universitäten  gehalten. 

In  Prag  lebte  Kristan  von  Prachatic-)  von  1392  — 1437. 
Sein  Älgorismus  prosaycus  enthält  was  alle  ähnliche  Schriften  damals 
boten,  aber  auch  Einiges  darüber  hinaus.  Bei  ihm  findet  sich  die 
Netzmultiplication  (Bd.  I,  S.  571),  bei  ihm  ein  kleines  Einmaleins  in 
quadratischer,  ein  grosses  Einmaleins  bis  zu  20  mal  20  in  dreieckiger 
Anordnung,  bei  ihm  eine  kleine  Tafel  der  Quadrat-  und  Kubikzahlen 
bis  zu  81  und  729. 

In  Erfurt  musste  im  XV.  Jahrhunderte  ein  Monat  auf  die  Vor- 
lesung über  den  Älgorismus,  ebenso  ein  Monat  auf  die  über  den  Com- 
putus  verwandt  werden^).  Die  Universität  Leipzig  entstand  1409 
durch  aus  Prag  dorthin  sich  wendende  Lehrer  und  Studirende,  welche 
böhmischer  Unduldsamkeit  sich  entzogen.  Die  ersten  Satzungen  der 
neuen  Hochschule  verlangen  für  das  Baccalaureat  die  Sphaera  mate- 
rialis,  die  zweiten  Satzungen  von  1436  und  1437  fügen  dem  die 
Forderung  des  Älgorismus  und  Computus  bei*),  und  ähnliche  Vor- 
lesungen Hessen  sich  ohne  Schwierigkeit  auch  an  anderen  Universitäten 
nachweisen. 

Kehren  wir  nach  Wien  zurück,  so  wissen  wir  Schüler  des  Johann 
von  Gemunden  als  dessen  Nachfolger  nicht  zu  nennen.     Er  soll  zwar 


^)  et  quanto  plures  cifras  praeposueris  tanto  praecisius  hahehis  radicem. 
*)  F.  J.  Studnicka  in  den  Sitzungsberichten  der  königl.  böhm.  Gesellschaft  der 
Wissenschaften,  Jahrgang  1892,  S.  100 — 103  und:  Älgorismus  prosaycus  Magistri 
Christiani  anno  fere  1400  scr«pf«s herausgegeben  von  F.  J.  Studnicka.  Prag  1893. 
2)  Suter,  Math.  Univ.  S.  42.         *)  Ebenda  S.  53. 


180  50.  Kapitel. 

deren  viele  gehabt  haben,  aber  wenn  schon  nach  einem  Jahrhunderte 
von  ihnen  gesagt  ist,  dass  die  Zeit  ihre  Namen  verloren  gehen  liess^), 
so  wird  denselben  vermuthlich  nicht  viel  nachzurühmen  gewesen 
sein.  Anders  verhält  es  sich  mit  dem  Manne,  der,  ohne  Schüler  des 
Johann  von  Gemunden  gewesen  zu  sein,  als  sein  Nachfolger  bezeichnet 
werden  darf.  Er  reicht  zwar  über  die  Grenze  der  ersten  Hälfte  des 
XV.  Jahrhunderts  um  einige  Jahre  hinaus,  aber  so  haarscharf  können 
wir  die  Abschnitte,  in  welche  wir  diesen  Band  gliedern,  nicht  be- 
grenzen, dass  wir,  seltene  Ausnahmen  vorbehalten,  eine  Persönlichkeit 
durchschneiden,  um  sie  in  mehreren  Abschnitten  zu  behandeln. 
Georg  von  Peurbach^),  den  wir  hier  im  Auge  haben,  ist  geboren 
den  30.  Mai  1423  an  der  bairisch-österreichischen  Grenze  unweit  von 
Linz  in  dem  Orte  Peurbach.  Die  Rechtschreibung  des  Ortes  und  des 
Mannes  wechselt  mehrfach,  man  findet  auch  Peyerbach  und  Bur- 
bach. Peurbach,  so  nennt  man  ihn  jetzt  gewöhnlich  mit  dem  Orts- 
namen selbst,  studirte  jedenfalls  in  Wien  und  erwarb  dort  den  Grad 
eines  Magisters  in  der  Artistenfacultät.  Dann  begab  er  sich  auf 
Reisen,  insbesondere  nach  Italien,  wo  er  mit  zwei  Männern  bekannt 
wurde,  von  denen  weiter  unten  die  Rede  sein  muss,  mit  Bianchini 
und  mit  Nicolaus  Cusanus.  Im  Jahre  1453  spätestens  kehrte 
Peurbach  nach  Wien  zurück  und  lebte  dort  in  sehr  ärmlichen  Ver- 
hältnissen, von  Schulden  bedrückt,  bis  er  1454  in  die  Stellung  des 
Astronomen  Königs  Ladislaus  von  Ungarn  eintrat.  Etwas  später 
finden  wir  ihn  als  Lehrer  an  der  wiener  Universität.  Man  würde 
irren,  wenn  man  glaubte,  er  habe  vorzugsweise  mathematische  und 
astronomische  Vorlesungen  gehalten.  Einige  von  letzterer  Art  werden 
allerdings  erwähnt,  er  schrieb  auch  einen  Algorismus  für  „die  jungen 
Studenten  der  hoen  schnei  zu  Wien",  allein  er  las  mit  Vorliebe  über 
lateinische  Schriftsteller:  1456  über  Juvenal,  1458  über  Horaz,  1460 
über  die  Aeneis  des  Vergil.  Peurbach  starb  den  8.  April  1461  und 
soll  im  Stephansdome  beerdigt  worden  sein.  Von  den  Schriften 
Peurbach's  haben  wir  soeben  seinen  Algorismus  angeführt.  Derselbe 
wurde  seit  Ende  des  Jahrhunderts,  zuerst  vielleicht  1492  unter  dem 
Titel  Opus  algorismi  jocundissimum,  mehrfach  gedruckt  und  bildete 
gleich  Peurbach's  astronomischem  Lehrbuche,  Theoricae  planetarum, 
welches  in  der  Zeit  von  1460  bis  1581  nicht  weniger  als  14  mal  ge- 
druckt worden  ist,  lange  Zeit  das  stehende  Lehrbuch  der  Universitäten. 


')  quorum  vetustas  nomina  abolevit  sagte  Tannstetter.  Vgl.  Kästner  LI, 
529.  -)  Kästner  I,  529—548.  —  Gerhardt,  Math.  Deutschi.  S.  8—12.  — 
Günther,  Unterricht.  Mittela.  S.  235—241.  —  Alb.  Czerny,  Aus  dem  Brief- 
wechsel des  grossen  Astronomen  Georg  von  Peurbach  im  Archiv  für  Oester- 
reichische  Geschichte  LXXII,  283—304. 


Deutsche  Kechenlehrei-.     Johann  von  Gemuuflen,  Georg  von  reurbacli.     181 

Peurbach,  kann  man  sagen,  löste  in  dieser  Beziehung  Sacrobosco  ab. 
Der  Algorismus  freilich,  der  bald  Opus  Algorismi  jocundissimum,  wie 
wir  schon  gesagt  haben,  bald  Opus  Algorithmi,  bald  Institutiones  in 
arithmeticam,  bald  ohne  nähere  Inhaltsbezeichnung  Opusculum  Magistri 
Georgii  Peurbachii  heisst,  erhebt  sich  kaum  über  den,  welchen  er 
verdrängte.  Gleich  dem  Algorismus  des  Sacrobosco  giebt  er  nur 
Regeln,  nirgend  Beweise;  gleich  ihm  beschleppt  er  sich  mit  Mediatio 
und  Duplatio  als  besondern  Rechnungsarten;  gleich  ihm  handelt  er 
in  den  meisten  Druckausgaben  nur  von  ganzzahligem  Rechnen,  ist 
also  ein  algorithmus  de  integris.  Man  könnte  dieses  begreiflich 
finden,  auch  eine  Erklärung  dafür  darin  sehen,  dass  für  das  Bruch- 
rechnen, soweit  es  einer  neuen  Bearbeitung  zu  bedürfen  schien,  soeben 
erst  durch  Johann  von  Gemunden  gesorgt  worden  war,  allein  eine 
durch  Melanchthon  und  Yoegelin  besorgte,  in  Wittenberg  gedruckte 
Ausgabe  von  1536  enthält  einen  dem  Peurbach  zugeschriebenen  algo- 
rithmus de  minuciis  und  einen  algorithmus  de  proportionibus,  von 
welchen  der  erstere  echt  zu  sein  scheint,  da  er  auch  in  einer  Mün- 
chener Handschrift  des  XV.  Jahrhunderts  vorkommt.  Es  will  scheinen 
als  ob  Peurbach  zunächst  darin  sogar  hinter  seinem  Vorgänger  Sacro- 
bosco zurückblieb,  dass  er  die  Kubikwurzelausziehung  wegliess,  wie- 
Avohl  aus  den  unter  einander  verschiedenen  Drucken,  die  ja  alle 
mindestens  30  Jahre  nach  Peurbach's  Tode  erfolgten,  ein  sicherer 
Schluss  nicht  gezogen  werden  kann^),  wiewohl  anzuerkennen  ist,  es 
sei  wahrscheinlicher,  dass  ein  zweiter  Drucker  dem  Bedürfnisse  der 
Zeit  Rechnung  tragend  etwas  hinzufügte,  was  er  gleichviel  von  wem 
sich  anfertigen  liess,  als  dass  ein  erster  Drucker  aus  dem  handschrift- 
lich Vorhandenen  etwas  fortgelassen  hätte.  Die  Ausführung  der 
Rechnungsarten  hat  vollends  keinerlei  Veränderung  erhalten.  Wüssten 
wir  von  keinem  anderen  Werke  Peurbach's,  so  würden  wi^-  die  Be- 
wunderung, welche  ihm  gezollt  wurde,  und  welche  z.  B.  in  seiner 
Grabinschrift-)  ausgesprochen  ist,  kaum  begreifen.  Um  so  verständ- 
licher  wird    uns    dieselbe,    wenn    wir    eine  andere  Arbeit    in's  Auge 

n. 

Wir  meinen  den  Tractatus  Georgii  Furbachii  super  Propositiones 


1)  Gerhardt,  Math.  Deutschi.  S.  10  sagt:  In  seiner  ursprünglichen  Gestalt 
enthält  der  Algorismus  Peurbach's  die  folgenden  mathematischen  Operationen: 
Numeratio,  Additio,  Subtractio,  Mediatio,  Duplatio,  Multiplicatio ,  Divisio,  Pro- 
gressio,  mit  welcher  letzteren  die  Ausziehung  der  Quadratwurzel  verbunden  ist. 
Günther,  Unterricht  Mittela.  S.  237  giebt  nach  einem  Drucke  von  1503  an, 
dass  nach  der  Eadiciim  extractio  quadrata  noch  kommen:  Badicum  extractio 
cubica,  Recjula  aurea  sive  de  tre,  Regula  societatis,  Enigma,  ^)  Erhalten  bei 
Weidler,  Historiae  Ästronomiae  pag.  300. 


182  50.  Kapitel. 

Ptolemaei  de  sinuhus  et  chordis,  der  1541  iu  Nürnberg  gemeinschaftlich 
mit  einer  Tabelle  des  Regiomontanus,  Peurbach's  berühmtestem 
Schüler,  gedruckt  worden  ist,  wenn  er  auch  eine  gewisse  Abhängigkeit 
von  Johann's  von  Gemunden  Abhandlung  De  arcubus  et  sinibus  nicht 
verkennen  lässt^).  Bekanntlich  unterscheidet  sich  die  Trigonometrie 
des  Ptolemäus  von  der  arabischen  Trigonometrie  wesentlich  dadurch, 
dass  in  ersterer  Sehnentafeln,  in  letzterer  Sinustafeln  (Bd.  I,  S.  391 
und  694)  benutzt  wurden.  Diejenigen  Astronomen,  welche  an  Schriften 
beiderlei  Ursprungs  ihre  Studien  machten,  waren  dadurch  genöthigt, 
mit  beiden  Auffassungen  sich  bekannt  zu  machen.  Dass  dabei  die 
praktischen  Vortheile  der  Sinustrigonometrie,  wenn  es  gestattet  ist 
diese  Wortverbindung  zu  wagen,  deutlich  und  deutlicher  hervortraten, 
liegt  in  ihnen  selbst  begründet.  Dass  damit  im  Zusammenhange  der 
Wunsch  nach  neuen  und  genauen  Sinustafeln  auftrat,  ist  leicht  be- 
greiflich, und  diesen  Wunsch  zu  befriedigen  hat  Peurbach  zuerst  in 
Deutschland  sich  zur  Aufgabe  gestellt.  Die  beabsichtigte  Genauigkeit 
war  nun  in  zwei  Richtungen  zu  suchen,  einmal  in  der  Richtung,  dass 
der  Kreishalbmesser,  in  dessen  Theilen  die  Sinuslinie  gemessen  wurde, 
möglich  gross  angenommen  wurde,  zweitens  in  der  Richtung,  dass 
die  Winkel,  deren  Sinus  unmittelbar  aus  der  Tabelle  zu  entnehmen 
waren,  in  kleinstmöglichen  Zwischenräumen  auf  einander  folgten.  In 
letzterer  Beziehung  hat  Peurbach  die  Winkel  von  10  zu  10  Minuten 
zunehmen  lassen  -).  Die  Länge  des  Halbmessers  hat  er  mit  (300000 
angesetzt^).  Wir  glauben  nicht  irre  zu  gehen,  wenn  wir  in  dieser 
für  den  Sinus  fotus,  den  Sinus  in  seiner  ganzen  erreichbaren  Länge, 
d.  h.  eben  den  Halbmesser,  gesetzten  Zahl  eine  Nachwirkung  der  von 
Johann  von  Gemunden  beliebten  Vermengung  sexagesimaler  und  deci- 
maler  Theiluug,  von  der  wir  oben  sprachen,  erkennen.  Jener  hielt 
es  für  nothwendig  die  decimale  Theilung  nur  als  Durchgangspforte 
gleichsam  zu  behandeln  und  nachträglich  wieder  zu  Sexagesimal- 
brüchen  überzugehen.  Peurbach  ersparte  sich  die  letztere  Arbeit 
durch  die  Wahl  von  60  X  10*  als  Längeneinheit.  Der  nächste 
Schritt  musste  den  Halbmesser  rein  decimal  theilen,  und  wir  werden 
sehen,  dass  derselbe  nicht  lange  mehr  auf  sich  warten  Hess.  Die 
Sinustafel,  welche  in  der  die  Nummer  5277  tragenden  Handschrift 
der  wiener  Bibliothek  sammt  Erläuterungen  vorhanden  ist,  und  in 
deren  Beschreibung  Proportionaltheile  ganz  wie  in   späterer  Zeit  zur 

')  Curtze  brieflich.  *)  Tann.stetter  sagt:  Nova  tabula  sinus  de  decem 

mümtis  in  decem  per  muUas  niiUenarias  paries.  Vergl.  Pfleiderer,  Ebene  Tri- 
gonometrie mit  Anwendungen  und  Beiträgen  zur  Geschichte  derselben  (1802) 
S.  21  Note  6.  Dieses  allzuselten  zu  Rathe  gezogene,  ungemein  gewissenhaft 
gearbeitete  Buch  citiren  wir  als  Pfleiderer.         ^)  Kästner  I,  535. 


Dentsclie  Roclicnleliror.     Jobann  von  Gemunden,  Georg  von  Peurbach.     183 

Anwendung  empfohlen  sind  ^),  ist  nicht  zum  Abdrucke  gelangt,  wohl 
aber,  wie  wir  sagten,  im  Jahre  1541  die  einleitenden  Bemerkungen, 
der  Tractatus  super  Propositiones  Ptolemaei  u.  s.  w.,  und  in  ihnen  ^) 
giebt  sich  Peurbach  als  klardenkenden  Mathematiker  zu  erkennen, 
der  seinen  Stoff  überdies  durchaus  beherrscht,  für  welchen  ihm,  wie 
es  scheint,  zwei  Quellen  zu  Gebote  standen,  eine  der  vorhandenen 
Uebersetzungen  des  ptolemäischen  Almagestes,  so  gut  oder  schlecht 
sie  war,  und  eine  Uebersetzung  von  Werken  eines  westarabischen 
Astronomen  ArzacheT^).  Auf  ihn  beruft  sich  Peurbach  ausdrücklich 
bei  Auseinandersetzung  der  Rechnung,  mittels  deren  er  die  Sinusse 
gewisser  Winkel  auffindet,  und  welche  er  im  Geiste  Arzachels  ge- 
führt*) nennt.  Arzachel,  der  gegen  Ende  des  XI.  Jahrhunderts  lebte, 
setzte  die  Länge  des  Durchmessers  mit  300,  die  des  Halbmessers 
mit  150  an^),  war  also  auf  die  von  uns  besonders  betonte  Wahl  von 
600000  für  den  Halbmesser  ohne  jeden  Einfluss.  Wohl  aber  dürfte 
sonst  mancherlei  bei  Peurbach  auf  ihn  zurückzuführen  sein.  Peurbach 
beginnt  mit  der  Frage  nach  dem  Verhältnisse  des  Kreisumfanges  zum 

Durchmesser.      Er   weiss,    dass    Archimed    es    zwischen   3-=-  und   3 — 
'  7  71 

377 
eingeschlossen  hat,  dass  Ptolemäus  es  zu  -^  annahm  (Bd.  I,  S.  394), 

dass  die  Inder  (Bd.  I,  S.  606)  es  mit  ]/l0  für  einerlei  erklären;  wüsste 
also  Jemand  die  Wurzeln  solcher  Zahlen  zu  finden,  welche  einer 
rechten  Wurzel  entbehren,  so  fände  er  leicht,  wie  viel  Theile  der 
Durchmesser  im  Verhältnisse  zum  Kreisumfange  hätte  ^).  Wieder 
Andere,  fährt  Peurbach  fort,  sagen,  jenes  Verhältniss  sei  wie  20000 
zu  62832  (Bd.  I,  S.  604),  aber  streng  genommen  ist  ein  Verhältniss 
überhaupt  nicht  vorhanden,  weil  das  Gerade  und  das  Krumme  nicht 
Grössen  derselben  Art  sind;  dagegen  waltet  zwischen  ihnen  eine 
gegenseitige  Beziehung,  denn  der  Sinus  ist  Sinus  eines  bestimmten 
Bogens,  und  der  Bogen  ist  Bogen  eines  bestimmten  Sinus  ^).  Mit 
Ptolemäus  stimmt  Peurbach  in  der  Berechnung  der  Seiten  der  regel- 
mässigen Sehnen  Vielecke  von  3,  4,  5,  6,  10  Seiten  überein,  mit  ihm 
in  der  Benutzung  des  Satzes,  dass  der  Quotient  der  grösseren  Sehne 
getheilt  durch  die  kleinere,  kleiner  ist  als  der  Quotient  der  von  den 
Sehnen  bespannten  Bögen,  zur  Auffindung  der  Sehne  von  P. 


1)  Curtze    brieflich.  ä)  Kästner  I,  540  —  548.  ^)   R.  Wolf,    Ge- 

schichte  der  Astronomie  S.  72.  *)  Haec  de  mente  Arsahelis.         ^)  Kästner 

I,  524.  ^)  Incli  vero  dicunt:  si  qais  sciret  radices  nwnerorum  recta  radice  caren- 
tium  invenire,  ille  faciliter  inveniret  quanta  esset  diameter  respeetu  eircumferentiae. 
Et  secundum  eos,  si  diameter  fuerit  unitas,  erit  circumferentia  radix  de  decem. 
'')...  eo  quod  rectum  et  curvum  non  sunt  eiusdem  speciei.  Est  tarnen  inter  eos 
mutua  relatio,  nam  sinus  est  portionis  sinus,  et  portio.  est  sinus  portio. 


184 


50.  Kapitel. 


Peurbacli  hat  auch  einen  praktischen  Gebrauch  von  seiner  Sinus- 
tafel zu  astronomischen  sowohl  als  zu  geodätischen  Zwecken  gemacht. 
Sie  dienten  ihm  bei  Anwendung  eines  von  ihm  erfundenen  Mess- 
instrumentes, dessen  Beschreibung  er  einem  Erzbischof  Johannes  von 
Gran  (Strigonium)  in  Ungarn  zueignete^).  Der  gewöhnliche  Name 
jenes  Messinstrumentes  lautet  Quadratum  geometricum,  es  ist  aber 
nicht  mit  jenem  Quadrate  zu  verwechseln,  dessen  man  sich  etwa 
hundert  Jahre  früher  in  England  (S.  112)  zu  ähnlichen  Zwecken  be- 
diente. Jenes  wurde  selbst  gedreht,  damit  man  längs  einer  Seite  des- 
selben nach  einem  Punkte  hinvisiren  konnte.  Einen  solchen  Gebrauch 
gestattet  Peurbach's  Vorrichtung,  welche  weit  mehr  an  Gerbert's 
Astrolabium  (Bd.  I,  S.  812)  erinnert,  schon  ihrer  Ausmessungen  wegen 
nicht.  Das  Quadratum  geometricum  (Fig.  30)  aus  Holz  oder  Metall 
hergestellt,   hatte  Seiten   von  je   zwei  Ellen  Länge.     Zwei   derselben, 

als   latus  versum  und   latus  rec- 

j^  Latiis9  versjim      «  ,  i         •   i        i  •         • 

c>ii UM  I     — I       mm    bezeichnet,    waren    m    je 

1200  Theile  getheilt,  so  dass 
jedes  Theilchen  etwa  1  Milli- 
meter betrug.  Die  Bezeichnung 
1200  befand  sich  an  jenem  End- 
punkte, wo  die  beiden  getheil- 
ten  Seiten  aneinander  stiessen. 
Um  den  diagonal  gegenüber- 
liegenden Eckpunkt  war  ein  mit 
zwei  Dioptern  ausgestattetes 
Lineal  drehbar.  Die  Aufstellung 
des  Quadrates  wurde  durch  ein  Bleisenkel  geregelt,  welches  von  einem 
Ansätze  an  die  senkrechte  ungetheilte  Quadratseite  herabhing  und 
durch  einen  Schlitz  in  einer  ähnlichen  Verlängerung  der  wagrechten 
ungetheilten  Seite  hindurch  sich  fortsetzte,  so  dass  ihm  etwas  Spiel- 
raum gegeben  war.  Von  einem  Stative  ist  keine  Rede.  Wurde  nun 
mit  Hilfe  des  Diopterlineals  irgend  ein  Punkt,  Stern,  Thurmspitze  oder 
dergleichen  einvisirt,  so  schnitt  das  Lineal  dabei  eine  getheilte  Seite 
in  einem  ablesbaren  Punkte,  z,  B.  im  Punkte  GOO  des  latus  rectum. 
Die  Länge  des  Diopterlineals  vom  Drehpunkte  bis  zum  Schnittpunkte 


Fig.  30. 


641 


war  dann  1/1200^  +  600^  =  y  1800000  =  1341  -^  (sexcenta  et  quadra 


1000 


ginta  una  millesimae  fere),  mit  dieser  Zahl  ist  in  600  mal  600000, 


^)  Canones  pro  compositione  et  tisu  gnomonis  pfo  Beverendissimo  clomino 
Joanne  Archiepiscopo  Strigon.  a  praeclarissimo  Maihematico  Georgio  Burbachio 
(sie!)  compositi.  Der  Druck  ist  unter  dem  Namen  Quadratum  Geometricum  1516 
in  Nürnberg  erfolgt.     Dessen  Beschreibung  bei  Kästner  I,  529 — 540. 


Deutsche  Reclienlehrer.     Johann  von  Derannden,  Georg  von  Peurbach.     185 

weil  der  Halbmesser  als  600000  gedacht  ist,  zu  dividiren,  und  das 
geschieht,  indem  dem  Dividendus  noch  drei  Nullen  angefügt  werden; 
man  rechnet  demnach  360000000000  :  1341641  und  erhält  268328. 
Zu  dieser  Zahl  gehört  den  Sinustafeln  gemäss  der  Winkel  von 
21°  33'  55",  und  dieser  Winkel  entspricht  also  dem  Theilstriche  600 
auf  dem  latus  rectum.  Wir  haben  der  Rechnung,  die  nahezu  wörtlich 
aus  dem  Peurbachischen  Texte  übersetzt  ist^),  nur  Weniges  hinzu- 
zufügen. Einmal  dass  aus  den  Sinustafeln,  wenn  sie,  wie  wir  wenig 
späterem  Berichte  folgend  annahmen,  für  Winkel  von  10  zu  10  Minu- 
ten berechnet  waren,  der  hier  gefundene  Winkel  nicht  unmittelbar 
hat  entnommen  werden  können.  Peurbach  muss  sich  also  dazu  eines 
Interpolationsverfahrens  bedient  haben,  welches  er  uns  hier  nicht  näher 
beschreibt  (S.  182).  Zweitens  ersetzt  die  angestellte  etwas  umständ- 
liche Rechnung  den  Mangel  einer  Tangententafel,  denn  es  handelt 
sich  in   der  angeführten  Aufgabe   doch   eigentlich   um  nichts  anderes 

als  um  Auffindung  des  Winkels,  dessen  Tangente  y^  =  y  ^^^'  ^^^ 
von  Peurbach  berechnete  Hilfstafel  zum  Quadratum  geometricum  ist 
also   streng  genommen   eine  Tafel  vom  Argustangens  k,  wo  k  durch 

alle  Zwölfhundertstel  hindurchgehend  die  Werthe  von  j^  bis  1  an- 
nimmt. 

Peurbach's  rein  astronomische  Schriften  entziehen  sich  selbst- 
verständlich wieder  unserer  Betrachtung.  Nur  von  einer  Aufgabe 
haben  wir  noch  ein  Wort  hier  zu  reden,  welche  Peurbach  sich  stellte, 
welche  für  ihn  eine  Lebensaufgabe  sein  sollte,  aber  in  deren  Erfüllung 
er  durch  den  Tod  unterbrochen  wurde.  Es  war  die  Anfertigung 
einer  guten  lateinischen  Uebersetzung  des  ptolemäischen 
Almagestes  aus  dem  griechischen  Urtexte.  Wie  und  durch 
wen  Peurbach  zu  dieser  Arbeit  ermuntert  wurde,  mag  da  ausführ- 
licher zur  Sprache  kommen,  wo  der  Veranlasser  der  Arbeit,  Bes- 
sarion,  uns  beschäftigen  wird. 

Im  Anschlüsse  an  die  trigonometrischen  Leistungen  Peurbach's 
sei  hier  aus  einer  Münchner  Handschrift  von  1446  eine  geographische 
Abhandlung  erwähnt,  in  welcher  die  decimale  Theilung  der  Winkel- 
grade durchgeführt  ist^). 


')  Kästner  I,  535.  -)  Codex  latinus  Monacensis  11067  (Pass.  67).  Blatt 
174'-  — 176/-:  Et  notandum  quod  in  praesenü  tabula  quilibet  gradus  et  hora  divi- 
ditur  in  100  minuta,  et  quodlibet  minutum  in  100  secunda  et  sie  de  aliis. 
Vergl.  Petri  PhiJomeni  de  Dada  in  Algorism.  vulgär.  loh.  de  Sacrobosco  Comment. 
edid.  M.  Curtze,  pag.  VIII  in  der  Note. 


186  51.  Kapitel. 

51.  Kapitel. 
Nicolaus  Cusanns. 

Der  nächste  deutsche  Mathematiker,  dem  wir  uns  zuwenden,  war 
kein  Universitätslehrer.  Cardinal  Nicolaus  von  Cusa^)  oder  Cu- 
sanus  hat  überhaupt  unserer  Wissenschaft  nur  als  ganz  beiläufiger 
Nebenbeschäftigung  gehuldigt;  um  so  bemerkenswerther  sind  seine 
Leistungen.  Cusanus  war  als  Sohn  eines  Fischers  Johannes  Chryppfs 
(Krebs)  1401  in  dem  Dorfe  Cues  am  linken  Moselufer  geboren.  Dem 
elterlichen  Hause  entlaufen  wuchs  Nicolaus  im  Dienste  des  Grafen 
von  Manderscheid  auf.  Wissenschaftliche  Vorbildung  erhielt  er  auf 
der  Schule  zu  Deventer.  Schon  1410  vor  Johanni  wurde  er  als 
Nicolaus  Cancer  de  Coesze  clericus  Trever.  dyoc.  in  das 
Matrikelbuch  der  Universität  Heidelberg  eingetragen^).  Später  wid- 
mete er  in  Padua  sich  der  Rechtsgelehrsamkeit.  Dort  war  er  Mit- 
schüler des  späteren  geographischen  Schriftstellers  Paolo  Tosca- 
nelli,  dessen  Name  in  der  Geschichte  der  Entdeckung  von  Amerika 
genannt  wird,  der  auch  der  Astronomie  Dienste  erwies,  indem  er  auf 
Fehler  in  den  Alfonsinischen  Tafeln  aufmerksam  machte.  Vielleicht 
waren  beide,  Cusanus  und  Toscanelli,  unter  den  Zuhörern  des  Pro- 
docimo  de'  Beldomandi,  mit  welchem  das  52.  Kapitel  uns  bekannt 
machen  wird.  Wenigstens  war  zeitlich  die  Möglichkeit  solcher  Be- 
ziehungen geboten,  da  Beldomandi  1422  als  Professor  der  Astronomie 
in  Padua  angestellt  wurde,  und  Cusanus  diese  Universität  1424  nach 
Erlangung  der  juristischen  Doctorwürde  verliess.  Er  verlor  in  Mainz 
seinen  ersten  Process  und  wandte  sich  dann  vollständig  der  Theologie 
zu.  An  den  Kirchenstreitigkeiten,  welche  fast  während  des  ganzen 
Lebens  des  Cusanus  dauerten,  betheiligte  er  sich  in  hervorragendem 
Maasse,  zuerst  auf  dem  Basler  Concile  von  1432 — 1437  als  berufenes 
Mitglied,  später  als  päpstlicher  Legat,  seit  December  1448  mit  dem 
Titel  Cardinal,  zu  welchem  im  März  1450  die  Verleihung  des  Bisthums 
Brixen  hinzukam.  An  diese  letztere  Verleihung  knüpften  sich  per- 
sönliche Streitigkeiten  für  den  Cardinal,  welche  nur  mit  seinem  am 
11.  August   1464   in  Todi  in  Umbrien    erfolgenden   Tode   ein   Ende 


^)  Biographisches  vergl.  in  der  Allg.  deutschen  Biographie  IV,  655 — 662, 
einen  alle  vorhandenen  Lebensbeschreibungen  benutzenden  Artikel  von  Prantl. 
Nur  den  Aufenthalt  in  Heidelberg  konnte  er  nicht  kennen,  da  damals  (1876) 
das    Heidelberger  Matrikelbuch    noch    nicht    veröffentlicht  war.  *)  Töpke, 

Die  Matrikel   der  Universität  Heidelberg  von  1386  bis  1662  (1884—1886)  I,  128 
Z.  4  V.  u. 


Nicolaiis  Cusamis.  187 

nahmen,  und  welche  einen  ziemlich  langen  Aufenthalt  in  Italien  ver- 
anlassten, bei  welcher  Gelegenheit  er,  wie  (S.  180)  erwähnt  worden 
ist,  mit  Georg  von  Peurbach  persönlich  bekannt  wurde  und  zu 
demselben  in  wissenschaftliche  Beziehungen  trat,  welche  durch  Schriften- 
übersendung sich  äusserten.  Die  Werke  des  Cardinais  Ecusa, 
wie  er  gleichfalls  oft  genannt  wird,  sind  ziemlich  vielseitig.  Welche 
Quellen  ihm  zur  Verfügung  standen,  kann  noch  heute  aus  seiner  in 
Cues  aufbewahrten  Bibliothek  ersehen  werden.  Theologisches,  Staats- 
rechtliches, Philosophisches  wechselt  in  ziemlich  buntem  Gemenge, 
und  die  überall  durchblickende  mystisch-scholastische  Färbung  gehört 
nicht  minder  ihm  selbst  als  der  Zeit  an,  in  welcher  er  lebte  und 
schrieb.  Uns  beschäftigen  diese  philosophischen  Gedanken  nur  so 
weit  sie  mathematische  Folgerungen  erzeugten.  Die  sonstigen  Schriften 
übergehen  wir  vollständig  mit  Einschluss  eines  Gesprächs  über  Ver- 
suche mit  der  Wage,  welches  der  Geschichte  der  Physik  angehört. 
Die  Gesammtwerke  wurden  im  XV.  Jahrhunderte  in  Paris  dem  Drucke 
übergeben.  Eine  zweite  Ausgabe,  welche  auch  mit  Anmerkungen 
eines  gewissen  Omnisanctus  (?)  versehen  ist,  erschien  in  Basel 
1565.     Wir  folgen  der  letzteren  Ausgabe^). 

Die  ersten  mathematischen,  oder  richtiger  gesagt  chronologisch- 
astronomischen Arbeiten  des  Cusanus  sind  seine  Vorschläge  zur 
Kalenderverbesserung  und  zur  Verbesserung  der  Alfonsini- 
schen  Tafeln,  welche  zusammengehören,  und  mit  welchen  er  1436 
den  Versuch  machte,  das  Basler  Concil  zu  einer  Beschlussfassung 
über  den  Gegenstand  zu  veranlassen,  dessen  Wichtigkeit  fortwährend 
in  der  religiösen  Unsicherheit  gefunden  wurde,  welche  bald  einen 
Fasttag  halten  liess,  wo  kein  solcher  geboten  war,  bald  auch,  und 
darin  lag  die  Gefahr,  Fleischgenuss  an  Tagen  gestattete,  die  von 
Rechtswegen  durch  Fasten  begangen  werden  mussten^).  Das  von 
Cusanus  vorgeschlagene  Heilmittel  bestand  in  der  Weglassung  von 
7  Tagen  in  der  Weise,  dass  im  Jahre  1439  Pfingstsonntag  noch  am 
24.  Mai  gefeiert  werden  solle,  wie  die  vorhandenen  Kalender  es 
wünschten.  Dann  aber  solle  man  den  Pfingstmontag  mit  der  Bezeich- 
nung   des    1.  Juni   versehen   und  künftig  regelmässig  alle   304  Jahre 


^)  Einzeluntersucliuiigen  über  die  mathematisch-astronomischen  Leistungen 
des  Cusanus  hat  Dr.  Schanz  in  Programmbeilagen  des  Gymnasiums  zu  Rott- 
weil  für  die  Jahrgänge  1871  —  1872  und  1872—1878  veröffentlicht:  I.  Der  Cardi- 
nal Nicolaus  von  Cusa  als  Mathematiker.  IL  Die  astronomischen  Anschauungen 
des  Nicolaus  von  Cusa  und  seiner  Zeit.  Wir  citiren  sie  als  Schanz  I  und 
Schanz  IL  Die  Basler  Ausgabe  (1565)  der  Werke  des  Cusanus  citiren  wir  als 
Cusani  Opera.  ^)  Schanz  II,  17 — 31.  Cusani  Opera  pag.  1155—1167:  Bepa- 
ratio  Calendarü  und  pag.  1168 — 1173:  Correctio  Tabularum  Älphonsi. 


188  51.  Kapitel. 

ein  Schaltjahr  wegfallen  lassen,  so  werde  die  Fehlerquelle  versiegen, 
die  darin  liege,  dass  im  julianischen  Jahre  mit  in  vierjähriger  Regel- 
mässigkeit   eingeschobenem    Schalttage     die    Jahresläuge    genau     zu 

365—  Tagen   und  damit  um  ein  Geringes  zu  gross  angenommen  sei. 

Das  Basler  Concil  spaltete  sich  am  7.  Mai  1437.  Cusanus  gehörte  zu 
der  Minderheit,  welche  austrat  und  sofort  mit  Entschiedenheit  auf  die 
Seite  des  Papstes  sich  stellte.  Von  einer  Beschlussfassung  über 
Kalenderfragen  war  keine  Rede  mehr. 

Ausführlicher  müssen  diejenigen  Schriften  uns  beschäftigen,  welche 
als  philosophisch-mathematische  zu  bezeichnen  sind,  und  welche  den 
Jahren  nach  1450  angehören,  wenn  auch  der  philosophische  Grund- 
gedanke schon  in  einem  Werke  enthalten  ist,  welches  zwischen 
December  1439  und  Februar  1440  theils  in  einem  Kloster  in  der  Eifel, 
theils  in  Cues,  dem  Heimathsorte  des  Verfassers,  niedergeschrieben 
ist,  und  welches  den  Titel  De  docta  ignorantia^)  führt.  Die  ge- 
lehrte Unwissenheit  ist  ein  innerer  Widerspruch,  welchen  der  Ver- 
fasser folgendermassen  rechtfertigt.  Erkenntniss  findet  statt,  wenn 
man  das  Verhältniss  des  Erforschten  zu  allem,  was  da  ist,  zum  Be- 
wusstsein  gebracht  hat.  Es  sind  folglich,  entsprechend  den  unendlich 
vielen  Vergleichungsgegenständen,  unendlich  viele  Vergleichungen  an- 
zustellen, und  solches  ist  dem  menschlichen  Geiste  unmöglich.  Darum 
habe  schon  Sokrates  sich  dahin  ausgesprochen,  er  wisse  nichts  als  die 
Thatsache  seiner  Unwissenheit,  und  ihm  darin  nachzufolgen  reizt  uns 
der  bei  alledem  in  uns  gelegte  Erkenntnisstrieb.  Kommen  wir  über 
unser  Nichtwissen  ins  Klare,  so  dürfen  wir  von  einer  gelehrten  Un- 
wissenheit reden. 

Wir  haben  zu  dieser  Erörterung  des  Cusanus  noch  einen  kleinen, 
aber  nicht  unwichtigen  Zusatz  zu  machen.  Bei  jedem  anderen  Schrift- 
steller wäre  man  versucht,  in  dem  so  erklärten  Titel  eine  Absicht  in 
sofern  zu  erkennen,  als  solle  der  Leser  durch  eine  anspruchsvolle 
Ueberschrift  angeregt  werden,  sich  in  die  Schrift  zu  vertiefen.  Bei 
Cusanus  war  es  wohl  mehr  als  das,  was  ihn  beeinflusste.  Allerdings 
wählte  er  absichtlich  den  sich  selbst  widersprechenden  Titel,  aber, 
wie  wir  vermuthen  möchten,  desshalb,  weil  Vereinigung  der  Gegen- 
sätze für  ihn  die  Grundlage  des  Wissens  ist.  Später  nennt 
er  eine  jede  derartige  Vereinigung  die  Kunst  der  Coincidenzen^) 
und  behauptet,  mittels  ihrer  sei  das  Eindringen  in  das  Verborgene 
möglich.     Die    gelehrte  Unwissenheit  selbst  baut  auf   der  Grundlage 

^)  Cusani  Opera  pag.  1 — 62.  -)  Ebenda  pag.  1095  in  der  Abhandlung  De 
sinibus  et  chordis  :  . . . .  ut  videatur  potentia  artis  coincidentiaruvi ,  per  quam  in 
omni  facultate  occulta  penetrantur. 


Nicolaus  Cusanus,  189 

solcher  Coincidenzen  sich  auf.  Jede  Untersuchung,  sagten  wir  schon, 
geht  von  Vergleichungen  aus.  Die  Vergleichung  führt  zur  Zahl,  und 
das  habe  Pythagoras  wohl  im  Auge  gehabt,  als  er  das  Urtheil  ab- 
gab, Alles  bestehe  und  Alles  werde  begriifen  durch  die  Kraft  der 
Zahlen. 

Vom  Grösseren  und  Kleineren,  welches  bei  der  Vergleichung  auf- 
tritt, steigt  man  auf  zum  Grössten  und  zum  Kleinsten.  Das  Grösste 
ist  dasjenige,  über  welches  hinaus  ein  Grösseres  nicht  gedacht  werden 
kann,  und  ebensowenig  kann  es  selbst  als  kleiner  gedacht  werden, 
weil  es  alles  ist,  was  es  sein  kann.  Aber  auch  das  Kleinste  ist  ein 
Solches,  über  welches  hinaus  Kleineres  nicht  sein  kann,  und  weil 
das  Grösste  von  gleicher  Art  ist,  findet  zwischen  dem  Kleinsten  und 
dem  Grössten  Coincidenz  statt  ^).  Die  Zahl  gestattet  freilich  ein 
Aufwärtssteigen  zu  einer  thatsächlich  grössten,  aber  weil  sie  eine  be- 
grenzte Zahl  bleibt,  ist  sie  nicht  zu  dem  absolut  Grössten,  über 
welches  hinaus  ein  Grösseres  nicht  sein  kann,  geworden,  denn  dieses 
ist  unbegrenzt^). 

Das  ist  gleichfalls  ein  Gedanke,  den  Cusanus  nie  verleugnet  hat. 
In  einer  seiner  spätesten  Schriften  kommt  er  auf  ihn  mit  den  Worten 
zurück^):  Wenn  wir  10  vergangene  Sonnenläufe  und  100  und  1000 
und  alle  zählen  können,  und  es  sagt  Einer,  alle  seien  durch  eine  Zahl 
nicht  angebbar,  sondern  es  seien  unendlich  viele  Umläufe  voran- 
gegangen, so  ist  das,  als  wenn  er  sagte,  im  nächsten  Jahre  werde 
wieder  ein  Umlauf  vollendet,  und  dann  seien  es  unendlich  viele  und 
eins,  was  unmöglich  ist. 

Wirklich  unendlich  ist  nur  Gott,  aber  man  kann  auch  mit  mathe- 
matischen Versinnlichungen  dem  Unendlichen  beizukommen  suchen. 
Die  unendliche  Grade  ist  zugleich  auch  Dreieck  und  Kreis*).  Wie 
diese  Coincidenzen  gemeint  seien,  wird  sodann  näher  erörtert.  Der 
Kreis    besitzt  Krümmung    und   ist  länger   als   sein  Durchmesser.     Je 

^)  Cusani  Opera  pag.  3  in  der  Docta  ignorantia  Lib.  I,  cap.  4:  Maximum 
sicut  non  potest  malus  esse,  eadem  ratione  nee  minus,  quum  sit  omne  id  quod  esse 
potest.  Minimum  autem  est,  quo  minus  esse  non  potest.  Et  quoniam  maximum 
est  huiiis  modi,  manifestum  est  minimum  maximo  concidere.  ^)  Ebenda  pag.  4 
{Docta  ignor.  Lib.  I,  cap.  5):  Si  ascendendo  in  numeris  devenitur  actu  ad  maxi- 
mum, quoniam  finitus  est  numerus,  non  devenitur  tarnen  ad  maximum ,  quo  maioi' 
esse  non  possit,  quoniam  hie  esset  infinittcs.  ^)  Ebenda  pag.  1113  {Complemen- 

tum  theologicum  cap.  8) :  Si  enim  numerare  possumus  decem  revolutiones  praeteritas, 
et  centum,  et  mille,  et  omnes:  si  quis  dixerit ,  non  omnes  esse  numerabiles,  sed 
praeteriisse  infinitas,  et  dixerit  unavi  futurum  revolutionem  in  futuro  anno,  essent 
igitur  tune  infinitae  et  una,  quod  est  impossihile.  *)  Ebenda  pag.  9  {Docta  ignor. 
Liberi,  cap.  13):  Si  esset  linea  in  finita,  illa  esset  recta,  illa  esset  triangulus,  illa 
esset  circulus. 


190  51.  Kapitel. 

grösser  der  Durchmesser  wird,  um  so  kleiner  wird  die  Krümmung. 
Die  Ki-eislinie  grössten  Durchmessers  ist -selbst  grösste  Kreislinie,  also 
von  kleinster  Krümmung,  also  von  grösster  Geradheit,  wodurch  Coin- 
cidenz  des  Grössten  mit  dem  Kleinsten  hergestellt  ist.  Mit  dem 
Dreiecke  verhält  es  sich  folgendermasseu.  Zwei  Dreiecksseiten  zu- 
sammen sind  immer  grösser  als  die  dritte.  Ist  also  eine  Seite  unend- 
lich gross,  so  müssen  es  die  beiden  anderen  auch  sein.  Weil  ferner 
zwei  Unendlichkeiten  nicht  stattfinden  können^),  so  kann  das  unend- 
liche Dreieck  aus  mehreren  Linien  nicht  zusammengesetzt  sein.  Als 
Dreieck  muss  es  aber  drei  Seiten  besitzen,  folglich  ist  die  eine  un- 
endliche Gerade  eine  Dreiheit  von  Geraden,  und  die  drei  Geraden 
fallen  in  eine  zusammen.  Ebenso  schliesse  man  für  die  Winkel. 
Jedes  Dreieck  habe  drei  Winkel,  die  zusammen  zwei  Rechte  betragen. 
Wird  ein  Winkel  zu  zwei  Rechten,  so  gehen  in  ihm  alle  di-ei  Winkel 
auf,  und  die  Gerade  ist  alsdann  Dreieck.  So  ist  das  einfach  Grösste 
die  grösste  Länge,  welche  wir  Wesenheit  nennen  können,  und  Drei- 
eck, wesshalb  es  Dreifaltigkeit  genannt  werden  kann,  und  Kreis,  wess- 
halb  es  Einheit  heisst^J.  Hier  beginnt  der  mathematische  Faden  in 
ein  theologisch  -  philosophisches  Gespinnst  überzugehen  und  reisst 
schliesslich  ab.  Die  Geschichte  der  Astronomie  hat  dem  zweiten  Buche 
der  gleichen  Schrift  werthvolle  Gedanken  zu  entnehmen,  welche  Cu- 
sanus  einen  Platz  in  der  Entwickelung  der  Kenntnisse  von  der  Erd- 
bewegung, von  den  Sonnenflecken,  von  der  Natur  der  Sonne  sichern. 
Uns  ist  es  gestattet,  an  diesem  zweiten  Buche  und  noch  rascher  an 
dem  dritten  vorüberzugehen. 

Wir  gelangen  zu  einer  anderen  philosophischen  Schrift,  welche  den 
eigenthümlichen  Titel  De  Beryllo''j  führt.  Der  Beiyll,  so  sagt  der 
Verfasser,  ist  ein  heller,  weisser,  durchsichtiger  Stein,  dem  sowohl 
eine  concave  als  eine  convexe  Gestalt  beigelegt  wird,  und  wer  durch 
ihn  hindurchsieht,  erkennt  vorher  Unsichtbares.  Unterbrechen  wir 
unseren  Bericht  mit  der  beiläufigen  Bemerkung,  dass  die  genannte 
Eigenschaft  des  Berylls  seit  geraumer  Zeit  bereits  bekannt  war  und 
der  daraus  hergestellten  Sehvorrichtung  den  Namen  der  Brille  ver- 
schafft hat.  Bei  den  Italienern  hiessen  übrigens  die  Brillen  occhiali-^ 
ihre  Erfindung  geht  vermuthlich  auf  den  1317  gestorbenen  Florentiner 
Salvino  degli  Armati  zurück^).  Wir  kehren  zu  Cusanus  zurück. 
Wird  dem  geistigen  Auge,  fährt  er  fort,  ein  geistiger  Beryll  —  sagen 
wir    nur  gradezu   eine  geistige  Brille  —  vorgesetzt,    die    ebensowohl 


^)  Cusani  Opera  pag.  10  {Docta  ignor.  Liberi,  cap.  14):  quoniam  plura  esse 
infinita  non  possunt.  *)  Ebenda  pag.  14  {Docta  i^Hor.  Liberi,  cap.  19).  ')  Ebenda 
pag.  2G7— 284.         ^)  Heller,   Geschichte  der  Physik  I,  201. 


Nicolaus  Cusanus.  191 

die  Gestalt  des  Grössten  als  die  des  Kleinsten  besitzt,  so  erkennt  man 
den  unsichtbaren  Ursprung  aller  Dinge.  Man  sieht  hieraus,  dass 
Cusanus  in  der  genannten  Abhandlung  es  wieder  mit  der  Coincidenz 
der  Gegensätze  zu  thun  hat,  und  zwar  derselben  Gegensätze  des 
Grössten  und  Kleinsten,  von  denen  in  dem  ersten  Buche  der  gelehrten 
Unwissenheit  die  Rede  war.  War  aber  dort  vorzugsweise  das  Grösste 
betrachtet  worden,  so  wendet  Cusanus  im  Berylle  sein  Augenmerk 
ausschliesslich  dem  Kleinsten  zu.  Der  Punkt,  sagt  er,  ist  untheilbar, 
aber  von  übertragbarer  Untheilbarkeit  ^).  Er  ist  untheilbar  nach  jeder 
Art  des  stetigen  Seins  und  der  Ausdehnung.  Die  Arten  des  Seins 
für  das  Stetige  sind  die  Linie,  die  Oberfläche,  der  Körper.  Es  nimmt 
die  Linie  Theil  an  der  Untheilbarkeit  des  Punktes,  insofern  sie  nicht- 
linienhaft  untheilbar  ist,  d.  h.  sie  kann  nicht  in  Stücke  zerlegt  werden, 
die  nicht  Linien  sind,  und  sie  ist  nach  Breite  und  Dicke  untheilbar. 
Die  Oberfläche  nimmt  Theil  an  der  Untheilbarkeit  des  Punktes,  weil 
sie  unoberflächenhaft  untheilbar  ist;  der  Dicke  nach  lässt  sie  keine 
Theilung  zu,  weil  sie  eben  kein  Körper  ist.  Der  Körper  endlich 
nimmt  Theil  an  der  Untheilbarkeit  des  Punktes,  insofern  er  in  Nicht- 
körper  nicht  zerlegt  werden  kann,  der  Dicke  nach  ist  er  theilbar. 
In  der  Untheilbarkeit  des  Punktes  sind  also  alle  jene  anderen  Un- 
theilbarkeiten  mit  inbegriflen,  und  in  ihnen  wird  nichts  gefunden  als 
die  Entfaltung  der  Untheilbarkeit  des  Punktes.  Alles  was  im  Körper 
gefunden  wird,  ist  folglich  nichts  anderes  als  der  Punkt  oder  ihm 
einzig  Aehnliches  ^).  Und  ein  Punkt  losgelöst  vom  Körper,  oder  der 
Oberfläche,  oder  der  Linie  wird  nicht  gefunden,  weil  er  das  innere 
Princip  ist,  welches  die  Untheilbarkeit  verleiht. 

Bei  diesen  Stellen  erwacht  von  selbst  die  Erinnerung  an  Brad- 
wardinus  (S.  119),  der  dem  Punkte  die  Eigenschaft  beilegte,  die  Un- 
theilbarkeit an  einen  bestimmten  Ort  zu  binden ,  und  der  jede  Wissen- 
schaft wahr  nannte,  in  welcher  die  Voraussetzung  nicht  gemacht  werde, 
Stetiges  setze  sich  aus  Untheilbarem  zusammen,  der  auch  das  Unend- 
lichgrosse in  das  Bereich  seiner  Betrachtungen  zog.  Von  selbst  ge- 
denken wir  jenes  Walther,  jenes  Heinrich,  mit  denen  Bradwardinus 
sich  auseinandersetzte.  Der  alte  Streit  über  das  Stetige,  welcher 
wohl  in  dem  Jahrhunderte,  das  zwischen  Bradwardinus  und  Cusanus 
liegt,  auch  nicht  vollständigem  Frieden  Platz  gemacht  hat,  wenn  er 
auch  mehr  ein  chemisch -physikalischer  zu  werden  den  Anschein  ge- 
winnt, findet  in  Cusanus  eineu  neuen  Kämpfer.    Wir  wissen  von  ihm 


^)  Cusani,    Opera  pag.  271  (De  Beryllo  cap.  17):  punctum  autem  communi- 
cahilis   indivisibilitas.  ')    Omni  igitiir  qiiod  reperitiir  in  corpore,  non  est  nisi 

punctum  seu  simUüudo  ipsius  unius. 


192  51-  Kapitel. 

selbst,  dass  er  es  liebte,  Klosterbibliotbekeu  zu  durchstöbern.  An 
einem  oder  dem  anderen  Orte,  wo  er  seine  Bildung  gewann,  fand  er 
vielleicht  auch  Zeit  und  Gelegenheit,  eine  Vorlesung  über  die  Latitu- 
dines  formarum  zu  hören.  So  mag  ihm  die  Streitfrage,  mögen  ihm 
die  älteren  Kampfmittel  bekannt  geworden  sein,  mag  er  der  Auf- 
fassung von  der  Zusammensetzung  räumlicher  Gebilde  aus  ihnen  ähn- 
lich gearteten  Elementen,  um  nicht  zu  sagen  aus  Differentialen,  sich 
mehr  angeschlossen  haben,  als  dass  er  sie  erfand.  Seine  Verdienste 
werden  durch  diese  Annahme  keineswegs  geschmälert.  Es  erklärt 
sich  nur,  wie  Cusanus  dazu  kam,  seinen  Coincidenzen  so  grosses  Ge- 
wicht beizulegen.  Es  bestätigt  sich  nur  die  Wahrheit  dessen,  was 
wir  früher  andeuteten,  dass  die  ünendlichkeitsfragen  nicht  wieder  zur 
Ruhe  kamen.  Xoch  an  ein  Anderes,  begrifflich  einigermassen  verwandt, 
müssen  wir  bei  dieser  Rückschau  nach  den  Quellen  der  Ansichten 
des  Cusanus  erinnern.  Campanus  hat  einen  geometrisch- philosophi- 
schen Satz  an  einer  Stelle  ausgesprochen,  an  einer  zweiten  Stelle  be- 
kämpft, den  Satz,  dass  bei  stetigen  Grössen  irgend  einmal  Zwischen- 
zustände eintreten  müssen,  die  ein  vorgelegtes  Verhältniss  erfüllen 
(S.  104j.  Albert  von  Sachsen  hat  (S.  144)  des  gleichen  Satzes  sich 
bedient.  Wir  werden  auch  an  ihn  genug  Ankläuge  finden,  sobald 
wir  die  im  eigentlichen  Wortsinne  mathematischen  Schriften  des 
Cusanus  durchmustern,  wozu  wir  uns  jetzt  anschicken. 

Es  war  eine  einzige  Aufgabe,  welche  Cusanus  sich  gestellt  hat, 
welcher  er  etwa  seit  1450  bis  1460,  also  zehn  Jahre  hindurch,  in 
verschiedenen  Abhandlungen  sein  fast  ausschliessliches  Nachdenken 
widmete,  aber  freilich  eine  Aufgabe  schwierigster  Art:  die  der  Arcu- 
fication  einer  Geraden.  Albert  von  Sachsen,  sagten  wir  früher 
(S.  145 j,   und  mit  ihm  fast  (S.  127  und  154)   das  ganze  Mittelalter, 

hielten  n  =  3—   nicht  etwa  für  einen  Näherungswerth ,   sondern    für 

genau  richtig.  Von  dieser  Meinung  zurückzukommen  war  schon  ein 
Fortschritt,  und  Cusanus  machte  denselben.  Erleichtert  war  er  ihm 
allerdings  durch  den  Umstand,  dass,  wie  wir  im  folgenden  Kapitel 
sehen  werden,  wo  wir  der  italienischen  Mathematik  der  ersten  Hälfte 
des  XV.  Jahrhunderts  uns  zuwenden  woUen,  grade  damals  eine  Ueber- 
setzung  des  Archimed  in  lateinischer  Sprache  verfasst  und 
Cusanus  in  die  Hände  gegeben  worden  war.     So  musste  er  die 

beiden   Grenzen  3—  und  3~     kennen  lernen,  zwischen   denen  n  sich 
7  11  ' 

befindet,  so  musste  er  zugleich  die  genaue  Bestimmung  von  7t  als 
eine  noch  nicht  gelöste  Aufgabe  erkennen.  Er  versuchte  ihre  Be- 
handlung im  Sinne  der  Arcufication,  d.  h.  er  ging  aus  von  einem 
gegebenen  gleichseitigen  Dreiecke  als  einfachstem  regelmässigen  Viel- 


Nicolaus  Cusanus.  193 

ecke,  er  ging  dann  über  zu  ihm  umfanggleiclien  regelmässigen  Viel- 
ecken von  grösserer  Seitenzahl,  bis  er  zur  Kreislinie  von  gleicher 
Länge  gelangte,  deren  Halbmesser  gesucht  wurde.  Fand  man  diesen, 
so  war  in  der  That  die  Länge  des  Dreiecksumfangs  in  eine  Kreislinie 
verwandelt.  Zur  Kreislinie  konnte  er  aber  auf  solche  Weise  gelangen, 
weil  er  sie  als  Un  endlich  vi  eleck  betrachtete,  wie  er  an  vielen 
Stellen  es  ausgesprochen  hat^).  Das  war  also  eine  neue  Fragestel- 
lung verschieden  von  der  archimedischen,  verschieden  von  der  im 
Abendlande  überhaupt  bisher  eingebürgerten,  und  ob  die  indischen 
Versuche  (Bd.  I,  S.  606)  zu  des  Cusanus  Kenntniss  gelangt  sein  können, 
ist  uns  mehr  als  zweifelhaft,  wenngleich  Georg  von  Peurbach  (S.  183) 
den  indischen  Werth  tt  =  ]/10  kannte.  Ein  Werth  von  tc  kann  leicht 
weitere  Verbreitung  gefunden  haben,  ohne  dass  die  Auffassung,  mittels 
deren  man  zu  ihm  gelangte,  sich  mit  verbreitet  hätte.  Eine  neue 
Fragestellung  ersinnen  hat  aber  stets  als  fruchtbares  Förderungsmittel 
der  Mathematik  sich  erwiesen,  und  dieses  Verdienst  muss  mithin 
Cusanus  in  erster  Linie  angerechnet  werden. 

Dass  bei  neuer  Fragestellung  die  Merkmale,  welche  die  Richtig- 
keit des  Verfahrens  bekunden  sollen,  um  so  leichter  versagen,  je 
neuer  das  Verfahren  selbst  gleichfalls  ist,  darf  nicht  Wunder  nehmen. 
Grade  die  Geschichte  der  Entwicklung  der  Stetigkeitsbetrachtungen, 
und  um  diese  handelt  es  sich,  zeigt  auf's  deutlichste,  dass  jeder  Schritt 
vorwärts  von  Fehlschi'itten  begleitet  war,  die  kaum  Einem  erspart 
blieben.  Auch  Cusanus  stellt  keine  Ausnahme  von  dieser  Regel  uns 
dar.  Sein  rasch  aufwallender  Geist  liess  ihn  Schlüsse  für  vollwichtig 
halten,  denen  er  bald  selbst  als  allzu  leicht  gezogenen  misstraute, 
und  es  ist  geradezu  kennzeichnend,  dass  er,  nachdem  er  in  einer  Ab- 
handlung die  Aufgabe  gelöst  haben  will,  sofort  einer  neuen  Lösung 
eine  neue  Abhandlung  widmet,  und  dass  in  den  späteren  Schriften, 
trotz  der  dem  Gelingen  näheren  Versuche,  die  Sprache  eine  immer 
vorsichtigere  wird. 

Die  Ueberschrift  der  ersten  Abhandlung  lautet:  De  transforma- 
tionibus  geometricis.  Sie  trägt  die  Widmung:  ad  Paulum  ma- 
gistri  dominici  Physicum  Florentinum,  d.  h.  an  den  Florentiner  Arzt 
Paulus    den    Sohn    des    Magister    Dominicus ,    worunter    der   frühere 


^)  Am  deutlichsten  in  der  Stelle  Cusani  Opera  pag.  1110  (Complementum 
theologicum  cap.  5):  Quanto  autem  polygonia  aequaliuni  laterum  plurium  fuerit  angii- 
lorum,  tanto  similior  circulo;  eircuhis  enim  si  ad  pölygonias  attendas  est  infinito- 
rum  angulorum.  Et  si  ad  ipsum  circulum  tantwn  respicis  nulluni  angulum  in 
eo  reperies,  et  est  interminatus ,  inangularis :  et  ita  circulus  inangularis  et 
interminatus  in  sc  complicat  omnes  angulares  terminationes ,  pölygonias  datas 
et  dahiles. 

Cantor,  Geschichte  der  Mathem.    II.    2.  Aufl.  13 


194 


51.  Kapitel. 


Studiengenosse  von  Cusanus  in  Padua  Paolo  Toscanelli^)  verstanden 
ist.  Es  handle  sich,  sagt  der  Verfasser  in  der  Zueignung,  um  die 
Verwandlung  von  Krummem  in  Gerades  und  von  Geradem  in  Krum- 
mes. Ein  rationales  Verhältniss  sei  zwischen  beiden  nicht  möglich. 
Das  Geheimniss  müsse  in  einer  gewissen  Coincidenz  der  Extreme 
verborgen  liegen.  Die  Coincidenz  beziehe  sieh  auf  das  Grösste,  das 
sei  eben  der  unbekannte  Kreis,  müsse  also  an  dem  Kleinsten,  welches 
das  Dreieck  ist,  aufgesucht  werden.  Cusanus  denkt  bei  diesen  Worten 
oifenbar  an  die  Eckenzahl  beider  Figuren.  Drei  ist  die  kleinste,  un- 
endhch  gross  die  grösste  Zahl  der  Ecken,  mit  denen  ein  Vieleck 
überhaupt  möglich  ist.  Ist  (Figur  31)  hcd  das  gegebene  Dreieck, 
so  ist  af  der  Halbmesser  des  Inneu- 
kreises,  ah  der  des  Umkreises,  die  beide 
dem  Dreiecke  nicht  umfanggleich  sein 
können,  da  man  weiss,  dass  der  Umfang 
des  Innenkreises  stets  kleiner,  der  des 
Umkreises  stets  grösser  ist  als  der  irgend 
eines  regelmässigen  Vielecks,  zu  welchem 
der  betreffende  Kreis  gehört,  und  dass 
der  jedesmalige  Unterschied  der  Um- 
fange der  Kreise  einerseits,  des  Viel- 
ecks andrerseits  beim  Dreieck  am  gröss- 
ten  ist.  Der  gesuchte  Kreis  muss  folg- 
lich einen  Halbmesser  haben,  der  grösser 
Nun  wird  fh  in  vier  gleiche  Stücke 
zerlegt  und  die  Theilpunkte  i,  e,  l  werden  gradlinig  mit  a  verbunden, 
diese  Verbindungsgeraden  ai,  ae,  al  aber  um  ih,  eh,  Im  verlängert, 
so  dass  die  Verlängerte  zur  Verlängerung  sich  verhalte  wie  die  hc 
zur  Entfernung  von  f  bis    zu    dem   betreffenden  Theilpunkte.     Man 


als   af,   kleiner    als    al>    ist. 


macht  daher  ih- 


ai,  eh  = 


lm  =  —  al.     Nun  ist  aber  i  dem 


Punkte  f,  l  dem  Punkte  h  allzunahe,  als  dass  ak  oder  am  der  ge- 
suchte Halbmesser  sein  könnte,  folglich  ist  ah  richtig.  Die  Mangel- 
haftigkeit der  Schlüsse  ist  so  augenscheinlich,  dass  es  verwundem 
muss,  wie  wenig  mangelhaft  das  Ergebniss  ausfällt.  Sei  &c  =  8,  so 
ist  der  Dreiecksumfang   24  und  dieser  getheilt  durch  2 ah  giebt  n, 

oder  7t  =  ~^-     Ferner  ist 
an 


af. 


hf=4. 


?>af-  =  16, 

]/84 


af: 


ae- 


4 


16    ,     ,         28 


3' 


*)  üeber  Toscanelli's  Familienverliältnisse  vergl.  Gust.  Uzielli  im  Bulle- 
Uno  Boncompagni  XVI,  611 — 618. 


Mcolaus  Cusanus.  195 

und  folglich 


144 


wähi-end 


=  y9  ■  87428571428571  •  •  -  =  3,142337 


34- =  3,142857  ••  •  und   3^  =  3,140845 

I  '  71  ' 


Der  Werth  von  7t,  dem  die  Construction  von  Cusanus  entspricht,  ist 

also  dem  richtigen  Werthe  um  0,00052  näher  als  das  archimedische  3-- 

In  diesem  Arcuficationsversuehe  redet  Cusanus  von  der  Coincidenz, 
benutzt  sie  aber  streng  genommen  nicht.  Desto  mehr  hat  er  dieses  in 
anderen  Schriften  gethan,  welche  die  Titel  führen:  De  mathematicis 
complementis  (Papst  Nicolaus  V.  zugeeignet),  De  quadratura 
circuli  (Georg  von  Peurbach  gewidmet),  De  una  recti  curvique 
mensura  und  De  mathematica  perfectione.  Ihnen  allen  ist 
ein  Gedanke  gemeinsam,  nämlich  folgender.  In  jedem  regelmässigen 
Vielecke  giebt  es  eine  Primlinie  und  eine  Secundlinie,  linea  prima 
und  linea  sccunda.  Die  erstere  ist  der  Halbmesser  des  Innenkreises, 
die  zweite  der  des  Umkreises,  und  bezeichnen  wir  diese  Längen  durch 
p  und  s,  welchen  als  Stellenzeiger  die  Seitenzahl  n  des  Vielecks  bei- 
gegeben werden  mag,  so  ist  immer  Sn'>Pn,  und  der  Unterschied  5„ — jj„ 
ist  das,  was  die  Sagitta  genannt  wird,  d.  h.  die  Mittelsenkrechte 
einer  Vielecksseite  in  ihrer  Ausdehnung  von  der  Vielecksseite  an  bis 
zum  Durchschnitte  mit  dem  Umkreise.  Diese  Sagitta  ist  beim  Dreieck 
(w  =  3)  am  grössteu ,  beim  Kreise  als  Unendlichvieleck  wird  sie  Null, 
und  Prim-  und  Secundlinie  fallen  bei  ihm  zusammen.  Werden  um- 
fanggleiche Vielecke  mit  einander  verglichen,  so  ist  p,i  — p^  um  so 
grösser,  je  kleiner  s„  — p^  ist.  Mithin  ist  der  grösste  Werth  von 
p,i  —  i>3  bei  n  =  CO,  d.  h.  beim  Kreise ,  dessen  Sagitta  verschwindet, 
erreicht.  Die  Primlinien  sind  aber  den  Flächeninhalten  der  Vielecke 
selbst  proportional,  und  somit  übertrifft  der  Inhalt  des  Kreises  den 
des  umfanggleichen  Dreiecks  am  meisten.  Da  gleichzeitig,  wie  wir 
sahen,  die  Dreieckssagitta  Sg — p^  die  grösstmögliche  ist,  so  wird 
angenommen,  der  Unterschied  der  Kreisfläche  über  die  Dreiecksfläche 
sei  dieser  Sagitta  proportional.  Heisst  der  Proportionalitätsfactor  A, 
so  schreibt  sich  diese  Annahme: 

Kreisfläche  —  Dreiecksfläche  =  k(s^  — p^. 
Es  war  aber  daneben  auch  s^  —  p^  =  0,  also  ebenfalls 

Kreisfläche  —  Kreisfläche  =  0  =  A  (s^  —  p^). 

Jetzt  wird  das  Princip  der  Conincidenz  zu  Hilfe  gezogen:  was  für  das 
Vieleck  von  der  geringsten  Seitenzahl  3  und  von  der  grössten  Seiten- 
zahl oo  wahr  ist,  muss  bei  jeder  Seitenzahl  wahr  sein.    Also  muss  sein: 

13^^ 


196 


51.  Kapitel. 


Kreisfläche  —  w-ecksfläche  =  X(s,n  —  j3,„), 

Kreisfläche  —  M-ecksfläche  =  A(s„  — p„). 

Bei    der  Division   dieser   Gleichungen    durch   einander   fällt    dann   der 

unbekannte  Proportionalitätsfactor  A  heraus,  und  es  entsteht 

Kreisfläche —  ??t-ecksfiäche         s^^  — 2^, 

Kreisfläche  —  «-ecksfläche  g^  —  p^ 

Aber  auch  diesem  ersten  Ergebnisse  kann  man  eine  wesentlich  vor- 
th  eilhaftere  Gestalt  geben.  Der  gemeinschaftliche  Umfang  aller  unter- 
suchten Figuren  sei  U,  und  r  heisse  der  Halbmesser  des  umfang- 
gleichen Kreises,  so  erkennt  man  sofort  die  Richtigkeit  der  drei 
Flächenformeln : 

Kreisfläche  =  —  U  ■  r, 


>«-eeksfläche 


U.p,„, 


w-ecksfläche  =  irU  ■  Pn 


Setzt  man  diese  Werthe  in  obige  Gleichung  ein  und  kürzt  den  Bruch 

1 


links  durch  -—  TJ 


so  entsteht 


und  folcflich 


Pn^, 


{^n-Pm)-{^n-Pn) 


{^u  -  P,n)  -  (««  -  Pn) 

Wir  machen  dabei  die  unter  allen  Umständen  gestattete  Annahme, 
dass  m  <  n,  damit  in  dem  Werthe  von  r  der  Zähler  sowohl  als  der 
Nenner  positiv  ausfällt. 

Natürlich  ist  bei  Cusauus  die  Schlussfolge  nicht  so  sehr,  wie  es 
hier  geschah,  unserem  heutigen  Gedankengange  nach  Form  und  In- 
halt angepasst,  aber  der  Hauptsache  nach  darf  unser  Bericht  auf  die 
Bezeichnung   als  treu  Anspruch  erheben,  und   insbesondere  geht  aus 

demselben  hervor,  worin  die  Man- 
gelhaftigkeit des  Verfahi-ens  besteht, 
nämlich  darin,  dass  der  Propor- 
tionalitätsfactor A  als  ein  und  der- 
selbe in  den  beiden  auf  das  m-eck 
und  n-eck  bezüglichen  Gleichungen, 
in  welchen  er  vorkommt,  betrachtet 
wird,  was  nur  sehr  näherungsweise  der  Fall  ist,  wenn  m  und  n  wenig 
von  einander  verschiedene  nicht  allzukleine  Zahlen  sind. 

Gesetzt    es    sei    m  =  3,    71  =  4    und    der    gemeinsame    Umfang 


\ 

\ 

/ 

/ 
/ 

/ 

\ 

Nicolaus  Cusanus.  197 

U  =  12,  so   ist  (Figur  32)   die  Länge   der  Dreiecksseite  A,    die    der 
Vierecksseite  3.     Man  erkennt  leicht,  dass  alsdann 


und 

Ih 

2 

~l/3 

4 

'   ''~yl' 

4        3 
|/3      2 

i^4  = 
3 

7'   ^'  = 

2 

ys 

3 

y^ 

vi73~>^/ 

-(f. 

-1) 

Da  aber 

auch  dei 

Umfang  12  =  2;rr,  so 

wird 

n  = 

6 
r 

4  +  y8-]/13,5  = 

=  3,15419 

... 

i a 


gefunden.    Dagegen  soll  m  =  24,  n  =  48  der  Genauigkeit  auf  4  Deci- 

malen  genügen  und  tc  =  3,1415  •  •  •  liefern.     lieber  die  erstbesprochene 

Annahme  m  =  3,  n=  A  hat  Cusanus  eine  sehr  einfache  Construction 

des   Halbmessers    des   gesuchten,  dem    gegebenen  Dreiecke   wie    dem 

gegebenen  Quadrate  umfanggleichen  Kreises  gelehrt  ^).  Ueber 

af=2h   wird   (Figur  33)   das   Quadrat   acef,  über  ce    das 

Quadrat  chde  gezeichnet,  so  dass  «6  =  2p^  =  s^  ist.     Von 

/'  aus  wird  gegen   a  hin  fl=  s^  —  p^    abgeschnitten  und 

in  l    eine   Senkrechte   Im  =  p^   errichtet.     Die  Gerade  cm 

schneidet    alsdann    df  in  h  und  fli  =  r   ist  der  gesuchte     '^    ^ 

Halbmesser.     Bezeichnet    man   (was  in   der  Druckausgabe  '^' 

des  Cusanus  nicht  der  Fall)    den  Durchschnittspunkt  der  Im  mit  der 

cc  durch  t,  so  ist 

7  ,  .17         mtxec        (ml — thec  (p. — i\)P% 

eh  :mt=ec:  fc     oder     eh  =  —, =  ^ — V-  =  ,  ^sjis   . 

tc  ec  —  et  2h  —  (*4  —  Pi) 

Addirt  man  dazu  ef  =  p^,,  so  entsteht 

fh  =  ^J^S.P4  -P8S4   . 

'            Ps  —  («4  —  Pi) 
Aber  53  =  2^33,  i%  =  S3 — 2h   ^^^  diese  Werthe  liefern  in  den  für  fh 
gefundenen  Ausdruck  eingesetzt ^ f^-^ r,  d.  h.   den  Werth 

\h  Ps)  (*4  Pi) 

von  r.  Es  kann  wohl  nicht  zweifelhaft  sein,  dass  Cusanus,  wiewohl 
er  einen  Beweis  nicht  liefert,  diese  Schlüsse  etwa  gezogen  haben 
muss,  die  auf  den  euklidischen  Elementen  beruhend,  welche  er  oft 
anführt,  ihm  nahe  lagen,  während  nicht  anzunehmen  ist,  dass  er  eine 
so  einfache  Construction  erfunden  haben  sollte,  ohne  sich  bewusst  zu 
sein,  dass  sie  mit  seiner  Formel  in  Uebereinstimmung  war. 

Auch   eine  eigentliche  Quadratur  des  Kreises  mit  Hilfe   von 


^)  Cusani  Ojyera  pag.  1014. 


198  51-  Kapitel. 

Mondchen  wird  zugesagt^).  Das  Wort  lunula,  sowie  die  Bemerkung, 
die  Alten  hätten  diesen  Weg  vergebens  einzuschlagen  versucht,  er- 
innern an  die  Mondchen  des  Hippokrates  (Bd.  I,  S.  192 — 194),  allein 
diese  Erinnerung  bleibt  nicht  bestehen,  wenn  man  näher  zusieht. 
Ein  Mondchen,  d.  h.  ein  durch  zwei  Kreisbögen  begrenztes  Flächen- 
stück, benutzt  Cusanus  überhaupt  nicht.  Was  er  so  nennt,  ist  ein 
Kreisabschnitt.  Er  zeichnet  zu  dem  Kreise  vom  Halbmesser  7  die 
Seiten  des  Sehnen-  und  des  Tangentenquadrates.  Das  erstere  besitzt 
die  Fläche  98,  das  zweite  die  Fläche  196.  Nun  wählt  Cusanus  — 
warum,  ist  auch  nicht  leise  angedeutet  —  ein  Quadrat  von  der  Fläche 
121,  bildet  121  —  98  =  23,  dessen  Doppeltes  46  er  von  196  abzieht, 
und  der  Rest  150  soll  die  gesuchte  Kreisfläche  sein,  von  der  Cusanus 
behauptet,  sie  sei  desshalb  etwas  zu  klein  gerathen,  weil  46  und 
damit  ein  zu  Grosses  abgezogen  worden  sei;  es  hätte  eigentlich  statt 
121=  11^  ein  etwas  kleineres  Quadrat  gewählt  werden  müssen,  dann 
wäre  ein  genaueres  Ergebniss  erschienen.  In  der  That  liefert  150 
den  Werth  3r  =  3,061224,  der  beträchtlich  zu  klein  ist.    Verfolgt  man 

die  Rechnung,  indem  man  statt  7  den  Buchstaben  r  setzt,  11  :^-—  •  — , 

98  =  2r^,  196  =  4r'',  so  kommt  man  zu  150  =  r-  [S  —  ~J-  (y)"].    Wie 

1    /22\ 2 
aber  Cusanus  zu  der  weiteren  Annahme,  es  sei  7t  =  8  —  ^  \y)     S^~ 

langte,  das  ist  uns  unklar  geblieben.  Jedenfalls  halten  wir  es  den 
geistvollen,  wenn  auch  nicht  immer  strengen  sonstigen  Methoden  des 
Cusanus  gegenüber  für  gewagt,  die  Sache  einfach  als  geometrischen 
Unsinn  bei  Seite  schieben  zu  wollen. 

Paolo  Toscanelli,  welchem  die  Mathematica  complementa  zu- 
geschickt worden  waren,  strauchelte  ofi'enbar  gleichfalls  über  deren 
unklare  Vorschriften.  In  einem  von  Cusanus  niedergeschriebenen  Ge- 
spräche zwischen  ihm  und  dem  Jugendfreunde,  welches  schwerlich 
ganz  freie  Erfindung  ist^),  sagt  Paulus  ausdrücklich,  die  Mathematica 
complementa  seien  ihm  ganz  und  gar  dunkel  und  entbehrten  der  Ge- 
wissheit ^).  Er  erbittet  sich  leichtere  Vorschriften,  und  Cusanus  lehrt 
ihn  darauf  eine  Rectification  des  Kreises  vollziehen,  die  somit 
wieder  nach  neuen  Regeln  ausgeführt  wird.  Die  Seite  des  dem  zu 
rectificirenden  Kreise  eingeschriebenen  Quadrates  wird  zu  dessen  Halb- 


^)  Cusani  Opera  pag.  1059  flg.  (Mathematica  complementa):  Volo  nunc  in- 
vestigare  quomodo  per  lunulas  quadratwa  circuli  investigetur ,  quam  viam  veteres 
frustra  attentaverunt.  ')  Ebenda  pag.  1095  flgg. :  Dialogus  inter  Cardinalem 
sancti  Petri  Episcopum  Brixinensem  et  Paulum  physicum  Florentinum  de  circuli 
quadratura.  ^)  post  mihi  missos  tuos  de  Mathematicis  complementis  utique  mihi 
obscuros  atqite  incertos  lihellos. 


Nicolaus  Cusaniis. 


199 


messer  gefügt  und  um  diese  Linie  als  Durchmesser  ein  neuer  Kreis 
beschrieben.  Der  Umfang  des  ihm  eingezeichneten  gleichseitigen 
Dreiecks  soll  dem  ersten  Kreise  umfanggleicli  sein.  Ist  r  der  ur- 
sprüngliche Halbmesser,  so  ist  die  Seite  des  Sehuenquadrates  r]/2, 
also  r{l  -f-]/2)  der  Durchmesser  des  zweiten  Kreises,  der  für  einen 
Augenblick  2q  heissen  mag.  Die  Seite  des  Sehnendreiecks  in  dem 
neuen  Kreise  ist  9]/3  und  dessen  Umfang 


39]/3  =  3l/3 


i  +  y2 


"|/27  +  |/54 


=  27tr. 


mit 


Diese  Annahme  liefert  demnach  7C  =  ^  (V^T  -\-  ]/54)=  3,13615- 

viel  geringerer  Genauigkeit,  als  sie  in  den  Mathematicis  complementis 
erreicht  war. 

Das  Vollkommenste,  was  Cusanus  geleistet  hat,  ist  in  seiner  letzten 
Abhandlung  enthalten,  die  er  auch  in  stolzer  Selbstzufriedenheit  De 
mathematica  perfectione^),  von  der  mathematischen  Vollkommen- 
heit, betitelte.  Sie  ist  einem  Cardinal  Antonius  zugeeignet  und  nach 
der  Aussage  der  Widmung  binnen  zwei  Tagen  niedergeschrieben, 
während  ein  böser  Fuss  den  Verfasser  an  seine  Wohnung  fesselte. 
Wir  begnügen  uns  damit,  aus  dieser  inhaltreichen  Schrift  nur  ein 
Ergebniss  zu  entnehmen,  welches  über  die  in  den  . 
früheren    Schriften    enthaltenen    Dinge    weit   hinaus- 


geht. Der  Gedankengang  ist  etwa  folgender.  Es  sei  ^ 
(Figur  34)  &c  =  —  die  halbe  Seite  eines  regelmässi- 
gen Sehnen-w-ecks,  dessen  Primlinie  ah=pn,  dessen 
Secundliuie    ac=Sn.      Heisse    ^hac=^(p,    so    ist 

360'' 

9)  =  -_— •     Vom  Quadrate  an  ist  nun   hc^ah,  wie 

leicht   einzusehen  ist,    wesshalb   auch  Cusanus   einen 

Im  rechtwinkligen 
360»  -^    360« 


Fig.  M. 


Beweis  zu  führen  unterlassen  darf. 

Dreiecke  ahc  ist  nämlich  -^  ach  =  90"  —  -^^  >  ^^ ,  sofern  n  >  4. 
Je  mehr  das  «-eck  dem  Kreise  sich  nähert,  um  so  genauer  ist 
hc  =  arc.  hc  oder  —  =  arc.  9)  =  95  X  s„.  In  dem  gleichen  Falle  des 
Unendlich  Vielecks  ist  3,1  =  p„  sowie  s^  -\-  x  =  p,i  -\-  x ,  was  auch  x 
bedeute.     Im  Unendlichvielecke  ist  folglich  ebensowohl      "      =  1  als 


1,    mithin   in  Proportionsform   geschrieben: 


')  Cusani  Opera  pag.  1110 — 1154. 


200  •''l-  Kapitel. 

a 

Sncp  •■--==  {Sn  +  x)  :  {pn  +  x)     bei  «  =  00- 


Beim  Quadrate  («  =  4,  9?  =  45°,  —  =  p\  wird  nun  gleichfalls  auch 
ein  X  vorhanden  sein,  welches  die  ganz  ähnlich  lautende  Proportion 
erfüllt: 

Man   erräth   schon,  dass   Cusanus    sich    wieder  auf   sein  Princip    der 
Coincidenz  berufen  wird.     Die  Proportion  findet  statt  bei  «  =  4  so- 
wohl als  bei  n  =  00,  also  auch  bei  allen  Zwischenmöglichkeiten.    Er 
unterzieht  «  =  4  und  m  =  6  der  Rechnung. 
Bei  n  ^  4  ist 

oder 

45041/2  =  (^4  +  -1)  :  (1/2  +  l)  ■ 

Bei  n  =  6  ist 

oder 

30»:i  =  (l  +  f):(4y3  +  ^). 

Die  beiden  Proportionen  werden  unter  allerdings  unstatthafter,  zum 
mindesten  ungenauer  Voraussetzung,  es  sei  dasselbe  —  in  beiden  vor- 
handen, durch   einander   dividirt   und  liefern  so  die  neue  Proportion: 

—  :  1/2  =  1  : 

'  4-1/3  +  ^ 

X         2 1/3 3 

und  aus  ihr  ergiebt  sich   —  =  —^ =  1,913  •  •  •     Mit  wenigstens 

^  ^n  3j/2  —  4  ^ 

annähernder  Genauigkeit  ist  demnach  x  =  2Sn  und  setzt  man  dieses  x 
in  die  allgemeine  oben  ausgesprochene  Proportion  ein,  so  geht  sie 
in  folgende  über: 

s„9>:y  =  (s«  +  2s„):Q.„  +  25„). 
Aus  dieser  aber  folgt  endlich 


9 


2  +  ^ 


Nicolans  Cusanus. 


201 


Man  versteht  die  ganze  Tragweite  dieses  Ergebnisses  besser,  wenn 
man  in  der  Anwendung  neuerer  Bezeichnungen  noch  um  einen  Schritt 

weitergeht.     Heute  schreiben  wir  ^  =  sin^,    —  =  cosqD.    Die  Cu- 

3  sinqp 


sanische  Näherungsformel  heisst  alsdann    (p 


Das  Wort 

2  -|-  cos  qp 

Sinus  hätte  übrigens  auch  Cusanus  hier  in  Anwendung  bringen 
können,  wie  er  es  sonst  verschiedentlich  benutzt  hat,  z.  B.  in  den 
Mathematischen  Complementen^),  wo  er  die  Kenntniss  der  zu  Bögen 
von  1,  2,  4  u.  s.  w.  Winkelgraden  gehörenden  Sehnen  als  eine  Ver- 
vollkommnung der  Kunst  von  dem  Sinus  und  Sehnen  in  Aussicht  stellt. 
In  den  Mathematischen  Complementen  hat  eine  andere  Stelle^) 
die  Aufmerksamkeit  späterer  Leser  besonders  auf  sich  zu  ziehen  ge- 
wusst.  Zuerst  wird  gelehrt  aus  Metall  oder  Holz,  in  aere  aut  ligno, 
ein  Dreieck  ]phq  (Fig.  35)  herzustellen,    welches   bei    li  rechtwinklig 


sei,  und  dessen  eine  Kathete  liq  die  Länge  der  halben  Kreislinie  be- 
sitze, welche  mit  der  anderen  Kathete  lip  als  Halbmesser  beschrieben 
wurde.  Ist  nun  ein  beliebiger  Kreis  zu  rectificiren,  so  zeichnet  man 
zwei  im  Mittelpunkte  a  sich  senkrecht  durchschneidende  Durchmesser 
und  legt  an  den  einen  das  feste  Dreieck  so  an,  dass  ph  auf  den 
Durchmesser,  der  Punkt  p  auf  die  Kreislinie  selbst  zu  liegen  kommt. 
Die  verlängerte  pq  schneidet  alsdann  den  anderen  Durchmesser  in 
einem  Punkte  s,  welcher  von  dem  Mittelpunkte  a  um  einen  halben 
Umkreis  entfernt  ist.  Unmittelbar  an  diese  erste  vollständig  richtige 
Vorschrift  knüpft  sich  eine  zweite  nicht  minder  richtige  zur  Auffin- 
dung der  Quadratur  des  Kreises.  Die  mittlere  geometrische  Propor- 
tionale   zwischen    dem    Halbmesser    und    der    halben    Peripherie    des 


^)  Cusani  Opera  pag.  1025:  Ex  ante  habitis  quicquid  hactenns  in  Geo- 
mitricis  ignotum  fuit,  inquiri  poterit.  Fuü  autem  incognita  perfectio  artis  de 
sinibus  et  cliordis:  nemo  unquam  scire  potuit  chordam  arcus  gradus  unius  et 
duorum  et  quatuor  et   ita  consequenter ,    quae   nunc   sie   habetur.  *)  Ebenda 

pag.  1024. 


202  öl.  Kapitel. 

Kreises  solle  gesucht  werden;  diese  sei  alsdanu  die  Seite  des  ver- 
langten Quadrates.  Dazu  ist  in  der  Druckausgabe  eine  Figur  ge- 
zeichnet, bei  welcher  der  zu  quadrirende  Kreis  zweimal  gezeichnet 
erscheint,  beidemal  berührend  aufstehend  auf  einer  und  derselben 
graden  Linie,  während  über  dieser  als  Durchmesser  noch  einmal  ein 
Halbkreis  gezeichnet  ist.  Die  genannte  grade  Linie  ist  die  Summe 
aus  Halbmesser  und  halbem  Umkreis  des  in  Frage  stehenden  Kreises, 
und  der  erwähnte  grosse  Halbkreis  dient  zur  Ermittelung  der  gefor- 
derten mittleren  Proportionale.  Nun  hat  1697  ein  englischer  Mathe- 
matiker, John  Wallis^),  mit  Berufung  auf  eine  ihm  zu  Gebote 
stehende  Handschrift  die  Behauptung  ausgesprochen,  die  betreffende 
Figur  sei  von  dem  Herausgeber  des  Druckes  ganz  gegen  den  Sinn 
des  Verfassers,  omnino  contra  mentem  Ciisani,  eingefügt.  Jener  habe 
eine  Cycloide  gezeichnet  gehabt,  deren  Endpunkte  durch  die  beiden 
Bogen  des  gerollten  Kreises  bezeichnet  seien.  Man  hat  mit  vollem 
Rechte  zwar  ein  abschliessendes  Urtheil  ausgesetzt,  weil  die  Hand- 
schrift, auf  welche  jene  Behauptung  sich  wesentlich  gründete,  keinem 
anderen  Gelehrten  zu  Gesicht  kam,  trotzdem  aber  die  Unwahrschein- 
lichkeit  der  Wallis'schen  Behauptung  hervortreten  lassen.  Im  Texte 
ist  nämlich  mit  keinem  Worte  von  einem  Wälzen  des  Kreises  die 
Rede,  und  wo  Cusanus  in  einer  andern  Abhandlung^)  wirklich  einmal 
von  dem  Wälzen  eines  Kreises  spricht,  erwähnt  er  nur  die  Thatsache, 
dass  der  Kreis  während  seines  Wälzens  die  Gerade,  über  die  er  fort- 
bewegt wird,  stets  nur  in  einem  Punkte  berühre,  während  einer  durch 
einen  Kreispunkt  dabei  beschriebenen  Radlinie  nicht  entfernt  gedacht 
ist.  Wenn  gleich  Cusanus,  wie  wir  in  unserer  gedrängten  Ueber- 
sicht  seiner  mathematischen  Leistungen  an  mehr  als  einer  Stelle  hei;- 
vortreten  lassen  mussten,  nicht  grade  als  Muster  schriftstellerischer 
Klarheit  gerühmt  zu  werden  beanspruchen  kann,  das  ist  doch  kaum 
zu  denken,  dass  er  ein  mechanisch -geometrisches  Verfahren  wie  das 
Wälzen  eines  Kreises  auf  gradliniger  Unterlage  benutzt,  oder  gar 
näher  studirt  haben  sollte,  ohne  dasselbe  zu  erwähnen. 

Wir  haben  von  Rechenkunst,  von  Geometrie,  von  Trigonometrie 
in  Deutschland  zu  reden  gehabt.  Noch  eine  andere  Unterabtheilung 
der  Mathematik  begann  im  XV.  Jahrhunderte  dort  bekannt  zu  werden: 
die  Algebra.    Wir  erinnern  uns,  dass  im  XIH.  Jahrhunderte  zuerst  von 


^)  Philosophical  Transactions  Bd.  XIX  für  die  Jahre  1695,  1696  und  1697 
pag.  561 — 566.  Vergl.  S.  Günther,  War  die  Zykloide  bereits  im  XVI.  Jakr- 
hunderte  bekannt?  in  Eneström's  Bihliotheca  muthem.  1887  S.  8 — 14.  ^)  Cu- 
sani  Ojiera  pag.  1112  {Complementum  Theologieum  cap.  8):  Sed  etiam  non  prae- 
tereundum  quomodo  si  circulus  circumvolvitur  super  lineam  rectam  non  tanget 
eam  nisi  in  puncto. 


Italienische  Mathematiker.  203 

einer  abendländisclien  Algebra  gesprochen  werden  konnte,  dass  sie 
bei  Leonardo  von  Pisa  einestlieils,  bei  Jordanus  Nemorarius  andern- 
tbeils  in  einem  sofort  so  ausgebildeten  Zustande  erschien,  dass  man 
eine  schleunige  Weiterentwickelung  ihr  zu  erhoffen  sich  geneigt 
fühlen  musste.  Aber  die  Zeitgenossen  der  beiden  grossen  Männer 
waren  nicht  reif,  deren  Schriften  vollständig  zu  verstehen,  geschweige 
denn  sie  fortzubilden,  und  besonders  für  die  eigentlichen  Gelehrten- 
kreise gilt  dieses  harte  Urtheil  auch  noch  im  XIV.  Jahrhunderte, 
während  damals  (S.  159 — 162)  italienische  Kaufleute  der  Algebra  so 
viel  Verständniss  entgegenbrachten,  dass  wenigstens  versucht  wurde, 
Aufgaben  zu  lösen,  welchen  die  früheren  Schriftsteller  ohnmächtig 
gegenüberstanden.  Jetzt  im  XV.  Jahrhunderte,  wiederholen  wir, 
beginnt  eine  deutsche  Algebra.  Wir  müssen  gleich  in  der  ersten 
Hälfte  des  Jahrhunderts  Anfänge  derselben  als  vorhanden  annehmen, 
weil  es  sonst  kaum  denkbar  wäre,  dass  plötzlich  mit  dem  Jahre  1450 
etwa  eine  Lehre  solche  Verbreitung  gewann,  wie  wir  es  sehen  werden, 
ohne  vorher  überhaupt  geübt  worden  zu  sein.  Aber  das  ist  auch 
Alles,  was  wir  hierüber  zu  sagen  vermögen.  Quellen  besitzen  wir 
gegenwärtig  erst  aus  der  zweiten  Hälfte  des  XV.  Jahrhunderts,  und 
werden  daher  mit  deren  Besj)rechung  noch  warten  müssen. 


52.  Kapitel. 
Italienisclie  Mathematiker. 

Der  letzte  Italiener,  von  welchem  (S.  165  — 166)  die  Rede  war,  Biagio 
Pelacani  von  Parma,  reichte  bereits  in's  XV.  Jahrhundert  herüber. 
Bis  1411  sahen  wir  ihn  in  Padua  thätig,  an  jener  Universität,  deren 
älteste  Satzungen  aus  dem  XIII.  Jahrhunderte  die  Professur  der 
Astrologie  schon  als  die  wichtigste,  ihren  Vertreter  als  den  noth- 
wendigsten  Lehrer  betrachtete^),  dessen  Unterricht  namentlich  den 
Aerzten  nicht  fehlen  durfte.  Astrologie  war  aber  damals  ein  sehr 
weiter  Begriff.  Ihr  gehörte  die  Kunst  an,  aus  Sternbeobachtungen 
Schlüsse  auf  das  Schicksal  der  Menschen  im  Allgemeinen  und  ein- 
zelner Menschen  im  Besonderen  zu  ziehen,  eine  Kunst,  welche  den 
vermeintlichen  Nutzen  jener  Beobachtungen  offenbarte,  um  dessen 
willen  in  erster  Linie  man  sie  anzustellen  sich  übte.  Zur  Astrologie 
gehörte  aber  auch  die  wissenschaftliche  Sternkunde,  zu  ihr  die  Rechen- 
kunst,   die   Geometrie.     Der  Professor    der  Astrologie   war   zunächst 


^)  Libri  II,  54  Note  1:  quem  tanquam  necessarissimum  habere  omnino  vo- 
lumus. 


204  52.  Kapitel. 

Astrologe,  daneben  Professor  der  gesammten  damaligen  Mathematik, 
und  ein  solcher  in  allen  Theilen  der  genannten  vielseitigen  Thätig- 
keit  war  jener  Pelacani. 

Zu  den  Schülern  des  Pelacani  zählte  Prosdocimo  de'Beldo- 
mandi^).  Er  gehörte  einer  alten  Familie  Padua's  an.  Er  studirte 
in  den  Jahren  1400  und  1402  an  der  Universität  seiner  Vaterstadt^). 
Ob  ein  Studienaufenthalt  in  Bologna,  wo  er  die  Abschrift  einer  astro- 
nomischen Tabelle  anfertigte'^),  früher  oder  später  fällt,  ist  unbekannt. 
Jedenfalls  wurde  er  wieder  in  Padua  am  15.  Mai  1409  nach  abgelegter 
Prüfung,  zu  welcher  Pelacani  und  zwei  andere  Professoren  erschienen, 
zum  Magister  befördert*).  Am  15.  April  1411  legte  Beldomandi 
gleichfalls  in  Padua  eine  medicinische  Prüfung  ab^).  Unter  den  bei 
letzterer  Prüfung  genannten  Professoren  war  Jacopo  Della  Torre 
aus  Forli,  ein  berühmter  Arzt,  der  aber  auch  nicht  ohne  philosophisch- 
mathematische Kenntnisse  gewesen  sein  muss,  da  er  einen  Tractatus 
de  intensione  et  remissione  formanim  verfasste,  welcher  muthmasslich 
noch  im  XY.  Jahrhunderte  im  Drucke  herauskam^).  Im  Juli  1420 
gehörte  Beldomandi,  der  Padua  nicht  verlassen  zu  haben  scheint,  dem 
dortigen  Sacro  collegio  di  arti  e  medicina  an'^),  1422  erhielt  er  die 
Professur  der  Astrologie^),  und  die  gleiche  Stellung  behielt  er  bis  zu 
seinem  Tode,  welcher  1428  im  kräftigsten  Mannesalter  ihn  traf^). 
Sein  Geburtsjahr  ist  allerdings  nicht  bekannt,  dürfte  aber  aus  dem 
Zeitpunkten,  in  welchen  Beldomandi  die  einzelnen  Stufen  seiner  ge- 
lehrten Laufbahn  erreichte,  nach  rückwärts  annähernd  bestimmt  kaum 
viel  früher  als  1380  zu  setzen  sein^"). 

Die  schriftstellerische  Thätigkeit  Beldomandi's  war  eine  mannig- 
faltige. Zuerst  scheint  er  der  Musik  sich  zugewandt  zu  haben,  was 
wohl  mit  der  zu  seiner  Zeit  in  Padua  herrschenden  Geistesrichtung 
zusammenhing,  denn  Padua  war  damals  der  Sitz  der  gelehrten  Theo- 
retiker in  der  Musik  ^^).  Schon  1404  schrieb  Beldomandi  Erläuterun- 
gen^^) zu  einem  musikalischen  Werke  des  Johannes  de  Muris,  und 
auch  selbständige  Schi-iften  werden  genannt,  so  z.  B.  eine  Abhandlung 
von  1412,  die  den  Titel  Contrapunctus  completus  führt  ^^),  und  in 
welcher   Contrapunkt  dahin    erklärt  ist,    man    verstehe    darunter    die 


^)  Eine  ausführliche  Monographie  Prosdocimo  de'  Beldomandi  von  Ant. 
Favaro  erschien  im  XII.  Bande  des  Bidletino  Boncompagni  und  in  einem  Son- 
derabzuge. Wir  citiren  letzteren  als  Favaro.  Eine  Fortsetzung  seiner  Unter- 
suchimgen  hat  der  gleiche  Verfasser  im  BiiUetino  Boncompagni  XYHI  veröffent- 
licht. 2)  Bulletino  Boncomp.  XVITI,  420.  ^)  Ebenda  pag.  407.  *)  Favaro 
pag.  24.  ^)  Ebenda  pag.  25.  ^)  Ebenda  pag.  30.  '')  Ebenda  pag.  31. 

8)  Ebenda  pag.  36.     ^)  Ebenda  pag.  37  und  40.     ^")  Ebenda  pag.  18.      ")  Ebenda 
pag.  186.         ^^)  Ebenda  pag.  201.         ^^  Ebenda  pag.  191. 


Italienische  Mathematiker.  205 

Stellung  einer  einzelnen  Note  gegen  eine  andere  innerhalb  einer 
Melodie.  Es  ist  begreiflich,  dass  der  Verfasser  bei  solchen  Unter- 
suchungen auf  Wohlklänge  und  Missklänge  aufmerksam  werden 
musste,  und  so  wird  als  Leistung  Beldomandi's  hervorgehoben^),  er 
zuerst  habe  die  kleine  Sexte  als  Consonanz  erkannt,  der  Quarte  eine 
Mittelstellung  zwischen  Consonanzen  und  Dissonanzen  angewiesen,  da 
sie  allerdings  einen  Missklang  gebe,  aber  keinen  so  unangenehmen 
wie  etwa  die  Secunde  oder  die  Septime. 

Die  nächste  Aufgabe,  welche  Beldomandi  1410  löste  ^),  war  die 
Anfertigung  eines  Algorismus  de  integris.  Diese  zweimal,  1483 
in  Padua  und  1540  in  Venedig,  gedruckte  Schrift^)  ist  für  uns  von 
spannender  Bedeutung.  Nicht  als  ob  der  Inhalt  in  irgend  einer 
Weise  über  das  Rechnen  mit  ganzen  Zahlen  sich  erhöbe,  aber  es  ist 
der  erste  italienische  Algorithmus,  über  welchen  wir  genügend  unter- 
richtet sind,  um  an  seiner  Hand  eine  culturgeschichtlich  wichtige 
Frage  beantworten  zu  können.  Wir  haben  wiederholt  des  Gegen- 
satzes zwischen  gelehrter  und  kaufmännischer  Rechenkunst  gedacht. 
Wir  haben  Leonardo  von  Pisa  als  den  Vertreter  der  letzteren,  Jor- 
danus  Nemorarius  und  mit  ihm  Johannes  von  Sacrobosco  als  die  Ver- 
treter der  ersteigen  kennen  gelernt.  Ihre  Schüler  fanden  wir  in  allen 
Ländern  jenseits  der  Alpen,  wo  nur  Rechenunterricht  nach  Büchern 
gegeben  wurde.  Auch  in  Italien  fanden  wir,  und  das  war  (S.  156) 
die  letzte  Gelegenheit,  bei  welcher  wir  den  Gegenstand  berührten, 
eine  vereinzelte  Handschrift,  die  es  nahe  legte  zu  vermuthen,  auch 
dorthin  sei  die  minderwerthige  gelehrte  Rechenkunst  eingedrungen 
und  habe  unter  ihrem  wuchernden  Unkraut  den  Samen  fast  voll- 
ständig erstickt,  den  Leonardo  eingelegt  hatte.  Es  war  nur  eine 
Vermuthung,  welche  kaum  ausgesprochen  wurde.  Gegenwärtig  wird 
die  Vermuthung  zur  Gewissheit.  Die  italienische  Universität  war, 
möchten  wir  sagen,  mehr  Universität  als  italienisch,  und  ihre  Rechen- 
kunst war  die  des  Sacrobosco,  erhob  sich  über  sie  nur  so  weit,  als 
ein  Anlehnen  an  den  grösseren  Vorgänger  Jordanus  es  möglich  machte, 
und  zeigte  nur  geringe  Spuren,  welche  an  Leonardo  erinnern.  Das 
lehrt  uns  eben  der  Algorismus  de  integris  des  Prosdocimo  de'  Beldo- 
mandi von  1410  sowohl  in  der  Druckausgabe,  als  in  Handschriften, 
welche  von  der  Druckausgabe  etwas  abweichen.  Die  Abhängigkeit 
von  Sacrobosco  enthüllt  sich  schon  darin,  dass  Beldomandi  ausser 
der  Neunerprobe,  von  welcher  fortwährend  Gebrauch  gemacht  wird, 
auch    auf    die    Proben    durch    entgegengesetzte    Rechnungsverfahren, 


^)   Favaro    pag.   211.  *)   Ebenda   pag.   GO.  ^)   Ebenda   pag.   43 

und  48. 


206  52.  Kapitel. 

Subtraction  durch  Addition  u.  s.  w.,  hinweist^),  deren  Erfinder  aus- 
drücklich genannt  ist,  damit  jeder  Zweifel  an  dem  Ursprünge  schwinde. 
Ebenso  deutlich  erkennt  man  den  Einfluss  Sacrobosco's  an  der  Hal- 
birung  und  Verdoppelung,  welche  als  besondere  Rechnungsarten  Auf- 
nahme gefunden  haben-).  Dagegen  ist  aus  der  Erinnerung  an  Leo- 
nardo zu  erklären  die  Subtraction  mit  Borgen  einer  Einheit  höheren 
Ranges  im  Minuendus,  welche  sodann  im  Subtrahendus  zurückgezahlt 
wird^),  und  ebenso  die  schachbrettartige  Multiplication.  Wir  sagen 
Leonardo,  ohne  damit  ausdrücklich  zu  meinen,  Beldomandi  habe  von 
ihm  oder  seinen  Schriften  gewusst;  das  kann  ja  der  Fall  gewesen 
sein,  aber  eben  so  gut  kann  aus  der  Schule  Leonardo's,  d.  h.  aus 
kaufmännischen  Kreisen,  das  Eindringen  stattgefunden  haben.  Die 
Erwähnung  der  Araber,  als  der  Erfinder  des  Zahlenschreibens  ^),  kann 
dagegen  wieder  aus  Sacrobosco  entnommen  sein.  Mit  eben  diesem 
triift  Beldomandi  bei  der  Kubikwurzelausziehung  zusammen^),  wenn 
auch  die  Bildung  des  Kubus  nach  der  Formel 

(a  +  hf  =  «3  +  3a(a  +  &)&  +  &3 
bei  Sacrobosco  nicht  so  klar  wie  bei  Beldomandi  hervortritt,  diesem 
Letzteren  also  mehr  oder  weniger  anzugehören  scheint.  In  den 
Druckausgaben  des  Beldomandi,  auch  in  der  älteren  von  1483, 
sind  Beispiele  der  einzelnen  Rechnungs verfahren  durch  Buchstaben  in 
der  Weise  dargestellt,  dass  das  jedesmalige  Ergebniss  durch  einen 
neuen  Buchstaben  bezeichnet  ist*').  Das  erinnert  täuschend  an  Jor- 
danus,  und  wenn  auch  den  vorhandenen  Handschriften  diese  Buch- 
stabeubeispiele  fehlen,  so  ist  einestheils  nicht  ausgeschlossen,  dass 
verschiedene  Texte  vorhanden  gewesen  sein  können,  indem  Abschreiber 
das,  was  sie  nicht  verstanden  und  darum  für  überflüssig  hielten,  weg- 
liessen,  anderntheils  ist  aber  auch  das  blosse  Vorkommen  in  dem 
Drucke  von  1483  genügender  Hinweis  auf  das,  was  uns  das  Wich- 
tigste ist:  dass  nämKch  im  XV.  Jahrhunderte  in  der  italienischen 
Gelehrten  weit  Schriften  mit  Dingen  verbrämt  waren,  welche  auf 
Jordanus  zurückführen.  Für  Beldomandi  selbst  dürften  wahrschein- 
lich neben  der  schon  erwähnten  Gestalt  der  Kubirungsformel  eigen- 
thümliche  Summenformeln  bei  geometrischen  Progressio- 
nen^) in  Anspruch  zu  nehmen  sein.  Er  lehrt  nämKch,  und  zwar  in 
nahezu  unverändertem  Wortlaute  in  den  Handschriften  wie  in  den 
Druckausgaben,    dass    unter    der  Voraussetzung    eines  ganzzahligen  q 


^)  Favaro  pag.  102:  oportet  uti  prohationihus  positis  in  algorismo  de  integris 
Johannis  de  sacro  huscho.  ')  Ebenda  pag.  94.  *)  Ebenda  pag.  96.  *)  Ebenda 
pag.  93—94.  ^)  Ebenda  pag.  101.        ^)  Ebenda  pag.  90.  ')  Ebenda  pag. 

99—100. 


Italienis.clie  Mathematiker.  207 

immer  a  -\-  qa  -\-  q-a  -\-  ■  ■  ■  -{-  q"-^a  =  q"-Ui  +  ^  ^7^  ^®^'  ^^^^^ 
dass,  falls  q  =  -^^  sei  (eine  proportio  superparticiilaris  nannte  er 
mit  dem  seit  Boethius  gangbaren  Namen  einen  solchen  Werth  von  q), 
die  Formel  dahin  sich  ändere,  dass 

«+(^)«+c-^r«+-+c-;^r«=i'C-;^r«-ö'-i)« 

werde.  Allerdings  sind  beide  Formeln,  deren  Richtigkeit  sofort  durch 
Umwandlung  der  allbekannten  Summenformel  sich  ergiebt,  nicht  be- 
wiesen. Sie  sind  auch  zunächst  nur  für  die  Sonderfälle  g  =  2,  3,  4,  5 
und  })  =  2,  3,  4  ausgesprochen,  aber  daran  knüpfen  sich  beidemal  die 
Worte  et  sie  ultra,  welche  zur  Gewissheit  erheben,  dass  es  für  Beldo- 
mandi  sich  nicht  um  einzelne  Fälle,  sondern  um  allgemeine  Gesetze 
handelte. 

Wir  bemerkten  ausdrücklich,  Beldomandi  habe  nur  einen  Algo- 
rismus  de  integris  verfasst.  Die  Druckausgaben  vereinigen  mit  dem- 
selben den  Algorismus  de  minuciis  des  Johannes  de  Lineriis^) 
(S.  126),  das  war  also  das  Lehrbuch  der  Bruchrechnung,  dessen  wenig- 
stens die  italienische  Universität  sich  damals  neben  Beldomandi's  ganz- 
zahligem Rechnen  zu  bedienen  pflegte. 

An  den  Algorismus  reiht  sich  dem  Inhalte  nach  eine  handschrift- 
lich vorhandene  Arbeit  des  Beldomandi  an,  ein  Canon ^)  in  quo 
docetur  modus  componendi  et  operandi  tabulam  quandam.  Es  ist 
eine  Einmaleinstafel,  welche  von  1  mal  1  bis  zu  22  mal  22  sich 
ausdehnt.  Sie  ist  als  Tafel  doppelten  Eingangs  gefertigt  in 
quadi-atischer  Gestalt  und  so,  dass  am  oberen  Tafelrande  von  links 
nach  rechts  und  an  dem  linken  Tafelrande  von  oben  nach  unten  die 
Zahlen  1  bis  22  auf  einander  folgen.  Die  Kreuzungsstellen  der  jedes- 
maligen Zeilen  und  Kolumnen  enthalten  die  betreffenden  Producte. 
Die  Quadratzahlen,  welche  in  der  Diagonale  von  links  oben  nach 
rechts  imten  erscheinen,  heben  sich  gleich  den  Randzahlen  in  rothen 
Schriftzügen  hervor,  während  alles  Uebrige  schwarz  geschrieben  ist. 
Das  Vorhandensein  einer  Einmaleinstafel  war  ja  nicht  neu.  Niko- 
machus  (Bd.  I,  S.  402)  hat  eine  solche  in  ähnlicher  viereckiger  Ge- 
stalt gegeben.  Boethius  folgte  in  seiner  Arithmetik  (Bd.  I,  S.  539) 
dem  gTiechischen  Muster  werke,  und  eine  heute  noch  vorhandene 
Arithmetik  des  Boethius  war  vermuthlich  einst  Beldomandi's  Eigen- 
thum^j.      Auch   Bernelinus    hat  (Bd.  I,  S.  826)    seinen   Lesern    eine 


1)  Favaro  pag.  43.  f)  Ebenda  i^ag.  102  und  107—109.  ^)  Ebenda 

pag.  121  und  128. 


208  52.  Kapitel. 

Einmaleinstafel  nicht  vorenthalten,  bei  welcher  in  ganz  besonders  auf- 
fallender Weise  die  Quadratzahlen  fehlen.  Leonardo  von  Pisa  (S.  8) 
hat  nicht  minder  das  Einmaleins,  allerdings  nicht  in  quadratischer 
Anordnung.  Auch  des  mündlichen  Einübens  des  Einmaleins  wird 
wiederholt  und  zu  verschiedenen  Zeiten  gedacht  (Bd.  I,  S.  796  und 
495),  aber  immer  handelt  es  sich  um  das  kleine  Einmaleins,  um 
die  Vervielfachungen  von  1x1  bis  zu  10  X  10.  Bei  Beldomandi 
ist,  soweit  bekannt,  nach  Petrus  von  Dacien  (S.  91)  und  neben 
Kr istan  von  Prachatic  (S.  179),  erstmalig  eine  Ausdehnung  zum  grossen 
Einmaleins  vorgenommen,  denn  die  Angabe  von  11^  bis  20^  in 
der  alten  französischen  Geometrie  des  XIII.  Jahrhunderts  (S.  93)  ist 
kaum  als  grosses  Einmaleins  zu  betrachten.  Wesshalb  grade  22  X  22 
den  Schluss  bildet,  dafür  scheint  kaum  ein  anderer  Grund  ersichtlich 
als  der,  dass  die  Ausdehnung  der  Tafel  nach  der  des  Papierblattes 
sich  richten  musste,  auf  welches  sie  geschrieben  war.  Der  Ent- 
stehungszeit nach  hätten  wir  diesen  Canon  schon  vor  dem  Algorismus 
zu  besprechen  gehabt,  denn  er  ist  laut  Angabe  der  Handschrift  bereits 
1409  in  Padua  vollendet.  Jetzt,  da  wir  den  Algorismus  schon  kennen, 
wird  uni5  das  Fehlen  einer  ähnlich  gebauten  Einmaleinstafel  in  ihm 
als  absichtliche  Lücke  nicht  entgehen  können.  Wir  werden  auch 
hierin  wieder  ein  Anlehnen  an  das  Althergebrachte,  an  das  gleiche 
Musterwerk  zu  erkennen  haben,  dem  Beldomandi's  Algorismus  sich 
fortwährend  anschliesst. 

Wir  kommen  nun  zu  einem  kurzen  geometrischen  Bruchstücke^) 
Beldomandi's.     Es  handelt  sich  (Fig.  36)  darum,   ein  Parallelogramm 

hceg  zu  zeichnen,  welches  einem 
Dreiecke  ahc  flächengleich  sei.  Die 
Construction  wird  an  drei  Figu- 
ren ausgeführt,  die  sich  darin 
unterscheiden,  dass  der  Dreiecks- 
winkel bei  c  ein  stumpfer,  ein 
*^'  spitzer,    ein    rechter  Winkel   ist. 

Jedesmal  wird  ad  parallel  und  gleich  Ic  gezogen  und  d  mit  1)  ver- 
bunden; wird  alsdann  ac  in  e  und  dh  in  g  halbirt  und  eg  gezogen, 
so  ist  bceg  das  verlangte  Parallelogramm. 

Sonstige  geometrische  Schriften  Beldomandi's  sind  nicht  bekannt, 
indem  eine  in  einem  Handschriftenkataloge  ihm  zugeschriebene  Geo- 
metrie sich  bei  näherer  Untersuchung^)  als  eine  Abschrift  der  eukli- 
dischen Elemente  in  der  üebersetzung  des  Campanus  erwiesen  hat. 
Eine  Schrift  über  das  Astrolabium  ^)  genüge  es  uns  genannt  zu  haben. 

^)  Favaro  pag.  132.  *)  Ebenda  pag.  129 — 131.  ^)  Bihliotheca  mathe- 
matica  1890  p.  81—90  und  113—114. 


Italienische  Mathematiker.  209 

Ein  Commentar,  welchen  Beldomandi  1418  zu  der  Sphäre  des  Sacro- 
bosco  verfasste,  fordert  unsere  Aufmerksamkeit  nur  durch  eine  Stelle  ^) 
heraus,  in  welcher  die  damalige  Unkenntniss  griechischer  Sprache  bei 
den  berühmtesten  Gelehrten  zu  Tage  tritt.  Isoperimetrischer  Körper 
soll  nämlich  so  viel  heissen  als  einer,  welcher  um  einen  anderen  be- 
schrieben werden  kann,  denn  ysos  heisse  Figur,  peri  um  und  metros 
das  Maass. 

Die  Zeit  nahte  mit  raschen  Schritten,  in  welcher  solche  Irr- 
thümer,  namentlich  in  Italien,  zu  den  Unmöglichkeiten  gehörten. 
Schon  war  Kenntniss  des  Griechischen  zu  einer  erwünschten  Zierde 
geworden.  Sie  wurde  von  Einzelnen  gesucht  und  erworben.  Bald 
war  sie  Nothwendigkeit,  und  griechisches  Wissen  auf  allen  Gebieten, 
auf  dem  der  Philosophie  wie  der  Poesie,  der  Mathematik  wie  der 
Astronomie,  erhielt  einen  solchen  Ruf  des  Uebergewichtes,  dass  Jeder 
es  sich  anzueignen  bestrebt  war,  der  Eine  in  der  Ursprache,  der 
Andere  in  Uebersetzungen,  welche  jetzt  ausschliesslich  aus  der  Ur- 
sprache und  nicht  mehr  mit  Durchgang  durch  morgenländische  Ueber- 
tragungen  hergestellt  wurden.  Die  Uebersetzer  waren  theils  Italiener, 
theils  nach  Italien  übergesiedelte  Griechen. 

Unter  den  Ersteren  haben  wir  Jacob  von  Cremona-)  zu 
nennen,  oder  mit  seinem  heimathlichen  Namen  und  Titel  Jacopo 
da  S.  Cassiano  Cremonese  canonico  regolare.  Er  lebte  14  Jahre 
lang  in  Mantua,  war  Schüler  des  Vittorino  und  trat  um  1446  nach 
dessen  Tode  an  seine  Stelle  als  Lehrer  der  Söhne  des  Markerrafen 
Lodovico  Gonzaga.  Im  Jahre  1449  wurde  er  nach  Rom  berufen. 
Dort  hatte  seit  März  1447  Nicolaus  V.  den  päpstlichen  Stuhl  inne, 
ein  geistlicher  Fürst  von  eben  so  feinem  Kunstsinne  als  grosser  Ge- 
lehrsamkeit. Den  Anstoss  zum  Neubau  der  Peterskirche  in  Rom 
gegeben,  die  vaticanische  Handschriftensammlung  mächtig  bereichert, 
griechische  Gelehrte  nach  Rom  benifen  oder  dort  festgehalten  zu 
haben,  das  sind  unvergängliche  Ruhmestitel  des  geistvollen  Mannes. 
Um  die  vorhin  genannte  Zeit  wurde  nun  entweder  unter  Neuan- 
schaffungen oder  unter  schon  vorhandenen  Handschriften  ein  griechi- 
scher Archimed  entdeckt,  und  dessen  Uebersetzung  vollzog  Jacob 
von  Cremona  im  päpstlichen  Auftrage.  Das  war  die  Bearbeitung, 
welche  Cusanus  kennen  lernte  (S.  192),  und  welche  er  in  einem  Send- 


1)  Favaro  jjag.  147:  Circa  hanc  partem  notandum  primo  quod  isoperimeter 
dicitur  ab  ysos  graece  quod  est  figura  latine,  et  peri  quod  est  circa,  et  metros  quod 
est  mensura,  unde  corpus  isoperimetrwn  id  est  corpus  habens  figuram  circa  aliud 
mensurantem  sive  alteri  circumscriptibilem  quod  idem  est.  ^)  Val,  Rose  in  der 
deutschen  Literaturzeitung  V.  Jahrgang  (1884)  S.  292. 

Cantok,  Greschichte  der  Mathem.   II.    2.  Aufl.  14 


210  52.  Kapitel. 

schreiben  an  den  Papst  diesem  zu  hoher  Ehre  anrechnete.  Erhalten 
scheint  sich  die  Uebersetzung  nicht  zu  haben. 

Auch  zu  der  Uebersetzung  eines  anderen  griechischen  Werkes 
trat  Jacob  von  Cremona  kurze  Zeit  vor  seinem  bald  nach  1449  ein- 
tretenden Tode  in  Beziehung.  Georg  von  Trapezunt^)  hatte  den 
Almagest  des  Ptolemäus  und  Theon's  Erläuterungen  zu  demselben  be- 
arbeitet. Dieser  Grrieche  war  1396  auf  der  Insel  Kreta  geboren.  Er 
starb  1486  in  Italien.  Den  Namen,  unter  welchem  er  bekannt  ist, 
wählte  er  nach  dem  Orte,  woher  sein  väterliches  Geschlecht  stammte. 
Er  beherrschte  die  griechische  Sprache  allerdings,  aber  mit  dem  In- 
halte des  von  ihm  übersetzten  Werkes  verhielt  es  sich  keineswegs  so, 
und  er  scheint  durch  diesen  Mangel  zu  schlimmen  Schnitzern  geführt 
worden  zu  sein.  Wenigstens  trat  Jacob  von  Cremona  als  feindlicher 
Kritiker  gegen  die  Uebersetzung  auf. 

Noch  einen  zweiten  Feind  hatte  Georg  von  Trapezunt  sich  zu- 
gezogen, den  wir  hier  zu  nennen  haben,  wenn  er  auf  die  Geschichte 
der  Mathematik  auch  nur  sehr  mittelbar  einwirkte:  Bessarion. 
Bekanntlich  war  seit  der  Mitte  des  XL  Jahrhunderts  zwischen  der 
griechischen  und  lateinischen  Kirche  eine  bleibende  Trennung  ein- 
getreten. Gegen  Ende  des  XIII.  Jahrhunderts  wurden  zwar  Versuche 
angestellt,  den  Riss  wieder  zu  heilen,  aber  sie  misslangen.  Als  1437 
das  basler  Concil  auseinanderfiel,  wurden  neue  Versuche  gemacht. 
Die  Partei  des  Concils  wie  die  des  Papstes  Eugen  IV.  wetteiferten, 
wer  die  Griechen  zu  versöhnen  vermöge,  wozu  die  immer  näher 
rückende  Türkengefahr  ohnedies  mahnte.  Cusanus  ging  im  August 
1438  als  päpstlicher  Abgeordneter  nach  Konstantinopel,  und  unter 
denjenigen  Würdenträgeni,  welche  er  zu  bestimmen  wusste,  ihn  nach 
Italien  zu  begleiten,  war  Bessarion  der  Bischof  von  Nicäa,  der  später 
ganz  zur  römisch-katholischen  Kirche  übertrat  und  zum  Cardinal  er- 
nannt wurde.  Cardinal  Bessarion,  sagten  wir,  lebte  mit  Georg  von 
Trapezunt  in  Feindschaft.  Der  Grund  war  ein  ganz  wissenschaft- 
licher. Bessarion  war  ein  begeisterter  Bewunderer  Plato's,  Georg  von 
Trapezunt  ein  eben  solcher  von  Aristoteles  und  dagegen  ein  Ver- 
kleinerer Plato's,  den  er  in  einer  eigenen  Schrift  heftig  tadelte.  Das 
war  der  Ursprung  einer  bis  zum  Hasse  sich  steigernden  Aufregung 
für  Bessarion,  das  vielleicht  der  Grund,  warum  dieser  auch  die  Alma- 
gestübersetzung Georgs  von  Trapezunt  von  vornherein  für  verfehlt 
erklärte,  warum  er  bei  einem  Aufenthalte  in  Wien  zu  Peurbach  in 
Beziehung  trat  und  denselben  aufforderte,  sich  an  eine  Uebersetzung 
des  Meisterwerkes  des  griechischen  Astronomen  zu  wagen. 


')  Kästner  II,  .318. 


Italienische  Mathematiker.  211 

Wenn  wir  hiermit  den  Abschnitt  beschliessen  nnd  nach  unserer 
Gewohnheit  umschauend  einen  Ruhepunkt  für  unser  Auge  suchen,  so 
haftet  dasselbe  vorzugsweise  an  Nicolaus  von  Cusa.  Andere  Namen 
kommen  ja  auch  vor.  Wir  verweilten  bei  deutschen  und  italienischen 
Rechenmeistern  niederen  und  höheren  Styles;  wir  sahen  die  Universi- 
tätswissenschaft ziemlich  aller  Orten  von  gleich  geringfügiger  Art, 
mit  gleich  geringen  Erhebungen  über  den  tiefstmöglichen  Stand;  wir 
sahen  auch  Johann  von  Gemunden,  Georg  von  Peurbach  zu  trigono- 
metrischen Neuerungen  einen  Anlauf  nehmen.  Als  genialer  Kopf 
mit  dem  Stempel  des  Erfinders  ausgezeichnet  war  aber  nur  Einer, 
nur  Cusanus,  und  für  die  Mängel  seiner  Erfindungen  ist  vielleicht 
verantwortlich,  dass  er  nicht  ausschliesslicher  Mann  der  Wissenschaft, 
in  erster  Linie  Mathematiker,  sein  durfte. 


14' 


XII.   Die  Zeit  von  1450—1500. 


53.  Kapitel. 
Rechnen  auf  den  Linien.     Das  Bamberger  Rechenbuch. 

Die  zweite  Hälfte  des  XV.  Jahrhunderts  beginnt  mit  einer  Er- 
findung, deren  Erwähnung  nirgend  fehlen  darf,  wo  von  den  Fort- 
schritten menschlicher  Bildung  auf  was  immer  für  einem  Wissensgebiete 
gesprochen  wird.  Wir  meinen  natürlich  die  ßuchdruckerkunst. 
Deutschland  war,  wie  gegenwärtig  wohl  keinem  Zweifel  unterliegt, 
die  Heimath  dieser  Erfindung,  und  da  wir  mit  der  Geschichte  der 
Mathematik  in  Deutschland  den  Anfang  unseres  neuen  Abschnittes 
machen,  so  scheint  eine  doppelte  Verpflichtung  vorzuliegen,  jene  Er- 
wähnung nicht  zu  versäumen.  Eine  Gegenbemerkung  könnte  gemacht 
werden.  Die  Buchdruckerkunst  trat  nämlich  nicht  gleich  von  Anfang 
an  und  nicht  in  Deutschland  zuerst  in  den  Dienst  unserer  Wissen- 
schaft. Nicht  vor  1471  werden  wir  einem  in  diesem  Buche  zu  er- 
wähnenden Druckwerke  begegnen,  und  die  Presse,  aus  der  es  hervor- 
ging, stand  in  Italien.  Aber  mit  1472  beginnt  auch  die  Zeit  deutschen 
mathematischen  Druckes  und  rechtfertigt  einigermassen  unser  Vor- 
greifen, zumal  es  sich  auf  die  einfache  Erwähnung  beschränkt,  dass 
man  nicht  mehr  auf  die  Feder  der  Abschreiber  allein  angewiesen  war. 

Noch  eine  weitere  Thatsache  ist  zu  erwähnen.  Die  zweite  Hälfte 
des  XV.  Jahrhunderts  ist  die  Zeit,  in  welcher  die  Stellungsarithmetik 
mit  ihren  zehn  Zahlzeichen  mehr  und  mehr  in  Kreise  drang,  denen  es 
um  nichts  weniger  als  um  das  Rechnen  zu  thun  war.  Wir  meinen 
die  Verwendung  dieser  Zahlzeichen  zur  Angabe  der  Blatt  folge  ge- 
druckter Bücher,  zur  Ausprägung  von  mit  Jahreszahlen  ver- 
sehenen Münzen,  zur  Anfertigung  von  Grabinschriften.  Das 
älteste  bekannte  Druckwerk  mit  in  der  angegebeneu  Weise  gezählten 
Blättern  ist  ein  1471  in  Köln  erschienenes  Werk  Petrarca's  ^).  Dass 
die  Jahreszahlen  auf  Münzen  erst  mit  dem  Ende  des  XV.  Jahrhunderts 
in  Stellungszahlen  auftreten,  wird  von  Niemand  angezweifelt.  Etwas 
fraglicher  könnte  die  Zeit   der  Anwendung   auf  Grabdenkmälern  er- 


1)  Unger,  S.  16. 


216  53.  Kapitel. 

scheinen.  Es  werden  Pforzheimer  und  Ulmer  Grabdenkmäler  aus 
dem  XIV.  Jahrhundert  erwähnt^),  von  noch  älteren  ganz  zu  schweigen. 
Die  Inschriften  sind  vorhanden,  das  ist  gewiss,  aber  sind  sie  immer 
zu  der  Zeit  eingemeisselt,  welche  sie  angeben?  Ist  nicht  etwa  der 
alte  Grabstein  auf  ii-geud  eine  Weise  z.  B.  in  den  wüsten  Bilder- 
stürmereien des  XVI.  Jahrhunderts  zerstört  oder  so  verletzt  worden, 
dass  eine  Erneuerung  nöthig  wurde,  welche  alsdann,  ohne  dass  irgend 
Absicht  vorlag,  den  Geschichtsforschern  ein  Kuckucksei  in  das  Nest 
zu  legen,  die  alte  römische  Jahreszahl  durch  die  weniger  Zeichen  er- 
fordernde Ziffernschrift  ersetzte?  Die  Form  jener  Denkmalsziffern, 
welche  sehr  von  den  in  Rechenbüchern  der  Zeit  benutzten  Zahlzeichen 
abweicht,  giebt  gegründeten  Anlass  zu  dieser  Yermuthung,  und  ins- 
besondere die  Pforzheimer  Inschrift  dürfte  nach  an  Ort  und  Stelle 
eingezogenen  Erkundigungen  kaum  früher  als  im  XYL  Jahrhunderte 
entstanden  sein. 

Ein  Drittes  haben  wir,  beginnend  in  der  ersten,  sich  verbreitend 
in  der  zweiten  Hälfte  des  XY.  Jahrhunderts,  aus  Deutschland  zu  be- 
richten: das  Auftreten  von  Yorschriften  darüber,  wie  auf  den  Linien 
zu  rechnen  sei.  Das  Abacusrechnen  der  Römer  und  des  frühen 
Mittelalters  ist  jedem  Leser  unseres  I.  Bandes  zur  Genüge  bekannt, 
bekannt  auch  wie  es  zu  einem  Kolumnenrechnen  ward,  bei  welchem 
die  Rechenpfennige  auf  den  betreffenden  senkrecht  zum  Rechner  ge- 
bildeten Kolumnen  zu  einem  Zahlzeichen  sich  verdichteten,  während 
die  Kolumnen  selbst  vor  Einbürgerung  der  Null  nicht  entbehrt  wer- 
den konnten.  Bekannt  ist  ferner,  wie  die  Null  durch  die  Algorith- 
miker  eingeführt  den  Kampf  um  das  Dasein  gegen  die  alten  Methoden 
eröffnete  und  siegreich  durchführte.  Jetzt,  am  Ende  des  XY.  Jahr- 
hunderts und  bis  tief  in  das  XYL,  ja  in  das  XYII.  Jahrhundert  sich 
erstreckend  erscheint  plötzlich  eine  neue,  oder  doch  eine  wesentlich 
veränderte  Rechnung  mit  Rechenpfennigen,  und  zwar  in  Deutsch- 
land, Frankreich,  England,  aber  nicht  in  Italien.  Der  Name 
der  Unterlage  dieser  Rechnung  ist  der  der  Rechenbank  oder  der 
Bankir,  auf  welcher  wagrechte  Linien  gezogen  sind,  die  den  Namen 
des  Rechnens  auf  den  Linien  zu  einem  ebenso  berechtigten  als 
leicht  verständlichen  machen.  Die  Linien  geben  den  auf  ihnen  liegen- 
den Marken  von  unten  nach  oben  je  zehnfach  höheren  Werth;  eine 
zwischen  zwei  Linien  befindliche  Marke  hat  den  fünffachen  Werth  als 
wenn  sie  der  unteren,  den  halben  als  wenn  sie  der  oberen  Linie  an- 
gehörte-, das  Rechnen,  insbesondere  das  Addiren,  als  die  Grundlage 
jedes  Rechnens,  vollzieht  sich  genau  so  wie  bei  dem  ältesten  Abacus. 


1)  Günther,  Unterricht  Mittela.  S.  175. 


Rechnen  auf  den  Linien.     Das  Bamberger  Rechenbuch.  217 

Die  Frage  musste  aufgeworfen  werden,  wie  man  das  plötzliche 
Auftreten  dieses  Verfahrens  zu  erklären  habe,  welches  einem  schon 
vollständig  überwundenen  Standpunkte  angehörend  geradezu  einen 
Rückschritt  bedeute.  Man  hat  besonderes  Gewicht  auf  den  Gegensatz 
der  wagrechten  Linien  zu  den  früheren  senkrechten  Kolumnen  gelegt 
und  auf  ihn  gestützt  eine  Neueinführung  behauptet,  deren  Muster  der 
chinesisch -mongolische  Swän  pän  (Bd.  I,  S.  622)  gewesen  sei,  der 
„während  des  XV.  Jahrhunderts  durch  den  Handel  in  Deutschland  in 
Gebrauch  kam"^).  Gegen  diese  Meinung  ist  sehr  vieles  einzuwenden. 
Die  Nachbildung  eines  Eingeführten  pflegt  doch  diesem  selbst  ähn- 
lich zu  sein,  und  da  ist  nun  von  vornherein  gar  nicht  richtig,  dass 
der  alte  Swän  pän  mit  wagrechten  Drähten  hergestellt  gewesen  sei  2). 
Dann  ist  mit  Recht  hervorgehoben  worden,  dass  die  Vermittlung  des 
chinesisch-europäischen  Handelsverkehrs  in  den  Händen  der  Italiener 
lag,  und  grade  diese  haben  das  Rechnen  auf  den  Linien  nicht  in 
ihren  Rechenbüchern  gelehrt^).  Es  ist  weiter  zu  beachten,  dass  die 
Schriften  über  das  Rechnen  auf  den  Linien,  wo  sie  überhaupt  eines 
Ursprunges  gedenken,  niemals  auf  Asiaten  verweisen,  sondern  auf 
Appuleius  von  Madaura  (Bd.  I,  S.  524),  und  wir  dürfen  uns  wie- 
derholend jene  Namensnennimg  so  deuten,  dass  es  schwer  halte,  des 
Glaubens  sich  zu  erwehren,  dass  wer  so  bestimmt  sich  ausdrückte 
wie  jene  Rechenmeister  des  XV.  und  XVL  Jahrhunderts,  die  Schrift 
Appuleius'  selbst  vor  Augen  hatte,  von  der  freilich  keine  Handschrift 
mehr  vorhanden  ist.  Wir  geben  ferner  zu  bedenken,  dass  der  Haupt- 
unterschied der  Richtung  der  Kolumnen,  die  aus  senkrechten  zu  wag- 
rechten wurden,  erklärt  werden  kann,  wenn  wir  an  das  Aufhängen 
einer  solchen  Rechenvorrichtung  denken,  welches  nur  ein  Verschieben 
der  Kugeln  nach  rechts  und  links,  nicht  nach  oben  und  unten  ge- 
stattet,  ohne  behaupten  zu  woUen,   diese  Erklärung   sei  die  richtige. 

Endlich  aber  ist,  wie  uns  scheint,  eine  vollständige  Erledigung 
aller  Zweifel  dadurch  gegeben,  dass  die  zwischen  dem  XII.  und  XV. 
Jahrhunderte  vorhandene  Lücke,  den  allmählichen  Uebergang  von 
Abacus    zur  Rechenbank    darstellend,    nunmehr    ausgefüllt    ist,   zwar 


1)  Gerhardt,  Math.  Deutschi.  S.  28—29,  Anmerkung  2.  *)  Vergl.  z.  B. 
Abbildung  und  Beschreibung  des  Swänpän  mit  gegen  den  Rechner  senkrechten 
Drähten  bei  Duhalde,  Ausführliche  Beschreibung  des  chinesischen  Reiches  und 
der  grossen  Tartarei  (aus  dem  Französischen),  Rostock  1749.  Bd.  Ill,  S.  350. 
Kaspar  Schott  in  seinem  Cursus  mathematicus  von  1699  beruft  sich  pag.  21 
und  52  ausdrücklich  auf  einen  Missionar  Martinius,  durch  welchen  er  wisse, 
dass  die  Kugeln  des  chinesischen  Rechenbrettes  sursum  atque  deorsum  mobiles 
seien,  was  nur  bei  gegen  den  Rechner  senkrechter  Lage  der  Drähte  möglich  ist. 
3)  Unger,  S.  69. 


218  53.  Kapitel. 

nicht  durch  ein  Lehrbuch,  wie  man  mit  Rechenpfennigen  umgehen 
solle,  aber  durch  die  Rechenpfennige  selbst^).  Sie  führten  in 
französischer  Sprache  den  Namen  Jetons  von  jeter,  werfen  oder  aus- 
werfen, mit  Bezug  auf  ihren  Gebrauch,  bei  welchem  sie  auf  die 
Rechenbank  geworfen  wurden.  Lateinisch  heissen  sie  aus  dem  gleichen 
Grunde  projeciiUa.  Die  Engländer  sagten  coimfers,  Zähler,  die  Deutschen 
Bechenpfennig  oder  Raitpfennig.  Es  ist  gelungen,  eine  ganze  Reihe 
solcher  Marken  selbst  oder  doch  deren  Erwähnung  ausfindig  zu 
machen,  welche  ein  lückenloses  Vorhandensein  beweisen,  wenn  auch 
die  Beweisstücke  nicht  alle  dem  gleichen  Orte  entstammen. 

In  Frankreich  ist  ein  Rechenpfennig  der  Königin  Blanche  vor- 
handen^), welche  1252  starb.  In  Brügge  finden  sich  unter  den  Aus- 
gabeposten der  städtischen  Rechnuugsämter  solche  für  Anschafi'ung 
von  Rechenpfennigen^)  aus  den  Jahren  1284,  1303,  1331 — 1332.  Der 
Gebrauch  von  Rechenpfennigen  zur  Zeit  Philipp  YI.  von  Frankreich 
(f  1350)  ist  gesichert*),  gesichert  auch  für  die  Zeit  von  Philipp  dem 
Kühnen  von  Burgund  (y  1404),  von  Anton  von  Brabant  (f  1450). 
In  dem  alten  Cataloge  des  Musee  Cluny  in  Paris  (vor  der  üeber- 
siedelung  der  Sammlung)  war  unter  Nr.  3245  angegeben:  Tapisserie  de 
haute  lisse  aus  der  Zeit  Ludwig  XII.  (1462  — 1515).  Auf  dieser  Stickerei 
gab  die  Dame  Arithmetique  Rechenuntemcht.  Ein  Zuhörer  hielt 
einen  kleinen  Bogen,  ä  la  corde  duquel  sont  suspendus  des  bätonncts 
de  longiieurs  inegales,  und  diese  verschieden  langen  Stäbchen  müssen 
doch  wohl  zu  einem  instrumentalen  Rechnen  gedient  haben.  Aehn- 
lich  wie  wir  es  von  Brügge  aussprechen  durften,  sind  auch  in  Frank- 
furt am  Main  städtische  Rechnungen  erhalten^)  mit  Ausgabeposten 
„umb  ein  hundert  Rechenpfennige".  Solche  waren  daher  1399,  1402, 
1431  im  Gebrauch.  Wieder  aus  dem  XV.  Jahrhunderte  kennt  man 
eine  ganze  Anzahl  von  Nürnberger  Rechenpfennigen^),  die  den  An- 
fang eines  regen  Gewerbes  bezeichnen.  Hechenpfennigniaclier  heisst 
ein  Hans  Läufer^)  am  Anfange  des  XVII.  Jahrhunderts,  und  auf  den 
heutigen  Tag  ist  ähnliche  Nürnberger  Waare  gi-ade  so  gut,  nur  bei 
verändertem  Gebrauche  als  Spielwerk,  weit  und  breit  zu  finden,  als 
damals,  da  der  genannte  Hans  Laufer  in  den  In-  und  Umschriften 
nach  dem  Geschmacke  aller  Länder  sich  richtete^),  wohin  seine  Er- 
zeugnisse verkauft  wurden. 

Ein  Land  fehlt  in  der  Liste  der  Gegenden,  wohin  Rechenpfennige 


')  Alfred  Nagl,  Die  Kechenpfeimigs  und  die  operative  Arithmetik  in  der 
(Wiener)  Numismatischen  Zeitschrift.  19.  Jahrgang  (1887),  S.  309—368.  *)  Ebenda 
S.  317.  2)  Ebenda  S.  328.  *)   Ebenda  S.  332—333.  ^)  Ebenda  S.  336. 

«)  Ebenda  S.  346.         ')  Ebenda  S.  344.         *)  Ebenda  S.  346. 


Rechnen  auf  den  Linien.     Das  Bamberger  Reclienbuch.  219 

gingen,  und  wo  mit  solchen  umgegangen  wurde:  Italien^).  Wenn 
ein  spanischer  Schriftsteller  Juan  Martinez  Silicius^)  im  Jahre 
1514  das  Rechnen  auf  der  Linie  lehrt,  damit  ein  Nutzen  für  alle  die 
daraus  erwachse,  welche  der  Zahlzeichen  unkundig  seien;  wenn  noch 
Buffon^),  der  berühmte  Naturforscher  des  XVIII.  Jahrhunderts,  das 
Rechnen  mit  Marken  rühmt  und  erzählt,  dass  Frauen  und  so  und  so 
viele  andere  Leute,  welche  nicht  schreiben  können  oder  nicht  schreiben 
wollen,  es  lieben  mit  Jetons  zu  hantiren;  wenn  um  1611  in  Shake- 
speare's  Wintermärchen*)  (Act  IV,  Scene  2)  der  junge  Schäfer  sagt: 
ich  kann  es  ohne  Rechenpfennige  nicht  herausbringen,  I  cannot  do't 
u'itlwut  counters,  so  spricht  ein  italienischer  Humanist  vom  Ende  des 
XV.  Jahrhunderts,  Ermolao  Barbaro^)  (f  1495),  sich  mit  einigem 
Hochmuthe  dahin  aus,  die  Alten  hätten  beim  Rechnen  der  Steinchen 
sich  bedient,  einer  Sitte,  die  heute  noch  fast  bei  allen  ungebildeten 
Völkern  sich  erhalten  habe  (qui  mos  hodie  apud  harharos  fere  omncs 
servatur). 

Diese  Thatsachen  und  Erwägungen  alle  zusammengefasst  scheinen 
mit  Nothwendigkeit  die  Sätze  zu  begründen,  dass  das  einfache  Rechnen 
mit  Rechenpfennigen  Jahrhunderte  lang  neben  dem  wissenschaft- 
licheren Kolumnenrechnen,  wie  neben  dem  Rechnen  mit  Zahlzeichen 
mit  Stellungswerth  und  mit  der  Null  sich  erhielt,  dass  es  höchst 
wahrscheinlich  in  solchen  Gesellschaftsschichten  erblich  war,  welche, 
um  das  späte  Wort  Buffon's  zu  wiederholen,  nicht  schreiben  konnten 
oder  nicht  schreiben  wollten,  dass  innerhalb  der  vielen  Jahrhunderte 
nur  eine  wesentliche  Aenderung,  die  der  senkrechten  Linien  in  wag- 
rechte, auf  nicht  mit  Sicherheit  nachzuweisende  Art  eintrat,  dass  von 
jenem  sich  vererbenden  Nothbehelfe  grade  Italien,  das  Mutterland  des 
römischen  Abacus,  sich  vollständig  reinigte. 

Für  diese  letztere  Erscheinung  ist  es  nicht  schwer,  eine  Be- 
gründung zu  geben.  Haben  wir  doch  grade  in  Italien  ein  wissen- 
schaftliches Laien-  und  Kaufmannsrechnen  entstehen  sehen!  Also  eben 
jene  Kreise,  die  in  Frankreich,  in  Deutschland,  in  England  in  dem 
bequemen  Schlendrian  alter  Unwissenheit  weiter  lebten  und  ihm  da- 
durch Erhaltung  sicherten,  sie  waren  in  Italien  die  Träger  eines 
Fortschrittes,  der  neben  der  Welt  der  Gelehrten  seine  eigenen  Wege 
ging.  Wer  hätte  also  in  Italien  die  Rechenpfennige  und  ihren  Ge- 
brauch zum  Range  eines  ewigen,  weil  für  Viele  unentbehrlichen  Mittels 
erheben  soUen? 

Eine   andere  letzte  Frage  haben  wir  aufzuwerfen.     Wenn  Jahr- 


1)  Alfred  Nagl  S.  347—348.         *)  Ebenda  S.  326.  ^)  Ebenda  S.  32^ 

')  Ebenda  S.  333.         ^)  Ebenda  S.  348. 


220  5;^-  Kapitel. 

hunderte  lang  nördlich  von  den  Alpen  mit  Rechenpfennigen  gerechnet 
worden  ist,  wenn  wirklich,  wie  wir  oben  sagten,  dieses  Verfahren  in 
Gesellschaftskreisen  niedrigerer  Bildung  erblich  war,  ohne  dass  es 
nothwendig  gewesen  zu  sein  scheint,  es  in  Schriften  zu  lehren,  wie 
kommt  es,  dass  es  nun  plötzlich  seit  Ende  des  XV.  Jahrhunderts  in 
zahllosen  Werken  mit  und  neben  dem  Ziffernrechnen  empfohlen  wird? 

Wir  könnten  auf  diese  Frage  mit  einer  Gegenfrage  antworten: 
wie  kommt  es,  dass  ein  so  hervorragender  Mathematiker,  als  Poncelet 
es  war,  ein  Rechenbrett  mit  an  Drähten  aufgereihten  Kugeln,  welches 
er  als  Kriegsgefangener  in  Russland  zum  Rechnen  hatte  verwenden 
sehen,  nach  seiner  Rückkehr  nach  Frankreich  in  die  Schulen  von  Metz 
einführte^),  wo  es  den  ganz  passenden  Namen  houllier,  Kugelbrett, 
erhielt,  dass  es  von  da  in  fast  alle  Kinderschulen  Europas  drang? 
Poncelet  erkannte  die  Vorzüglichkeit  einer  Vorrichtung,  für  welche 
er  als  Mittel  zum  eigentlichen  Rechnen  sich  gewiss  nie  erwärmt  hat, 
als  Lehrmittel,  und  ein  Aehnliches  nehmen  wir  für  die  Zeit  des  XV. 
und  XVI.  Jahrhunderts  in  Anspruch.  Die  Buchdruckerkunst  war 
soeben  erfunden.  „Mit  der  Entstehung  von  Druckschriften  wurden 
die  Bildungsstätten  für's  gemeine  Volk  zum  Bedürfniss  und  zur  Mög- 
lichkeit, denn  aus  Handschriften  konnten  Bauernkinder  nicht  lesen 
lernen"^).  Und  die  Schule  erzeugte  wieder  Unterrichtsverfahren.  Man 
konnte,  man  sollte  in  durch  den  Druck  vervielfältigten  Büchern  Lehr- 
mittel schaffen,  die  Jedem  zugänglich  seien,  die  der  Gesammtbevölke- 
rung  oder  doch  einem  weit  grösseren  Theile  derselben,  als  bisher 
dem  Unterrichte  unterworfen  werden  konnte,  zu  Gute  kämen.  Da 
musste  man  bei  Abfassung  solcher  Bücher  Umfrage  halten,  wie  es 
denn  in  jenen  Kreisen  üblich  sei,  die  bis  dahin  nur  mündlich  unter- 
richtet worden  waren,  da  musste  man  dazu  kommen,  auch  die  dort 
herrschende  Uebung,  falls  man  ihre  Lehrzweckdienlichkeit  erkannte, 
mit  dem  Freibriefe  allgemeiner  Anwendung  zu  versehen.  So  unsere 
persönliche  Meinung,  die  wir  allerdings  mit  genauen  Beweisen  zu 
unterstützen  nicht  im  Stande  sind,  die  aber  uns  wenigstens  erklärt, 
was  erklären  zu  wollen  noch  nicht  versucht  wurde.  Wir  könnten 
zum  Vergleiche  wie  zur  Unterstützung  daran  erinnern,  dass  in  China 
(Bd.  I,  S.  629)  die  Lehrbücher  der  Rechenkunst  für  die  Addition  und 
Subtraction  gar  keine  Regeln  aufstellen,  offenbar  mit  Rücksicht  darauf, 
dass  diese  Rechnungsarten  auf  dem  Swän  pän  ausgeführt  wurden. 

Von  dem  ersten  gedruckten  deutschen  Rechenbuche  sind  nur 
geringfügige  Ueberbleibsel^),  9  kleine  Pergamentstreifchen ,   erhalten, 


*)  Chasles  in  den  Comptes  Hendus  de  l'Academie  des  sciences  vom  26.  Juni 
1843.  T.XVI,  pag.  1409.         ^)  Unger,  S.  2.         ^)  Ebenda  S.  36. 


Rechnen  auf  den  Linien.     Das  Bamberger  Rechenbuch.  221 

welche  der  Bamberger  Bibliothek  aügehören.  Sie  genügen  grade,  um 
durch  die  Schlussworte  Anno  cBü  1482  Jd'  16  hmii  p.  Henr.  peczen- 
steiner  Bahenherge:  finit  Ulrich  ivagner  Hecliemeister  Bii  Nürnberg 
Drucker  und  Verfasser  kennen  zu  lernen.  Ersterer,  Heinrich  Petzen- 
steiner, druckte  in  den  Jahren  1482 — 1490  in  Bamberg  und  ist 
dadurch  in  der  Geschichte  der  Buchdruckerkunst  wohl  bekannt. 
Letzterer,  Ulrich  Wagner,  gehörte  als  Nürnberger  Rechenmeister 
einer  in  deutschen  Landen  und  darüber  hinaus  berühmten  Classe 
von  Männern  an,  welche,  wie  wir  noch  im  Verlaufe  dieses  Ab- 
schnittes sehen  werden,  zur  Verbreitung  mathematischen  Wissens  viel 
beitrugen. 

Vielleicht  war  Wagner  auch  der  Verfasser  eines  zweiten  Rechen- 
buches, das  1483  bei  demselben  Drucker  Heinrich  Petzensteiner  er- 
schien und  mit  dem  gleichen  Schriftsatz  gedruckt  worden  sein  muss, 
der  ein  Jahr  vorher  diente.  Dieses  Rechenbuch,  von  dem  ersten  ver- 
schieden, wie  aus  dem  erwähnten  Ueberbleibsel  des  älteren  Buches 
durch  Vergleichungen  entnommen  werden  konnte,  hat  den  Namen 
des  Bamberger  Rechenbuchs  von  1483  erhalten^).  Es  ist  in 
mehrfacher  Beziehung  wichtig  genug,  um  eine  etwas  eingehendere 
Schilderung  zu  erhalten.  Es  besteht  aus  77  Blättern,  zu  welchen 
noch  ein  ,,Beg ister"  kommt,  welches  gleichsam  Vorrede  und  Einleitung 
zugleich  darstellt.  Me  nach  folget  dz  Begister  dises  Bechenpuchleins 
nach  seinen  Capiteln  und  was  in  einem  ydichen  begriffen.  Hierumb 
den  fleissigen  merchem  das  mit  gantsen  fleys  ersucht  mit  seinen  Canonen  ^) 
und  Exempeln  nachvolgende  und  ob  yndert  eyn  ciffern  oder  mer  vericert 
tvern.  teil  ich  entschuldigt  sein  oder  zu  vil  oder  zeivenig  iveren  was  du 
gar  hichtlich  durch  die  abgemalten  Canones  und  ir  reget  finden  magst 
alle  rechnung  in  diesem  puchlin.  Auch  ein  idicher  in  teutschem  Lesen 
und  in  ciffern  erfahren  mag  an  alle  unterweyffung  vor  im  selbs  soliches 
gelernen  und  garvil  alsdan  in  welschen,  ieutschen  und  andern  landen 
in  allen  kauffschlagen  oder  kauffmanschatz  wie  die  genant  seyn  not  zu 
wijsen  ist  alles  ander  dafs  gleych  magst  (an  allen  zweyffel)  vinden.  und 
magst  auch  sollichs  allen  nach  den  rechnungen  der  ciffern  der  Tolleten. 
Auch  der  linien  machen  also  das  du  fleissig  merckest  tvie  du  die  rech- 
nung mit  der  feddern  oder  kreyden  machest  das  du  die  pfennig  in 
gleycher  tveifs  legest.  Wir  heben  zunächst  den  Schlusssatz  hervor,  da 
aus   demselben   deutlich  hervorgeht,   wie  dem  Verfasser  das  Rechnen 


^)  Unger,  S.  37.  Durch  die  grosse  Freundlichkeit  von  Dr.  Unger  durften 
wir,  ausser  den  von  ihm  im  Druck  veröffentlichten  Auszügen,  eine  von  ihm  ge- 
fertigte Abschrift  des  ganzen  Rechenbuches  benutzen.  ^)  Im  Texte  steht 
Caconen,  was  aber  offenbar  Druckfehler  ist. 


222  53.  Kapitel. 

auf  den  Linien  mit  Rechenpfennigen  ein  durchaus  bekanntes  war, 
wenn  er  es  auch  nicht  zu  lehren  beabsichtigte.  Solches  that  ein  1490 
bei  Lotter  in  Leipzig  gedrucktes  Buch,  welches  den  Titel  Algorith- 
mus linealis  führt ^),  vielleicht  das  gleiche  Werk,  welches  (S.  217) 
sich  auf  Appuleius  beruft.  Der  oben  abgedruckte  Satz  aus  dem 
Bamberger  Rechenbuche,  dessen  Sinn  erfordert,  dass  man  ihn  ab- 
weichend von  der  Art,  wie  er  gedruckt  ist,  "«vielmehr  so  lese:  magst 
auch  solliclis  allen  nach  den  reclmungen  der  ciffern  der  Tolleten,  auch 
der  Linien  machen,  enthält  das  Wort  Tollet,  welches  uns  hier  zum 
ersten  Male  begegnet.  Die  grösste  Wahrscheinlichkeit  besitzt  die 
Erklärung,  welche  das  Wort  Tollet  aus  dem  italienischen  tavoletta 
=  kleine  Tafel  herleitet  und  sich  dai-auf  beruft,  dass  dazu  eine  im 
Auslande  etwa  vollzogene  Verketzerung  nicht  anzunehmen  sei,  dass 
vielmehr  im  venetianischen  Dialekte  tavola  in  tola,  tavoletta  in  toleta 
übergegangen  sei^).  Es  wäre  demnach  eine  vermuthlich  bei  venetianer 
Kaufleuten  übliche  Methode  gewesen,  welcher  wir  hier  auf  süd- 
deutschem Boden  begegnen,  eine  Annahme,  die  bei  dem  regen  Ver- 
kehr, der  zwischen  Venedig  und  Nürnberg  stattfand,  nichts  Auffallen- 
des hat.  Einige  Bestätigung  bieten  sogar  die  in  dem  Register 
enthaltenen  Beziehungen  auf  u-elsche,  teutsche  und  andern  Landen  und 
auf  Tiauffschlagen  oder  li  au  ff  manschatz.  Die  Tolletrechnung  selbst  wird 
in  dem  Bamberger  Rechenbuche  wirklich  gelehrt,  wie  wir  sogleich 
bei  der  Inhaltsangabe  sehen  werden.  Dieser  Inhalt,  über  den  wir, 
weil  es  um  das  erste  deutsche  gedruckte  Rechenbuch  sich  handelt, 
genaueren  Bericht  geben  zu  sollen  meinen^),  gliedert  sich  in  21  Kapitel, 
und  zwar  betreffen  diese: 

Kapitel  1.     Das  Numeriren. 

Kapitel  2.  Das  Addiren  unbenannter  Zahlen  nebst  Anwendung 
der  Siebenerprobe. 

Kapitel  3.  a.  Das  Subtrahiren  unbenaimter  Zahlen;  im  Falle  einer 
zu  grossen  Subtrahendenziffer  wird  deren  dekadische  Ergänzung  zur 
Minuendenziffer  addirt,  warauf  die  nächste  Subtrahendenziffer  um  1 
erhöht  wird.  b.  Das  Addiren  und  Subtrahiren  mehrsortiger  Zahlen, 
c.  Die  Einmaleinstafel*). 

Kapitel  4.  Das  Multipliciren  unbenannter  Zahlen  nach  fünf 
Methoden,    deren    Verschiedenheit    sich    auf   die    Beschaffenheit    der 


0  Unger,  S.  VIU.  -)  Günther,  Unterr.  Mittela.  S.  322—323  mit  Be- 

rufung auf  H.  E.  Gelcich,  SiüV  origine  della  Töleta  dei  Veneziani  in  der  Rivista 
della   marina  mercantile  (Triest  1884,  pag.  227).  ^)  Wesentlich  nach  Unger, 

S.  39—40  und    der    erwähnten  Vergleichung  des    Textes.  '')  Wenn  Unger, 

S.  39  von  der  pythagoräischen  Einmaleinstafel  spricht,    so  ist  dieser  Name  im 
Bamberger  Rechenbuche  selbst  nicht  genannt. 


Rechnen  auf  den  Linien.     Das  Bamberger  Rechenbuch.  223 

Factoren  gründet,  a.  Beide  Factoren  bestehen  aus  je  einer  bedeut- 
lichen  Ziifer  mit  Nullen,  b.  Der  eine  Factor  ist  einstellig,  der  andere 
mehrstellig,  c.  Beide  Factoren  liegen  zwischen  10  und  20;  das  Ver- 
fahren folgt  der  Formel  (10  +  a)  •  (10  -f  &)  =  a&  +  10(a  +  &)  +  100. 
d.  Beide  Factoren  bestehen  aus  je  zwei  bedeutlichen  Ziffern  und 
werden  übers  Kreuz  multiplicirt.  e.  Zwei  vielstellige  Factoren  multi- 
pliciren  einander  nach  der  gewöhnlichen  Einrückungsmethode  der 
Theilproducte,  wobei  der  Multiplicator  längs  einer  schrägen  Linie  ge- 
schrieben jede  seiner  Ziffern  neben  dem  zu  ihr  gehörigen  Theil- 
producte  erscheinen  lässt.  Die  Multiplication  705081  mal  640180 
sieht  z.  B.  so  aus: 

640180 


640180/1 
5121440/8 

oooooo/o 

3200900/5 
000000/0 

4481260/7 

451378754580 

Genannt  wird  diese  Multiplication  auf  dem  Schachir  und  erinnert 
durch  den  Namen  an  die  schachbrettartigen  Verfahren  der  Inder 
und  Araber  (Bd.  I,  S.  571,  739,  764). 

Kapitel  5.  a.  Das  Dividiren  unbenannter  Zahlen,  wobei  Unter- 
abtheilungen je  nach  der  Grösse  des  Divisors  gebildet  sind.  b.  Die 
Progressionen,  und  zwar  sind  Summenformeln  in  Worten  gegeben, 
welche  für  die  arithmetische  Progression  der  Regel 

1  +  2-f  3  +  ..--fiz.  =  (l-f  iO|, 

für  die  geometrische  Progression  der  Regel 

1  +  ^  +  ^/  +  •  •  •  +  r-'  =  ^Y=T^  +  ^"~' 

entsprechen,  welcher  letzteren    wir   (S.  207)    bei   Beldomandi    begeg- 
net sind. 

Kapitel  6.  Die  Multiplication  von  Brüchen.  Die  Brüche  selbst, 
welche  hier  zuerst  auftreten,  sind  ohne  Trennung  des  Zählers  von  dem 
unter  ihm  befindlichen  Nenner  durch  einen  Bruchstrich  geschrieben. 
Dagegen  sind  die  Ziffern  nur  halb  so  hoch  als  bei  ganzen  Zahlen, 
wodurch  eine  Verwechslung  verhindert  ist.  a.  Bruch  mal  Bruch, 
b.  Bruch  mal  ganze  Zahl.     c.  Gemischte  mal  gemischte  Zahl. 

Kapitel  7.    Das  Addiren  der  Brüche  y  +  4  =  "^  ^     .    Vom  Auf- 


224  53.  Kapitel. 

suchen  eines  etwa  kleineren  Gresammtnenners  ist  keine  Rede,  dagegen 

5  7  82  17 

kommt  nachträgliche  Kürzung  vor,   z.  B.  -j^  -f-  —  ==  —  =  1~ . 

Kapitel  8.  Das  Subtrahiren  der  Brüche  ist  dem  Addiren  der- 
selben nachgebildet. ' 

Kapitel  9.  a.  Das  Dividiren  eines  Bruches  durch  eine  ganze  Zahl, 
b.  Das  Dividiren  eines  Bruches   durch   einen  Bruch   nach   der  Regel 

y  :  -j  =  T—  •     Verdoppelung  und  Halbirung  von  Brüchen  werden  als 

Sonderfälle  ihrer  Vervielfachung,  beziehungsweise  Theilung  nachträg- 
lich behandelt. 

Kapitel  10.  „Die  gülden  Begel",  Diesen  Namen  führt  von  nun 
an  sehr  häufig  die  Regeldetri,  die  so  Tiospar  und  nuez  ist  denn  alle 
ander  regel  zu  gliechen  iveys  als  golt  vhertrifft  alle  and  metall.  Es 
sind  nicht  weniger  als  6  Unterfälle  unterschieden,  a.  Das  1.  oder 
3.  Glied  ist  die  Einheit,  b.  Kein  Glied  ist  gleich  1.  c.  In  einem  Gliede 
steht  ein  Bruch,  d.  In  zwei  Gliedern  stehen  Brüche,  e.  Alle  drei 
Glieder  sind  Brüche,  f.  Anwendung  der  Regeldetri  in  Waarenein- 
kaufsrechnungen.  Was  wegen  Verpackung  nicht  als  Waarengewicht  mit- 
zurechnen ist  und  später  Tara  genannt  wurde,  heisst  hier  einfach  das 
Minus  und  wird  subtrahirt. 

Kapitel  11.  „Vom  Wechsel",  d.  h.  Umrechnungen  von  Geldsorten 
nach  der  Veränderung  unterworfenen  Werthverhältnissen,  Der  Zu- 
schlag von  einer  Sorte  zur  anderen  heisst  auffiveclisel.     Z.  B.    Wieviel 

3 

Ducaten  sind   1578  EeicJisfl.   wenn   man   auffgibt  25—   auf  100  Duc. 

3 

Sec0  also  125  fl  —  gehen  100  Buc.  was  gehen  1578  fl 

Kapitel  12.  Waarenrechnung  mit  Gewinn-  oder  Verlustermittelung. 

Kapitel  13.  „Von  geselschaffi".  a.  Verschiedene  Einlagen  der  Ge- 
sellschafter auf  gleiche  Zeit.  b.  Verschiedene  Einlagen  auf  verschie- 
dene Zeiten,  c.  Angabe  der  Einlagen  nach  Theilen,  z.  B.  Ä  hat 
2  Theile,  B  hat  3  Theile  u.  s.  w.     d.  Gegebene  Bruchtheile   z.  B.  Ä 

112 

hat  -^ ,  B  hat  -— ,   G  hat  -^  zu  fordern ,  wo  es  nicht  darauf  ankommt, 

1  1  2   <C' 

ob— -f-— -f--r-^l.    e.  Proportionirte  Theilzahlen  z.  B.  Ä:B=3:1, 

B  :  C  =  4  :  1.  f.  Gewinnberechnung,  wenn  die  Einlagen  während  der 
Dauer  der  Gesellschaft  durch  Vermehrung  oder  Verminderung  sich 
ändern. 

Kapitel  14.     Tolletrechnung^).     Ein   deutscher  Schriftsteller  des 


')  Treutlein,  Das  Rechnen  im  XVI.  Jahrhundert.  Zeitschr.  Math.  Phys.  XXII, 
Supplementheft  S.  98— 100.  —  Unger,  S.  94— 95. 


Reclinen  auf  den  Linien.     Das  Bambemer  Rechenbuch. 


225 


folgenden  Zeitabschnittes,  Peter  Apianus,  hat  1532  die  ToUet- 
reehnung  durch  die  Worte  erklärt:  „Leret  durch  die  Rechenpfenning 
ein  Metall  aus  dem  anderen  ziehen"  und  darnach  war  es  ein  Ver- 
fahren, mittels  dessen  das  Feingold  aus  einem  goldhaltigen  Silber  be- 
rechnet zu  werden  pflegte.  Es  „soll  uff  einen  Tisch  die  form  und 
gestalt  der  Tolleten  auffgezeychnet  werden  wie  hernach  volgt",  und 
da  diese  Form  darin  besteht,  dass  drei  kolumnenartige  gegen  den  Rech- 
ner senkrechte  Räume  hergestellt  werden,  welche  durch  Querlinien  in 
viereckige  Felder  getheilt  werden,  und  welche  den  Namen  camhi 
führen,  so  ist  damit  bestätigt,  was  weiter  oben  über  das  Wort  Tollet 
vermuthungs weise  mitgetheilt  wurde,  denn  erstens  ist  wirklich  eine 
Tafelform  gebildet,  und  zweitens  hängt  cambi  unzweifelhaft  mit  dem 
italienischen  cambiare  =  wechseln,  tauschen  zusammen.  Die  Felder 
der  Cambi  sind  geräumig  genug,  um  in  der  Mitte  eine  Bezeichnung 
zu  führen  und  rechts  wie  links  von  derselben  Rechenpfennige  nieder- 
legen zu  lassen,  rechts  solche,  die  den  Werth  einer  jeweiligen  Ein- 
heit besitzen,  links  solche,  die  je  5  Einheiten  bedeuten.  Die  für  die 
drei  Cambi  gleichen  Bezeichnungen  sind  der  Figur  zu  entnehmen: 


M 

M 

M 

1            ^ 

C 

G 

X 

X 

X 

M 

M 

M 

X 

X 

X 

lot 

lot 

lot 

halblot 

halblot 

halblot 

1 
T 

1 
4 

1 

T 

1 

1 

1 

8 

1 

16 

1 

16 

1 
16 

1 
32 

1 
32 

1 
32 

1 
64 

1 

64 

1 
64 

1 
128 

1 
128 

1 
128 

1 
256 

1 
256 

1 
256 

Caktor,  Geschichte  der  Mathem.    II.    2.  Aufl. 


226  53.  Kapitel. 

Die  Bedeutung  der  Felderbezeiclinung  von  oben  nach  unten  ist 
1000  Mark,  100  Mark,  10  Mark,  Mark  (oder  16  Lot),  dann  10  Lot, 
einfache  Lot  und  durch  fortgesetzte  Halbirung  gewonnene  Unter- 
abtheilungen des  Lot,  nämlich  Halblot,  Viertellot  bis  zu  -r^  lot.  In 
das   erste  Cambium   ist   durch   Rechenpfennige   das  ganz  zerfeit  Stuclc 

3      3 

anzugeben.  Z.  B.  einer  lau/ft  ein  Stuch  SyTber  wigt  marcJc  82  loU  14-j-  —  • 

Hier  war  in  die  10 -Markabtheilung  die  Zahl  8  einzulegen,  in  die 
Mark  2,  in  die  10-Lot  1,  in  die  Lot  4  und  dann  jeweils  1  in  die  Ab- 

theilunsren  halblot,    -r ,  -tt,  777  •     Der  Feingehalt  richtet  sich  nach  der 

1      3 

vorgenommenen  Probe  und  halt  die  Marclz   an  der  Proh  2  ?o^  -—  -r 
^  4     16 

Goldt.  Xun  beginnt  der  Rechner  mit  dem  Haupttheile  des  Stückes, 
d.  h.  mit  82  Mark,  und  legt  die  Einzelergebnisse  in  das  dritte  Cam- 
bium. Die  82  Mark  liefern  ^2  mal  2  Lot  oder  164  Lot,  82  Viertellot 
oder  20  Lot  und  1  Halblot,  82  Achtellot  oder  10  Lot  und  1  Viertel- 
lot, 82  Sechzehntellot  oder  5  Lot  und  1  Achtellot.  Nach  dieser  ersten 
Rechnung  kämen   die  14  Lot  des  Stückes   an   die  Reihe.     Von  ihnen 

betrachtet  der  Rechner  zuerst  8  Lot,  die  als  —  Mark  die  Hälfte  von 
2  Lot  -r  -^  77?  d.  h.  1  Lot  —  7^7  577  Feingehalt  liefern  u.  s.  w.     Das 

4       o      Ib  o      Ib    0« 

Bamberger  Rechenbuch  sagt  selbst,  dass  die  Regeldetri  eine  weit 
kürzere  Methode  sei^j,  und  man  wird  dem  beistimmen.  Aber  gleich- 
wohl ist  der  Grundgedanke  der  vollzogenen  Zerlegungen  von  solchem 
Vortheile  für  die  wirkliche  Ausführung,  dass  er  eine  Lebensfähigkeit 
bewies,  die  nach  Jahrtausenden  zu  bemessen  ist.  Unzweifelhaft  Avur- 
zelnd  in  der  Zerlegung  eines  Bruches  in  eine  Summe  von  Stamm- 
brüchen, wie  sie  von  Aegjpteu  ausging,  hat  das  Verfahren,  freilich 
unter  Abstreifung  der  Rechenpfennige  und  unter  Annahme  neuer 
Namen  von  Italien  aus  über  das  ganze  handeltreibende  Europa  sich 
verbreitet  und  wird  uns  bald  wieder  begegnen.  Fahren  wir  zunächst 
fort  mit  der  Inhaltsangabe  des  Bamberger  Rechenbuchs,  so  treffen 
wir  auf 

Kapitel  15.     Stich,  d.  h.  Waarentausch. 

Kapitel  16.  Goltrechnung,  eine  Aufgabe,  welche  der  im  14.  Kapitel 
behandelten  nahe  verwandt  ist.  Das  Rauhgewicht  des  eingekauften 
Metalls  ist  in  Mark,  Lot  und  Quint  gegeben,  dazu  der  Feingehalt  in 
Karat  und  Gran  nebst  dem  Preise  für  ein  Karat  Feingold,  und  daraus 
soll  der  zu  zahlende  Preis  ermittelt  werden.  Anschliessend  ist  auch 
die  Aufgabe  Vom  icandern  behandelt.     Es  seyn  ziven  gesellen  die  gend 

^)  ünger,  S.  95. 


Rechnen  auf  den  Linien.     Das  Bamberger  Recbenbucli.  227 

gen  Botn.  Eyner  gd  alle  tag  6  meyl  der  ander  geth  an  dem  ersten 
tage  1  meyl  an  dem  andern  zicun  und  alle  tag  eyner  meyl  mer  dan 
vor.  Nu  U'ildu  wissen  in  iviviel  tagen  eyner  als  vil  hat  gangen  als  der 
ander.  So  nim  die  zal  ztvir  die  der  gleych  geht.  Der  ivirdet  12  und 
dar  von  thu  die  meyl  die  der  an  dem  ersten  tag  ging  der  ungleych  get 
Also  heleyht  dem  noch  11  meyl  so  himmen  sie  gleich  gangen  an  dem 
11  tag.  Der  Verfasser  wusste  demnacli,  dass  symmetrisch  liegende 
Glieder  der  arithmetiscliea  Progression  gleiche  Summen  haben,  welche 
jedesmal  dem  doppelten  Durchschnittswerthe  gleichkommen.  Nimmt 
er  also  diesen  doppelt  und  zieht  das  erste  Reihenglied  ab,  so  muss 
als  Rest  das  letzte  bleiben,  welches  in  der  natürlichen  Zahlenreihe 
zugleich  die  Gliederzahl  darstellt. 

Kapitel  17.  Von  rechnüg  vh'  lant  genät,  das  sind  Preisberech- 
nungen mittels  einfacher  Regeldetri. 

Kapitel  18.  Zurückführen  von  Brüchen  von  Geldsorten  auf  ganze 
Zahlen  kleinerer  Münzeinheiten. 

Kapitel  19,  20,  21  enthalten  Tabellen,  mit  deren  Hilfe  die  bei 
Gold-  und  Silberrechnungen  geforderten  Multiplicatiouen  umgangen, 
beziehungsweise  durch  Addition  von  ein  für  alle  mal  vorberechneten 
Ergebnissen  ersetzt  werden.  Das  sind  jedenfalls  die  Canones  (S.  221), 
welche  das  Register  anmeldet,  und  welche  für  das  praktische  kauf- 
männische Leben  ganz  und  gar  nicht  der  Wichtigkeit  entbehrten  zu 
einer  Zeit ,  in  welcher  die  Münzmannigfaltigkeit  und  Müuzunsicher- 
heit  es  geradezu  unumgänglich  machten,  als  letztes  Vergleichungsmittel 
die  Entmünzung,  das  Um  schmelzen  in  Barren,  vorzunehmen,  und  deren 
Werth  aus  der  Menge  des  in  ihnen  enthaltenen  Feinmetalls,  bald  Gold 
bald  Silber,  zu  entnehmen. 

So  wird  auch  durch  das  Vorhandensein  dieser  Tafeln  das  Bam- 
berger Rechenbuch  wieder  als  das  gekennzeichnet,  als  was  wir  es 
wiederholt  genannt  haben,  als  ein  Buch  für  Kaufleute  und  in  von 
Italien  aus  beeinflussten  Kaufmannskreisen  entstanden. 
Genau  zu  dem  gleichen  Ergebnisse  wären  wir  gelangt,  wenn  wir  das 
Bamberger  Rechenbuch  auf  die  Merkmale  geprüft  hätten ,  welche  von 
uns  wiederholt  angerufen  wurden,  wo  es  um  Einreihung  eines  Werkes 
in  eine  von  den  grossen,  scharf  getrennten  Klassen  von  Rechen- 
büchern sich  handelte.  Verdoppeln  und  Halbiren  als  besondere  Rech- 
nungsarten ausgezeichnet  oder  als  solche  ganz  unbekannt,  das  war 
das  untrügliche  Zeichen,  ob  wir  die  Schule  des  Jordanus,  ob  die  des 
Leonardo  zu  erkennen  haben.  Das  Bamberger  Rechenbuch  weiss  von 
jenen  Operationen  als  Sonderfällen,  weiss  nichts  von  ihnen  als  Rech- 
nungsarten, also  ist  es  auf  dem  Boden  des  südlichen  Deutschlands  ein 
Ausfluss  italienischer  Lehren. 


228  »4.  Kapitel. 

54.  Kapitel. 
Johannes  Widmaun  und  die  Anfänge  einer  dentsciieu  Algebra. 

Vom  Bamberger  Recheubuche  gelangen  wir  zu  einem  anderen, 
welches  sechs  Jahre  später  in  Leipzig  gedruckt  wurde  und  seine  Ab- 
hängigkeit von  jenem  dadurch  erweist,  dass  viele  Stellen  wörtlich 
entlehnt  sind^).  Genannt  ist  die  Quelle  aber  nicht,  sondern  als  be- 
nutzt werden  nur  angegeben^) :  Johannes  von  Sacrobosco  für  das 
eigentliche  Rechnen,  Euklid,  Campanus,  Boethius,  Jordanus  für  Pro- 
poi-tionen,  endlich  Julius  Frontinus  für  Feldmesserisches. 

Diese  genannten  Quellen  neben  jener  nicht  genannten,  aber  nach- 
weislich benutzten,  geben  dem  Werke  ein  besonderes  Interesse.  Sie 
lassen  erwarten,  dass  von  den  beiden  am  Schlüsse  des  vorigen  Kapitels 
genannten  Schulen  ein  sich  mischender  Einfluss  vorhanden  sein  müsse, 
der  sich  nachträglich  werde  erkennen  lassen.  Sie  lassen  vermuthen, 
dass  der  Verfasser  zu  den  eigentlich  gelehrten  Kreisen  gehört  habe, 
weil  er  sich  nur  auf  solche  Vorgänger  beruft,  deren  Namen  in  solchen 
Kreisen  einen  vorzugsweise  guten  Klang  hatten.  Alles  dieses  bestätigt 
sich  bei  genauerem  Berichte. 

Johannes  Widmann  von  Eger^)  wurde  1480  im  Winter- 
semester in  die  Matrikelliste  der  Universität  Leipzig  eingetragen  und 
zwar  als  pauper,  d.  h.  mit  einem  Armuthszeugnisse.  Andere  üni- 
versitätsacten  theilen  mit,  dass  Widmann  1482  Baccalaureus,  1485 
Magister  unter  Erlassung  der  Kosten  wurde.  Von  da  an  lehrte  er 
muthmasslich  an  der  gleichen  Hochschule,  welcher  er  seine  eigene 
Ausbildung  verdankte,  denn  wenn  auch  nicht  nachgewiesen  werden 
kann,  dass  Widmann  eine  leipziger  Professur  inne  hatte,  so  hat  sich 
dafür  der  Wortlaut  von  Vorlesungsanzeigen  desselben  erhalten*). 
Geburts-  und  Todesjahr  Widmann's  kennen  wir  nicht.  Das  Werk, 
welches    seinen  Namen  berühmt   gemacht   hat,   heisst  Behende   und 


')  Unger,  S.  41.         ^  Drobisch,    De  Joannis    Widmanni  Egerani  com- 
pendio   arithmeticae  mercotorum   (1840)  pag.  21.  ^)  Das  Verdienst,  Job.  "Wid- 

mann  für  die  Gescbicbte  der  Matbematik  entdeckt  zu  baben,  gebort  Drobiscb 
an.  Vergl.  die  in  Anmerkung  2  genannte  Programmscbrift  zur  Säcularfeier  der 
Erfindung  der  Bucbdruckerkunst.  Wichtige  üntersucbungen  stellte  später  Fürst 
Bonconipagni  an  in  BuUetino  Boncompagni  IX,  188—210  und  Treutlein  in 
der  Abhandlung :  Die  deutsche  Coss,  Zeitschr.  Math.  Pbvs.  XXR",  Supplementbeft, 
insbesondere  S.  62  flgg.,  llOflgg.,  118  flgg.  Zusammenstellungen  bei  Gerhardt, 
Math.  Deutscbl.  S.  30— 36,  Günther,  Unten-icht  Mittela.  S.  304 flgg.,  Unger 
S.  40  flgg.  *)  Wappler,  Zur  Geschichte  der  deutschen  Algebra  im  15.  Jahr- 

hundert.    Zwickauer  Gymnasialprogramm  (1887)  S.  10. 


Johannes  Widmaun  und  die  Anfänge  einer  deutschen  Algebra.         229 

hübsche  Rechnung  auf  allen  kauffmannschafft  gedruckt  in 
der  Fürstlichen  Stath  Leipczick  durch  Couradum  Kacheloffen  im  1489 
Jare,  und  die  Vorrede  beginnt  mit  den  Worten:  Johannes  widmann 
von  JEger  Meysier  in  den  freyen  Imnsten  zu  Leyptzick  entheut  Meyster 
Sigmunden  Smidmide  heyerisclier  nacion  Jieyle  und  unvordrossen  willig 
dienste,  und  in  dieser  Persönlichkeit  ist  ein  Sigmund  Altmann  aus 
Schmidtmühlen  in  der  Oberpfalz  am  Einflüsse  der  Lauterach  in  die 
Vils  erkannt  worden  \).  Ausser  der  Ausgabe  von  1489  sind  noch 
solche  von  1508,  1519,  1526  bekannt,  die  in  Pforzheim,  Hagenau, 
Augsburg  gednickt  die  weite  Verbreitung  des  Buches  erkennen  lassen. 

Es  zerfällt  in  drei  Theile.  1.  Von  kunst  und  art  der  zal  an  yr 
selbst,  2.  von  der  Ordnung  der  zal,  3.  von  der  art  des  messen  die 
da  geometria  genannt  ist. 

Die  erste  Abtheilung  lehrt  das  eigentliche  Rechnen  an  ganzen 
Zahlen  und  Brüchen.  Halbiren  und  Verdoppeln  erscheinen  wieder 
als  besondere  Rechnungsarten.  Beim  Subtrahiren  wird  wie  im  Bam- 
berger Rechenbuche  verfahren  (S.  222),  d.  h.  nach  italienisch  kauf- 
männischer Art.  Eine  Einmaleinstafel  ist  in  zweierlei  Ge- 
stalt aufgezeichnet,  als  Dreieck  und  als  Quadrat.  Wenn 
wir  die  letztere  Gestalt  von  Beldomandi  (S.  208)  her  kennen,  so  sagt 
Widmann  über  die  erstere:  dz  erst  ist  eyn  tafel  gformirt  vf  den  triangel 
gezogen  vfs  liebreischer  zungen  oder  judscher.  Welchen  jüdischen 
Schriftsteller  er  aber  meint  ist  nicht  gesagt.  Keinenfalls  ist  an 
Elias  Misrachi  zu  denken^),  dessen  Buch  der  Zahl,  Sefer-Hamispar, 
erst  1534  im  Drucke  erschien,  wie  wir  im  60.  Kapitel  sehen  werden. 
Multiplication  und  Division  erinnern  gleichfalls  an  das  Bamberger 
Rechenbuch.  Die  Neunerprobe  wird  gelehrt  und  neben  ihr  auch  die 
Siebenerprobe.  Beim  Wurzelausziehen  muss  der  ganzzahlige  Theil 
einer  irrationalen  Zahl  genügen,  Näherung  mittels  Brüchen  ist  nicht 
gelehrt. 

Die  zweite  Abtheilung  bringt  zunächst  die  Lehre  von  den 
Proportionen,  und  da,  wie  wir  schon  erwähnten,  auch  Jordanus  als 
Quelle  für  diesen  Abschnitt  ausdrücklich  genannt  ist,  so  bedarf  es 
keiner  ausführlicheren  Schilderung,  was  hier  gelehrt  wird.  Auffallend 
und  geschichtlich  wichtig  ist  nur  Eines.  Wo  das  Zusammensetzen 
von  Verhältnissen  gelehrt  ist,  beruft  Widmann  sich  neben  und  vor 
Jordanus  auf  einen   römischen  Schriftsteller,   dessen  Namen   wir  hier 


^)  Günther,  Unterricht  Mittela.  S.  304  Note  3.  *)  Drobisch,  1.  c.  pag.  22 
und  die  Arithmetik  des  Elia  Misrachi  von  Gustav  Wertheim  (Programm  der 
Realschule  der  israelitischen  Gemeinde  zu  Frankfurt  am  Main  1893;  II.  Auflage, 
Braunschweig  1896). 


230  54.  Kapitel. 

am  wenigsten  erwarten,  auf  Julius  Froutiuus^).  Welches  Werk 
dieses  Schriftstellers  mag  hier  gemeint  sein?  Den  Proportionen  folgt 
die  Regeldetri,  die  gülden  Begeh,  deren  Name  wie  in  dem  Bamberger 
Rechenbuche  damit  gerechtfertigt  ist,  dass  sie  alle  Regeln  übertreffe 
gleichwie  das  Gold  alle  Metalle,  aber  Widmann  fügt  noch  ein  weiteres 
eigenthümliches  Lob  bei:  man  benutze  sie  gleyclier  tveifs  alfs  eyn 
Hammer  in  eyner  schmit  zu  vyl  hübschem  Bingen  gebraucht  tvirt  dan 
er  an  ym  selbst  ist.  Es  folgen  eine  Menge  einzelner  Aufgaben  ver- 
schiedensten Namens,  auf  welche  noch  zurückgekommen  werden  soll. 
Die  Zeichen  -f-  und  —  erscheinen  und  werden  nicht  ein- 
mal als  neu  eingeführt  vorgestellt.  Es  heisst  von  ihnen  nur 
„was  —  ist  das  ist  minus  und  das  -|-  das  ist  mer".  Wir  müssen 
aus  mehr  als  einem  Grrunde  mindestens  an  dem  Wortlaute  eines, 
freilich  eigens  ausgesuchten  Beispiels  die  Anwendung  jener  Zeichen 
bei  Widmann  kennen  lernen.  Eyner  hat  Jcaufft  6  Eyer  —2\  pro 
4^  +  1  ey.  Nu  ist  die  frag  ivie  Tiupt  ein  ey.  Die  Regel  dafür 
lautet  so:  Äddir  die  geminderte  zal  der  \  su  der  furgelegten  ml  der  \ 
Und  std)trahir  die  zal  des  dingefs  von  der  andern  zal  yrj's  gleichen 
Unnd  diuidir  die  vberige  zal  der  \  mit  der  vbrige  zal  der  gekaiifften 
war.  vnd  der  seihige  teylung  quocient  bericht  die  frag.  Es  wäre 
schwierig,  eine  unpassendere  Aufgabe  zu  ersinnen  als  diese,  in  welcher 
die  gekaufte  Waare  gemindertes  (also  negatives)  Geld  einschliesst 
lind  in  dem  Preise  selbst  Waare  vorkommt;  aber  es  wäre  schwierig, 
eine  geeignetere  Aufgabe  zu  ersinnen,  wenn  Widmann  nichts  be- 
absichtigte, als  den  Beweis  zu  führen,  wie  tief  er  in  den  Sinn  der 
beiden  Zeichen  plus  und  minus  eingedrungen  war,  wie  frei  er  mit 
ihnen  schaltete. 

Die  Frage  nach  dem  Ursprünge  der  beiden  Zeichen  -|- 
und  —  i.st  oft  gestellt,  verschieden  beantwortet  worden.  Widmann, 
der,  soweit  man  bisher  weiss,  die  Zeichen  zuerst  im  Drucke  gebrauchte, 
sagt  nichts  von  ihrer  Herkunft.  Ein  einziger  Italiener,  bei  welchem 
sie,  wie  wir  später  sehen  werden,  in  einer  auch  kaum  viel  älteren 
Handschrift  vorkommen,  ist  eben  so  schweigsam.  Spätere  Schi-ift- 
steller  geben  wieder  keine  Auskunft.  Man  ist  also  ausschliesslich 
auf  Vermuthungen  hingewiesen,  von  welchen  uns  persönlich  kaum  eine 
einzige  genügt,  wenn  wir  gleich  für  Pflicht  halten,  über  einige  solche 
Vermuthungen  zu  berichten.  Gewisse  Waaren,  meinen  die  Einen, 
seien  in  Kisten  verkauft  worden,   deren  Gewicht,   wenn  sie  angefüllt 


^)  vnd  alfso  magstu  proporcionem  dupliren,  tripliren  vnd  quadrupliren, 
alfs  dan  klerlichen  aufsdi-ucken  Julius  frontinus  Unnd  auch  Jordanus  yn  den 
sechysten  beschlifs  seynes  i-echenbuchs. 


Johauues  Widuiami  und  die  Anfänge  einer  deutiselien  Algebra.  231 

waren,  etwa  3  oder  4  Centner  betrug.  Genau  stimmte  dieses  Soll 
an  Gewicht  kaum  jemals  mit  dem  wirklichen  Gewichte,  wie  es  beim 
Abwägen  der  vollen  Kiste  gefunden  wurde.  Zeigte  sich  so  das  wirk- 
liche Gewicht  etwa  um  5  Pfund  niedriger  oder  höher  als  die  erwar- 
teten 4  Centner,  so  habe  man  das  Gewicht  mit  Kreide  auf  die  Kiste 
gezeichnet,  das  eine  Mal  als  4C  —  5P,  das  andere  Mal  als  4  C  -f-  5  F. 
Weil  nämlich  der  Fall,  dass  die  Kiste  leichter  war,  häufiger  eintrat, 
sei  bei  ihm  das  einfachste  Beziehungszeichen  gewählt  worden,  ein 
kleiner  wagrechter  Strich,  das  Pluskreuz  sei  dann  dadurch  entstanden, 
dass  man  über  dem  wagrechten  Striche  ein  kleines  Unterscheidungs- 
merkmal anbringen  wollte.  Nun  ist  ja  richtig,  dass  im  Bamberger 
Rechenbuche  (S.  224)  das  Bruttogewicht  zum  Nettogewichte  gemacht 
wird,  indem  man  die  Verpackung  als  „das  3Iinns"  abzieht,  aber  von 
einem  Zeichen  dieses  Minus,  dem  dort  ein  Plus  nicht  gegenübersteht, 
noch  gegenüberstehen  kann,  ist  keine  Rede.  Wenn  vollends  behauptet 
wird,  -f~  ^^^  —  seien  überhaupt  zuerst  nur  Abkürzungen,  keine 
Operationszeichen  gewesen  und  hätten  diese  Bedeutung  erst  sehr  all- 
mälig  angenommen,  so  wird  man  sich  zur  Bestätigung  dieser  Aussage 
nicht  auf  Widmann  berufen  dürfen ;  dafür  giebt  der  Wortlaut  der 
Aufgabe  Zeugniss,  den  wir  oben  abgedruckt  haben,  und  der  das  deut- 
liche Bewusstsein  vorzunehmender  Rechnungsoperationen,  welche  durch 
-f-  und  —  ausgedrückt  sind,  an  den  Tag  legt.  Konnten  wir  diesem 
ersten  Erklärungsversuche  der  beiden  Zeichen  nicht  beipflichten,  so 
scheint  uns  ein  zweiter  nicht  vorzuziehen.  Dieser  leitet  den  Minus- 
strich aus  dem  Punkte  ab,  welchen  die  Inder  über  die  negative  Zahl 
setzten  (Bd.  I,  S.  580)  und  lässt  dann  das  Pluszeichen  durch  ein  hin- 
zutretendes Unterscheidungsstrichelchen  entstehen.  Von  einer  dritten 
Ableitung  soll  die  Rede  sein,  wenn  wir  mit  den  italienischen  Schrift- 
stellern unseres  Abschnittes  es  zu  thun  haben.  Sagten  wir  oben, 
Widmann  biete  kein  Zeugniss  dafür,  dass  -j-  und  —  ursprünglich 
Abkürzungen  gewesen  seien,  so  stehen  andere  Zeugnisse  dafür  zu 
Gebote.  In  nicht -mathematischen  Handschriften  vom  Anfange  des 
XIV.,  in  einer  mathematischen  Handschrift  vom  Anfange  des  XV.  Jahr- 
hunderts findet  sich  das  Wort  et  durch  ein  t,  dessen  senkrechter 
Strich  nach  links  oben  gekrümmt  war,  dargestellt,  etwa  so  ^.  Blieb 
das  Häkchen  oben  weg,  so  war  das  einfache  stehende  Kreuz  vorhan- 
den^).    Das  Minuszeichen   ist  vielleicht   dem  griechischen  oßskög  ver- 


^)  Le  Paige,  Sva-  Vorigine  de  certains  signes  d' Operations  {Memoire  lu  ä  la 
seanee  de  la  premiere  lertion  de  la  societe  scientifique  de  Bruxelles  le  28  Janvier 
1892. — "Wilh.  Schum,  Excmpla  codicum  Ämplonianorum  Erfiirtensium  saecuU 
IX— XIV  (Berlin  1882),  insbesondere  Tafel  XXXVI  (vom  Anfange  des  XIV.  Jahr- 
hunderts). 


232  'ii.  Kapitel. 

wandt  ^),  einem  Horizoutalstrichelclien,  dessen  alexandrinische  Gram- 
matiker sich  bedienten,  um  das  Wegfallen  des  Verses,  dem  eben  der 
Obelos  vorgezeictinet  war,  anzudeuten.  Von  den  Alexandrinern  ging 
das  Zeichen  zu  den  Römern  über.  Sueton,  später  Isidorus,  haben  es 
beschrieben. 

Wir  haben  der  zahlreichen  Namen  gedacht,  die  Widmann  als 
Ueberschrift  von  Aufgaben  gebraucht,  und  die  zugleich  den  Auf- 
lösungsregeln ihren  Namen  geben,  mögen  diese  auch  oft  nur  in  be- 
schränktester Weise  als  besondere  Regeln  gelten,  beziehungsweise  nur 
ein  Verfahren  für  viele  Beispiele  vorhanden  sein,  welches  nur  bald 
so,  bald  so  heisst,  je  nach  dem  Wortlaute  der  jedesmaligen  Aufgabe. 
Das  ist  indische  üebung  (Bd.  I,  S.  577),  aber  auch  italienische,  wie 
wir  an  einzelnen  Beispielen  bei  Leonardo  von  Pisa  gesehen  haben, 
wie  wir  an  solchen  in  beliebiger  Anzahl  hätten  hervorheben  können, 
wenn  wir  noch  weitschweifiger  in  der  Berichterstattung  über  seinen 
Abacus  hätten  sein  dürfen.  Gab  es  auch  arabische  Vermittlungs- 
schriften, welche  mit  dem  gleichen  Namenreichthum  prangten?  Wir 
dürfen  es  vermathen,  wenn  uns  auch  keine  bekannt  sind.  Oder  sollten 
wir  auf  byzantinischem  Boden  diese  Vermittlung  zu  suchen  haben? 
Wir  streifen  nur  diese  zur  Zeit  nicht  spruchreife  Frage.  Genug,  am 
Ende  des  XV.  Jahrhunderts  waren  die  mit  Namen  belegten  soge- 
nannten Regeln  aus  Italien  oder  über  Italien  nach  Deutschland  ge- 
drungen und  haben  in  Widmann's  Buche  einen  breiten  Platz  sich 
angeeignet. 

Da  findet  sich  die  Regula  pulchra  d.  i.  diejenige,  welche  wir 
oben  bei  der  Eier-  und  Pfennigaufgabe  wörtlich  mitgetheilt  haben. 
Da  giebt  es  eine  Regel  für  die  Aufgabe  vom  Löwen,  vom  Hunde 
und  vom  Wolfe,  welche  gemeinschaftlich  ein  Schaf  verzehren,  wozu 
der  Löwe  allein  1  Stunde,  der  Wolf  allein  4  Stunden,  der  Hund 
allein  6  Stunden  brauchen,  während  gefragt  wird,  in  welcher  Zeit 
sie  zusammen  fertig  werden.     Man  solle    1  mal  4  mal  6  zu  24  mul- 

tipliciren,  —-  mal  24,  -—  mal  24  und  -—  mal  24  zu  134  zusammen- 
addiren  und  jene  24  durch  diese  34  dividiren:  —  Stunden  macht  42 
niinnten  —  und  ist  die  Zeijt.     Wir  erwähnen  ferner  eine  Regula   in- 

ventionis,  fusti  (Bruttorechnung),  Ligar,  legis,  augmenti  et  decre- 
menti,   sententiarum   (unbestimmte  Aufgaben,   die   mehrere  Lösungen 


')  So  die  Meinung  von  H.  Zangemeister.  Vergl.  C.  Suetoni  Tran- 
quilli  praeter  Caesarum  Ubros  Jieliquiae  (ed.  Aug.  Reifferscheid.  Leipzig  1860) 
pag.  137 — 138. 


Johannes  Widmann  und  die  Anfänge  einer  deutschen  Algebra.         233 

/Allassen),  bona^  pluriina  u.  s.  w.     Die  Regula  pagamenti  verdient, 
dass  wir  bei  ihr  etwas  verweilen. 

Die  Aufgabe  lautet  wie  folgt:  Eyner  gent  su  ivyen  yn  eyn  tvechfsel- 
panch  und  hat  30  \  Nurmherger  alfso  sprechen  su  dem  wechfsler  liher 
ivechfsel  mir  die  30  A  vnd  gieh  mir  wiener  dafür  als  vil  sy  dan  ivert 
seyn  also  weifs  der  ivechfsler  nicht  wie  vil  er  ym  tviener  fsol  geben 
vnd  hegert  der  muncs  underrichtung.  Also  untterweyst  yenner  de 
wechfsler  vnd  spricht  7  wyener  gelten  9  lincser  and  8  lincser  gelten 
11  passawer  vnd  12  passawer  gelten  13  vilfshofer  vnd  15  vilfshofer 
gelten  10  regensperger  vnd  8  regensperger  gelten  18  neumercker  und 
5  neumercl'er  gelten  4  nurmherger  wie  viel  himmen  tviener  umh  30 
nurmbr.  Wiltu  dz  ivissen  vnd  alles  des  gleichen.  Secz  die  Figur  gleich 
tvie  die  do  stet 

7     9     12     13     8     18     30 
\   X     X     X     X     X 

8     11    15    10     5     4 
Un  nmltiplicir  in  Tireucz  durchaufs  auf  2  teyl  vnd  dividir. 

Darnach  kommt  ii  .  13  .  lo  ■  is  •  4"  ^^  "'^^I^  mittels  des  genau 
gleichen  Ansatzes,  den  wir  (S.  14  flgg.)  bei  Leonardo  von  Pisa  aus 
dem  Satze  des  Menelaos  haben  entstehen  sehen,  indem  die  Anzahl  der 
zu  vereinigenden  Verhältnisse  sich  beliebig  vermehren  durfte.  Wie 
der  Text  der  Aufgabe  auf  kaufmännische  Beziehungen  hinweist,  ist 
uns  die  Auflösung  ein  sicheres  Kennzeichen  dafür,  dass  es  italienische 
Kaufleute  waren,  von  welchen  Widmaun  hier  unmittelbar  oder  mittel- 
bar gelernt  hat,  denn  das  Bamberger  Rechenbuch  war,  wie  unser 
Auszug  desselben  darthut,  an  dieser  Stelle  unmöglich  der  Ort,  woher 
Widmann  den  Kettensatz  bezog. 

Widmann  lehrt  mitunter  einer  und  derselben  Gattung  von  Auf- 
gaben auf  zwei  Arten  beikommen,  ohne  dass  er  auf  die  Ueberein- 
stimmung  zwischen  den  Aufgaben  selbst  irgend  hinweist.  Es  ist 
dieses  am  deutlichsten  bei  unreinen  quadratischen  Gleichungen  be- 
merkt worden.  Eyner  leycht  dem  Ändern  25  fl.  2  Jar  umh  gewin. 
Xii  wen  die  2  iar  vergangen  seyn  fso  gieht  yenner  dem  ivider  seyn 
Hauptsum  vnd  für  gewin  vnd  gewinfs  gwin  gieht  er  ym  24  fl.  Nu  ist 
die  frag.      Wie   viel   haben   die   25  fl.   gewunnen   in   dem    ersten  jar. 

Heisst  X  jener  Jahreszins,  so   ist   — ~ —  mal  x   der  Jahreszins    des 

zweiten  Jahres,  und  es  muss  sein  x  -\-  - — 7"        =  24,  x^  +  50a;  =  600, 
;  I  25  '  '  ' 

X  =  |/25  •  24  +  252  —  25.      Widmann    bildet    die    Gleichung    nicht, 

sondern    giebt    die    Regula    lucri,    unter    hierum  =  Gewinn    hier 

Zins  verstehend.     Multiplicir    die  hauptsum    yn   den    gewin   darnach 


234  54.  Kapitel. 

multiplicir  dy  JMuptsum  in  sich  selbst  quadrate  Und  addir  das  produd 
zu  dem  ersten  product  Und  die  tvurtzel  der  (jansen  sum  so  du  davon 
suhtrahirest  dy  hauptsmn  hericht  den  geivin  der  licmptsmn  Und  Ist 
Becht.  Das  hindert  ihn  aber  keineswegs,  ein  anderes  Mal  für  eine 
Aufgabe,  welche  wieder  die  Gleichungsform  x^  -^  ax  =  h  entstehen 
lässt,  die  Regula  excessus  in  Anspruch  zu  nehmen.  Also  soltu 
pirocedirn  in  dieser  Regl-  Midtiplicir  der  vhertretung  das  halbe  teyl 
in  sich  selbst  vnd  das  product  addir  zu  der  Hauptsum.  Darnach 
nym  radicem  quadratam  des  selbige  aggregates  vnd  davon  subtrahir 
das  halbe  teyl  der  vntterscheyd  oder  vbertretung  vnd  das  vberig  ist  die 
kleiner  zal.  zu  ivelicher  so  du  addirest  die  vbertretung  erwechst  auch 
die  grofser. 

Hat  Widmanu  wirklich  selbst  nicht  bemerkt,  dass  er  so  zwei 
Mal  unter  zwei  verschiedenen  Namen  das  gleiche  Verfahren  lehrte? 
Man  sollte  es  für  undenkbar  halten,  insbesondere  da  er  gewusst  hat, 
dass  es  die  Regel  Algobre  oder  Gosse  genannt  gebe,  da  er 
ferner  von  der  Regel  des  dop^jelteu  falschen  Ansatzes  Ge- 
brauch zu  machen  lehrte,  indem  er  seine  Anweisung  dazu  mit  den 
Worten  eröffnete:  Nu  soltu  tvissen  das  Regula  falsi  ist  eyn  Regel 
durch  tvelche  man  aller  Regel  (hint  an  gesaczt  Regiüam  Cosse)  macJien 
mag.  Das  Wissen  Widmann's  wird  uns  noch  bestätigt  durch  die 
Thatsache,  dass  er  Vorlesungen  über  Algebra  gehalten  hat.  Also 
trotz  bessern  Wissens  scheint  er  der  Neigung  der  Zeit,  sich  in  recht 
vielen  Regeln  zu  ergehen  und  durch  Namenreichthum  die  Gedanken- 
armuth  zn  verhüllen,  sich  gefügt  zu  haben.  Wir  kommen  auf  die 
Algebra  zurück,  wollen  aber  vorher  den  Bericht  über  das  Widmann- 
sche  Buch  zu  Ende  führen,  dessen  letzte  Abtbeilung  noch  unserer 
Besprechung  harrt. 

Die  dritte  Abtheilung  handelt  von  Geometrie  und  beruft 
sich,  wie  schon  gesagt  worden  ist,  auf  Julius  Frontinus.  Wir 
haben  wiederholt  geometrische  Lehren  auftreten  sehen,  wenn  auch 
deren  Umfang  nicht  an  den  der  Schriften  über  die  Rechenkunst  her- 
anreicht. Wir  haben  gesehen ,  dass  es  wesentlich  um  griechisch- 
arabische Geometrie  dabei  sich  handelte,  dass  Euklidübersetzungen 
und  Erläuterungen  dazu  den  Grundstock  geometrischen  Wissens  liefer- 
ten, neben  welchem  Einiges  über  Kreisquadratur  in  Abhängigkeit 
von  Archimed,  daneben  Trigonometrisches,  in  einem  Falle  auch  etwas 
Feldmessung  geübt  wurde.  Eine  Abhängigkeit  von  römischer 
Feldmesskunst  ist  uns  seit  dem  Anfange  des  XIII.  Jahrhun- 
derts nicht  wieder  begegnet.  Bei  der  gegenwärtig  immer  noch 
grossen  Lückenhaftigkeit  unseres  Wissens  ist  es  gewagt,  allgemeine 
Theorien   aufzustellen.     Neu   nutzbar  gemachte  Handschriften  können 


Johannes  Witlmann  und  die  Anfänge  einer  deutschen  Algebra.         235 

die  schönsten  Begründungen  über  den  Hänfen  werfen,  wenn  auch 
eine  deutsche  Geometrie  von  1477  in  der  Münchner  Bibliothek^)  sich 
nur  als  Uebersetzung  der  Schrift  des  Robertus  Anglicus  herausgestellt 
luit;  aber  es  will  scheinen,  als  habe  man  in  den  etwa  zweiundeinhalb 
Jahrhunderten  von  1200  bis  nach  1450  so  unbedingt  unter  dem  Ein- 
tlusse  griechisch- arabisch -lateinischer  Geometrie  gestanden,  dass  man 
anderes  Wissen  nicht  aufsuchte.  Die  Zeit  des  beginnenden  Humanis- 
mus brachte  Aenderung.  Wenn  Georg  von  Peurbach  in  Wien  Vor- 
lesungen über  lateinische  Dichter  hielt  (S.  180),  so  musste  das  er- 
wachte Bewusstsein,  dass  römische  Schriftsteller,  gleichwie  die  grie- 
chischen, Dinge  hinterlassen  hatten,  die  es  verdienten  gelesen  zu 
werden,  und  die  vermöge  der  erhaltenen  Kenntniss  der  Sprache  auch 
verhältnissmässig  leicht  zu  lesen  waren,  eine  Wissbegier  erregen,  die 
zur  Neugier  anwuchs.  Jetzt  mussten  die  agrimensori sehen  Hand- 
schriften, wo  sich  etwa  solche  vorfinden  mochten,  gesucht  und  stu- 
dirt  werden,  jetzt  musste  bei  der  verhältnissmässig  viel  geringeren 
Beschäftigung  mit  Geometrie  als  mit  den  rechnerischen  Theilen  der 
Mathematik  prüfungslose  Aufnahme  finden,  was  bei  jenen  römischen 
Feldmessern  sich  vorfand,  mochte  es  auch  Widersprüche  gegen  aus 
griechisch-arabischen  Quellen  Bekanntes  darbieten.  Gewissenhaft  ver- 
einigte  man   beides,    ohne   die  Widersprüche   auch   nur  zu  bemerken. 

Wir  haben  uns  die  hier  entwickelte  Meinung  zum  nicht  geringen 
Theile  an  dem  Widmann'schen  Buche  gebildet,  kein  Wunder,  wenn 
es  dieselbe  lediglich  bestätigt.  Der  Name  Hdnmaym  für  den  Rhombus, 
Hehnuaripha  für  das  Trapez  lassen  sofort  den  Leser  der  Euklidaus- 
gabe des  Campanus  erkennen,  für  das  Meiste  aber,  was  im  geome- 
metrischen  Abschnitte  des  Widmann'schen  Buches  sich  der  Aufmerksam- 
keit aufdrängt,  ist  die  römische  Quelle  verantwortlich  zu  machen. 

Da  findet  sich  die  Ausrechnung  der  Fläche  des  gleichseitigen 
Dreiecks  als  Dreieckszahl,  die  sonstiger  Vielecke  als  Vieleckszahl. 
Es  findet  sich  die  Fläche  des  Vierecks  als  Product  der  halben  Sum- 
men einander  gegenüberliegender  Seiten.  Es  findet  sich  aber  auch 
der  Durchmesser  des  Innenkreises  eines  rechtwinkligen  Dreiecks  als 
Unterschied  der  Kathetensumme  und  der  Hypotenuse,  die  heronische 
Formel  für  die  Dreiecksfläche  aus  den  drei  Seiten  geprüft  an  dem 
Dreiecke  von  den  Seiten  13,  14,  15.  Es  finden  sich  die  Abschnitte, 
welche  die  Höhe  eines  Dreiecks  auf  der  Grundlinie  bildet.  Es  findet 
sich  ausserdem  eine  Berechnung  des  Halbmessers   des  Umkreises   des 


^)  Cod.  Germern.  Nr.  328  Blatt  62—73.  Auf  diese  Handschrift  hat  schon 
Max.  Curtze  Zeitschr.  Math.  Phjs.  XX,  Histor.-liter.  Abthlg.  S.  58  aufmerksam 
gemacht  und  sie  später  näher  untersucht. 


236  54.  Kapitel. 

Dreiecks  mittels  jener  Abschnitte  und  der  Höhe,  welche  darauf  hin- 
auskommt, dass  wenn  h  die  Höhe,  h  die  Grundlinie,  Z;  deren  kleineren 
Abschnitt  bedeutet, 


-V 


^''+\2         7  4    1.     h^ 


2h  /    +    4. 

sein  muss.  Diese  Formel  kennen  wir  bei  keinem  einzigen  anderen 
Schriftsteller!  Entweder  war  sie  in  dem  Werke  des  Frontinus  ent- 
halten, welches,  nachdem  Widmann  es  benutzt  hatte,  spurlos  verloren 
gegangen  ist,  oder  sie  war  Eigenthum  Widmann 's,  was  man  nicht 
als  ein  Ding  der  Unmöglichkeit  betrachten  darf,  nachdem  es  gelungen 
ist^),  die  Formel  genau  in  der  von  Widmann  benutzten  Gestalt  so 
abzuleiten,    dass  nur   einfachste  Vorkenntnisse    vorausgesetzt  werden. 

Sei  (Fig.  37)  AC=h,  ÄD=^,  ÄE  =  Je, 

BE  =  h,     OC=OB  =  r.      Aus    A  OCD 


ergiebt  sich  sofort  r  =  y  0D'^-\--.-,  mithin 
ist  nur  noch  OD  zu  finden,  welches  kürzer  s 
heissen  mag.     Neben  r''^  —  s^  =     -   ist   aber 

o  4 

noch  eine  Gleichung  bekannt.  FE=  OD=^s, 
BF=h  —  6,  OF=DE  =  ^  —  h,  mithin  im  A BFO   auch 


beziehungsweise  r^  —  s^  =  Ib^  ~^"  (v  —  ^    —  ^^^^  ^^^  durch  Gleich- 
setzunff  der  beiden  Werthe  für  r^  —  s^  endlich 


■'+a 


"    ')"-^ 


"  2li 

was  zu  finden  war. 

Gleichfalls  neu,  mithin  den  Zweifel  anregend,  ob  Römisches  oder 
von  Widmann  Beigefügtes  vorliege,  sind  die  Aufgaben,  die  Seiten 
eines  Quadrates  und  eines  gleichseitigen  Dreiecks  aufzufinden,  welche 
beide  in  einen  Halbkreis  eingezeichnet  sind.  Was  die  geometrischen 
Kunstausdrücke  betrifl't,  so  ist  immerhin  bemerkenswerth,  dass  das 
römische  coraiistus  (Bd.  I,  S.  516)  bei  Widmann  nicht  vorkommt'^). 
Fundus  ist  ein  Mein  Ding,  das  nit  mi  tlieilen  ist.  —  Anguliis  ist  ein 


^)  Die  Herleitung  rührt  von  H.  Ad.  Lorsch,  einem  früheren  Zuhörer  unserer 
Vorlesungen  über  Geschichte  der  Mathematik,  her.  ^)  D robisch.  I.e.  pag.  30 
Note  **. 


Johannes  Widmann  und  die  Anfänge  einer  deutschen  Algebra.  237 

WinJccl  der  da  gemacht  ist  von  ziveien  Linien.  Man  unterscheidet 
gescherjfte  (spitze)  und  tceyte  (stumpfe)  Winkel.  Bas  centrmn  das 
ist  die  sali  die  do  ist  von  centruz  hifs  in  ivinchel  u.  s.  w.  Das  sind 
einige  von  den  vorkommenden  Erklärungen.  Das  wichtigste  geschicht- 
liche Ei-gebniss  der  dritten  Abtheilung  wird  unbedingt  darin  be- 
stehen, dass  sie  so  gut  wie  ausser  Zweifel  setzt,  dass  das  feldmesserische 
Werk  des  Frontinus,  welches  im  XII.  und  XIII.  Jahrhunderte  benutzt 
wurde  (Bd.  I,  S.  512 — 513),  auch  am  Ende  des  XV.  Jahrhunderts  noch 
vorhanden  gewesen  sein  muss,  um  von  Widmann  als  Quelle  genannt 
werden  zu  können. 

Ungefähr  um  die  Zeit  Widmann's  ist  ferner  das  Vorhandensein 
des  ersten  Visierbüchleins  nachweisbar,  gedruckt  1487  unter  dem 
TiteP)  ein  FisierhücJdein  auf  allerhand  Eich  verfasst  von  Hanns 
Brief  maier  aus  Nürnberg,  der  1487  seinen  Wohnsitz  und  eine 
Druckerwerkstätte  nach  Bamberg,  noch  später  nach  Erfurt  verlegte. 
Als  Namen  des  Verfassers  wird  neben  Briefmaler  auch  Hanns  Buch- 
drucker und  Hanns  Sporer  angegeben,  welche  demnach  alle  drei 
die  gleiche  Persönlichkeit  bezeichnen.  Visierkunst  heisst  von  dieser 
Zeit  an  die  Lösung  der  Aufgabe,  den  Rauminhalt  eines  Fasses  zu 
finden,  welches  entweder  ganz  oder  theilweise  mit  Flüssigkeit  ange- 
füllt ist.  Man  bediente  sich  dazu  der  Visierruthe,  welche  durch 
das  Spundloch  des  Fasses  eingeführt  wurde  und  die  Tiefe  zu  messen 
gestattete,  bei  welcher  der  Flüssigkeitsspiegel  sich  befand,  worauf 
man  nach  erfahrungsmässig  hergestellten,  oder  aus  einfachsten  An- 
nahmen über  die  als  Cjlinder  betrachtete  Fassgestalt  abgeleiteten 
Regeln  den  Inhalt  bestimmte. 

Vielleicht  gehören  der  gleichen  Zeit  Schriften  an,  welche  sich  in 
Münchner  Handschriften  des  XV.  Jahrhunderts  erhalten  haben:  der 
Liber  theoreumacie  in  Cod.  lat.  Mon.  14684  und  die  Geometria 
arithmeticalis  in  Cod.  lat.  Mon.  14783,  welche  letztere  allerdings 
nur  in  einer  Ineinanderschiebung  des  erstgenannten  Buches  und  der 
Gerbert'schen  Geometrie  besteht-).  Der  Liber  theoreumacie^)  lässt 
auf  einen  kurz  gefassten  Algorismus  geometrische  Lehren  folgen: 
Theilung  einer  Strecke  nach  vorgeschriebenem  Verhältnisse,  gleich- 
seitiges Dreieck,  Peripheriewinkel  im  Halbkreise,  Bestimmung  eines 
verloren  gegangenen  Kreismittelpunktes,  Berechnung  des  Rechtecks 
und  des  Kreisinhaltes,  Kubatur  der  Kugel,  Fassberechnung,  einfache 
stereometrische  Formen.  An  diese  geometrische  Abtheilung  schliesst 
sich  Weniges  über  Musik  und  Astronomie. 


')  Günther,  Unterricht  Mittel  a.  S  .'329.     ^)  Curtze  brieflich.     ^)  Günther, 
Unterricht  Mittela.  S.  128—129. 


238  54.  Kapitel. 

Wir  haben  (S.  234)  auch  zugesagt,  auf  das  algebraische  Wissen 
zurückzukommen,  welches,  wenn  auch  im  geringen  Maasse,  in  Wid- 
mann's  Rechenbuche  sich  verrieth.  Wie  stand  es  in  Deutschland  um 
diesen  Wissenszweig?  Zwei  Quellen  waren  ja  auch  hier,  genau  so 
wie  bei  der  Rechenkunst,  vorhanden,  aus  welchen  die  Kenntniss  der 
Gleichungen  und  ihrer  Auflösung  nach  Deutschland  abfliessen  konnten. 
Die  Schrift  des  Jordanus  De  numeris  datis  ist  heute  noch  in 
deutschen  Handschriftensammlungen  vorhanden;  sie  hat  gewiss  nie 
gänzlich  aufgehört  gelesen  zu  werden,  so  selten  sie  auch  verstanden 
worden  sein  mag.  Am  Ersten  dürfte  das  noch  innerhalb  des  Domini- 
cauerordens  der  Fall  gewesen  sein,  wo  es  gewiss  nahe  lag,  die  Er- 
innerung au  eines  der  berühmtesten  Mitglieder  wach  zu  erhalten,  und 
so  ist  es  gewiss  kein  Zufall,  wenn  schon  vor  1471  ein  Bruder 
Aquinus  oder  Aquinas  vom  Predigerorden  genannt  wird^),  der 
in  Deutschland  reiste  und  bald  da  bald  dort  für  Geld  lehrte,  wie 
man  Gleichungen  auflöse.  Dieser  Mönch  wird  bald  als  Däne  (Dacus), 
bald  als  Schwabe  bezeichnet.  Er  lebte  1489  in  Bayern.  Ein  damals 
dorthin  an  Aquinus  gerichteter  Brief  aus  Mailand  ist  noch  vorhanden. 
Der  Inhalt  verräth  dieses  Schreiben  als  eines  unter  zahlreichen,  in 
welchen  die  Briefsteller  sich  gegenseitig  mathematische  Aufgaben 
vorlegten.  In  dem  erhaltenen  Briefe  sollen  die  Aufgaben  ausschliess- 
lich der  Geometrie  angehören.  Noch  aus  dem  Jahre  1494  wird  in 
einer  Ordensquelle  über  Bruder  Aquinus  berichtet,  dass  er  damals  bei 
Otto  von  Bayern  gelebt  habe  und  sich  durch  Geist  und  feine  Bildung 
sowie  durch  Wissenschaftlichkeit  auszeichnete.  Dass  aber,  um  zu 
der  anderen  Quelle  überzugehen,  der  italienische  Kaufmann  das 
algebraische  Erbtheil  des  Leonardo  bewahrte,  wissen  wir  nicht  minder. 
Dass  durch  ihn  Theile  davon  nach  Deutschland,  nach  Frankreich, 
nach  England,  überallhin  wo  italienische  Handelsniederlassungen 
waren,  oder  von  wo  man  regelmässig  um  des  Handels  willen  nach 
Italien  zog,  gelangen  konnten,  das  steht  nicht  minder  ausser  allem 
Zweifel.  Es  fragt  sich  nur,  wann  und  von  welcher  Seite  her  das 
Wissen  einiger  Wenigen  sich  zu  verallgemeinern  begann,  und  ob  man 
im  Stande  ist,  eine  oder  die  andere  Persönlichkeit  zu  nennen,  welcher 
hier  hervorragende  Verdienste  zukommen. 

Die  älteste  Spur  deutscher  Algebra  aus  dem  Jahre  1461 
ist  in  einer  münchener  Handschrift  enthalten.  Es  ist  ein  Sammel- 
band ^),  welcher  theils  in  lateinischer,  theils  in  deutscher  Sprache  die 


')  Gerhardt,  Math.  Deutschi.  S.  48  Note  1.  ^)   Die   müuchner  Hand- 

schrift Nr.  14908  aus  St.  Emmeran  ist  durch  Gerhardt  in  den  Monatsberichten 
der    Berliner    Akademie    1870   S.  141  —  143    beschrieben.      C.  J.  Gerhardt    hat 


Johannes  Widmann  und  die  Anfänge  einer  deutsclien  Algebra.  239 

Summe  des  damals  in  Deutschland  vorhandenen  mathematischen 
Wissens  enthält.  Der  Algorismus  proportionum  des  Oresme  fehlt 
darin  so  wenig  als  die  Geometrie  des  Bradwardinus.  Die  geometrischen 
Schriften  des  Nicolaus  Cusanus  sind  mit  der  Geometria  practica 
cum  figuris  des  Domiuicus  de  Clavasio  vereinigt.  In  lateinischer 
Sprache  ist  eine,  wie  es  scheint,  vollständige  Bruchrechnung  (Addition, 
Subtraction,  Verdoppelung,  Halbirung,  Multiplication,  Division,  Aus- 
ziehung von  Quadrat-  und  Kubikwurzeln)  gelehrt.  Wir  dürfen  wohl, 
ohne  Zweifel  zu  begegnen,  annehmen,  diese  Schriften  insgesammt 
stammen  aus  eigentlichen  Gelehrtenkreisen.  Nun  kommt  aber  die 
höchst  auffallende  Erscheinung,  dass  zwischen  jene  Schriften  hinein 
Abhandlungen  in  deutscher  Sprache  fallen,  wenn  auch  selbst  wieder 
lateinisch  untermischt.  Der  Schreiber,  vielleicht  der  Verfasser  der 
Abhandlungen  nennt  sich  Frater  Fridericus  Ordinis  S.  Bene- 
dicti  professas  Monasterii  St.  Emmerani  Ratisponensis,  und 
die  Jahreszahlen,  durch  welche  er  die  Vollendung  einzelner  Abschnitte 
bezeugt,  reichen  von  1455  bis  1464.  Der  Inhalt  stimmt  einigermassen 
mit  Widmann's  Rechenbuche  überein.  Arithmetisches  von  graden 
und  ungraden  sowie  von  vollkommenen  Zahlen  macht  den  Anfang. 
Daran  schliessen  sich  Progressionen,  die  Regula  falsi,  eine  Menge 
einzelbenannter  Regeln,  wie  die  aurea  Regula  vel  de  tre  mit  theils 
deutschen,  theils  lateinischen  Beispielen,  die  Regula  ligar,  die  Conversa 
regula  de  tre.  De  societatibus  aenigmata  u.  s.  w. 

In  diesem  Zusammenhange  erscheint  das  vorerwähnte  deutsche 
Stück  Algebra  mit  der  Jahreszahl  1461,  welches  im  Abdrucke  33  Zeilen 
lang  ist.  Der  Anfang  lautet:  Machmet  in  dem  puech  algebra  und 
almalcohula  hat  gepruchet  diese  Wort  census,  radix,  numerus.  Census 
ist  ain  yede  zal  die  in  sich  selb  multiplicirt  ivirt,  das  ist  numerus 
quadratus.  Radix  ist  die  wurtz  der  zal  oder  des  zins.  Numerus  ist 
ain  zal  für  sich  selb  gemercket,  nit  alz  sie  ain  zins  oder  ain  wurtz  ist. 
Diese  ersten  Sätze  zeigen  deutlieh,  dass  ein  Auszug  aus  der  Algebra 
des  Alchwarizmi  vorliegt,  und  die  sechs  Gleichungsformen,  welche 
dann  nachfolgend  beschrieben  sind,  das  Zahlenbeispiel 

x^  -{-  10:2;  =  39 
(Bd.  I,  S.  676 — 678)  bestätigen  den  Ursprung.    Eines  leider  lässt  sich 

überhaupt  sehr  erfolgreiche  Forschungen  über  die  Verbreitung  der  Algebra  in 
Deutschland  angestellt.  Berl.  Monatsber.  Akad.  1867,  S.  38  ügg.  und  1870 
S.  141  ügg.  Kaum  minder  wichtig  ist  Wappler,  Zur  Geschichte  der  deutschen 
Algebra  im  XV.  Jahrhundert  (Zwickauer  Gymnasialprogramm  von  1887).  Ab- 
schliessend ist  die  Abhandlung:  Curtze,  Ein  Beitrag  zur  Geschichte  der  Algebra 
in  Deutschland  im  XV.  Jahrhunderte.  Zeitschr.  Math.  Phys.  XL,  Supplementheft 
S.  31  —  74. 


240  54.  Kapitel. 

dem  Bruchstücke  nicht  entnehmen,  was  grade  das  Wichtigste  wäre: 
auf  welche  Weise  der  Verfasser  selbst  zu  seinem  Wissen 
kam.  Hat  er  nur  ein  arabisches  Original  vor  sich  gehabt?  Schwer- 
lich: denn  wie  hätte  er  sonst  genau  zu  den  gleichen  Wortformen 
census,  radix,  numerus  kommen  wollen,  welche  von  nichtdeutschen 
Bearbeitern  gebraucht  wurden.  Hat  er  eine  lateinische  Uebersetzung, 
etwa  die  des  Gerhard  von  Cremona  (Bd.  I,  S.  854)  benutzt,  oder  hat 
er  unmittelbar  oder  mittelbar  Leonardo's  Abacus  gekannt,  welchem 
er  (S.  34)  genau  das  Gleiche  entnehmen  konnte?  Darauf  kommt  es 
uns  an  Auskunft  zu  erhalten,  und  darauf  bleibt  die  münchner  Hand- 
schrift die  Antwort  schuldig.  Aber  nicht  genug  der  Räthsel!  Nur 
vier  Seiten  weiter  folgt,  aber  nicht  von  Frater  Fridericus  geschrieben, 
Begiile  delacose  secimdum  6  capitula,  Algebraisches  von  unzweifelhaft 
italienischem  Ursprünge,  wie  die  vorkommenden  Kunstausdrücke 
numerus,  cosa,  censo,  cubo,  censo  di  censo,  cubo  di  cubo  beweisen, 
deren  beide  erste  deutsch  durch  zal  und  ding  übersetzt  sind.  Ent- 
sprechend der  Verbindung  das  Ding  heisst  die  Unbekannte  manch- 
mal auch  das  cosa.  Censo  di  censo  ist  die  4.,  cuho  di  cubo  die 
6.  Potenz  der  Unbekannten,  deren  Exponent  6  =  3  -f-  3  durch  Addi- 
tion der  beiden  in  ihrer  Wortbezeichnung  vorkommenden  Bestand- 
theile  gebildet  ist.  Von  dem  anonymen  Schreiber  oder  Verfasser  der 
Regule  delacose  sind  in  dem  Sammelbande  auch  zwei  Abhandlungen 
über  den  doppelten  falschen  Ansatz  vorhanden.  In  einem  Beispiele 
zu  der  Algebra  des  Frater  Fridericus,  welches  auf  4:dx-{-  AI  =  ^9y  -\-  33 
=  35^  +  25  =  31?( -[-  1^  hinausläuft,  ist  die  Regel  Ta  yen  an- 
gewandt^). 

Eine  wiener  Handschrift")  besitzt  die  Ueberschrift  Regule  Cose 
vel  Algobre  und  weist  durch  den  ersteren  Namen  nach  Italien 
hinüber.  Es  ist  nur  bedauerlich,  dass  auch  dieser  Handschrift,  weil 
erst  dem  XVI.  Jahrhunderte  entstammend,  eine  Beweiskraft  nicht 
innewohnt,  und  so  dürfte  die  Widmann'sche  Stelle  von  der  Regel 
Älgebre  oder  Gösse  (S.  234)  die  älteste  sein,  welche  als  Zeugniss  dafür 
betrachtet  werden  kann,  dass  der  Verfasser  wusste,  dass  in  Italien, 
wohin  allein  das  Wort  Gosse  verweisen  kann,  die  Kunst  der  Algebi-a 
in  Uebung  war. 


^)  Curtze  1.  c.  S.  64—66  in  den  Fussnoten.  -)  Die  Handschrift  findet 
sich  in  einem  Bande  Nr.  5277  und  ist  von  Gerhardt  Berl.  Mouatsber.  Akad. 
1867  S.  46  und  1870  S.  143  dem  XV.  Jahrhundert  zugeschrieben.  In  dem  1870 
gedruckten  Kataloge  der  Wiener  Handschriften  ist  sie  dagegen  füi-  das  XVI.  Jahr- 
hundert in  Anspruch  genommen,  und  Wappler  hat  (1.  c.  S.  3  Note  2)  dieses 
bestätigt. 


Johannes  Widmann  und  die  Anfänge  einer  deutschen  Algebra.  241 

Widmann  selbst  benutzte,  wie  nachgewiesen  worden  ist^),  einen 
Band  Handschriften,  welcher  auf  den  heutigen  Tag  in  der  Dresdener 
Bibliothek  vorhanden  ist,  und  in  welchem  verschiedene  algebraische 
Abhandlungen  vereinigt  sind.  Eine  derselben  ist  deutsch  und  beginnt 
mit  den  Worten-):  MeijstcrUclie  lainst,  äafs  ist  meysterlich  zu  ivissen 
rcclumng  zu  machen  von  Den  meysteren,  Dy  do  gesogen  sind  aus 
Czehrcyeu.  Was  ist  unter  diesen  Worten  zu  verstehen?  Jedenfalls 
scheint  die  Meinung  dahin  zu  gehen,  die  Quelle  der  algebraischen 
Lehren  sei  Czebreyn,  aber  was  bedeutet  dieser  Ausdruck?  Ist  es  der 
Name  eines  vermutheten  Erfinders,  oder  der  eines  Werkes?  Sollte 
etwa  der  Doppelname  der  Algebra  „Aldschebr  walmukäbala"  (Bd.  I, 
S.  676)  durch  den  ersten  allein  ersetzt  sein,  der  dafür  die  Dualforra 
annahm,  was  arabischem  Sprachgebrauche  ganz  angemessen  ist^),  so 
dass  alsdann  unter  Verlust  des  Artikels  dschebrain  zu  Czebreyn 
wurde? 

So  zweifelhaft  die  Erklärung  der  ersten  Worte  ist,  so  unzweifel- 
haft ist  die  Bedeutung  des  sich  daran  Anschliessenden.  Denn  synt 
6  capitell  geformet,  aufs  den  6  capitelen  dy  24  capiffell,  mag  man 
machen  alle  gemeyen  reclmimg,  sint  diircJt,  eyn  capitteU  zu  machen  ge- 
ivifslich.  D.  h.  man  hat  G  Fälle,  beziehungsweise  6  Gleichungsformen 
zu  unterscheiden,  welche  sich  zu  24  Formen  erweitern  lassen,  und 
in  eine  dieser  Formen,  der  6  ursprünglichen  oder  der  18  hinzu- 
tretenden, passt  jede  auflösbare  Gleichung.  Die  24  Kapitel  oder 
Fälle,  welche  von  nun  an  geraume  Zeit  in  allen  algebraischen  Schrif- 
ten erscheinen,  zerfallen  somit  von  selbst  in  2  Gruppen  von  6  und  18 
und  in  der  Handschrift  sind  es  folgende,  wenn  wir  sie  in  die  heute 
übliche  Form  kleiden. 

I. 

\.  ax  =  h  2.  ax^  =  h 

3.  ax^  =  hx  4.  ax'^  -\-hx  =  c 

5.  ax"^  -\-  c  =  hx  6.  ax^  =  hx  -\-  c. 

n. 

1.  ax^  =  hx^  2.  ax^  =  hx^ 

3.  ax^  =  hx  4.  ax^  ^=  h 

5.  ax^  =  hx^  6.  ax^  =  hx 


^)  Wappler  1.  c.  S.  9 — 10.  Der  Handschriftenband  Widmann's  ist  in  der 
Dresdener  Bibliothek  mit  C  80  bezeichnet.  ^)  Wappler  1.  c.  S.  4.  Wir  haben 
beim  Abdrucke  die  Rechtschreibung  unverändert  gelassen,  aber  zur  Erleichterung 
des  Verständnisses  Satzzeichen  eingeschoben.  ^)  So  die  Meinung  unseres  ver- 
ehrten, der  Wissenschaft  allzufrüh  entrissenen  Freundes  H.  Thor b ecke. 

Cantor,  Goschichto  der  Mathem.    II.     2.  Aufl.  16 


242  54.  Kapitel. 

7.  ax^  =  b  8.  ax^  +  hx^  =  ex 

9.  ax^  =  bx^  -\-  ex  10.  ax^  -\-  ex  ^  hx^ 

11.  ax^  =  bx^  +  cx^  12.  a^-^  +  bx^  =  ex"- 

13.  aa^  +  ca;2  =  ft^c^  14.  aa;^  _  ^y^ 

15.  ax^  =  Ybx  16.  «x'^  +  bx^  =  c 

17.  ax^  +  e  =  bx^  18.  a;^;^  =  bx"-  +  c. 

Wir  erkennen  darin  Folgendes:  Man  war  im  Stande  Gleichungen 
1.  und  2.  Grades  unbedingt  aufzulösen,  Gleichungen  .3.  und  4.  Grades, 
sofern  sie  reine  Gleichungen  waren,  oder  durch  Divisionen  auf  qua- 
dratische Gleichungen  sich  zurückführen  liessen,  oder  endlich  diese 
Zurückführung  dadurch  gestatteten,  dass  man  das  Quadrat  der  Un- 
bekannten als  neue  Unbekannte  betrachtete. 

Es  versteht  sich  von  selbst,  dass  die  24  Gleichungsformen  durch 
Worte  dargestellt  werden,  in  welchen  gewisse  Kunstausdrücke  eine 
wesentliche  Rolle  spielen:  zall,  dingk,  zensi,  chubi,  wurzeil  von 
der  wurzeil  bedeuten  der  Reihe  nach  die  Gleichungsconstante  und 
die  1.,  2.,  3.,  4.  Potenz  der  Unbekannten.  Nachträglich  sind  dann  für 
diese  fünf  Ausdrücke  ebensoviele  Zeichen  eingeführt: 
Sf,     S,     i,     chu,     tf  von  tf. 

Die  Multiplications-  und  Divisionsregeln  für  diese  Grössen  sind  ge- 
lehrt, in  welchen  das  Vervielfältigungswort  „mal"  regelmässig  stund 
heisst.  Ein  Additionszeichen  kommt  nicht  vor;  statt  dessen  ist  immer 
vnnd  gesagt.  Dagegen  erscheint  der  Subtractionsstrich  mit  der  Aus- 
sprache minner.  Die  Bedeutung  des  höchst  überraschenden  „wurzell 
von  der  wurzell",  wo  man  etwa  zensizensi  erwarten  sollte,  ist  durch 
die  Multiplications-  und  Divisionsregeln  sicher  gestellt. 

Einige  wenige  Beispiele  mögen  diese  Angaben  bestätigen :  „4  S 
minner  5  Sf  stund  2  8  minner  3  Sf  so  sprich  4  S  stund  2  S  macht  8  J. 
Nu  mach  3  Sf  stund  4  9  daz  ist  \2  S  minner  und  mach  5  Sf  stund  2  8 
daz  ist  10  8  minner  also  macht  es  alz  sammet  8 1  und  15  Sf  minner  22  5". 
Ferner  „8  stund  chu  macht  yJ(  von  tf"  sowie  „teyl  mir  tf  von  if 
durch  5  so  kumpt  l". 

Was  den  Ursprung  der  Zeichen  betriift,  so  sind  die  Anfangs- 
laute der  Wörter  Dingk,  Zensi,  Chubi  unverkennbar,  wozu  es  keinerlei 
Gegensatz  bildet,  dass  das  hier  Dingk  ausgesprochene  Zeichen  in 
anderen  Handschriften  als  regelmässige  Abkürzung  von  Denarius  auf- 
tritt. Dagegen  erscheint  das  Zeichen  für  Zall  und  das  für  Wurzell 
von  der  wurzell  räthselhaft.  Soll  das  erste  ein  r  sein?  das  würde 
aber  als  Anfangsbuchstabe  von  res  weit  eher  für  die  Unbekannte,  als 
für    die  Gleichungsconstante    passen.      Und    nun    vollends    das    letzte 


Johannes  "Widmann  und  die  Anfänge  einer  deutschen  Algebra.  243 

Zeichen  der  Verdoppelung  des  ersten  älinelud,  aber  doch  von  ihm 
unterscheidbar,  soll  es  auch  mit  r  als  Anfangsbuchstabe  von  radix 
in  Verbindung  zu  setzen  sein?  Wir  wissen  nicht  Bescheid  darüber. 
Nur  soviel  geht  aus  einer  Aufgabe  hervor,  dass  das  einfach  ge- 
schriebene tf  die  Bedeutung  Quadratwurzel  besitzt.     Die  Unbekannte 

2  3 

soll  nämlich  daraus  gefunden  werden,  dass  ^  derselben  mal  —  der- 
selben oder  —  ihres  Quadrates  20  betrage.  Das  Quadrat  ist  demnach 
40,  und  „\(  von  40"  ist  die  Unbekannte. 

Wie  wenig  Sicherheit  übrigens  in  der  Zeit,  als  die  Handschrift 
entstand,,  noch  in  der  Benutzung  der  Zeichen  obwaltete,  mag  daraus 
entnommen  werden,  dass  der  gleiche  Sammelband  eine  andere  lateinische 
Schrift  enthält,  welche  wesentlich  andere  Zeichen  benutzt,  während 
der  übrige  Inhalt  sich  nur  durch  grössere  Ausführlichkeit  von  dem 
der  deutschen  Algebra  unterscheidet^). 

0,  ^,  i,  ^,  ii 
sind  in  dieser  lateinischen  Algebra  die  Vertreter  der  oben  angeführten 
Zeichen.  Das  Zeichen  der  Unbekannten  und  ihrer  3.  Potenz  mag 
sich  als  d  und  c  deuten  lassen,  das  für  die  2.  und  4.  Potenz  der 
Unbekannten  ist  unzweifelhaft  ein  einmaliges  und  doppeltes  z;  aber 
das  Zeichen  für  die  Constante  macht  wieder  Schwierigkeit.  Sollte 
die  durchstrichene  Null  andeuten  wollen,  es  sei  ein  Zeichen  keiner 
Unbekannten?  Ausserdem  sind  in  der  lateinischen  Algebra  Zeichen 
für  Wurzelausziehung  ^)  hinzugekommen,  und  zwar  Pünktchen,  welche 
dem  Radicanden  vorgesetzt  werden.  Ein  Pünktchen  bedeutet  die 
Quadratwurzel,  zwei  die  Quadratwurzel  aus  der  Quadratwurzel,  drei 
die  Kubikwurzel,  vier  die  Kubikwurzel  aus  der  Kubikwurzel  in  offen- 
bar ziemlich  wenig  folgerichtiger  Anwendung.  Man  hat  den  Versuch 
gemacht^)  für  diese  Wurzelausziehungspünktchen  einen  arabischen 
Ursprung  wahrscheinlich  zu  machen.  Wir  wissen,  dass  bei  West- 
arabern, insbesondere  bei  einem  annähernden  Zeitgenossen  der  Schrift- 
steller, die  uns  hier  beschäftigen,  bei  Alkalsädi  (Bd.  I,  S.  765 — 766) 
gleichfalls  ein  Quadratwurzelzeichen  vorkam,  nämlich  der  über  dem 
Radicanden  stehende  Buchstabe  dschim  (Anfang  von  Dschidr=  Wur- 
zel). Bei  der  praktischen  Ausziehung  der  Quadratwurzel  benutzte 
alsdann  Alkalsädi  Pünktchen,  die  jeweils  über  die  grade  in  Betracht 
kommende  Radicandenstelle  gesetzt  wurden,  mithin  viele  Pünktchen 
nach  einander  bei  derselben  Quadratwurzelausziehung*).     Es  erscheint 

1)  Wappler  1.  c.  S.  11—30.  -)  Ebenda  S.  13  Note  1.         "")  Gerhardt 

in  den  Berl.  Monatsber.  Akad.  1870,  1.50—151.  ^)  Woepke,  Traduction  du 

traue  d'aritlmietique  d'Alml  Hasan  Ali  hen  Mohammed  Alcalsadi  in  den  Atti 
deir  Accademia  pontificia  de'  miovi  Lmcei  XII,  400 — 402. 

IG* 


244  54.  Kapitel. 

mindestens  sehr  gewagt  aus  diesen  Hilfspünktchen  über  dem  Radi- 
canden  die  als  Wurzelzeichen  dienenden  Pünktchen  vor  dem  Radi- 
canden  ableiten  zu  wollen,  deren  Anzahl  nicht  yon  der  Ziffernzahl 
des  Radicanden,  sondern  von  dem  Wurzelexponenten  abhängt.  Eine 
uns  befriedigende  Vermuthung  an  die  Stelle  der  zurückgewiesenen  zu 
setzen,  sind  wir  nicht  im  Stande,  sondern  müssen  uns  begnügen,  wie 
leider  nur  zu  oft,  auf  die  Möglichkeit  zu  vertrösten,  dass  neue  Ent- 
deckungen diese  Lücke  einmal  ausfüllen  können. 

Der  Verfasser  dieser  lateinischen  Algebra  muss  eine  in  mancher 
Beziehung  vorzügliche  Vorlage  besessen  haben.  Er  behandelt  wenigstens 
Alles  von  einem  viel  höheren  Standpunkte  aus  und  zeigt  gleich  zu 
Anfang,  wie  und  wann  Gleichungen  höherer  Grade  sich  auf  solche 
niedrigeren  Grades  zurückführen  und  auflösen  lassen.  Die  einzelnen 
Potenzen  der  Unbekannten  nennt  er  Zeichen,  signa,  jedenfalls  im  Ge- 
danken an  die  statt  derselben  zu  schreibenden  Zeichen.  Diese  be- 
kannten signa  sollen  nun  von  0  beginnend  der  Reihe  nach  hinge- 
schrieben werden.  Man  könnte  fast  an  die  nullte  Potenz  der  Unbekannten 
bei  dieser  Vorschrift  denken,  wenn  unsere  oben  ausgesprochene  Ver- 
muthung über  die  mögliche  Entstehung  des  Zeichens  0  richtig  sein 
sollte.  Hat  man  die  Zeichenreihe  hergestellt,  so  ordnet  man  die 
Glieder  einer  vorgelegten  Gleichung  ebenfalls  dem  Range  nach  und 
setzt  ihre  Zeichen  über  die  erwähnte  Zeichenreihe,  das  niederste  über 
0,  das  andere,  beziehungsweise  die  anderen,  wenn  die  Gleichung  drei- 
gliedrig ist,  über  die  folgenden  in  Entfernungen,  die  mit  denen  der 
hingeschriebenen  Zeichen  übereinstimmen.  Benutzen  wir  zur  leich- 
teren Uebersicht  die  heutigen  Zeichen,  so  verlangt  der  Verfasser 
Folgendes.     Es  soll  die  Grundreihe 


hingeschrieben  werden.  In  der  vorgelegten  Gleichung  kommen 
X",  x!^,  xy  vor,  wo  u  <.  ß  <.  y  und  ß  —  a  ^  m,  y  —  a  =  w  ist.  Dann 
ist  x"  über  a;°,  x!^  über  ic'",  x'/  über  a"  zu  schreiben,  beziehungsweise 
innerhalb  der  Gleichung  durch  das  „Zeichen",  über  welchem  es  sich 
befindet,  zu  ersetzen,  so  ist  die  frühere  Gleichung  vom  Grade  y  auf 
eine  solche  vom  Grade  n  zurückgeführt,  indem  eine  vielleicht  nicht 
ganz  vollbewusst  vorgenommene  Division  durch  x"-  erfolgte.  Dass 
die  Gliederzahl  dabei  auf  2  oder  3,  der  Grad  der  höchstvorkommen- 
den Potenz  in  den  Beispielen  auf  4  beschränkt  ist,  müssen  wir  mit 
in  den  Kauf  nehmen.  Erstere  Beschränkung  war  zuverlässig  eine 
beabsichtigte.  Man  konnte  nur  mit  2-  und  3-gliedrigen  Gleichungen 
umgehen.  Ob  die  zweite  Beschränkung  nur  in  dem  Mangel  au 
passenden  Zeichen  begründet  war,  oder  ob  wirklich  der  Potenzbegriff 


Johannes  Widnianu  und  die  Anfänge  einer  deutschen  Algebra.  245 

der  Zeit  mit  x^  zu  Ende  war,  lassen  wir  dahingestellt.  Uns  persön- 
lich scheint  die  erstere  Annahme  die  richtigere,  und  wir  finden  eine 
Bestätigung  dafür  in  der  nun  nachfolgenden  Regel  ^)  von  ganz  all- 
gemeiner Fassung:  Bei  dreigliedrigen  Gleichungen  muss  das  mittlere 
Glied  gleich  weit  von  den  beiden  äussersten  entfernt  sein,  sonst  fällt 
die  Aufgabe  nicht  unter  die  der  Algebra.  Das  heisst  doch  nur,  es 
müsse  y  —  ß  =  ß  —  «  sein ,  oder  die  Gleichung  müsse  sich,  um  der 
Auflösung  fähig  zu  sein,  auf  die  Glieder  x^,  x'^,  x^"-  zurückführen 
lassen,  ohne  dass  von  der  Beschränkung  auf  w  =  1  und  n  =^  2  die 
Rede  wäre.  Das  Wort  ajtoQiö^a,  welches  wir  mit  Aufgabe  wieder- 
gegeben haben,  heisst  genauer  Schwierigkeit;  bei  Aristoteles  findet 
es  sich  meist  in  der  Form  ä:tÖQr]^cc. 

Hierauf  wird  noch  in  7  Regeln  genauer  ausgesprochen,  was  erst 
allgemein  vorausgeschickt  war.  Sind,  sagt  die  erste  Regel  ^),  nächst- 
benaehbarte  Zeichen  einander  gleich,  so  theile  das  niedrigere  durch 
das  höhere,  und  die  Sache  ist  gefunden.    Das  bedeutet:  aus  ax"  =  hx"+^ 

finde  man  -y  =  x.     Wir  erwähnen  weiter,   dass  in   der  fünften  Resrel 

von  einem  Sprunge,  saltus,  der  Zeichen  die  Rede  ist,  wo  die  Glieder 
von  der  Form  a;",  x"+^,  x"+'^!^  sind.  In  Formelgestalt  heissen  sämmt- 
liche  7  Regeln  folffendermassen : 

I.  fl.^'"  =--  hx"-^^  giebt         ^  =  ^ 

IL  ax"  =  &a-«+2  -  X  =  ]/|- 

III.  «.r«  =  hx^^^ 

IV.  ax"  =  hx"^^ 


I/t 


V.  ax^  =  hxf'+^  +  cx<^+^.^  -  x,^  =  yÖ^  +  7 - ^ 

VI.  hx-+(^  =  ax-  +  cä;«+2/*  -  x^^  =  "|/Q'_|.  _|.  JL 

VII.  ca:«+2,.  =  ax"  +  hx^^+ß  -  xß  =  l/Q" +"|  +  ~ 

Allerdings  haben  wir  dabei  die  Regeln  V.,  VI,  VII.  so  gefasst, 
wie  sie  lauten  müssten,  nicht  wie  sie  in  der  Handschrift  lauten,  wo 
zwar  der  mit  einem  Wurzelzeichen  versehene  Theil  der  Auflösung 
sinnentsi^rechend   beschrieben   ist,   das   Glied   ohne  Wurzelzeichen  da- 

')  Notandum  eciam,  qiiod  in  equacione  triiim  signorum  semper  medium  debet 
elongari  equaliter  ab  extremis;  quod  si  sie  non  fuerit,  non  intrat  apporismata 
algobre.  ^  Quando  signa  sibi  invicem  proxima  adequantur  sibi   invieem  tunc 

dividatur  Signum  minus  per  Signum  maius  et  patebit  valor  rei. 


246  54.  Kapitel. 

gegen  in  keinem  der  drei  Fälle  irgend  erwähnt  ist.  Sämmtliche 
Zahleubeispiele  lassen  einigermassen  Zweifel  zu,  ob  der  Verfasser  sich 
nur  undeutlich,  ob  er  sieh  irrig  ausgedrückt  hat.  Auch  letzteres 
dürfen  wir  einem  Manne  zutrauen,  der  später,  wo  er  die  24  Gleichungs- 
formen mittheilt  ^),  bei  der  5.  Form  (welche  der  VI.  Regel  entspricht) 
die  Möglichkeit  die  Wurzelgrösse  additiv  oder   subtractiv  zu  nehmen 

dahin    missversteht,    dass    unter    dem    Wurzelzeichen    —    zugezählt 

werden  müsse,  wenn  es  nicht  abgezogen  werden  könne,  und  überdies 
die  Wurzelgrösse  selbst  nur  subtractiv  benutzt,  also  von  zwei  mög- 
lichen Lösungen  überhaupt  nichts  zu  wissen  scheint.  Oder  sollte  in 
diesem  Unsinne  selbst  wieder  eine  Abhängigkeit  von  einem  Vor- 
gänger zu  erkennen  sein?  Der  Herausgeber  des  Abdruckes,  der  unserer 
Darstellung  zu  Grunde  liegt,  hat  in  der  Dresdner  Bibliothek  eine 
andere  Handschrift  aus  dem  XV.  Jahrhunderte  entdeckt,  welche  sich 
selbst  als  üebersetzung  der  Algebra  des  Alchwavizmi  bezeichnet,  und 
welche  in  buchstäblicher  Uebereinstimmung  die  gleichen  Verkehrt- 
heiten enthält.  Wir  kehren  zu  dem  Handschriftenbande,  der  einst 
Johannes  Widmanu  angehörte,  zurück.  Wir  sagten,  die  lateinische 
Algebra,  von  der  zuletzt  die  Rede  war,  enthalte  die  24  Gleiclmngs- 
formen.  Sie  stimmen  mit  denjenigen  der  deutsch  geschriebenen 
Algebra  dem  Inhalte  nach  und  in  der  ersten  Gruppe  auch  der  Reihen- 
folge nach  überein.  Die  Formen  der  zweiten  Gruppe  dagegen  er- 
scheinen in  der  eigentlich  weit  folgerichtigeren  Anordnung  5.  6.  7. 
8.  10.  9.  1.  2.  3.  12.  13.  11.  15.  14.  4.  16.  17.  18.  Der  Angabe 
der  sämmtlichen  24  Gleichungsformen  folgen  unter  der  Ueberschrift 
Compendium  de  5  et  re,  welche  den  Ausdruck  res  als  Name  der  Un- 
bekannten sichert,  Zahlenbeispiele  zu  16  von  den  Gleichungsformeu, 
in  welchen  es  an  Rechenfehlern  nicht  mangelt.  Aber  auch  damit  ist 
das  Werk  noch  nicht  zu  Ende,  es  kommt  vielmehr  noch  die  Haupt- 
sache, wenigstens  das  was  den  meisten  Raum  einnimmt^),  die  in 
24  Kapitel  eingetheilten  Textaufgaben  zu  den  24  Gleichungsformen, 
die  sogenannten  Aporisniata,  wie  sie  mit  einem  uns  schon  bekannt 
gewordenen  Kunstausdrucke  heissen.  Wir  entnehmen  ihnen  drei  ge- 
schichtlich bemerkenswerthe  Dinge. 

Erstens  wird  von  dem  1.  Beispiele  des  5.  Kapitels  gesagt,  es  sei 
gebildet  luxta  29  proposicionem  dati^).  Das  ist  aber  nichts  anderes 
als  die  29.  Aufgabe  von  der  Schrift  De  numeris  datis  des  Jor- 
dan us,    welche,    was    wir    bisher    noch    zu    .sagen    vermieden    haben. 


1)  Wappler  1.  c.  S.  13—15.  *)  Ebenda  S.  16—30.  ^j   Ebenda  S.  23 

und  in  Note  2  der  gleichen  Seite  die  Beziehung  zu  Jordauus. 


Joliiiunos  Widmiinu  und  die  Anfänge  einer  deutschen  Algebra.  247 

gleichfalls  in  dem  betrefiendeu  Sainmelbaiide  und  zwar  vor  der  lateini- 
schen Algebra  enthalten  ist.  Von  unserem  unbekannten  Algebraiker 
können  wir  mit  Bezug  hierauf  das  Gleiche  aussprechen,  was  in  noch 
verstärktem  Maasse  von  Widmann  gilt.  Er  gehörte  zu  den  gelehrten 
Kreisen,  er  hat  Jordanus  studirt,  wenn  auch  zuverlässig  nicht  diesen 
Schriftsteller  allein,  da  aus  ihm  nicht  der  ganze  Inhalt  des  Werkes 
zu  rechtfertigen,  beziehungsweise  bis  zur  Quelle  zurückzuverfolgen  ist. 

Zweitens  ist  am  Schlüsse  desselben  5.  Kapitels  eiu  Zusatz^)  bei- 
gefügt, in  den  Beispielen  dieser  Form  sei  die  Wurzelgrösse  zu  addiren, 
wenn  mau  sie  nicht  abziehen  könne.  Was  also  in  der  Darstellung 
der  Regel  für  die  5.  Gleichungsform  dem  Verfasser,  wie  wir  oben 
sahen,  noch  nicht  bekannt  schien,  das  ist  ihm  jetzt  in  der  Aufgaben- 
sammlung klar  geworden. 

Drittens  ist  am  Schlüsse  des  G.  Kapitels,  also  da,  wo  die  erste 
Gruppe  der  Gleichungsformen  abschliesst  (die  ursprünglichen  Formen 
könnte  man  sie  im  Gegensatze  zu  den  18  abgeleiteten  Formen  de)- 
zweiten  Gruppe  nennen)  bemerkt  ^),  man  könne  Alles,  was  mit  nf  aus- 
geführt werde,  auch  ohne  dasselbe  macheu  und  habe  es,  allerdings 
mit  Hilfe  von  vielerlei  Mitteln  und  Schlussfolgerungeu,  multis  mediis 
et  conclusionibus,  ohne  diese  Gleichungsformen  gemacht,  bevor  die 
Algebra  erfunden  war.  Eine  dieser  früheren  Methoden  wird  sodann 
besonders  hervorgehoben  als  Aporisma  convcrsum.  Sie  sei,  wie  in  der 
Geometrie  ausgesprochen  sei,  die  Erfindung  des  Ysac  Sohn  Salo- 
monis.  Die  Beschreibung  der  Methode  stimmt  genau  zu  dem  Um- 
kehrungsverfahren (Bd.  I,  S.  689),  welches  ein  Abraham,  in  welchem 
Abraham  ibn  Esra  vermuthet  wird,  unter  dem  Namen  regula  sermonis 
gelehrt  hat.  Wer  dieser  Isaak  Sohn  Salomo's  sei,  wird  sich  schwer- 
lich ermitteln  lassen,  da  die  Bezeichnung  auf  allzuviele  Persönlich- 
keiten passen  kann.  Schon  so  weit  unsere  Hilfsmittel  reichen,  sind 
wir  auf  zwei  Persönlichkeiten  gestossen,  welche  beide  berechtigt 
waren,  sich  so  zu  nennen,  beide  Juden,  beide  Gelehrte,  welche  auch 
mit  Mathematik  sich  beschäftigten:  Isaak  ben  Salomo  Israeli^) 
aus  Kairwan,  einem  im  Mittelalter  berühmten  Handelsplatze,  heute 
dem  ärmlichen  Städtchen  Kairavan  in  Tunis  ^),  von  der  Mitte  des  X. 
bis  zur  Mitte  des  XL  Jahrhunderts,  und  ein  Castilianer  Isaak  ben 
Salomo  ben  Zadik  Ibn  Alchadib^),  als  dessen  Blüthezeit  1370 
bis  1380  angegeben  ist. 


^)  Wappler  1.  c.  S.  26:  Nota  qiiintu  regula  habet  jwo  ceteris  hoc  Privilegium, 
quanclo  radix  subtrahi  non  potest,  debet  ipsa  addi.  ^)  Ebenda  S.  27.  2)  Jost, 
Geschichte  des  Judenthums  II,  397.  *)  S.  Günther  in  der  Beilage  zur  Allgemeinen 
Zeitung  vom  25.  Januar  1892.     ^)  Steinschneider  in  seinem  Artikel  „Jüdische 


248  54.  Kapitel. 

Ausser  diesen  Bemerkungen,  zu  welchen  einzelne  bestimmte 
Stellen  uns  Veranlassung  geben,  muss  nocli  eine  etwas  allgemeinere 
beigefügt  werden.  Am  Rande  der  lateinischen  Algebra  sind  von  einer 
anderen  Hand  als  der  des  Schreibers  des  Textes  weitere  Aufgaben  in 
lateinischer  Sprache  in  nicht  unbeträchtlicher  Zahl  hingeschrieben. 
Wir  werden  später  an  diese  Aufgaben  zu  erinnern  haben  und  wollen 
sie  dann  kurzweg  die  Randaufgaben  der  Dresdner  Algebra 
nennen. 

Wir  haben  (S.  234)  die  Thatsache  erwähnt,  dass  Johannes  Wid- 
mann in  Leipzig  Vorlesungen  über  Algebra  hielt  ^).  Gleich  auf  dem 
ersten  Vorsetzblatte  des  Dresdner  Handschriftenbandes,  der  in  Wid- 
mann's  Besitz  war,  sind  zwei  Vorlesungs anzeigen  desselben 
niedergeschrieben.  Die  erste  bezieht  sich  auf  das  Linienrechnen. 
Diese  Kunst  sei  durch  Appuleius,  den  in  jeder  Lehre  hocherfahrenen 
Mann  überliefert.  Zuerst  habe  man  auf  den  Sand  zwischen  die  Linien 
Pünktchen  gemacht,  dann  habe  man  sich  kleiner  Steine  (calculi )  bedient, 
woraus  der  Name  des  Calcüls  entstanden  sei,  später  sei  man  zu  Rechen- 
pfennigen von  Metall  (proiectilia  erea)  übergegangen.  Dieser  Theil 
der  Wissenschaft  sei  um  so  höher  gehalten  worden,  weil  er  leichter 
sei  und  jedem  Geiste  angemessen,  so  dass  auch  die,  welche  keine  Ge- 
lehrsamkeit (litteratura)  besitzen,  nicht  wenig  tüchtig  darin  werden 
können,  dann  auch  weil  er  deutlicher  ist  und  mehr  zu  den  Sinnen 
spricht.  Magister  Jo.  W.  de  Eg.  wird  heute  um  4  Uhr  einige  sogen. 
Kaufmannsregeln  angewandt  auf  die  Linien  mit  Rechenpfeunigen  ein- 
zuüben beginnen  (regulas  quasdam  Mercatorum  dictas  ad  lineas  cum 
proiectilibus  applicatis  resumere  incipiet).  Das  Wort  resumere  in 
dieser  Anzeige,  welches  wir  mit  „einüben"  verdeutscht  haben,  gehört 
dem  Sprach  gebrauche  der  deutschen  Universitäten  des  XV.  Jahr- 
hunderts an.  Eigentlich  ist  es  ein  rhetorischer  Kuustausdruck  ebenso 
wie  resumptio,  und  die  entsprechenden  griechischen  Kunstausdrücke 
sind  fTCavakaiißcivsLV^  e:tuvdh]i<tg^  italienisch  riassumere.  Die  Meinung 
ist  die,  dass  ein  und  dasselbe  Wort  zur  Verstärkung  des  Sinnes  wieder- 
holt werde.  Später  hat  man  die  Wiederholung  im  Allgemeinen  und 
damit  die  Einübung  durch  resumere  bezeichnet^).  Die  zweite  An- 
zeige beginnt  mit  einem  Lobe  der  Arithmetik,  in  welches  die  Namen 
des  Pythagoras  und  des  Boethius  eingeflochten  sind.     M.  J.  W.  de  eg. 


Literatur  in  Ersch  und  Gruber's  Allg.  Encvklopädie  der  Wissenschaften  und 
Künste,  Section  2,  Bd.  27,  S.  439,  Spalte  1,  Z.  5. 

^)  Wappler  1.  c.   S.  9 — 10  hat    diese    Thatsache  mit  ihren  Belegstücken 
zuerst  mitgetheilt.  *)  Diese    Auseinandersetzung   verdanken    wir  H.  Zange- 

meister, welcher  sich  dafür  auf  J.  Ch.  Th.  Ernesti,  Lexicon  rJietoricum -pag.  321 
und  H.  Sauppe,  Opuscula  critica  pag.  163  stützt. 


Johannes  Witlmaun  und  die  Anfänge  einer  deutschen  Algebra.  249 

wird  heute  um  2  Uhr  nach  der  Disputation  der  Baccalaureen  anfangen, 
ein  kleines  kurzgefasstes  und  sehr  nützliches  Buch,  welches  wohl  die 
Grundlagen  dieser  ganzen  Kunst  umfasst,  einzuüben. 

Es  liegt  auf  der  Hand,  dass  diese  beiden  Vorlesungen  den  beiden 
Rechnungsweisen  der  Zeit  gewidmet  waren,  die  erste  dem  Rechnen 
auf  den  Linien,  die  zweite  dem  Ziffernrechnen,  für  welches  ein  be- 
stimmter Name,  der  es  von  jenem  anderen  unterscheide,  noch  nicht 
vorkommt,  aber  bald  entstehen  wird.  Das  Büchelchen,  welches  der 
zweiten  Vorlesung  zu  Grunde  lag,  kann  kaum  ein  anderes  gewesen 
sein,  als  Widmann's  „Behende  und  hübsche  Rechnung  auff  allen 
kauffm annschafft'',  denn  darüber,  wer  Magister  Jo.  W.  de  Eg.  gewesen 
sein  muss,  ist  doch  ein  Zweifel  nicht  möglich.  Beschäftigung  mit 
einem  bestimmten  Fache,  gelehrter  Titel,  Vorname,  Anfangsbuchstaben 
des  Familiennamens  und  des  Heimathsortes  in  tadelloser  Ueberein- 
stimmung  müssen  als  unwiderlegliche  Beweise  der  Uebereinstimmung 
der  Persönlichkeiten  gelten.  Wer  aber  sollte  das  Vorsetzblatt  eines 
Handschriftenbandes  benutzt  haben,  um  die  Anzeige  zweier  Vor- 
lesungen darauf  niederzuschreiben  als  der  Ankündiger  selbst,  der  viel- 
leicht wiederholt  in  aufeinander  folgenden  Jahren  von  jenen  An- 
kündigungen öffentlichen  Gebrauch  zu  machen  wünschte?  So  dienen 
die  Anzeigen  selbst  als  Beleg  dafür,  dass  jener  Handschriftenband 
sich  im  Besitze  Widmann's  befand. 

Und  nun  findet  sich  eine  dritte  Vorlesungsanzeige  von 
derselben  Hand  geschrieben  auf  der  Rückseite  des  349.  Blattes  des 
Bandes  unmittelbar  vor  der  lateinischen  Algebra.  Mit  Arithmetik 
allein  sei  es  nicht  gethan.  Schwierigeren  Aufgaben  komme  man  nur 
mit  jenen  Methoden  bei,  welche  ein  Algobre  von  hellstem  und  nahezu 
göttlichem  Geiste  uns  in  wenigen  Aporismen,  um  seines  Wortes  mich 
zu  bedienen,  überliefert  hat^).  Heute  um  2  Uhr  wird  Magister  Jo. 
W.  de  Eg.  nach  der  Predigt  und  nach  der  Disputation  der  Bacca- 
laureen mit  den  Zuhörern  Vereinbarungen  über  Stunde  und  Ort  treffen, 
um  die  Aporismata  et  Regulas  Algobre  einzuüben.  Dieser  dritten 
Anzeige  dürfen  wir  die  Bestätigung  dessen  entnehmen,  was  wir  aus 
den  beiden  früheren  folgerten,  und  wofür  wir  uns  auch  darauf  be- 
rufen könnten-),  dass  zwei  Aufgaben  der  lateinischen  Algebra  in 
Widmann's  Rechenbuch  Aufnahme  gefunden  haben.  Aber  wir  ent- 
nehmen ihr  noch  weitere  Dinge,  welche  hervorzuheben  sind. 

Wir  sehen   hier  einmal   die    erste    nachgewiesene  Anzeige    einer 


^)  quas  praeclarissimi  quondam  ac  prope  divini  ingenij  Algohre  paucis  ad- 
modum  Äporismatibus,  ut  suo  vocahulo  utar,  nobis  tradidit.  ^)  Wappler  1.  c. 
S.  22,  Note  1. 


250  54.  Kapitel. 

algebraischen  Vorlesung  an  einer  Universität.  Wir  sehen  eine  andere 
Fassung  als  bei  den  offenbar  eingebürgerten  Vorlesungen  über  das 
Rechnen.  Ort  und  Stunde  sollen  erst  vereinbart  werden!  Auch  heute 
noch  kann  man  ähnlichen  Wortlaut  mitunter  auf  Ankündigungen  an 
den  schwarzen  Brettern  unserer  deutschen  Hochschulen  finden.  Sie 
bedeuten  etwa  so  viel  als:  der  Unterzeichnete  möchte  über  den  be- 
treifenden Gegenstand  lesen,  vorausgesetzt,  dass  sich  Zuhörer  dazu 
melden.  Wir  werden  nicht  irre  gehen,  wenn  wir  im  XV.  Jahrhunderte 
der  Klausel  denselben  Sinn  beilegen.  Es  war  eine  ungewohnte,  eine 
neue  Vorlesung.  Sie  kam  zu  Stande.  In  dem  Codex  1-470  der 
Leipziger  Universitätsbibliothek  wird  berichtet,  im  Sommer  1486  habe 
Johann  von  Eger  (und  das  kann  doch  nur  Widmann  sein)  in 
seiner  Behausung  Algebra  vorgetragen^).  Als  weitere  Bestätigung 
dürfen  wir  es  ansehen,  dass  Widmann  der  lateinischen  Algebra,  die 
er  augenscheinlich  der  Vorlesung  zu  Grunde  legte,  an  einer  Stelle 
einige  Aufgaben  zufügte^). 

Und  das  Andere,  was  wir  hervorzuheben  haben,  besteht  darin, 
dass  für  Widmann  Algobre  ein  Mann,  der  Erfinder  der  Kunst  war. 
Ob  er  ihn  auch  Geber  nennen  zu  dürfen  glaubte,  wie  jener  Canacci 
im  XV.  Jahrhunderte  (S,  165),  ob  damit  wieder  der  Name  Czebreyu 
der  deutschen  Algebra  des  Dresdner  Bandes  (S.  241)  sich  deckt?  Mög- 
lich ist  so  ziemlich  Alles,  was  an  Nameusverketzerungen  nur  erdacht 
werden  kann. 

Wir  müssen  aus  dem  weitläufiger  Auseinandergesetzten  die  Er- 
gebnisse kurz  zusammenstellen.  Sie  gehen  dahin,  dass  Widmann 
algebraischer  Schriften  sich  bediente,  welche  nach  wesentlichen  Merk- 
malen in  gelehrten  Kreisen  entstanden  sein  müssen,  und  Avelche 
mittelbar,  stellenweise  unmittelbar  auf  Jordauus  zurückweisen.  Andrer- 
seits war  es  Widmann  auch  bekannt,  dass  die  algebraische  Kunst 
Regula  cosse  (S.  234)  hiess.  Er  hat  überdies,  wovon  wir  bisher  ge- 
schwiegen haben,  in  seinem  Rechenbuche  ziemlich  viele  Aufgaben, 
welche  auch  in  Leonardo's  Abacus  vorkommen^),  sei  es,  dass  die 
Uebereinstimmung  sich  auf  Text  und  Zahlen  beziehe,  sei  es,  dass  bei 
gleichem  Texte  andere  Zahlen  gewählt  sind.  W^ir  können  daraus 
keine  anderen  Folgerungen  ziehen,  als  die,  dass  Algebra  gelehrten 
Ursprunges  in  der  Mitte  des  XV.  Jahrhunderts  in  Deutschlaud  bekannt 
war,  dass  mit  ihr  Algebra  italienisch -kaufmännischen  Ursprunges 
gegen  Ende  des  Jahrhunderts   sich  vereinigt  hatte,    dass  von  Schrift- 


1)  Curtze  brieflich.  ^  Wappler  1.  c.  S.  21,  Note  1.  ^)  Treutlein, 
Die  deutsche  Coss.  Zeitschr.  Math.  Phys.  XXIV,  Supplementheft,  S.  119,  An- 
merkung. 


Deutsche  Universitäten.     Regiomontanus.  251 

stellern,  deren  Namen  wir  kenneu,  Johannes  Widmann  der  erste 
war,  bei  welchem  jene  Vereinigung  sich  nachweisen  lässt,  wie  er  auch 
der  erste  war,  der  algebraische  Vorlesungen  an  einer  Universität,  und 
zwar  in  Leipzig,  anzukündigen  wagte. 


55.  Kapitel. 
Deutsche  Universitäten.     Regiomontanus. 

Wie  stand  es,  können  wir,  anknüpfend  an  die  letzten  Worte  des 
soeben  beendigten  Kapitels,  hier  gelegentlich  fragen,  um  die  Mathe- 
matik der  deutschen  Universitäten  in  der  Zeit,  welche  uns  gegen- 
wärtig beschäftigt? 

Leipzig^)  haben  wir  bereits  wegen  der  dort  stattgefundenen 
Ankündigung  einer  Vorlesung  über  Algebra  genannt.  Im  Uebrigen 
beschränkte  sich  die  Auswahl  der  Vorlesungen,  die  gehalten  werden 
mussten,  auf  Euklid,  Arithmetik,  Musik  nach  De  Muris,  Perspective 
d.  h.  Optik  und  zwei  astronomische  Fächer.  Dem  Euklid  waren  aller- 
dings 20  bis  30  Wochen,  der  Perspective  12  bis  14  Wochen  ge- 
widmet, während  die  Vorlesung  über  Arithmetik  in  4  bis  7  Wochen 
vollendet  sein  musste. 

Aus  Erfurt  ist  uns  bekan)it,  dass  dort  der  Kreis  der  Vorlesungen, 
welche  den  Artisten  geboten  wurden,  ein  umfassender  war.  Volle  38 
verschiedene  Gegenstände  wurden  vorgetragen^),  also  fast  doppelt  so 
viele  als  in  Wien,  wo  es  nur  21  solcher  Vorlesungen  gab;  aber  wie 
viel  Mathematisches  sich  darunter  befand,  wissen  wir  nicht.  Es  könnte 
recht  viel  gewesen  sein,  wenn  es  gestattet  ist,  aus  der  Persönlichkeit 
eines  Lehrers  einen  Schluss  zu  ziehen,  des  Magisters  Christian 
Roder-^)  aus  Hamburg,  der  1463  Decan  der  Erfurter  Artisteufacultät 
war,  und  unter  welchem  80  Magister  ihi-e  Prüfung  bestanden,  denn 
dieser  Gelehrte  erfreute  sich  unter  den  ersten  Fachmännern  des  glän- 
zendsten Rufes.  Christianus  Rueder  de  Hamborch,  der  im  Winter- 
semester 1471  auf  1472  Rector  in  Erfurt  war^),  dürfte  die  gleiche 
Persönlichkeit  bezeichnen. 

Basel"^),    Universität   seit   1459,    erkannte    im   Jahre   1465    nur 


')  Günther,  Unterricht  Mittela.  S.  215.  ^)  Ebenda  S.  213.  ^)  Doppel- 
mayr,  Historische  Nachrichten  von  den  Nürnbergischen  Mathematicis  und 
Künstlern  (1730),  S.  6,  Note  hh.  Dieses  Werk  citiren  wir  künftig  schleehtweg 
als  Doppelmajr.  *)  Weissenborn,    Acten   der  Erfurter    Universität  I,  34.5 

(Geschichtsquellen  der  Provinz  Sachsen  und  der  angrenzenden  Gebiete  Bd.  VIII). 
°)  Günther,  Unterricht  Mittela.  S.  216. 


252  55.  Kapitel. 

Euklid  und  Sacrobosco  als  die  Schriftsteller  an,  welche  erklärt  werden 
müssen;  1492  ist  die  Sache  wenigstens  insofern  besser  geworden,  als 
die  Vorlesungszeit  über  Sacrobosco  von  6  Wochen  auf  12  Wochen 
sich  erhöht  hat. 

Ingolstadt^)  war  1472  nach  dem  Wiener  Vorbilde  eingerichtet 
worden,  aber  ihm  keineswegs  ähnlich  geblieben.  Während  zu  Anfang 
die  Baccalaureatsprüfung  die  sechs  ersten  Bücher  des  Euklid,  den  Algo- 
rismus,  die  Sphaera  voraussetzte,  während  die  Magisterprüfung  auch 
noch  Planetentheorie  erforderte,  während  Latitudines,  Perspective, 
Optik  doch  noch  in  den  Satzungen  vorkommen,  wenn  auch  nur  um 
sie  als  nicht  verbindliche  Lehrgegenstände  zu  erklären,  gehen  die 
Forderungen  bald  so  weit  zurück,  dass  nur  2  Wocheu  dem  Algoris- 
mus,  2  Wochen  dem  ersten  Buche  Euklids,  6  Wochen  der  Sphaera 
gewidmet  werden  müssen. 

In  dem  1477  gegründeten  Tübingen^)  lag  die  Sache  durch  die 
Persönlichkeit  eines  Lehrers  etwas  besser.  Dort  wirkte  Paul  Scrip- 
toris,  der  als  Erklärer  des  Duns  Scotus  seine  akademische  Thätig- 
keit  begann,  aber  um  1494  auch  über  zwei  mathematische  Schrift- 
steller las,  über  Euklid  und  über  Ptolemäus;  der  letzteren  Vorlesung, 
einer  Neuheit  in  Tübingen  und  auch  einer  Neuheit  für  Leute,  die 
von  vielen  anderen  Universitäten  nach  Tübingen  kamen,  sollen  des- 
halb auch  fast  sämmtliche  übrige  Professoren  beigewohnt  haben. 

Krakau^)  muss  in  dieser  Aufzählung  deutscher  Universitäten 
auch  genannt  werden.  Das  „Krokaw"  des  XV.  Jahrhunderts  ist  wenig 
mit  dem  heutigen  Krakau  zu  vergleichen.  Hatten  auch  ursprünglich 
Polen  die  Stadt  gegründet,  so  waren  doch  seit  dem  XTT  und  XIII.  Jahr- 
hunderte deutsehe  Ansiedler  hingezogen  worden,  welche  mit  deutscher 
Sprache,  mit  deutschem  d.  h.  in  diesem  Falle  mit  Breslau- Magde- 
burgischem Rechte  eine  eigene  Gemeinschaft  bildeten.  In  deutschen 
Händen  befand  sich  der  ganze  Grosshandel,  und  nur  so  ist  eine  Zu- 
gehörigkeit Krakaus  zum  Hansabunde  zu  verstehen.  Ein  Sprosse 
einer  in  Krakau  angesiedelten  deutschen  Grosshandelsfamilie  hat  in 
der  Geschichte  der  Astronomie  eine  umwälzende  Rolle  gespielt.  Die 
städtischen  Urkunden,  soweit  sie  nicht  in  lateinischer  Sprache  ab- 
gefasst  sind,  sind  bis  in's  XVI.  Jahrhundert  hinein  ausschliesslich 
deutsch,  obwohl  die  polnische  Sprache  als  Schriftsprache  vorhanden 
war  und  polnische  Gerichtsacten  insbesondere  aus  dem  Jahre  1400 
nachzuweisen  sind.  In  dieser  Stadt  Krakau  hatte  1364  König  Kasimir 
der  Grosse  von  Polen  so  ziemlich  nach  dem  Vorbilde  von  Prag  eine 


')  Günther,  Unterriclit  Mittela.  S.  216—217.     *)  Ebenda  S.  218.     ')  Prowe, 
Nicolaus  Coppernicus  (1883)  passim.  —  Günther,  Unterricht  Mittela.  S.  229 — 230. 


Deutsche  Universitäten.     Regiomontaniis.  253 

Universität  gegründet,  welche  bald  in  Flor  kam  und  insbesondere, 
ebenso  wie  Leipzig,  einen  grossen  Nutzen  daraus  zog,  dass  Prag  in 
Folge  kleinlicher  Nörgeleien  gegen  Fremde  wie  auch  durch  die 
Hussitenstreitigkeiten  mehr  und  mehr  auf  den  Rang  einer  Landes- 
schule herabsank.  Auch  in  Krakau  galt  ähnlich  wie  einst  in  Wien 
die  Verlosung  der  Vorlesungen  unter  den  Lehrern  der  Universität, 
aber  daneben  waren  frühzeitig  einzelne  bestimmte  Lehrstühle  gegründet, 
so  ein  Lehrstuhl  der  Astronomie,  welchen  zuerst  Johannes  Stobner 
aus  Krakau  innehatte,  der  1379  in  Prag  das  Baccalaureat  erworben 
hatte.  Satzungen  von  1449  geben  Auskunft  darüber,  welcherlei  Vor- 
lesungen der  Professor  der  Astronomie  zu  Krakau  zu  halten  verpflichtet 
war:  Euklid,  Perspective,  Arithmetik,  Algorismus  minutiarum,  Musik 
und  astronomische  Gegenstände  werden  genannt,  unter  letzteren  seit 
1475  auch  eine  Vorlesung  über  Schriften  eines  Gelehrten,  mit  welchem 
wir  uns  im  Verlaufe  dieses  Kapitels  sehr  eingehend  zu  beschäftigen 
haben  werden,  des  Regio montanus.  Ein  weiterer  Lehrstuhl  wurde 
1450  gegründet  für  Astrologie.  Sein  erster  Inhaber  war  Martin 
Krol  de  Premislia.  Der  weitesten  Berühmtheit  erfreute  sich  am 
Ende  des  XV.  Jahrhunderts  Albert  Blar  von  Brudzewo,  gewöhn- 
lich Brudzewski  genannt.     Im  Jahre  1445  geboren,  gehört   er  mit 

seiner  o-anzen  orelehrten  Laufbalm  der  Universität  Krakau  an.    An  ihr 

o  o 

wurde  er  1470  Baccalaureus,  1474  Magister.  An  ihr  stieg  er  in  der 
Artistenfacultät  zu  immer  höherem  Range,  bis  er  1485  Decan  dieser 
Facultät  wurde.  Gleich  vielen  anderen  Gelehrten  hat  Brudzewski  die 
Zeit,  während  welcher  er  der  niedersten  Facultät  bereits  als  ge- 
achteter, von  nah  und  fern  gesuchter  Lehrer  angehörte,  dazu  benutzt, 
sich  einer  höheren  F'acultät  noch  als  Schüler  anzuschliessen.  So 
wurde  er  1490  Baccalaureus  der  Theologie,  eine  Würde,  welche  ihm 
das  Recht  verlieh,  auch  theologische  Vorlesungen  zu  halten,  von 
welchem  er  aber  nicht  Gebrauch  gemacht  zu  haben  scheint.  Er 
wurde  der  Universität  untreu  und  trat  1494  als  Secretär  in  die  Dienste 
des  Fürsten  Alexander  von  Littauen.  Als  solcher  starb  er  1497  in 
Wilna.  Von  1484  bis  1489  sind  aus  den  erhaltenen  Vorlesungs- 
verzeichnissen der  Universität  Krakau  die  mathematischen  Lehrgegen- 
stände bekannt,  welche  Brudzewski  vortrug.  Arithmetik  ist  die  erste, 
Perspective  die  letzte  dieser  Vorlesungen,  die  übrigen  gehören  der 
Astronomie,  nicht  der  reinen  Mathematik  an.  Als  Brudzewski  die 
Mathematik  als  öffentlichen  Lehrgegenstand  aufgab  und  sich  nach 
übereinstimmenden  Ueberlieferungen  damit  begnügte,  befähigten  Schü- 
lern besondere  Vorlesungen  zu  halten,  von  denen  die  Verzeichnisse 
nichts  wissen,  da  war  unsere  Wissenschaft  durch  nicht  weniger  als 
16  Lehrer  vertreten,  die  allein  in  den  Jahren   1491   bis  1495  raathe- 


254  55.  Kapitel. 

matische  und  astronomische  Gegenstände  vortrugen.  Allerdino-s  waren 
es  ausnahmslos  die  uns  mehr  als  zur  Genüge  bekannten  elementaren 
Dinge:  Euklid,  Arithmetik,  Musik,  Optik  u.  s.  w.  Von  Latitudines 
z.  B.  ist  keine  Rede,  von  Algebra  ebensowenig.  Wir  möchten  aber 
aus  diesem  Schweigen  der  Vorlesungsverzeichnisse  keinen  allzu  zu- 
versichtlichen Schluss  dahin  ziehen,  solche  höhere  Gegenstände  seien 
nie  gelehrt  worden.  Grade  was  ein  glücklicher  Zufall  uns  über  die 
Lehrthätigkeit  Widmann's  in  Leipzig  aufbewahrt  hat,  könnte  der 
Vermuthung  Bahn  brechen,  auch  anderwärts  sei  die  Lehrthätigkeit 
mitunter  über  die  breitgetretenen  Wege  des  Alltäglichen  hinaus- 
gegangen, freilich  ohne  dass  die  Vorlesungsverzeichnisse  von  solchen 
Ausnahmen  berichten  könnten. 

Wien  hatte  uns  als  mathematische  Musteruuiversität  gegolten. 
Was  war  aus  ihr  geworden?  Wir  haben  (S.  176)  in  Johann  von  Ge- 
munden  einen  Lehrer  dort  auftreten  sehen,  der  als  Professor  der 
Mathematik  gelten  durfte,  ohne  dass  es  einen  solchen  gab.  Mit 
seinem  Tode  hörte  dieses  Verhältniss  —  man  wäre  versucht,  es  das 
naturgemässe  Herausbilden  eines  Fachlehrerthums  durch  Zuchtwahl 
zu  nennen  —  wieder  auf.  Vielleicht  50  Lehrer^)  von  mathematischen 
Dingen  sind  in  der  zweiten  Hälfte  des  XV.  Jahrhunderts  in  Wien 
aufgetreten,  deren  Namen  vergessen  sind.  Georg  von  Peurbach 
(S.  180)  widmete  seine  Lehrthätigkeit  vorzugsweise  humanistischen 
Gegenständen,  und  der  Mann,  welchem  wir  uns  jetzt  zuzuwenden 
haben,  der  ganz  dazu  angethan  war,  ein  neues  Zeitalter  der  Mathe- 
matik in  Wien  zu  eröffnen,  gehörte  der  Universität  nur  ganz  kurze 
Zeit  an.     Es  war  Regiomontanus. 

Johannes  Müller^)  ist  als  Sohn  eines  Müllers  am  6.  Juni  1436 
in  dem  Städtchen  Königsberg  bei  Hassfurt  (Herzogthum  Coburg)  oder 
in  dem  unweit  davon  gelegenen  Dörfchen  Unfind  geboren.  Den  Xamen 
Regiomontanus  gab  man  ihm  von  dieser  Heimath.  Er  selbst  nannte 
sich  Joannes  de  Monte  Regio,  Johannes  Germanus,  Johannes 
Francus,  Kunisperger  u.  s.  w.  Schon  im  Alter  von  12  Jahren 
bezog  er  die  Universität  Leipzig,  und  zwei  oder  drei  Jahre  später 
erschien    er  in  Wien  bei  Georg   von  Peurbach   mit   der  auf  keinerlei 


^)   Günther,   Unterriclit  Mittela.  S.  249.  *)   Ueber  das   Leben  Regio- 

montanus ist  eine  grosse  Zahl  von  längeren  und  kürzeren  guten  Schriften  vor- 
handen. Gassendi,  Tychonis  Braliei  vita,  accessit  Nicolai  Copernici,  Georgii 
Pitrhachii  et  loannis  Regiomontani  astronotn&rum  celebrium  vita  (1555).  — 
Doppelmayr,  S.  1 — 23.  —  M.  A.  Stern,  Joannes  de  Monteregio  in  Ersch  und 
Gruber's  Encyklopädie ,  II.  Section,  22.  Theil,  S.  205—213.  —  Die  letzte  Zu- 
sammenstellung von  S.  Günther  in  der  Allgem.  deutschen  Biographie  XXIT, 
564—581  unter  Müller,  Johannes. 


Deutsche  Universitäten.     Regiomoutanus.  255 

Empfehlung  sich  stützenden  Bitte,  ihn  als  Schüler  annehmen  zu 
wollen.  Mag  das  den  Männern,  die  damals  in  Leipzig  Mathematik 
lehrten,  kein  so  glänzendes  Zeugniss  ausstellen,  als  unsere  Leser  es  etwa 
erwarten  zu  dürfen  glauben,  so  ist  nicht  zu  vergessen,  dass  wir  durch 
den  Gang  unserer  Berichterstattung  innerhalb  dieses  unseres  XIL  Ab- 
schnittes gegen  die  genaue  Zeitfolge  uns  verstiessen.  Die  verschiede- 
nen Druckschriften  und  auch  Handschriften  aus  der  zweiten  Hälfte 
des  XV.  Jahrhunderts,  von  denen  im  54.  Kapitel  die  Rede  war,  sind 
sämmtlich  nach,  zum  Theil  recht  lange  nach  der  Abreise  Regiomon- 
tans  von  Leipzig  entstanden,  und  wenn  wir  sie  vorwegnahmen,  so 
war  der  Grund,  wie  wir  jetzt  sagen  wollen,  ein  doppelter.  Der  eine 
Grund  liegt  in  dem  durchaus  elementaren  Standpunkte,  welchen  jene 
Schriften  festhalten,  die  überdies  herzlich  wenig  enthalten ,  was  nicht 
nachweislich  von  Anderen  anderwärts  längst  gelehrt  worden  war.  Der 
andere  Grund  aber  ist,  dass  bei  dieser  unserer  Anordnung  deutlicher 
hervortritt,  in  wie  gewaltiger  Riesengrösse  Regiomoutanus  aus  seiner 
Zeit  hervorragt,  mag  man  ihn  mit  denen  vergleichen,  die  unmittelbar 
vor  ihm,  oder  mit  denen,  die  unmittelbar  nach  ihm  wirkten. 

Genug,  Peurbach  nahm  den  kaum  dem  Kindesalter  entwachsenen 
Schüler  an  und  behielt  ihn  in  seiner  nächsten  Umgebung  so  lange  er 
lebte.  Wegen  zu  grosser  Jugend  soll  Regiomoutanus  nicht  vor  1457 
zum  Magister  ernannt  worden  sein,  während  er  früher  schon  mit 
Vorlesungen  betraut  war,  und  darin  liegt  wohl  die  Veranlassung  dafür, 
dass  ein  naher  Freund  seines  Lehrers  schon  1452  von  ihm  als  Magister 
Johannes  schrieb,  noch  bevor  er  diesen  Titel  führen  durfte^).  So 
hatte  ihn  Peurbach  sich  frühzeitig  in  jeder  Beziehung  zum  Gehilfen 
herangebildet,  und  so  setzte  er  ihn  später  zum  Erben  seiner  Arbeiten 
ein.  Schon  zweimal  (S.  185  und  210)  hatten  wir  Gelegenheit  von 
der  Almagest-Uebersetzung  zu  reden,  welche  Peurbach,  vom  Cardinal 
Bessarion  angeeifert,  sich  als  wichtige  Aufgabe  gesetzt  hatte.  Die 
letzten  Worte  des  sterbenden  Peurbach  an  Regiomontanus  sind  von 
diesem  der  Nachwelt  überliefert  worden^).  In  rührend  schöner  Weise 
mahnt  er  ihn  an  jene  Uebersetzung.  Er  hinterlasse  ihm  als  heiliges 
Vermächtniss  das  Werk  zu  vollenden,  und  so  Bessarion's  Wünschen 
Genüge  zu  leisten., 

Regiomontan  trat  die  Erbschaft  an.  Das  erste  Ziel,  welches  er 
anstreben  musste,  war,  sich  die  griechische  Sprache  vollständig  zu 
eigen  zu  machen,  und  zu  diesem  Zwecke  begab  er  sich  wahrschein- 
lich noch  1461  nach  Rom,   wohin  Bessarion   ihn  schon  früher,  aller- 


')  Czerny  im  Arcliiv   für   österreicbisclie   Greschichte   LXXII,  288,  Note  3. 
-)  Doppelmayr,  S.  2  Note  b. 


256  55.  Kapitel. 

dings  als  vermuthlichen  Begleiter  Peurbach's  eingeladen  hatte.  Dem 
Studium  der  griechischen  Sprache  widmete  sich  der  junge  Deutsche 
anfangs  unter  Leitung  von  Georg  von  Trapezunt,  später  selbständig, 
indem  er  theils  als  Mittel  zur  Aneignung  der  Sprache,  theils  als 
Selbstzweck  eine  grosse  Menge  älterer  griechischer  Handschriften, 
die  in  Rom  vorhanden  waren,  abschrieb.  Es  waren  meistens  Mathe- 
matiker, welche  abgeschrieben  wurden,  aber  auch  Bücher  anderen 
Inhaltes,  z.  B.  ein  griechisches  neues  Testament.  Eine  Abschrift  des 
Almagestes  zu  machen  war  unnöthig,  da  eine  von  Bessarion  selbst 
angefertigte  zu  Uebersetzungszwecken  zur  Verfügung  stand.  Bessa- 
rion, der  fortwährend  vom  Papste  zu  wichtigen  kirchlich-diplomatischen 
Geschäften  in  Anspruch  genommen  wurde,  musste  etwa  im  Mai  1463 
Rom  verlassen,  um  nach  Griechenland  zu  reisen.  Regiomontan  be- 
gleitete ihn  bis  Venedig.  Dann  wechselte  sein  Aufenthalt,  wie  er 
vorher  gewechselt  hatte.  Wir  kennen  eine  ganze  Reihe  von  Städten, 
in  welchen  Regiomontanus  sich  aufgehalten  hat:  Rom  zu  wiederholten 
Malen,  Viterbo,  Ferrara,  Padua,  Venedig,  aber  die  Reihenfolge,  in 
welcher  der  Wohnungswechsel  stattfand,  ist  nicht  vollständig  ge- 
sichert. Von  Regiomontanus  Aufenthalt  in  Viterbo  kennen  wir  einige 
astronomische  Beobachtungen  vom  Sommer  und  Herbst  1462.  In 
Ferrara  verkehrte  er  mit  dem  Astronomen  Bianchini,  aber  auch 
mit  den  der  dortigen  Universität  zur  Zierde  gereichenden  Humanisten 
Theodor  von  Gaza  und  Guarini.  Unter  Theodor  von  Gaza^s 
Anleitung  brachte  er  es  dahin,  gi-iechische  Verse  machen  zu  können, 
und  in  Ferrara  war  es  auch,  dass  er  die  Textreinigung  des  Alma- 
gestes vollzog,  ohne  welche  an  eine  richtige  Uebersetzung  nicht  zu 
denken  war.  Ob  er  in  Ferrara  auch  mathematische  Vorträge  in 
griechischer  Sprache  gehalten  hat,  wie  ein  Bericht  meldet^),  sei  da- 
hingestellt. Das  Auffallendste  daran  wäre,  dass  für  eine  solche  Vor- 
lesung sich  Zuhörer  gefunden  hätten.  Von  Ferrara  scheint  Regio- 
montan sich  nach  Venedig  begeben  zu  haben,  von  wo  er  vielleicht 
im  März  und  April  1464  einen  Abstecher  nach  Padua  machte.  Jeden- 
falls sind  Briefe  aus  Venedig  vom  27.  Juli  1463,  Februar,  27.  Juni 
und  6.  Juli  1464  vorhanden,  sowie  eine  Mondfinsternissbeobachtung 
in  Padua  vom  2.  April  1464.  In  Padua  hielt  Regiomontan  lateinische 
Vorträge  über  den  arabischen  Astronomen  Alfraganus  und  begann 
dieselbe  mit  einer  Einleitung,  welche  als  erste  abendländische 
Leistung  auf  dem  Gebiete  der  Geschichte  der  Mathematik 
unsere  Aufmerksamkeit  in  Anspruch  nehmen  wird.  Eine  noch  weit 
umfassendere  Thätigkeit  übte  Regiomontanus  in  Venedig  aus.     Dort 


')  D  o p  ij  e  1  m  a  y  r  S.  4. 


Deutsche  Universitäten.     Regiomontanns.  257 

wurde  das  in  Rom  begonnene  Werk  De  triangulis  omnimodis 
vollendet,  dort  entstand  eine  Streitschrift  gegen  Cusanus.  In 
Venedig  beabsichtigte  Regiomontan  die  Rückkehr  seines  Gönners 
Bessarion  aus  Griechenland  abzuwarten,  aber  sie  verzögerte  sich  weit 
über  alles  Erwarten,  und  so  kehrte  Regiomontan  nach  Rom  zurück, 
wo  er  jedenfalls  am  ().  October  14G4  wieder  beobachtet  hat.  In  die 
Zeit  dieses  zweiten  römischen  Aufenthaltes  fällt  eine  Niederschrift 
einer  Kritik  der  Arbeiten  Georgs  von  Trapezunt  über  Ptole- 
mäus  und  Theou.  Impudentissime  atque  perversissime  hlatorator  —  un- 
verschämtestes und  verkehrtestes  Plappermaul  —  ist  die  Anrede,  mit 
welcher  jene  Kritik  schliesst,  indem  Regiomontan  sich  persönlich  an 
seinen  Gegner  wendet.  Solche  Ausdrücke  liefen  zwar  der  an  Höf- 
lichkeit zwischen  wissenschaftlichen  Gegnern  nicht  gewöhnten  Sitte 
der  Zeit  keineswegs  zuwider,  bargen  aber  bei  der  anderweitigen  Sitte, 
es  bei  Worten  nicht  bewenden  zu  lassen,  sondern  Dolch  oder  Gift 
entscheiden  zu  lassen,  wer  der  Unterliegende  sei,  manche  Gefahr  in 
sich.  Regiomontan  mag  sich  dem  nicht  verschlossen  haben,  was  ihm 
bei  längerem  Aufenthalte  in  Rom  bei  überdies  fortdauernder  Ab- 
wesenheit seines  Beschützers  Bessarion  drohte,  und  so  verliess  er 
1468  den  gefährlichen  Boden.  Er  kehrte  nach  Wien  zurück,  und 
wie  er  schon  als  Baccalaureus,  in  Vei'tretung  Peurbach's  als  junger 
Magister  ebeudort  1458  über  Perspective,  1460  über  Euklid  gelesen 
hatte,  begann  er  neuerdings  eine  Lehrthätigkeit  auszuüben,  wenn 
auch  nicht  als  Inhaber  einer  mathematischen  Professur,  die  es  auch 
jetzt  in  Wien  noch  nicht  gab^).  Vor  Jahresfrist  erfolgte  ein  neuer 
Wohnungswechsel.  Der  Ungarkönig  Mathias  Corvinus  berief  Regio- 
montan mit  dem  sehr  stattlichen  Jahresgehalte  von  200  Goldgiüden 
nach  Ofen  zur  Ordnung  und  Beaufsichtigung  einer  unter  Aufwendung 
reicher  Mittel  angelegten  Büchersammlung.  Ofen  wurde  der  Ent- 
stehungsort eines  abermaligen  neuen  Werkes  von  Regiomontanns, 
der  Tahiüae  Diredionum.  Sei  es  dass  Regiomontanus  jetzt  mehr 
und  mehr  das  Bedürfniss  empfand,  einmal  eine  Zeit  lang  ausschliess- 
lich den  eigenen  Studien  zu  leben,  sei  es  dass  Kriegshändel  des 
Königs  Mathias  eine  Aenderung  des  Aufenthaltes  wünschenswerth 
machten,  im  Sommer  1471  ist  Regiomontan  weit  von  Ofen  entfernt 
in  der  Reichsstadt  Nürnberg,  deren  Rath  ihm  sodann  durch  Beschluss 
vom  29.  November  jenes  Jahres  die  Erlaubniss  zu  längerem  Verweilen 
gewährte.  Ob  mit  jener  Erlaubniss  ein  bestimmter  Auftrag  zu  öffent- 
lichen Lehrvorträgen  verbunden  war,  wie  es  von  einer  Seite  berichtet 
wird,    steht    actenmässig   noch    nicht    fest.     Regiomontan's    Hauptab- 


')  Günther,  Unterricht  Mittela.  S.  242  gegen  Doppelmayr  S. 

Cantor  ,  Geschichte  der  Mathem.    II.     2.  Aufl.  17 


258  oö.  Kapitel. 

sieht  war,  gute  zum  Theil  neu  erfundene  oder  verbesserte  Vorrich- 
tungen zur  Durchforschung  des  Himmels  zu  beschaffen,  sie  im  Verein 
mit  Gelehrten  jeder  Herkunft  anzuwenden.  Beides  erhoffte  Regio - 
montan  von  dem  Gewerbfieiss  und  dem  unermesslichen  Fremden- 
verkehr der  ersten  Handelsstadt  in  Süddeutschland,  und  grade  danim 
hatte  er  sie,  gleichsam  den  Mittelpunkt  von  Europa,  zur  ewigen 
Wohnstätte  sich  auserlesen^).  Aber  die  Ziele  steckten  sich  bald  noch 
weiter.  In  Nürnberg  waren  Druckerwerkstätten  entstanden.  Ihre 
Thätigkeit  sollte  in  den  Dienst  der  mathematischen  und  astronomischen 
Wissenschaft  gestellt  werden,  wie  man  es  auch  in  Italien  soeben  zu 
thun  begann.  Ein  reicher  Nürnberger,  Bernhard  Walther,  trat 
zu  Regiomontan  in  freundschaftlichste  Beziehungen  und  richtete  für 
ihn  drei  Räumlichkeiten  her,  eine  Sternwarte,  eine  Werkstätte  zur 
Anfertigung  von  Beobachtungsvorrichtungen,  eine  Druckerei.  Schon 
war  der  Plan  entworfen,  welche  Werke  gi-osser  Mathematiker  ver- 
vielfältigt werden  sollten,  schon  erschienen  zwischen  1471  und  1475 
unter  Regiomontan's  Leitung  die  nachgelassenen  Planetentheorieen 
seines  geliebten  Lehrers  Peurbach-),  die  Astronomica  des  Manilius, 
ein  Verzeichniss  der  zum  Drucke  bestimmten  Schriften  ^j,  ein  Tabellen- 
werk Regiomontan's  selbst,  da  war  es  mit  der  auserlesenen  ewigen 
Wohnstätte  schon  wieder  zu  Ende.  Papst  Sixtus  IV.  stellte  die 
niemals  als  erledigt  erachtete  Aufgabe  der  Kalenderver- 
besserung auf  die  Tagesordnung.  Regiomontanus  sollte  die 
Aufgabe  lösen,  und  ihn  um  so  geneigter  zu  machen,  den  päpstlichen 
Wunsch  zu  ei-füllen,  verband  Sixtus  IV.  mit  der  Berufung  nach  Rom 
die  Ernennung  zum  Bischof  von  Regensburg.  Einer  in  solche  Form 
sich  kleidenden  Aufforderung  war  nicht  zu  widerstehen.  Im  Herbste 
1475  reiste  Regiomontan  nach  Italien,  um  nicht  wiederzukehren.  Der 
6.  Juni  1476  war  sein  Todestag.  Er  starb  in  Rom  und  wurde  im 
Pantheon  bestattet.  Als  Todesursache  wird  die  Pest  angegeben,  eine 
dunkle  Sage  spricht  von  Gift  und  nennt  die  Söhne  Georgs  von  Trape- 
zunt  als  die  Schuldigen  *J.  Wir  haben  der  Erzählung  der  Lebens- 
geschichte Regiomontan's  eine  unverhältnissmässige  Länge  gegeben. 
Wir  haben  es  desshalb  gethan,  um  die  Unstetigkeit  seines  fast  hei- 
mathslosen  ümherwanderns  der  Grösse  seiner  Leistungen  als  Hinter- 
grund dienen  zu  lassen,  und  um  ermessen  zu  können,  was  die  Wissen- 


^)  Eam  enim  mihi  delegi  domum  perpetuum  schrieb  Regiomontanus  unter 
dem  4.  Juli  1471.  -)  Theoricae  planetarum  novae  s.  l.  et  a.  ^)  Ein  Abdruck  nach 
dem  Original  bei  Ch.  G.  Schwarz,  De  origitie  typograpliie  Pars.  III,  p.  54. 
*)  Diese  Todesursache  nannte  schon  Melanchthon  in  einer  1549  gehaltenen 
Lobrede  auf  Regiomontanus.  Fama  est  venenum  ei  datnm  esse  a  Trapezontü 
filiis.     Yergl.  Corpus  Beformatorum  Vol.  XI,  p.  825  (1843). 


Deutsche  Universitäten.     Regiomontanns.  259 

Schaft  au  dem  bei  seinem  Tode  erst  40jährigen  Gelehrten  verloren 
hat,  der  nebenbei  auch  sogar  als  Dichter  gekrönt  war,  wenn  der  als 
Cod.  367  G.  27  bezeichneten  Handschrift  des  Klosters  Melk  Glaube 
geschenkt  werden  darf,  in  welcher  eiiie  Ueberschrift :  Compositio 
quadrantis  Reverend.  Mgi-.  Johannis  de  Kunisperg,  astronomi  et  poete 
laureati  ^)  lautet. 

Wir  müssen  nun  seine  einzelnen  mathematischen  Leistungen  be- 
sprechen,  wie    sie  theils    in  besonderen  Schriften,    theils    in  Briefen 
von  seiner  Hand  sich  erhalten  haben.    Wir  beginnen  mit  der  Angabe 
der  wichtigsten  Druckveröffentlichuugen ,  welche  Regiomontanns,  wie 
wir    sagten,    selbst    vorbereitete.     Das    Meiste    davon    wird    er   hand- 
schriftlich  sich   erworben   und  geistig  sich   angeeignet  haben,   als  er 
1461  bis  1462  zuerst  in  Rom  war.     Es  bildet  also  den  wissenschaft- 
lichen Grundstock,  welchen  Regiomontanns  besass,  und  den  zu  kennen 
auch  für    uns    nothwendig  ist,    wenn    wir    darüber  uns  klar  werden 
wollen,   wie   viel  eigne  Zuthat   in  den  verschiedenen  nachher  zu   be- 
sprechenden Werken   ent|ialten   ist^).     Die   Cosmographie,    der  Alma- 
gest   und    das   Quadripartitum   des  Ptolemäus    stehen    an    der   Spitze. 
Die    Erläuterungen    Theons    von    Alexandria    zum    Almagest    fehlen 
nicht.    Euklid's  Elemente  mit  dem  Anaphorikos  des  Hypsikles  waren 
zum  Drucke  bestimmt,    zwar  nach  der  Ausgabe  des  Campanus,    aber 
frei  von  den  Fehlern,  die  dieser  verschuldet  hatte.     Eine  verbesserte 
Uebersetzung  des  Archimed  unter  Zugrundelegung  der  von  Jacob  von 
Cremona  ausgeführten  war  vorgesehen,   ebenso   die  Kegelschnitte  des 
Apollonius,   die    Sphärik   des  Menelaus,    die    Sphärik  des  Theodosius. 
Der  Cylinderschnitt  des  Serenus  und  die  mechanischen  Probleme  des 
Aristoteles  standen  gleichfalls  auf  der  Liste.    Von  diesen  allen  sollten 
wohlverstanden   keine  griechischen  Textausgaben,   sondern  lateinische 
Uebersetzungen  gedruckt  werden,  welche  Regiomontanns,  wenn  auch 
unter  Benutzung  schon  vorhandener  Uebersetzungen,  neu  zu  schaffen 
gesonnen  war,    vielleicht  zum  Theile   schon   angefertigt  hatte.     Dazu 
kam  der  beabsichtigte  Druck  einiger  in  lateinischer  Sprache  geschrie- 
benen Werke,    der  Arithmetik    des    Jordanus,    dessen    arithmetischer 
Data  (die  Schrift  De  numeris   datis   wird   damit   gemeint   sein?)    und 
des   Quadripartitum   (vermuthlich    des    so    betitelten  Werkes   von   De 
Muris).     Durch   andei-e  Quellen  können  wir  die  Liste  noch  um  zwei 
Werke  vergrössem,  welche  Regiomontan  genau   kannte,  vielleicht  im 
Drucke  herausgeben  wollte:  den  Algorithmus  demonstratus  hat  er  in 


')  Curtze,  brieflich.  -)  H.  Petz^  Urkundliche.  Nachrichten  über  den 

literarischen  Nachlass  Regiomontan's  und  B.  Walther's  in  den  Mittheilungen 
'des  Vereins  für  Geschichte  der  Stadt  Nürnberg  YII,  237—262  (1888). 

17* 


260  55.  Kapitel. 

Wien  sich  abgeschrieben,  und  seine  noch  manches  Andere,  z.  B.  die  bei 
Jordanus  vorhandene  allgemeine  indische  Regel  zur  Auffindung  der  Seite 
des  regelmässigen  Sehnenvielecks  (S.  83)  enthaltende  Handschrift  befindet 
sich  in  Wien  ^).  Er  hat  den  Diophant  in  Venedig  entdeckt.  Das  Pro- 
gramm der  beabsichtigten  Druckgebungen  wäre  aber  auch  jetzt  noch 
nicht  vollständig,  wenn  wir  nicht  einige  von  den  eigenen  Schriften  Re- 
giomontan's  nennten,  die  gleichfalls  der  Presse  übergeben  werden  sollten. 
Die  fünf  Bücher  über  Dreiecke,  Erläuterungen  zu  den  von  Eutokius 
nicht  mit  solchen  versehenen  Büchern  des  Archimed,  geometrische 
Aufgaben  jeder  Art,  astronomische  Aufgaben  mit  Beziehungen  zum 
Almagest,  Gedanken  über  die  Neuordnung  des  Kirchenkalenders,  so 
lauten  die  Aufschriften  selbständiger  Werke,  zu  welchen  noch  eine 
ganze  Anzahl  von  Streitschriften  kam.  Gegen  Georg  von  Trapezunt 
sollte  Theon  von  Alexandria  in  Schutz  genommen,  gegen  Nicolaus 
von  Cusa  das  Unzutreffende  seiner  Quadraturversuche  nachgewiesen 
werden.  Längst  verstorbene  Schriftsteller  blieben  aber  auch  nicht 
mit  Angriffen  verschont,  wenn  wir  als  Beispiel  nur  etwa  eine  Schrift 
gegen  Campanus  nennen  wollen,  in  welcher  beabsichtigt  war  nachzu- 
weisen, wie  nothwendig  es  sei,  dessen  persönliche  Meinungsäusserungen 
aus  der  Euklidausgabe  zu  entfernen. 

Besässen  wir  von  Regiomontanus  nichts  als  diese  Verzeichnisse 
fremder  und  eigener  zum  Drucke  mehr  oder  weniger  vorbereiteter 
Werke,  so  würden  sie  genügen,  uns  mit  Staunen  über  den  Umfang 
der  Gelehrsamkeit  und  über  die  Vielseitigkeit  des  Wissens  des  seltenen 
Mannes  zu  erfüllen,  der  die  Vollendung  des  40.  Lebensjahres  grade 
erreichte.  In  Bezug  auf  einige  der  genannten  Schriften  geht  unser 
Wissen  leider  über  die  Kenntniss  der  Titel  nicht  hinaus.  Sicherlich 
ist  es  tief  zu  beklagen,  dass  von  den  geometrischen  Aufgaben,  von 
der  Arbeit  über  Kalenderverbesserung,  von  den  Erläuterungen  zu 
Archimed  nichts  sich  erhalten  zu  haben  seheint. 

Von  den  Schriften,  welche  nach  und  nach  im  Drucke  veröffent- 
licht worden  sind,  müssen  wir  wohl  zuerst  die  Einleitungsrede 
zu    den    in  Padua    gehaltenen  Vorträgen   über  Alfraganus-) 


^)  M.  Curtze,  Die  Quadratwurzelformel  des  Heron  bei  den  Arabern  und 
bei  Eegiomontau  und  damit  Zusammenhängendes.  Zeitschr.  Math.  Phys.  XLII, 
Hist.-liter.  Abthlg.   S.  145  bis  152.  ^)  Der  Titel  des  seltenen  1537  in  Nürn- 

berg gedruckten  Bandes,  der  diese  Rede  enthält,  lautet:  Continentur  in  hoc 
lihro.  Eudimenta  astronomica  Älfragani.  Item  Älbategnius  astronomus  peritis- 
simus  de  motu  stellarum,  ex  observationibus  tum.  propriis,  tum  Ptolemaei,  omnia 
cum  demonstrationibus  Geometricis  et  Additiombus  loannis  de  Begiomonte.  Item 
oratio  introductoria  in  omnes  scientias  Mathematicas  Joannis  de  Begiomonte, 
Patavii  habita,  cum  Alfraganum  publice  praelegeret.  Eiusdem  utilissima  intro- 
ductio    in  elementa  Enclidis.     Item   Epistola   Philippi  Melanthonis  nuncupatoria, 


Deutsche  Universitäten.     Regiomontanus.  261 

besprechen.  Ihre  Wichtigkeit  liegt  insbesondere  darin,  dass  sie  auf 
das  mathematische  Wissen  Regiomontan's  und  die  damals  verbreiteten 
geschichtlichen  Meinungen  ein  helles  Licht  wirft.  Seit  zwei  Jahren 
und  mehr,  so  beginnt  Regiomontanus,  habe  er  keine  Vorlesung  ge- 
halten, der  ihm  gegenwärtig  gewordenen  Aufforderung  könne  er  trotz 
gerechten  Bangens  nicht  widerstehen.  Um  die  Zuhörer  zu  dem  eigent- 
lichen Gegenstande,  der  Erörterung  der  Lehren  des  Alfraganus,  vor- 
zubereiten, wolle  er  einen  raschen  Blick  über  die  Gesammtwissenschaft 
der  Mathematik  werfen.  Sie  sei  die  Wissenschaft  von  den  Grössen 
und  zerfalle  in  zwei  Theile,  Geometrie  und  Arithmetik,  je  nachdem 
die  behandelte  Grösse  eine  stetige  oder  eine  Zahlengrösse  sei.  Die 
Geometrie  entstand  in  Aegypten,  hervorgerufen  durch  die  Noth wen- 
digkeit, die  bei  den  regelmässigen  Nilüberschwemmungen  sich  ver- 
wischenden Ackergrenzen  wieder  herzustellen.  Viele  haben  ihre  Lehren 
niedergeschrieben.  Euklid  von  Megara  sammelte  dieselben  und  ver- 
einigte in  13  Büchern,  was  er  da  und  dort  auflas^).  Hypsikles 
fügte  zwei  Bücher  bei.  Boethius  übersetzte  alle  15  Bücher  ins  Latei- 
nische, gab  aber  den  Text  nicht,  wie  er  im  Griechischen  vorliegt^). 
Später  haben  Atelhard  und  Alfred  und  endlich  Campanus  die  15 
Bücher  unter  dem  einen  Namen  Euklid's  neu  bearbeitet,  die  Ersten 
elegant  und  sehr  kurz,  der  Letzte  mit  grosser  Klarheit.  Nun  folgen 
ApoUonius  mit  seinen  noch  nicht  übersetzten  Kegelschnitten  und 
Archimed,  dessen  Schriften  unter  Papst  Nicolaus  V.  durch  Jacob  von 
Cremona  übersetzt  wurden.  In  dessen  Schrift  über  Spirallinien  ist 
versucht  die  Kreislinie  als  gerade  Linie  darzustellen,  um  die  Quadratur 
des  Kreises  zu  erhalten,  womit  viele  alte  Gelehrte  sich  beschäftigten, 
ohne  dass  bis  zu  Aristoteles  etwas  erreicht  worden  sei,  und  in  unserer 
Zeit  warten  einige  hochberühmte  Männer  auf  diesen  Ruhm^j.  Archi- 
med hat  auch  selbst  eine  Kreismessung  u.  s.  w.  verfasst.  ApoUonius 
wird,  wenn  er  erst  einmal  aus  dem  Griechischen  ins  Lateinische  über- 
setzt ist,  die  allgemeine  Bewunderung  erregen.  Um  nicht  ins  Un- 
ermessliche  zu  schweifen,  wolle  er  nur  Eutokius,  den  Erklärer  des 
Archimed,  Theodosius,  Menelaus  als  Schriftsteller  über  Sphärik  nennen, 
sehr  viele  andere  Geometer,  die  in  verschiedenen  Sprachen  schrieben, 
verschweigen.     Nun    zur    Arithmetik.     Wo    dieselbe    entstanden,    sei 


ad  Senatum  Norimbergensem.  Ausserdem  ist  die  Rede  aber  auch  irrthümlich 
in  Melanchthon's  Werken  abgedruckt  worden.  Corpus  Beformatorum  (ed.  C.  G. 
Br  et  schneid  er)    XI,  531—544  (1843). 

^)  coepit  in  tredecim  libros,  quos  juste  vocavit  Elementa,  quod  ex  eis  omnes 
disciplinae  pendeant^  conclusioyies  passim  lectas  conscribere.  ^)  quamvis  commen- 
tum  non,  ut  in  Graeco  jacet,  expresserit.  ^)  cuius  rei  gloriam  nonnulli  nostra 

tempestate  viri  clarissimi  iwaestdlantim: 


262  ö5.  Kapitel. 

kaum  zu  sagen,  Pythagoras  habe  zwar  durch  sein  Wissen  von  den 
Zahlen  Unsterblichkeit  erlangt,  nachdem  er  dasselbe  von  Aegyptern 
und  Arabern  sich  erwarb,  aber  würdigere  Grundlagen  schuf  Euklid 
in  seinem  7.,  8.,  9.  Buche,  aus  welchen  Jordanus  zehn  Bücher 
Elemente  entnahm.  Von  da  an  verfasste  derselbe  auch  drei  sehr 
schöne  Bücher  De  numeris  datis.  Diophant's  13  ungemein  feine 
Bücher  hat  bisher  noch  Niemand  aus  dem  Griechischen  ins  Latei- 
nische übersetzt.  In  ihnen  ist  die  Blüthe  der  ganzen  Arithmetik  ver- 
borgen, nämlich  die  ars  rei  et  census,  welche  man  heute  mit  ara- 
bischem Namen  Algebra  nennt  ^).  Als  einen  in  diesen  Dingen  gelehrten 
Mann  unter  den  lateinischen  Völkern  finde  ich  Bianchini.  Bei  uns 
hat  man  das  Quadripartitum  numerorum,  ein  ausgezeichnetes  Buch, 
den  Algorithmus  demonstratus  und  die  Arithmetik  des  Boethius,  die 
aas  Nikomachus  geschöpft  ist.  Barlaam  hat  in  sechs  Büchern  die 
Rechenkunst  griechisch  dargestellt.  Hierauf  geht  Regiomontan  zur 
Geschichte  der  Astronomie  über.  Wir  dürfen  rasch  darüber  hinweg- 
gehen und  führen  nur  an,  dass  ein  geivisscr  Flato  von  Tivoli  den 
Albategnius,  ein  gewisser  Gerard  von  Cremona  den  Spanier  Gebar 
übersetzt  habe,  Ausdrncksweisen,  welche  in  uns  Zweifel  rege  machen 
könnten,  ob  Regiomontan  diese  TJebersetzungen  wohl  genauer  gekannt 
habe,  wenn  sich  nicht,  wie  wir  weiter  unten  sehen  werden,  die  Be- 
kanntschaft mit  der  zweitgenannteu  Uebersetzung  beweisen  Hesse. 
Noch  kürzer  berühren  wir,  dass  Regiomontan  auch  sonstiger  Zweige 
der  angewandten  Mathematik  gedenkt,  dass  er  mit  wohlthuender 
Wärme  das  Lob  seines  Lehrers  und  Freundes  Peurbach  verkündet, 
dass  er  nach  dem  geschichtlichen  Ueberblicke  auch  noch  in  den  üb- 
lichen Redensarten  über  den  mannigfachen  Nutzen  der  Mathematik 
sich  ergeht. 

Aus  dem,  was  hier  etwas  weitläufiger  aus  dem  geschichtlichen 
Theile  ausgezogen  ist,  wird  man  die  schon  althergebrachte  Verwechs- 
lung des  Mathematikers  Euklid  mit  Euklid  von  Megara  kaum  hervor- 
zuheben haben.  Scheint  doch  Regiomontan  von  Euklid's  Persönlich- 
keit eine  sehr  geringe  Kenntniss  gehabt  zu  haben.  Jener  Druck  von 
1537,  in  welchem  die  geschichtHche  Einleitung  zur  Alfraganvorlesung 
veröffentlicht  ist,  enthält  auch  eine  Introductio  in  elementa 
Euclidis  von  Regiomontanus.  Sie  sollte  wahrscheinlich  die  Einlei- 
tung zu  der  beabsichtigten  Euklidausgabe  bilden,  und  die  in  Nürnberg 
noch  vorhandene  Originalhandschrift   steht   auf  den  ersten  Seiten  der 


*)  Diophanti  autem  tredecim  libros  suUilissimos  nemo  usque  hac  ex  Graecis 
Latinos  fecit,  in  quibus  flos  ipse  totius  Arithmeticae  latet,  ars  videlicet  rei  et 
census  quam  hodie  vocant  Ahjebram  arabico  nomine. 


Deutsche  Universitäten.     Regioniontanus.  263 

durch  Regiomontan  abgeschriebenen  Euklidübersetzung  des  Atelhard  ^). 
Darin  findet  sich  die  Ungeheuerlichkeit,  die  Geometrie  sei  von  Euklid 
arabisch  verfasst ,  von  Atelhard  ins  Lateinische  übersetzt  worden !  ^) 
So  vorsichtig  uns  dergleichen  allen  Aussagen  gegenüber  machen  muss, 
die  mit  Euklid  zusammenhängen ^  können  wir  doch  nicht  umhin,  bei 
dem  Berichte  der  paduaner  Rede  von  einer  Alfred'schen  Euklidbear- 
beituug  zu  verweilen.  Ist  damit  eine  Uebersetzung  gemeint,  die  zur 
Zeit  König  Alfred  des  Grossen  von  England,  mithin  in  der  zweiten 
Hälfte  des  IX.  Jahrhunderts  entstanden  sei?  Steht  damit  in  halbem 
Einklänge  jener  englische  Bericht  von  einer  Euklidübersetzung  zur 
Zeit  Königs  Athelstane  (S.  102),  der  als  zweiter  Nachfolger  Alfreds 
924 — 941  regierte?  Wir  können  nur  die  Frage  anregen,  nicht  be- 
antworten. 

Die  Bedeutung  der  griechischen  Mathematiker  schildert  Regio- 
montan  so  überzeugt,  dass  man  annehmen  darf,  er  habe,  als  er  die 
Rede  in  Padua  hielt,  dieselben  genau  gekannt.  Für  Euklid,  für  Ar- 
chimed  und  ApoUonius,  für  Hypsikles,  Menelaus,  Theodosius,  Eutokius 
steht  dem  auch  gewiss  kein  Zweifel  gegenüber.  Aber  wie  verhält 
es  sich  mit  den  13  Büchern  des  Diophant?  Regiomontan  kennt 
ihre  Zahl,  hat  er  aber  wirklich  13  Bücher  selbst  gekannt?  Sein 
Briefwechsel  giebt  uns  darauf  Antwort  und  gestattet  zugleich  eine 
angenäherte  Zeitbestimmung  jener  Vorlesung  in  Padua,  welche  mit 
anderen  Zeitbestimmungsgründen  im  Einklänge  steht.  Regiomontan 
sagt  am  Anfange  der  Rede,  er  habe  seit  zwei  Jahren  und  mehr  keine 
Vorlesung  gehalten.  Seine  erste  wiener  Lehrthätigkeit  endete  1461, 
die  Rede  in  Padua  muss  demnach  etwa  in  den  ersten  Monaten  von 
1464  gehalten  worden  sein.  Nun  besitzen  wir  einen  Brief  ^),  welchen 
Regiomontanus  aus  Venedig  an  Bianchini  schrieb.  Der  Brief  ist  nicht 
datirt,  aber  er  ist  die  Antwort  auf  einen  Brief  Bianchini's  vom 
5.  Februar  1464,  der  als  am  11.  dieses  Monats  Februar,  undecima 
huius  mensis  Februarii,  in  Venedig  angekommen  bezeichnet  wird. 
Regiomontan's  Brief  ist  also  auch  aus  dem  Monate  Februar  1464. 
Hier  erzählt  Regiomontan  dem  Freunde  im  Vertrauen,  er  habe  jetzt 
in  Venedig  den  griechischen,  noch  nicht  ins  Lateinische  übersetzten 
Arithmetiker  Diophant  gefunden.  Derselbe  verspreche  in  der  Vor- 
rede  13   Bücher,    aber    die   aufgefundene   Handschrift  enthalte    deren 


^)  M.  Curtze  im  Literarischen  Centralblatt  vom  30.  Juli  1892,  S.  1092. 
^)  Kästner  II,  507:  Incipit  ars  Geometriae  continens  364  propositiones  ab 
Euclide  in  Arabico  compositae  et  ah  Atelhardo  Gothico  in  latinum  assumpta 
In    der  Originalhandschrift    steht  nicht  Gothico  sondern   Goth.  ^)   Christ. 

Theoph.  De  Murr,   Memordbilia  Bibliothecarum  publicarum   Norimbergensium 
et  universitatis  Ältdorfinae,  Pars  I,  p.  135  (1786). 


264  55.  Kapitel. 

nur  sechs.  Würde  eiu  vollständiges  Exemplar  sich  auftreiben  lassen, 
so  wollte  er  wegen  dessen  Schönheit  und  Schwierigkeit  eine  Ueber- 
setzung  besorgen,  so  viel  Griechisch,  als  dieses  erfordere,  habe  er 
im  Hause  Bessarion's  gelernt.  Doch  fragt  er  auch  Bianchini's  Rath, 
ob  dieser  meine,  man  solle  schon  die  sechs  Bücher  übersetzen,  damit 
die  lateinische  Literatur  dieses  neuen  überaus  werthvollen  Geschenkes 
nicht  entbehre.  Von  späterer  Auffindung  einer  ergänzenden  Hand- 
schrift ist  nirgend  die  Rede,  wie  wir  ja  aiich  wissen  (Bd.  I,  S.  437), 
dass  auch  im  XHI.  Jahrhunderte  schon  nicht  mehr  als  sechs  Bücher 
aufzutreiben  waren.  Die  paduauer  Rede  berichtet  offenbar  mit  gleicher 
Begeisterung  wie  der  Brief  an  Bianchini  von  dem  gleichen  Funde, 
und  nehmen  wir  an,  Rede  und  Brief  seien  annähernd  gleichzeitig, 
die  Rede  natürlich  etwas  später,  so  kommen  wir  wieder  dazu,  sie 
(S.  256)  in  den  Monat  März  oder  April  1464  zu  verlegen. 

Damals  war  ein  anderes  Werk  Regiomontau's  schon  sehr  weit 
gediehen.  Wir  haben  zwei  Briefe  Bianchini's  vom  21.  November  1463 
und  vom  5.  Februar  1464.  Zwischen  diese  fällt  ein  Brief  Regiomon- 
tan's,  der  wieder  kein  Datum  trägt,  aber  durch  seine  Stellung  zwischen 
jenen  Briefen  hinlänglich  bestimmt  ist.  Er  muss  um  Neujahr  1464 
geschrieben  sein.  Damals  sagte  Regiomontan,  er  werde  Bianchini 
nächstens  die  Bücher  von  den  Dreiecken  schicken,  welche  er  ge- 
schrieben, aber  gegenwärtig  nicht  bei  sich  habe;  er  lasse  sie  aus 
Rom  kommen^).  Offenbar  handelt  es  sich  hier  um  die  hochbedeutende 
Schrift  De  triangulis  omnimodis  libri  quinque,  welche  1533 
im  Drucke  herauskam.  Wenn  auch  Griechen  und  Araber,  um  nur 
die  Völker  zu  nennen,  deren  Leistungen  Regiomontan  bekannt  werden 
konnten,  der  Trigonometrie  zu  einer  hervorragenden  Entwickelung 
verholfen  hatten,  wenn  auch  die  Sehnentafeln  der  Einen,  die  Sinus- 
tafeln und  Schatten  der  Anderen  ein  rechnendes  Verfahren  in  geo- 
metrischen Aufgaben  mit  Einbeziehung  von  Winkelgrössen  ermöglicht 
hatten,  darüber  war  doch  noch  Niemand  hinausgegangen.  Die  Trigono- 
metrie anders  behandeln  zu  sollen  als  in  Gestalt  einer  Einleitung  zur 
Astronomie  war  noch  Niemand  eingefallen,  und  diesen  grossartigen 
Fortschritt  von  einem  einleitenden  Kapitel  zum  selbständigen  Wissen- 
schaftstheil  vollzog  Regiomontan.  Den  Gedanken  freilich  führt  er  in 
der  von  ihm  verfassten  Vorrede  pietätsvoll  auf  den  geliebten  Lehrer 
zurück.  Peurbach  habe  bereits  beschlossen  eine  Kunst  der  Dreiecke, 
tnangidorum  artem,  zu  schreiben,  welche  in  den  ersten  sechs  Büchern 
des  Almagest  als  Bedürfniss  sich  erweise.  Der  Tod  hatte  die  Aus- 
führung dieses  Vorhabens  verhindert.    Weniger  genau  berichtete  Regio- 


1)  Murr,  1.  c.  p.  90—91. 


Deutsche  Universitäten.     Regiomontanus.  265 

moutan  über  andere  Vorarbeiten.  Wir  haben  (^S.  262)  gesagt,  er 
habe  die  Uebersetzung  des  Dschäbir  ibn  Aflah  durch  Gerhard  von 
Cremona  gekannt.  Genaue  Vergleichung  mit  den  Büchern  De  trian- 
gulis  hat  dieses  sichergestellt^),  aber  genannt  ist  diese  Quelle  nirgend. 
Freilich  war  Regiomontans  Arbeit  erst  bis  zur  Niederschrift  einer 
Vorrede  und  dem  Druckfertigmachen  des  ersten  Buches  gediehen,  als 
auch  er  starb.  Au  die  vier  weiteren  Bücher  hatte  er  die  letzte  Hand 
noch  zu  legen.  Man  sieht  das  daran,  dass  in  den  vier  späteren 
Büchern  in  Regiomontan's  Handschrift  die  Nummern  der  Sätze  fehlen, 
auf  welche  rückbeziehend  die  Beweise  gegründet  sind.  Man  hätte 
auch  die  Ungleichmässigkeit  der  Bezeichnung  als  Zeichen  der  Un- 
fertigkeit  erwähnen  können.  Im  ersten  Buche  heissen  die  Dreiecke, 
von  denen  gehandelt  ist,  immer  ahc,  in  den  Folgebüchern  meistens 
ahg ,  während  das  fünfte  Buch  zu  der  lateinischen  Buchstabenfolge 
ahc  zurückkehrt.  Auch  in  diesem  Zustande  war  die  Veröffentlichung 
der  nachgelassenen  Handschrift  eine  Noth wendigkeit,  welcher  aber 
der  erste  Besitzer  sich  nicht  fügte.  Walther  war  von  Regiomontan, 
als  er  die  zweite  und  letzte  Römerreise  antrat,  die  Aufbewahrung  seiner 
Handschriften  u.  s.  w.  anvertraut  worden,  und  als  nun  der  Freund  in  der 
Ferne  starb,  nahm  Walther  es  nur  zu  genau  mit  dem  Worte  der 
Aufbewahrung.  Er  hielt  Alles,  was  er  von  Regiomontan's  Hand  be- 
sass,  ängstlich  verschlossen,  ohne  es  nur  Jemand  sehen  zu  lassen. 
Walther  selbst  starb  1504  im  Alter  von  74  Jahren,  und  nun 
hätte  die  Sorglosigkeit  der  Erben  leicht  die  gleiche  Folge  haben 
können  wie  die  übertriebene  Sorgfalt  Walther's  selbst,  dass  die  werth- 
vollen  Handschriften  nutzlos  geblieben  wären.  Sie  wurden  da  und 
dorthin  zerstreut.  Manches  scheint  dabei  zu  Grunde  gegangen  zu  sein. 
Die  fünf  Bücher  über  Dreiecke  kaufte  Willibald  Pirckheimer, 
von  welchem  später  noch  die  Rede  sein  wird,  und  er  übergab  sie 
einem  gleichfalls  später  noch  zu  nennenden  Johannes  Schöner  zur 
Herausgabe,  die  1533  erfolgte. 

Das  I.  Buch  mit  57  Sätzen  ist  zunächst  nur  einleitender  Natur. 
Das  Quadrat  einer  gegebenen  Seite  ist  bekannt.  Die  Seite  eines  ge- 
gebenen Quadrates  ist  bekannt.  Die  Summe  gegebener  Grössen  ist  be- 
kannt. Der  Unterschied  gegebener  Grössen  ist  bekannt.  Zwei  gegebene 
Grössen  stehen  in  dem  Verhältnisse  ihrer  Maasszahlen  u.  s.  w.,  u.  s.  w. 
Der  19.  dieser  einleitenden  Sätze  behauptet,  dass  die  Kenntniss  dreier 
von  vier  in  Proportion   stehenden    Grössen   genüge,   damit  auch    die 


*)  Nassir  Eddin  Tüsi  und  Regiomontan  von  A,  von  Brauumühl  (Abhand- 
lungen der  Kaiserl.  Leop.-Carol.  Deutschen  Akademie  der  Naturforscher  Bd.  71 
Nr  2.  Halle  1897). 


266 


55.  Kapitel. 


vierte  bekannt  sei.  Alle  diese  Sätze,  so  einfach  sie  sind,  werden  in 
euklidischer  Art  bewiesen,  wobei  jedesmal  die  Grössen  durch  ihre 
Maasszahlen  ersetzt  sind.  Euklid  freilich  imterliess  es  in  einem  solchen 
Falle  nie  eine  Vorfrage  zu  stellen,  zu  untersuchen,  ob  gegebenen 
Grössen  gegebene  Zahlen  wirklich  entsprechen,  ob  Rationales  vor- 
liege oder  nicht.  Bei  Regiomontanus  ist  nichts  dergleichen  zu  finden. 
Nicht  als  ob  er  in  ungründlicher  Weise  an  der  Unterscheidung 
zwischen  Rationalem  und  Irrationalem  vorüberginge,  er  macht  vielmehr, 
möchte  man  sagen,  diese  Unterscheidung  dadurch  entbehrlich,  dass 
er  den  Begriff  des  Bekanntseins  anders  fasst^).  Bekannt 
will  er  mit  einem  und  demselben  Worte  jede  Grösse  genannt  wissen, 
die  entweder  genau  bekannt,  oder  einer  gegebenen  Grösse  beinahe 
gleich  ist.  Der  20.  Satz  eröfi'net  die  eigentliche  Trigonometrie.  An 
der  beigefügten  Figur  (Fig.  38)  wird  erörtert,  dass  um  den  Eck- 
punkt o.  des  bei  c  rechtwinkligen  Dreiecks  ahc 
mit  der  Hypotenuse  ah,  als  der  grössten  Drei- 
ecksseite, als  Halbmesser  ein  Kreis  beschrieben 
und  ac  bis  zum  Durchschnitte  e  mit  der  Kreis- 
linie verlängert  werden  solle,  dann  sei  hc  der 
Sinus  des  Bogens  he,  und  die  dritte  Dreiecks- 
seite ac  sei  gleich  dem  Sinus  des  Complementes^) 
des  Bogens  he.  Regiomontan  wendet  sich  aber 
von  diesen  Definitionen  gleich  wieder  ab  zu 
den  Dreiecksstücken,  deren  Kenntniss  zu  erlangen  ist,  ohne  die  eben 
eingeführten  Längen  weiter  zu  benutzen.  Im  gleichschenkligen  recht- 
winkligen Dreiecke  seien  beide  Winkel  gleich.  In  demjenigen  recht- 
winkligen Dreiecke,  dessen  Hypotenuse  doppelt  so  lang  als  eine  Ka- 
thete ist,  sei  der  von  diesen  beiden  Linien  gebildete 
spitze  Winkel  doppelt  so  gross  als  der  andere.  Der 
dritte  Dreieckswinkel  ergebe  sich  aus  den  beiden  an- 
deren. Die  dritte  Seite  eines  rechtwinkligen  Dreiecks 
sei  durch  die  beiden  anderen  gegeben.  Der  28.  Satz 
führt  zu  dem  Sinus  zurück,  indem  er  ausspricht,  die 
Winkel  (Fig.  39)  eines  bei  c  rechtwinkligen  Dreiecks 
seien  bekannt,  wenn  das  Verhältniss  zweier  Seiten  des 
Dreiecks  bekannt  sei.  So  sei  z.  B.  a  &  :  ac  =  9  :  7.  Nim  sei  der 
Halbmesser,  welchen  Regiomontan  sinus  rectus  totus  nennt,  60000 
[Peurbach  nahm  ihn  (S.  185)  in  der  Länge  von  600000  an],  der  Sinus 


Fig.  38. 


Fig.  39. 


^)  Quantitatem  üjitur  omnem  quae  aut  nota  iwaecise  fuerit  mit  notae  quan- 
titati  ferme  aequalis  univoce  notam  appeUahimus  heisst  es  bei  dem  Satze,  dass 
die  Seite  eines  gegebenen  Quadrates  bekannt  sei,  der  die  Ausziehung  einer 
Quadratwurzel  einschliesst.         -)  aequaJe  est  sinui  recto  complementi  arcus  he. 


Deutsche  Universitäten.     Eegiomontanus.  267 

des  -^ahc  ist  also  oder  ungefähr  (fere)  46667,  und  diesem 

Sinus  entspricht  ungefähr  der  Winkel  von  51°  3'.     Ist  ferner 

ac  :  ch  -=  12  :  5, 
so  folgt  wegen  12^  -f-  5^  =  13^,  dass  ah  :  ac  =  13  :  12,  und  damit 
ist  wie  vorher  der  Weg  zur  Kenntniss  des  Winkels  ahc  eröffnet^). 
Umkehrungen  dieser  Aufgaben  am  rechtwinkligen  Dreiecke  folgen, 
und  dann  kehrt  die  Darstellung  wieder  zu  nicht  trigonometrischen 
Betrachtungen  zurück.  Die  Lage  der  Höhe  eines  Dreiecks  wird  be- 
sprochen und  dabei  des  gemeinsamen  Durchschnittes  der  drei 
Höhen  erwähnt,  welchen  Regiomontan  anderwärts  bewiesen  habe^). 
Der  Satz  selbst  war  übrigens  schon  Proklus  bekannt^).  Im  43.  Satze 
führen  die  beiden  Abschnitte,  welche  die  Höhe  auf  der  Grundlinie 
hervorbringt,  den  Namen  casus,  welcher  uns  bei  Leonardo  von  Pisa 
(S.  37)  und  bei  Jordanus  (S.  83)  schon  auffiel.  Im  51.  Satze  ist  der 
zweideutige  Fall  besprochen,  dass  zwei  Dreiecksseiten  und  ein  spitzer 
der  einen  Seite  gegeoüberliegender  Winkel  gegeben  seien,  der  aber 
vollständig  bestimmt  werde,  sobald  man  erfahre,  ob  die  vom  Schnitt- 
punkte der  gegebenen  Seiten  auf  die  dritte  gefällte  Senkrechte  diese 
selbst  oder  ihre  Verlängerung  treflFe. 

Das  II.  Buch  von  33  Sätzen  beginnt  mit  dem  Satze  von  der 
Proportionalität  zweier  Dreiecksseiten  zu  den  Sinussen  der  gegenüber- 
liegenden Winkel*).  Er  soll  (Fig.  40)  am 
Dreiecke  ahg  bewiesen  werden,  und  zwar 
dass  ah  :  ag  =  sing  :  sin h.  Ist  h  ^^  90*^,  so 
bedarf  der  Satz  ebensowenig  eines  weiteren 


Beweises,   als  wenn  h  =  g.     Sei  also  h  '^  g,    6        «k  hl       & 

mithin   von    den    gegenüberliegenden    Seiten  Fig  ■lo- 

ag  >  ah.     Aus    h    wird    mit    hd  =  ag    als 

Halbmesser    ein    Kreisbogen    beschrieben ,    ebenso    aus    g    mit    dem 

gleichen   Halbmesser.     So  zeigt  sich    fZ/i  =  sin&,    aA:  =  sin^,    ferner 

aÄ-  :  dh  ==ha  :  hd, 
womit  der  Satz  bewiesen  ist.     Aus  ihm  ergeben  sich  die  Auflösungen 
mannigfaltiger  Aufgaben.     Z.  B.  ein  Dreieck  zu  finden,  wenn  folgende 
drei   Stücke   bekannt    sind:  zwei   Winkel  und  die   Summe   der  ihnen 
gegenüberliegenden  Seiten  (II,  2);  zwei  Winkel  und  der  Umfang  des 

^)  unde  ut  xmus  angulo  ahc  cognoscendo  nia  parata  est.  ^)  Tres  autem 
perpendiculares  ülae  in  eodem  puncto  se  intersecabimt,  quod  alio  in  loco  demonstra- 
tum  tradidimus.  ^)  Proklos   Commentar  zu   Euklid    (ed.   Friedlein)  p.  72, 

Z.  17 — 19.  *)  In  omni  triangulo  rectilineo  proportio  lateris  ad  latus  est  tanquam 
sinus  recti  anguli  alterum  eorum  respicientis  ad  sinum  rectum  anguli  reliquum 
latus  respicientis. 


268  55.  Kapitel. 

Dreiecks  (II,  7);  das  gegenseitige  Verhältniss  der  drei  Seiten  und  die 
Länge  einer  Höhe  (II,  8);  das  gegenseitige  Verhältniss  der  drei  Seiten 
und  der  Flächeninhalt  (II,  10).  Wir  erwähnen  noch  den  Fall  II,  15, 
in  welchem  die  Grundlinie,  die  Summe  der  beiden  anderen  Seiten 
und  der  von  ihnen  eingeschlossene  Winkel  gegeben  sind.  Man  hal- 
birt  (Fig.  41)  den  Winkel  bei  a  durch  ad,  so  muss  sein 

hd  :  dg  ^  ah  :  ag 
oder    ah  :hd  ^  ag  :  dg,    also  auch 

(ah  +  ag)  :  (hd  -\-  dg)  =  ah  :hd  ^=  sin  ad h  :  sin    "-  • 
Hier  ist   ah  -\-  ag  die  gegebene   Seitensumme,    hd  -\-  dg   die   Grund- 
linie, der  Winkel  -^  gleichfalls  gegeben ;  mithin  ist  auch  der  Winkel 

adh  und  mit  ihm  der  ahg  sowie  agh  gegeben,  und  der  Fall  des 
Satzes  II,  2  ist  wieder  hergestellt.    Eine  weitere  Aufgabe  II,  24  sucht 


Fig.  42. 

aus  den  drei  Dreiecksseiten  den  Durchmesser  des  Umkreises.  Seien 
(Fig.  42)  ah,  hg  die  beiden  kleinsten  Dreiecksseiten,  so  sind  die 
Winkel  bei  g  und  a  spitz,  und  die  Senkrechte  hz  trifft  die  ag  zwischen 
ihren  beiden  Endpunkten.  Das  Dreieck  ahz  ist  alsdann  winkelgleich 
mit  dem  dhg  und  hz  :ha  ^  hg  :hd.  Die  Höhe  hz  mit  Hilfe  der 
drei  Dreiecksseiten  zu  finden,  ist  schon  in  I,  46  gelehrt,  somit  sind 
in  der  eben  angeschriebenen  Proportion  hz,  ha,  hg  gegeben  und 
dadurch  hd  bekannt.  Der  Satz  II,  5  ist  durch  einen  (in  der  Druck- 
ausgabe allerdings  durch  einen  Fehler  entstellten)  Vorschlag  bemer- 
kenswerth,  welchen  Regiomontan  macht,  indem  er  ihn  freilich  selbst 
zur  praktischen  Anwendung  nicht  empfiehlt^).  Sind  in  einem  Drei- 
ecke die  beiden  Seiten  ah,  ag  (im  Drucke  steht  irrthümlich  hg)  und 
der  von  ihnen  eingeschlossene  Winkel  hag  gegeben,  so  ist  damit 
zugleich  auch  die  Summe  der  beiden  anderen  Winkel  ahg  -\-  agh 
und  das  Verhältniss  ihrer  Sinus  gegeben  sin  ahg  :  sin  agh  =  ag  :  ah. 
Dann  bleibe   aus   den  letzteren   beiden   Angaben   die  Winkel    einzeln 


')  Non  tarnen  per  hanc  viam  operanduin  suadeo. 


Deutsche  Universitäten.     Regiomontanus. 


269 


zu  finden,  und  das  sei  im  III.  Buche  gezeigt.  Veimuthlich  ist  diese 
letztere  Verweisung  selbst  wieder  ein  Druckfehler,  da  der  betreffende 
Satz,  wie  wir  weiter  unten  sehen  werden,  als  IV,  23  sich  vorfindet. 
Zwei  Aufgaben  des  zweiten  Buches  II,  12  und  II,  23  haben  regel- 
mässig die  Aufmerksamkeit  der  Leser  dadurch  gefesselt,  dass  sie 
algebraisch  behandelt  sind.  In  II,  12  ist  eine  Seite  und  die  zu  ihr 
gehörende  Höhe  gegeben.  Ausserdem  ist  gegeben  das  Verhältniss  der 
beiden  anderen  Seiten,  die  dann  einzeln  gesucht  werden.  Die  Schlüsse 
Regiomontan's  sind  folgende,  wobei  wir  nur  die  Wörter  res,  census 
durch  X,  x^  ersetzen^).     Es  sei  (Fig.  43)  ah:ag  =  ^:b,  also  ah<.ag, 


so  liegt  d  näher  bei  h  als  bei  g  und 
wählt  eg  als  doppelte  Unbekannte  =  2x, 
he  =  hg  —  2x  =20  —  2x  in  dem  vor- 
liegenden Falle,  wo  hg  =  20.  Daher 
ist  hd==10  —  x  und  dessen  Quadrat 
=  100  +  X'  —  20 :i-.  Bei  ad  ^  b  wird 
ad^  =  25,  mithin 


man   mache   de  =  hd.     Man 


Fig.  43. 


ah'  =  hd^  +  ad'  =  x'  +  125 


20: 


Ebenso  ist 


dg  =  de  +  eg 


10 


dg'  = 
mithin 


x'  -{-20x-\-\00,     ag' 


{x'  +  125 


-x-^2x  =  \0-^x, 
dg'  +  ad'  =  x'-+  125  +  20x, 


20a:)  :  {x'  +  125  +  20:r)  =  9  :  25, 

woraus  IQx'  +  2000  =  680  a: 

und  was  noch  erübrigt,   darüber  werden   die  Vorschriften    der  Kunst 

belehren^).     Die  andere  Aufgabe  II,  23  nimmt 

als  gegeben   an   den  Unterschied  zweier  Seiten 

^3,   die   von  ihrem  Durchschnittspunkte    aus 

gefällte  Höhe   =10  und  den  Unterschied   der 

Abschnitte  der  Grundlinie  =  12.    Weil  (Fig.  44) 

eg  =^  12  das  vierfache  von  gh=^  3  ist,  muss  die 

Summe  ah-\-  ag  das  vierfache  von  hg  sein.   Re- 

giomontan  begründet  diese   Behauptung  nicht, 

von  ihrer  Richtigkeit  kann  man  sich,  wie  folgt, 

überzeugen.     Es  ist 


Fig.  44. 


ad'  ^^  ah'  —  hd'  =  ag'  —  dg'  =  (ah  -\-  hg)'  - 
=  {ah  +  hgf-{hd-\-egf. 
Daraus  folgt  2ah  ■  hg  -\~  hg'  =  2hd  ■  eg  -\-  eg' 


{de  +  egf 


')  Hoc  xyrohlema  geometrico  more  absolvere  non  licuit  hactenus,  sed  per  artem 
rei  et  census  itl  efficere  conabimur.         -)  quocl  restat  x>raec^-)ta  artis  edocebnnt. 


270  55    Kapitel. 

oder  (2 ah  -j-  hg)  :  (2.hd  -{-  eg)  =  eg  :  hg 

beziehungsweise  (ah  -\-  ag)  :hg  ^=  eg  :hg. 

Heisst  nun  die  Grundlinie  x,  so  ist  also  ah  -\-  ag  =^  4x.     Weiter  ist 
hd=  -X 6;     ah  =  2x  —  -,  folglich  geht  ah^=  hd~-{-  ad^  über 


(2^-Y)'=(f-'^r+i'^'ö,  d. 


4:^2  —  6;r  +  -J  =  :^  —  6a;  +  36  +  100 

oder  ein  Vielfaches  von  x^  gleich  einer  ZahP). 

Das  III.  Buch  von  56  Sätzen  führt  den  Verfasser  zur  Geometrie 
der  Kugel.  Von  Ausrechnungen  von  Winkeln  oder  Seiten  ist  dabei 
keine  Rede.  Da  erscheinen  Sätze  über  Grösstekreise  und  deren  Pa- 
rallelkreise auf  der  Kugel,  über  die  Pole  solcher  Kreise,  die  zwar 
nicht  definirt  werden,  unter  welchen  jedoch  nur  sphärische  Mittel- 
punkte verstanden  sein  können.  Da  heisst  es  III,  35,  dass  bei  sphä- 
rischen, d.  h.  aus  Bögen  von  Grösstenkreisen  derselben  Kugel  gebil- 
deten Dreiecken  Gleichheit  aller  Seiten  (latera)  auch  die  Gleichheit 
der  einander  entsprechenden  Winkel  nach  sich  ziehe,  ferner  III,  36, 
dass  die  Gleichheit  zweier  Seiten  und  des  eingeschlossenen  Winkels 
von  der  Uebereinstimmung  der  beiden  sphärischen  Dreiecke  auch  in 
den  übrigen  Stücken  begleitet  sei.  Da  lehrt  III,  39  den  Satz,  dass 
die  drei  Seiten  eines  Dreiecks  zusammen  kleiner  als  ein  Grössterkreis 
und  III,  49,  dass  die  drei  Winkel  zusammen  grösser  als  zwei  Rechte 
sein  müssen.  Als  Muster  für  dieses  Buch  scheint  unmittelbar  oder 
mittelbar  die  Sphärik  des  Menelaus  (Bd.  I,  S.  386)  gedient  zu  haben. 
Das  IV.  Buch  von  34  Sätzen  setzt  in  den  14  ersten  Sätzen  den 
Gegenstand  des  III.  Buches  fort.  In  IV,  15  kommt  zuerst  wieder 
das  Wort  Sinus  vor,  und  IV,  16  spricht  für  das  rechtwinklige  sphä- 
rische Dreieck  den  in  IV,  17  auf  alle  sphärischen  Dreiecke  überhaupt 
ausgedehnten  Satz  von  der  Proportionalität  der  Sinusse  von  Seiten 
zu  denen  der  gegenüberliegenden  Winkel  aus.  Nun  kommen  die 
beiden  übrigen  Sätze  der  sphärischen  Trigonometrie  für  das  recht- 
winklige Dreieck.  Um  sie  kürzer  schreiben  zu 
können,  mögen  (Fig.  45)  c  die  Hypotenuse,  a,  h 
die  Katheten,  C,  A,  B  die  gegenüberliegenden 
Winkel  (C  =  90«)  bedeuten,  so  ist  IV,  18  der 
Satz  sin  ^  •  cos  &  =  cos  i?  und  IV,  19  der  Satz 
cos  c  =  cos  a  ■  cos  6.  In  IV,  21,  22,  23  sind  Sätze 
eingeschaltet,  welche  wieder  der  Ebene  angehören,  und  auf  deren 
letzten   in  II,  5  hingewiesen    worden  war,  welche   aber  Regiomontan 

^)  habebimus  census  aliquot  aecßudes  numero. 


Deutsche  Universitäten.     Regfiomontanus. 


271 


offenbar  in  vollbewusster  Absicht  bis  zum  IV.  Buche  aufsparte,  weil 
sie  hier  ihre  wichtigste  Anwendung  finden  sollten.  Es  sind  die  Sätze, 
welche  aussprechen,  zwei  Bögeu  seien  einzeln  bekannt,  wenn  das  Ver- 
hältniss  ihrer  Sinus  und  ausserdem  ihre  Summe,  beziehungsweise  ihre 
Differenz  gegeben,  die  Summe  überdies  kleiner  als  der  Halbkreis  sei, 
eine  Bedingung,  von  welcher  IV,  23  wieder  Abstand  nimmt.  Sind 
(Fig.  46)  ag  und  gh  die  beiden  Bögen,  deren  Summe  ah  gegeben  ist, 
und  ist  ae  =  Biwagj  hh  =  sin  gh,   also  ae  :  hh=  r  :  s  gegeben^),  so 

ist   entweder  r  =  s  und   dann   auch    arc.  ag  ^=  gh^=  ^- ah    oder    die 

Zahlen    r,  s    sind    ungleich,    etwa    r  >  s.     Wegen    Aaed (\)hhd   ist 

ae  :  hh=^  ad  :hd  =  r:s  und  (ad  -\-  hd)  :bd  =^  (r  -{-  s)  :  s,  hd  =  - ,—  ah, 

folglich  bekannt  dui-ch  eine  Sehnen-  oder  Sinustafel,  in  welcher  man 
die   zum  Bogen    ah   zugehörige   Sehne 
ah   aufsuchen   kann.     Ist    hd   und    hk 

=  -^  (ih  bekannt,   so  kennt  man  auch 

dJc.  Würde  man  die  Rechnung  aus- 
führen, welche  Regiomontau  nur  an- 
zudeuten sich  begnügt,  so  käme 

—  s      .    /       ag  -{-  l>g\ 
_^-.sm(arc.-^^)- 

Ferner  ist  im  rechtwinkligen  Dreiecke 
zak  sowohl  ^a  als  ak  bekannt,  also 
auch  sk.  Im  rechtwinkligen  Dreiecke 
zkd  kennt  man  jetzt  zk  und  dk  d.  h.  zwei  Seiten,  somit  auch  den 
Winkel  dsk  oder  arc.  gl,  und  arc.  la  ist  die  Hälfte  von  arc.  a?>, 
mithin  ist  äre.  ag  und  arc.  hg  =  arc,  ah  —  arc.  ag  gefunden.  Durch 
Anwendung  dieser  drei  Sätze  IV,  21,  22,  23,  an  welche  noch  einige 
Folgerungen  sich  anschliessen,  kommt  Regiomoutan  zu  den  beiden 
merkwürdigsten  Sätzen  IV,  33'  und  34  seines  ganzen  Werkes,  aus 
den  drei  Winkeln  des  sphärischen  Dreiecks  könne  man  die 
drei  Seiten,  aus  den  drei  Seiten  die  drei  Winkel  erhalten. 
Es  braucht  wohl  kaum  gesagt  zu  werden,  dass  eine  Ableitung  einer 
geschmeidigen  Formel  nicht  von  Regiomontan  erwartet  werden  darf. 
Ihm  genügt  es  zu  zeigen,  dass  Rechnung  zum  Ziele  führt,  gleichwie 
in  dem  Hilfssatze  IV,  23,  über  den  wir  berichtet  haben,  sein  Bestreben 
auch  nicht  weiter  ging.  Aber  auch  in  dieser  Einschränkung  des 
Erreichten,  des  zu  erreichen  Versuchten  ist  der  Satz  IV,  33  ein  un- 
bedingt neuer,   und  dessen  ganze  Bedeutung  tritt    bei  der  Erwägung 

^)  ut  sü  proportio  sinus  ae  ad  sinum  hh  sicut  r  ad  s. 


dk  = 


Fig.  4G. 


272  55.  Kapitel. 

hervor,  wie  schwer  es  einem  iu  ebener  Geometrie  geschulten  Geiste 
werden  musste,  sich  in  den  Gedanken  zu  finden,  es  könnten  drei 
Winkel  zur  Bestimmung  eines  Dreiecks  ausreichen.  Regiomontan's 
Satz  IV,  33  ist  sein  unbestrittenes  Eigenthum.  Der  Satz  IV,  34  tritt 
zwar  schon  bei  Albattäni  auf  (Bd.  I,  S.  694),  doch  ist  aller  Grund 
anzunehmen,  Regiomontan  habe  bei  Bearbeitung  seiner  Bücher  von 
den  Dreiecken  die  Schriften  jenes  arabischen  Astronomen  auch  in 
der  Uebersetzung  durch  Plato  von  Tivoli  nicht  gekannt,  oder  erst 
seit  sehr  kurzer  Zeit  gekannt.  Dieser  Annahme  widerspricht  nicht 
die  Art  und  Weise,  in  der  er  in  Padua  von  einem  gewissen  Plato 
von  Tivoli  (S.  262)  als  Uebersetzer  sprach ;  ihr  widerspricht  nicht  die 
Anwendung  des  Wortes  Sinus,  welches  aus  jener  Uebersetzung  in 
allgemeine  Benutzung  längst  eingedrungen  war,  und  unterstützt  wird 
sie  durch  den  Umstand,  dass  er  sonst  in  jener  Uebersetzung  doch 
wohl  auch  auf  die  Cotangenten  aufmerksam  geworden  wäre,  die  ihm 
bei  Fertigstellung  des  ersten  Buches  der  Trianguli  noch  fremd  waren. 
Wir  können  diesen  Schluss  aus  I,  27  ziehen,  wo  die  Herleitung  der 
Winkel  eines  rechtwinkligen  Dreiecks  aus  den  beiden  -Katheten  auf 
dem  Umwege  erfolgt,  dass  zuvor  mit  Hilfe  des  pythagoräischen  Lehr- 
satzes die  Hypotenuse  ermittelt  wird,  anders  könne  man  den  Winkel 
nicht  finden^). 

Das  V.  Buch  ist  das  kürzeste  und  schliesst  nur  15  Sätze  und 
Aufgaben  in  sich,  die  meistens  der  sphärischen  Trigonometrie  an- 
gehören. Es  sind  zum  Theil  zum  zweiten  Male  auftretende  Auf- 
gaben, wie  z.  B.  IV,  34  als  V,  3  und  als  V,  4  sich  wiederholt,  nur 
mit  anderen  Auflösungsmethoden,  bei  welchen  der  Sinus  versus  eine 
Rolle  spielt.  Das  Wort  ist  uns  bei  Leonardo  von  Pisa  (S.  38) 
begegnet.  Seine  Bedeutung  ist  der  Unterschied  zwischen  dem  Sinus 
totus  und  dem  Sinus  des  Complementwinkels:  sin  vers.  a  =  1 — cos«. 
Der  Sinus  versus  tritt  schon  in  V,  2  auf,  wo  er  Bestandttheil  einer 
ausseroi'dentlich  verwickelten  Proportion  ist,  welche  in  neuerer  Be- 
zeichnung immerhin  etwas  übersichtlicher  als  iu  dem  schleppenden 
Wortlaute  Regiomontan's 

sin  vers.  C  :  (sin  vers.  c  —  sin  vers.  (a  —  h))  =  sinus  totus  :  sin  a  ■  sin  h 
aussieht.  Erst  im  XV.  Abschnitte  werden  wir  einen  Schriftsteller 
kennen  lernen,  der  die  Bedeutung  dieses  ohne  grössere  Schwierigkeit 
in  cosc  =  cos  a  ■  cos  h  -f-  sin  a  •  &mh  ■  cos  C  umzuwandelnden  Satzes 
zu  würdigen  wusste.  Wir  erwähnen  weiter  den  Satz  V,  7,  dass  in 
einem  sphärischen  Dreiecke,  dessen  einer  Winkel  halbirt  ist,  die 
Sinusse   der   durch   die  Winkelhalbirende    auf  der  Grundlinie    hervor- 


^)  nam  ahsque  eo  propositum  aftingenäi  non  erit  potestas. 


Deutsclie  Universitäten.     Regiomontanus.  273 

gebrachten  Abschnitte  sich  wie  die  Sinusse  der  anliegenden  Seiten 
verhalten.  Endlich  ist  etwa  über  die  Winkelbezeichnung  zu  bemerken, 
dass  dieselbe  in  den  einzelnen  Büchern  wechselt.  In  den  drei  ersten 
Büchern  sind  Grade  und  Minuten  als  Worte  ausgesprochen,  z.  B.  gra- 
dus  36  et  niinuta  52  in  II,  27.  Im  IV.  Buche  bezeichnet  ein  Hori- 
zontalstrich über  der  Zahl  die  Grade,  neben  welchen  durch  ein  Pünkt- 
chen getrennt,  aber  sonst  nicht  ausgezeichnet  die  Minuten  erscheinen, 
etwa  3G:  52.  Beispiele  sind  häufig  IV,  21,  22,  25,  26,  27,  34.  Im 
V.  Buche  kommen  Zahlenbeispiele  überhaupt  nicht  vor. 

Zur  Bestimmung  des  Zeitpunktes,  zu  welchem  die  fünf  Bücher 
von  den  Dreiecken  wenigstens  in  erster  Bearbeitung  vollendet  ge- 
wesen sein  müssen,  diente  uns  (S.  264")  ein  um  Neujahr  1464  von 
Regiomontan  an  Bianchini  gerichteter  Brief.  In  dem  gleichen  Briefe 
ist  auch  von  einer  anderen  Arbeit  die  Rede,  welche  Regiomontan 
damals  beschäftigte^).  Es  war  ein  Tabellenwerk,  welches  unter  dem 
Namen  Tabula  primi  mobilis  im  Jahre  1514  bei  den  berühmten 
wiener  Buchdruckern,  den  Gebrüdern  Alantsee,  vereinigt  mit  an- 
deren Tafeln  im  Drucke  erschien.  Regiomontan  selbst  nennt  sie 
eine  Tafel  doppelten  Einganges  —  usus  tabidae  est  intrare  cum 
duohus  numeris  —  und  vielleicht  dürfte  dieses  die  erste  Anwendung 
der  später  landläufig  gewordenen  Ausdrucksweise  sein.  Bedeutet 
wieder  (wie  S.  270)  C  den  rechten  Winkel  eines  sphärischen  recht- 
winkligen Dreiecks,  c  die  gegenüberliegende  Hypotenuse,  a,  1)  die 
beiden  Katheten  und  A,  B  die  ihnen  gegenüberliegenden  Winkel, 
so  ist  sin  a  ==  sin  c  •  sin  Ä.  Die  c  wachsen  von  Grad  zu  Grad  und 
je  eine  solche  Grösseubestimmung  eines  c  steht  unter  dem  Namen 
numerus  transversalis  oben  auf  einer  Folioseite.  Den  zweiten 
Eingang  in  die  Tabellen  gestatten  die  gleichfalls  um  ganze  Grade 
sich  verändernden  Winkel  Ä.  Sie  heissen  numeri  laterales,  weil 
sie  an  der  Seite  der  Tafel  auftreten.  Daneben  findet  sich  alsdann 
die  gegenüberliegende  Kathete  a  ausgerechnet  in  Graden,  Minuten 
und  Secunden.  Ihr  Name  i.st  der  der  numeri  areales.  Die  An- 
wendbarkeit der  Tafel  wäre  bei  den  grossen  Zwischenräumen,  in 
welchen  die  in  der  Tafel  unmittelbar  stehenden  Eingangsgrössen  von 
einander  abstehen,  eine  sehr  beschränkte,  wenn  Regiomontan  nicht 
Sorge  dafür  getragen  hätte,  dass  Proportionaltheile  berechnet  werden 
können.     Das    geschieht,    wie    folgt.     Ist    c  =  61^,    A  =  75°,    so    ist 

^)  Murr,  Memorahilia  Bibliotheearum  piiblicarum  Norimbergensium  et  uni- 
versitatis  Altdorfinae.  Pars  I,  pag.  85  und  94—98.  Vergleiche  insbesondere 
Pfleiderer  S.  130  Note  c  und  die  Beschreibung  der  Tabula  primi  mobilis  bei 
Kästner,  E,  526—535. 

Cantob,  Geschichte  der  Mathem.   U.    2.  Aufl.  18 


274 


55.  Kapitel. 


a  =  62^  45'  55"  angegeben.  Ist  wieder  bei  c  =  67°,  A  =  16^,  so  ist 
a  =  63'^  16'  24"  angegeben,  um  30'  29"  grösser  als  vorher,  und  diese 
differentia  descendens  oder  subiectitia  steht  unter  dem  obi- 
gen a.  Wäre  A  weiter  75°  geblieben,  aber  c  zu  68°  angewachsen, 
so  ist  tafelmässig  a  =  63°  35'  4"  angegeben,  d.  h.  49'  9"  mehr  als 
vorher,  und  diese  differentia  lateralis  ist  nun  seitlich  von  dem 
numerus  arealis  abgedruckt,  so  dass  also  ein  kleines  Theilchen  des 
mit  der  Transversalzahl  67°  überschriebenen  Blattes  folgendermassen 
aussieht : 


laterales 

areales 

diflf.  lateralis 

75 

62.  45.  55 
30.  29 

49.     9 

76 

63.  16.  24 

28.  54 

50.  15 

In  dem  wiederholt  genannten  Briefe  von  der  Jahreswende  1463  auf 
1464  sind  40  Aufgaben  der  praktischen  Astronomie  gestellt,  die  alle 
mittels  der  Tafel,  wenn  sie  fertig  sei,  eine  leichte  Lösung  finden 
würden.  Von  den  40  Aufgaben  sind  36,  vermehrt  um  27  andere, 
also  insgesammt  63  Aufgaben  der  Druckausgabe  der  Tabula  primi 
mobilis  als  Einleitung  vorausgeschickt.  Schon  aus  dieser  nicht  un- 
wesentlichen Aenderung  kann  man  schliessen,  dass  die  Tabula  primi 
mobilis  zu  Anfang  1464  noch  nicht  vollständig  druckreif  war.  Das 
Gleiche  folgt  mit  noch  grösserer  Bestimmtheit  aus  der  43.,  44.  und 
60.  Aufgabe  der  gedruckten  Einleitung,  in  welchen  der  Name  eines 
anderen  Tafelwerkes  vorkommt,  an  welches  Regiomontan  1464  noch 
nicht  dachte. 

Wir  meinen  die  Tabula  directionum.  Nach  einer  Angabe 
des  Geschichtsschreiber  Thuanus  soU  Regiomontan  1475  in  Nürnberg, 
bevor  er  seine  zweite  Römerreise  antrat,  die  Drucklegung  besorgt 
haben  \).  Diese  Ausgabe,  die  allerdings  nirgend  genauer  beschrieben 
ist  und  darum  vielfach  angezweifelt  wird,  soll  die  Ueberschrift  ge- 
führt haben:  Liidus  Pannoniensis  quem  alias  vocare  lihuit  talmlas 
directionum,  welche  zu  erkennen  gäbe,  dass  sie  in  Ungarn  berechnet 
wurde.  Eine  zweite  durchaus  gesicherte  Druckausgabe  fertigte  Er- 
hardt  Ratdolt  1490  in  Augsburg.  Ihr  Titel  lautet  nur  Opus  tabu- 
larum  directionum  profectionumque,  und  die  Zeit  der  Berechnung  wird 
mit  den  Worten  Anno  Dei  1467  explicit  feliciter  angegeben.  Im  Jahre 
1467  war  aber  Regiomontan  noch  nicht  in  Ungarn.    Der  Widerspruch 


^)  Doppelmayr  S.  10  Note  p. 


Deutsche  Universitäten.     Regiomontanus.  275 

ist  nicht  anders  zu  beseitigen,  als  indem  man  annimmt,  die  Tafeln 
seien  zwar  14G7  in  Rom  berechnet,  aber  erst  einige  Jahre  später  in 
Ungarn  zum  Drucke  bestimmt  worden.  Ihre  wesentlich  astrologische 
Bestimmung  würde  uns  gestatten  schweigend  an  der  Tabula  directio- 
num  vorüberzugehen,  fesselte  nicht  eine  bestimmte  Abtheilung  der- 
selben, die  Tabula  foecunda,  in  hohem  Grade  unsere  Aufmerksam- 
keit. Sie  bietet  uns  von  Grad  zu  Grad  die  trigonometrischen  Tan- 
genten der  Winkel.  Wir  haben  (S.  185)  gesehen,  dass  Peurbach  sich 
eine  Art  von  Arcustangenstafel  anlegte,  ferner  (S.  272)  dass  Regio- 
montan,  trotz  dieses  freilich  nur  bedingten  Vorganges  seines  Lehrers 
und  trotz  des  sicheren  Vorganges  Albattänis,  bei  Niederschrift  der 
fünf  Bücher  von  den  Dreiecken  eine  Tangentenanwendung  noch  nicht 
kannte.  Jetzt  war  dieser  Fortschritt  erfolgt,  war  zugleich  ein  wei- 
terer Fortschritt  eingetreten,  der  nicht  sowohl  der  Trigonometrie  als 
dem  Zahlenrechnen  angehört.  Die  Tangenten ,  welche  aber  diesen 
Namen  noch  nicht  führen,  sondern  einfach  numeri  heissen^),  sind 
als  ganzzahlige  Längen  berechnet,  welche  naturgemäss  nach  einer  zum 
voraus  angenommenen  Länge  des  Kreishalbmessers  sich  bemessen. 
Die  Tangente  von  45"  muss  als  dem  Halbmesser  gleich  jene  Zahl 
uns  erkennen  lassen,  und  bei  ihr  findet  sich")  die  Zahl  100000.  Zum 
ersten  Male  ist  also  hier  reine  Decimaltheilung  eingetreten, 
während  Peurbach  (S.  182)  den  Halbmesser  zu  GOOOOO,  Regiomontan 
selbst  ( S.  26())  ihn  zu  60000  annahm,  und  darin  noch  eine  Vermengung 
der  alten  Theilung  nach  Sechzigsteln  mit  der  dem  Stellungswerthe 
der  Ziffern  entsprechenden  Zehntheilung  benutzte.  Regiomontan  ist 
sich  —  und  das  stellen  wir  fast  noch  höher  als  den  Fortschritt  selbst 
—  klar  bewusst  gewesen,  dass  er  einen  solchen  vollzog.  In  der  10. 
der  Tabula  directionum  vorausgeschickten  Aufgabe  heisst  es  ausdrück- 
lich^), die  Rechnung  werde  leichter,  wenn  man  den  Sinus  totus  zu 
100000  wähle. 

Noch  grössere  Genauigkeit  suchte  Regiomontanus  in  zwei  Sinus- 
tafeln zu  erreichen,  welche  er  ursprünglich  den  Büchern  über  die  Drei- 
ecke als  Anhang  beizufügen  gedachte*).  Bei  der  spätem  Herausgabe 
durch  Schöner  1533  unterblieb  dieses  aber.  Statt  der  Tafeln  wurde 
ein  ganz  anderer  Anhang  gedruckt,  von  welchem  wir  gleich  zu  reden 
haben,  und  die  Tafeln  erschienen  erst  1541,  wenn  auch  durch  den- 
selben Herausgeber  Johannes  Schöner  und  in  derselben  nürnberger 


')  Kästner,  I,  559  bei  Gelegenheit  einer  Beschreibung  einer  Druckausgabe 
der  Tabula  directionum  von  1606.  ^)  Ebenda  1,557.  ^)  Pfleiderer  S.29: 
Facilius  tarnen  idem  efficies  si  tabula  tua  maximum  sinum  haheat  100000. 
*)  In  der  Vorrede  zu  JDe  triangulis  heisst  es:  Ad  haec  demum  accedit  Tabulae 
sinum  noit  minus  utilis  quam  nova  compilatio. 

18'' 


276  55.  Kapitel. 

Druckerei  bei  Johann  Petreius  (oder  Hans  Peterlein)  zum 
Drucke  befördert^)  wie  die  Büclier  De  triangulis.  Diese  Sinustafelu 
gehen  in  den  Winkehi  von  Minute  zu  Minute  und  nehmen  den  Halb- 
messer in  der  einen  Tafel  zu  6000000,  in  der  anderen  zu  10000000, 
auch  hier  also  mit  bewusster,  aber  wahrscheinlich  späterer  Neuerung, 
denn  in  Regiomontan's  Compositio  tabularum  sinuum,  dem  Yor- 
berichte  zu  den  Tafeln,  ist  von  der  Tafel  decimalen  Halbmessers  gar 
nicht  die  Rede.  Was  die  Tafel  für  den  Halbmesser  6000000  betrifft, 
so  sagt  Regiomontan  ausdrücklich,  er  habe  einige  der  Sinusse  sogar 
auf  den  Halbmesser  600000000  berechnet,  aber  die  Tafeln  im  Ganzen 
bei  dem  Maassstabe  6000000  belassen.  Ein  Halbmesser  von  6000000, 
sagt  er  überdies,  genüge  um  in  den  Winkeln  eine  Genauigkeit  von 
Secunden  zu  erzielen,  während  man  mit  dem  Halbmesser  60000  aus- 
komme, falls  man  es  bei  Winkelminuten  bewenden  lasse. 

Johannes  Schöner,  sagten  wir  soeben,  habe  den  Büchern  De 
Triangulis  statt  der  grossen  Sinustafeln  einen  anderen  Anhang  bei- 
gefügt. Es  ist  die  Streitschrift  gegen  die  Kreisquadraturen 
von  Cusanus.  Sie  besteht  aus  verschiedenen  Rechnungen,  welche 
mit  Ort  und  Tagesangabe  versehen  sind,  wo  und  wann  Regiomontan 
sie  anstellte,  und  welche  dadurch  sichern,  dass  dieser  vom  26.  Juni 
bis  zum  9.  Juli  1464  in  Venedig  sich  aufhielt  (S.  257),  in  angestreng- 
tester Thätigkeit  mit  verschiedenen  Arbeiten  wechselnd.  Damals  also, 
einen  Monat  etwa  vor  dem  Tode  des  Cardinais,  studirte  Regiomontan 
dessen  Schriften,  welche  Peurbach  bereits,  zuerst  vertrauend,  dann 
mit  wachsendem  Misstrauen  gelesen  hatte-).  Regiomontan  schlug 
dabei  denjenigen  Weg  ein,  der  immer  einzuschlagen  ist,  wenn  eine 
sogenannte  Kreisquadratur  auch  nur  auf  ihre  angenäherte  Richtigkeit 
geprüft  werden  will.    Er  ging  aus  von  der  durch  Archimed  in  strengster 

Weise    begründeten    fortlaufenden    Ungleichung    3—  <  ä  <  3—    und 

suchte  alsdann  den  aus  den  vorgeschlagenen  Constructionen  sich  er- 
gebenden Werth  der  Verhältnisszahl  des  Kreisumfangs  zum  Durch- 
messer mittels  Rechnung  zu  bestimmen.  Sobald  dieser  Werth  ausserhalb 
der  archimedischen  Grenzen   liegt,   und  das  war  bei  allen  Versuchen 


^)  Kästner,  I,  540  flgg.:  Tractatus  Georgü  Purbachü  super  propositiones 
Ptolemaei  de  sinubus  et  chordis,  idem  compositio  tahularum  sinuum  per  Joannem 
de  Begiomonte.  Adiectae  sunt  Tabulae  sinuum  duplices  per  eundem  Regiomon- 
tanum.  ~)  De  triangulis  etc.  (1533)  Anhang  pag.  51:  Georgius  ille  doctissimus 
Mathematicorum  praeceptor  olim  vieus  quandam  curvi  rectificationem  brevem  ad- 
modum  mild  obiecit  ac  factu  expeditissimam,  cui  pn-incipio  quidem  pl,urimum  fidei 
habuit  autoritute  inventoris  persuadente ,  uhi  vero  pro  acuviine  ingenii  sui  inven- 
tum  Jiuiusmodi  examinare  coepit,  nam  demonstrationem  nusquam  comperit,  longe 
aliter  quam  ratus  erat  accidere  didicit. 


Deutsche  Universitäten.     Regiomontanus.  277 

von  Cusanus  der  Fall,  inuss  die  Construction  falsch  sein.  Der  Ton 
der  Streitschrift  ist  ein  ungemein  milder,  und  das  Schärfste,  was  in 
dem  einleitenden  Gespräche  zwischen  einem  Aristophilus  und  einem 
Critias  vorkommt,  ist  die  nicht  einmal  gradezu  als  Vorwurf  auf- 
tretende Behauptung,  Cusanus  habe  sich  eines  philosophischen,  aber 
keines  mathematischen  Beweises  bedient^).  Das  sticht  sehr  gegen 
andere  Streitschriften  Regiomontan's  ab,  am  vortheilhaftesten  gegen 
die,  mit  welcher  er  Georg  von  Trapezunt  (S.  257)  bedachte. 

Die  übrigen  im  Drucke  erschienenen  Werke  Regiomontan's  dürfen 
wir  übergehen,  weil  wir  die  Geschichte  der  Astronomie  grundsätzlich 
ausser  Acht  zu  lassen  fortfahren.  Dagegen  haben  wir  uns  noch  mit 
Zusätzen  zu  einer  Euklidhandschrift,  die  einst  Regiomontan's 
Eigenthum  war,  dann  auch  mit  seinem  Briefwechsel  zu  beschäftigen. 
Die  genannte  Handschrift  enthält  die  Atelhard'sche  Euklidübersetzung 
und  ist  entweder  ganz  oder  jedenfalls  zum  Theile  von  Regiomontan 
geschrieben.  Man  hat  dieses  aus  der  Uebereinstimmung  der  Schrift- 
züge des  Textes,  einiger  wichtigen  Anmerkungen  und  einer  Vorrede, 
die  sich  selbst  als  Elementa  Enclidis,  praefatio.  Joh.  de  Begiomonte 
avtov  bezeichnet,  erkannt^).  Das  Manuscript  selbst  befindet  sich  auf 
der  Stadtbibliothek  zu  Nürnberg^).  Zu  dem  32.  Satze  des  I.  Buches, 
mithin  an  der  genau  gleichen  Stelle,  zu  welcher  einst  Campanus  (S.  104) 
die  Wiukelsumme  des  Sternfünfecks  herleitete,  hat  auch  Regiomontan 
eine  Anmerkung  von  ziemlichem  Umfange.  Sie  beginnt  mit  dem 
Satze,  jedes  Vieleck  besitze  als  Winkelsumme  so  viel  mal  zwei  Rechte, 
als  seine  Rangordnung  unter  den  möglichen  Vielecken  sei.  Es  sei 
nämlich  das  Dreieck  das  erste  Vieleck,  das  Viereck  das  zweite,  das 
Fünfeck  das  dritte  u.  s.  w.,  kurzum  die  um  2  verringerte  Anzahl  der 
Ecken  bestimme  die  Rangordnung^).  In  ebenso  viele  Dreiecke  lasse 
sich  das  vorgelegte  Vieleck  von  einem  Eckpunkte  aus  zerlegen,  und 
da  die  Winkel  eines  jeden  dieser  Dreiecke  zwei  Rechte  betragen,  so 
folge  der  ausgesprochene  Satz.  Dessen  Beweis  könne  übrigens  auch 
so  geführt  werden,  dass  man  von  einem  Innenpunkte  des  Vielecks 
nach  allen  Endpunkten  Linien  ziehe,  welche  genau  so  viele  Dreiecke 
hervorbringen,  als  das  Vieleck  Seiten  besitze,  und  deren  Winkel- 
summe müsse  dann  um  die  vier  Rechte  verkleinert  werden,  welche 
die  Winkel  um  jenen  Innenpunkt  betragen.    Daraus  folgt  als  weiterer 


^)  De  Triangulis  etc.  (1533)  Anhang  pag.  25 :  Critias.  Potere  recordari  quo 
demonstrationis  genere  usus  fuerit  ille  philosophus,  mathematico  videlicet,  an  alio 
quopiam?     Aristophilus:    Mathematicum   haud   videtur.  -)   S.   Günther  im 

BuUetino  Boncompagni  YL,  332—338  und  Unterricht  Mittela.  S.  247  Note  1. 
^)  Die  Signatur  der  Handschrift  ist  VI,  13.  *)  hreviter  quotus  est  numerus  an- 
gulorum,  inde  demto  binario,  tota  ipsa  est  a  2}rima. 


278  55.  Kapitel. 

Satz,  dass  wenn  (Fig.  47)  sämmtliche  Vielecksseiten  nach  einer  Rich- 
tung hin  verlängert  werden,  die  entstehenden  Aussen winkel  auch 
vier  Rechte  betragen  müssen,  als  Unterschied 
beim  Abziehen  der  Summen  der  Yielecks- 
winkel  von  doppelt  soviel  Rechten  als  Ecken 
vorhanden  sind.  Nun  schliesst  sich  der  Satz 
von  der  Winkelsumme  des  Sternfünfecks  an, 
welcher  in  gleicher  Weise  wie  von  Campanus 
bewiesen  wird.  Nur  darin  findet  sich  ein 
Unterschied,  dass  Regiomontan  das  Stern- 
fünfeck als  ein  solches  beschreibt,  in  welchem 
jede  Seite  zwei  von  den  übrigen  schneide  ^),  eine 
Beschreibung,  welche  auch  von  der  durch  Brad- 
wardinus  gebrauchten  (S.  115)  im  Wortlaute 
abweicht.  Diese  Abweichungen  erscheinen  uns  um  so  bewusster,  je 
sicherer  bei  Regiomontan's  hoher  Gelehrsamkeit  auzuliehmen  ist,  dass 
er  mit  den  Leistungen  von  Campanus  und  Bradwardinus,  seinen  Vor- 
gängern in  der  Lehre  von  den  Stern vielecken,  bekannt  gewesen  sein 
muss.  Die  Winkelsumme  jedes  derartigen  Vielecks,  in  welchem  jede 
Seite  zwei  von  den  übrigen  schneidet,  ist  um  acht  Rechte  kleiner  als 
ihre  doppelte  Eckenzahl.  Diese  Sternvieleckswinkel  gehören  nämlich 
(Fig.  48)  eben  so  vielen  kleinen  Dreieckchen  an  als  es  Seiten,  be- 
ziehungsweise Ecken  gab,  und  von  deren  doppelter  Anzahl  (als  Summe 
sämmtlicher  Dreieckswinkelchen  in  Rechten  ausgedrückt)  ist  die  Summe 
der  Winkel  an  der  jedesmaligen  Grundlinie  abzuziehen.  Letztere  aber 
ist,  vermöge  zweimaliger  Anwendung  des  früheren  Satzes  von  den 
Vieleckaussenwinkeln,  stets  acht  Rechte.  Lässt  man  weitere  Sternviel- 
ecke so  entstehen,  dass  jede  Seite  vier  andere  schneide,  oder  dass 
jede  Seite  sechs  andere  schneide,  so  ist  die  Winkel- 
summe in  Rechten  dahin  zu  bemessen,  dass  von 
der  doppelten  Eckenzahl  das  eine  Mal  12,  das 
andere  Mal  20  abgezogen  werden  müssen.  Hier 
ist  oifenbar  ein  Irrthum,  da  im  letzteren  Falle 
*'^'  *'^  nur    16    abzuziehen    sind,    im    Allgemeinen    das 

Vierfache  der  von  jeder  Seite  des  Sternvielecks  geschnittenen  anderen 
Seiten.  Zum  Beweise  wird  einfach  auf  das  Vorhergegangene  ver- 
wiesen ^).     Regiomontan    meint    offenbar    die    Sache    folgendermassen. 


•)  Penthagomis  cuius  tonumquodque  latus  duos  secat  ex  reliquis.  Die  Schreib- 
art penthagonus  mit  th  kann  bei  einem  so  guten  Hellenigten,  als  Regiomontan 
es  war,  Wunder  nehmen,  ist  aber  in  der  ganzen  Anmerkung  streng  festgehalten. 
*)  Hae  omnes  et  simiks  ex  praemissis  ostenduntur. 


Deutsche  Universitäten.     Resriomontanus. 


279 


wobei  wir  uns  zur  Abkürzung  der  Benennung  Sternvielecke  ver- 
schiedener Ordnung  bedienen,  die  wir  früher  (S.  115)  benutzt  haben. 
Im  gewöhnlichen  n-eck  ist  die  Winkelsumme  (immer  in  Rechten  aus- 
gedrückt) 2n  —  4,  also  die  Summe  der  Aussenwinkel  nach  einer 
Richtung  2n  —  {'2n  —  4)  =  4.  Im  Sternvieleck  erster  Ordnung  ist 
desshalb  die  Winkelsumme  2n  —  2  •  4  =  2l^  —  8,  also  die  Summe 
der  Aussenwinkel  nach  einer  Richtung  2n  —  {2n  —  8)  =  8.  Beim 
Uebergange  zum  Sternvielecke  zweiter  Ord- 
nung erscheinen  (Fig.  49),  wie  aus  der  Zeich- 
nung zu  erkennen  ist  (welche  übrigens  eben- 
sowenig wie  Fig.  50  in  der  Originalhandschrift 
gezeichnet  vorkommt),  nicht  neun  kleine 
Dreieckchen,  sondern  Viereckchen  in  der  An- 
zahl der  Ecken,  also  mit  der  Winkelsumme 
4w.  Von  ihr  ist  abzuziehen  zweimal  die  Summe 
von  Aussenwinkeln  von  Stenivielecken  erster 
Ordnung  und  einmal  die  Summe  der  ursprüng- 
lichen VielecKs Winkel  oder  S  -\-  8  -\-  (2n  —  4)  =  2n  -\-  12,  .und  es 
bleibt  An  —  (2%  -f  12)  =  2n  —  12.  Die  neuen  Aussenwinkel  nach 
einer  Richtung  haben  die  Winkelsumme  2n  —  (2n  —  12)  =  12. 
Beim  Uebergange  zum  Stern vielecke  dritter  Ordnung,  sofern  er  aus- 
führbar ist,  und  Regiomontan  weiss,  dass  solches  erstmalig  beim 
Neunecke  (Fig.  50)  der  Fall  ist,  er- 
scheinen neue  Viereckchen,  Von 
ihrer  Winkelsumme  4w  ist  abzuziehen 
12  +  12  +  (2n  —  8)  =  2n  +  16 
als  zweimalige  Summe  von  Aussen- 
winkeln von  Stern  Vielecken  zweiter 
Ordnung  und  einmaliger  Summe  von 
Winkeln  von  einem  Sternvielecke 
erster  Ordnung.  Es  bleibt  folglich 
An  —  {2n  -f  16)  =  2n  — 16.  Die 
letzteren  ^Beweisführungen  sind  weder 
bequem  auszusprechen,  noch  sind 
deren  Figuren  leicht  zu  zeichnen, 
und  so  kann  man  schon  von  dieser 

Rücksicht  aus  begreifen ,  warum  Regiomontan  darüber  wegeilte.  Er 
verstand  seine  kurze  Andeutung,  und  kam  er  dazu  den  Euklid  (S.  259) 
im  Drucke  herauszugeben,  wozu  wir  jedenfalls  in  dieser  mit  An- 
merkungen versehenen  nürnberger  Handschrift  eine  Vorarbeit  zu 
s^hen  habeu,  so  war  es  noch  immer  Zeit,  sich  ausführlicher  und 
deutlicher  auszudrücken.     Einen   weiteren  Zusatz  hatte  Regiomontan 


Fig.  50. 


280 


.55.  Kapitel. 


rig.  51. 


zu  dem  euklidischen  Satze  III,  30  gemacht^)  d.  h.  zu  dem  Satze, 
dass  der  Winkel  im  Halbkreise  ein  Rechter  sei.  Man  könne,  sagt 
Regiomontan,  auf  diesen  Satz  gestützt  eine  Senkrechte  auf  eine  ge- 
gebene Gerade  in  einem  gegebenen 
Punkte  derselben  errichten  (Fig.  51). 
Von  einem  beliebigen  Punkte  h  aus- 
serhalb der  Geraden  als  Mittelpunkt 
und  mit  der  Entfernung  dieses  Mittel- 
punktes h  von  dem  Punkte  a,  in 
welchem  die  Senkrechte  gewünscht 
wird,  als  Halbmesser  beschreibt  man 
einen  Kreis,  der  die  gegebene  Gerade 
ausser  in  a  noch  in  einem  zweiten 
Punkte  d  schneidet.  Letzteren  verbindet  man  mit  dem  Kreismittel- 
punkte und  verlängert  diese  Verbindungslinie  bis  zum  abermaligen 
Durchschnitte  mit  dem  Kreise  in  e,  alsdann  ist  ea  die  gewünschte 
Senkrechte. 

Wir  wenden  uns  schliesslich  zu  dem  im  Drucke  veröffentlichten 
Briefwechsel").  Es  sind  im  Ganzen  sechs  Briefe  Regiomontan's, 
wovon  drei  an  Bianchini,  zwei  an  Jacob  von  Speier,  einer  an 
Magister  Christian  Roder  von  Hamburg  gerichtet.  D«f  Letzt- 
genannte ist  uns  bekannt  als  Professor  der  Universität  Erfurt  (S.  251). 
Bianchini  gehört  der  Geschichte  der  Astronomie  an.  Wir  haben  nur 
zu  berichten,  dass  er  hochbetagt  in  Ferrara  lebte,  dass  er  schon  mit 
Peurbach  bei  dessen  italienischer  Reise  in  freundschaftlicher  Ver- 
bindung stand,  und  dass  ganz  ähnliche  Beziehungen  zu  Regiomontan 
sich  bei  des  letzteren  früher  (S.  256)  erwähntem  Aufenthalte  in  Fer- 
rara von  selbst  ergaben.  Jacob  von  Speier  endlich  war  ein  deutscher 
Astronom  oder  Astrolog,  der  im  Dienste  des  Grafen  Friedrich  von 
Urbino  stand.  Mit  Regiomontan's  Briefen  sind  auch  zwei  Antwort- 
schreiben des  Bianchini,  eines  des  Jacob  von  Speier  veröffentlicht, 
zusammen  also  neun  Briefe.  Wir  beabsichtigen  keineswegs  diese 
Briefe,  so  merkwürdigen  Inhaltes  sie  sind,  ausführlich  zu  besprechen. 
Nur  einiges  Geometrische,  Einiges  aus  der  Lehre  von  den  bestimmten 
und  unbestimmten  Gleichungen  heben  wir  noch  hervor,  während  Ein- 
zelnes schon  früher,  wo  gerade  die  Gelegenheit  es  mit  sich  brachte, 
beigezogen  werden  musste. 


^)  Die  Kenntniss  dieses  Zusatzes  verdanken  wir  freundlicher  Privatmit- 
theilung von  H.  Max.  Curtze  vom  1.  März  1889.  *)  Die  Briefe  sind  gedruckt 
in  Christ.  Theoph.  de  Murr,  Memorabilia  Bibliothecarum  piiblicarum  Norim- 
bergensium  et  universüatis  Ältdorfinae.    Pars  I  (1786)  S.  74 — 205. 


Deutsche  Universitäten.     Regioraontanus.  281 

Ganz  eigenthümlich  ist  das  Verhalten  Regiomoutan's  in 
seinen  Briefen  Campanus  gegenüber.  Wenn  zwischen  einem 
Lebenden  und  einem  mehr  als  anderthalb  Jahrhunderte  früher  Ver- 
storbenen eine  Feindschaft  vorhanden  sein  könnte,  müsste  man  geradezu 
an  eine  solche  denken.  Wir  wissen,  dass  unter  den  von  Regio- 
montan  geplanten  Arbeiten  eine  Euklidausgabe  sich  befand  unter  Zu- 
grundelegung der  von  Campanus  herrührenden,  aber  frei  von  den 
durch  diesen  verschuldeten  Fehlern^).  Er  kannte  also  zuverlässig  die 
Uebersetzung,    welcher  er  Fehler  vorwarf,    und  in   dem   Briefe   vom 

4.  Juli  1471,  den  er  aus  Nürnberg  an  Christian  Roder  schrieb,  hebt  er  in 
den  heftigsten  Worten  einen  Fehler  des  Campanus  hervor,  dessen  Be- 
merkungen zu  den  Definitionen  des  V.  Buches  (S.  105),  gleich  als  wenn 
dieser  des  Fehlers  sich  schuldig  gemacht  hätte,  den  er  umgekehrt 
Euklid  vorwarf,  Dinge  durch  sich  selbst  zu  erklären").  Soll  man 
vermuthen,  Regiomontan  habe  nur  die  Fehler  des  Campanus  bemerkt, 
aber  dessen  am  Schlüsse  des  IV.  Buches  vorgeschlagene  Winkeldrei- 
theilung  übersehen,  oder  soll  man  annehmen,  Regiomontan  habe  jene 
Dreitheilung  nirgend  gefunden  (S.  105)  und  sei  unabhängig  von  Cam- 
panus genau  auf  die  gleiche  Winkeldreitheilung  verfallen?  Zu  einer 
dieser  Annahmen  oder  zu  der  einer  wenig  redlichen  Gehässigkeit 
gegen  Campanus  wird  man  gedrängt,  wenn  man  die  1464  mit  Biauchini 
gewechselten  Briefe  durchliest.  Was  diese  Briefe,  was  mathematische 
Briefwechsel  überhaupt  so  wichtig  macht,  das  ist  eine  Fülle  von  Auf- 
gaben der  allerverschiedensten  Natur,  welche  die  Briefsteller  einander 
vorzulegen  lieben,  das  sind  die  Auflösungsversuche,  welche  in  den 
Antwortschreiben    sich    vorfinden.      So    stellte    Bianchini    unter    dem 

5.  Februar  1464  die  Aufgabe^),  aus  der  Sehne  des  Centriwinkels  von 
60°  die  des  Centriwinkels  von  20"  zu  finden,  Regiomontan  antwortet 
darauf  ebenfalls  im  Februar  1464,  es  gebe  verschiedene  Verfahren, 
die  Winkeldreitheilung  auszuführen,  eine  davon  sei  folgende^),  und 
nun  erklärt  er  eben  die  Construction,  welche  Campanus  am  erwähnten 
Orte  lehrt,  ohne  dessen  Namen  auch  nur  zu  nennen. 

Eine  Aufgabe,  welche  in  der  Geschichte  der  Mathematik  eine 
gewisse  Rolle  zu  spielen  bestimmt  war,  stellte  Regiomontan  in  dem 
Briefe,   welchen   er   um  Neujahr   1464  an   Bianchini  richtete^):    Den 


^)  Doppelmayr,  S.  13.  Der  beabsichtigte  Titel  wai*:  Euclidis  Elementa 
cum  Anaphoricis  Hypsiclis  editione  Campani,  evulsis  tarnen  lilerisque  mendis,  quae 
proprio  etiam  indicabuntur  commentariolo.  ^)  Murr  1.  c.  pag.  191—192:  Pudet 
profecto  recensere  lahores  Campani,  quibus  frustra  stabiUre  tentat  principia  quinti 
elementarum  etc.         ^)  Ebenda  pag.  105,  Nr.  7.  *)  Ebenda  pag.  138:    lubetur 

septimo  unguium  qui  est  tertia  pars  duorum  rectorum  dividi  in  tres  aequales;  sunt 
certi  modi  id  faciendi  quorum  unum  adduco.         ^)  Ebenda  pag.  98 — 99. 


282  55.  Kapitel. 

Inhalt  des  Sehnen  Vierecks  im  Kreise  vom  Durchmesser  60  zu  finden, 
dessen  Seiten  sich  wie  die  Zahlen  4,  1,  13,  17  verhalten.  Bianchini 
hielt  die  Aufgabe  für  unlösbar  ^),  worauf  Regiomontan  in  dem  mehr- 
erwähnten Februarbriefe  1464  näher  auf  den  Gegenstand  einging,  der 
allerdings  seine  Schwierigkeiten  habe  ^).  Die  vier  Strecken,  aus  denen 
ein  Sehnenviereck  gebildet  werden  soll,  und  die  etwa  a,  h,  c,  d  heissen, 
wovon  a  am  kleinsten  sein  soll,  müssen  dem  Gesetze  gehorchen, 
dass  je  drei  zusammen  grösser  als  die  vierte  seien.  In  den  Kreis  mit 
dem  Durchmesser  a  kann  freilich  das  Sehnen viereck  nicht  eingezeichnet 
werden,  ebensowenig  in  den  Ki-eis  mit  dem  Durchmesser  a-\-h  -\-  c-\-  d, 
weil  ersterer  zu  klein,  letzterer  zu  gross  ist;  folglich  muss  es  einen 
Zwischenkreis  geben,  der  die  Einzeichnung  zulässt.  Es  ist  beiläufig 
bemerkt  ersichtlich,  dass  diese  Schlussfolgerung  derjenigen  des  Cam- 
panus wie  des  Cusanus  nachgebildet  ist,  in  welcher  der  stetige  Ueber- 
gang  von  einem  Kleineren  zu  einem  Grösseren  vorgenommen  wird. 
Ist  das  Sehnenviereck  einmal  gebildet,  so  muss  die  Summe  zweier 
gegenüberstehender  Winkel  zwei  Rechte  betragen.  Ma^  kann  dann 
immer  dessen  Diagonalen  berechnen,  weil,  meint  Regiomontan,  deren 
Product  sowohl  als  deren  Quotient  gegeben  ist.  Das  Product  ist 
allerdings  nach  dem  ptolemäischen  Lehrsatze  gegeben,  aber  über  die 
Möglichkeit  den  Quotienten  zu  finden,  geht  Regiomontan  sehr  flüchtig 
hinweg.  Er  begnügt  sich,  ähnlich  wie  er  es  in  seinen  Büchern  vom 
Dreiecke  that,  mit  der  Behauptung,  dieses  oder  jenes  Verhältniss  sei 
gegeben,  ohne  es  wirklich  aufzustellen,  und  in  einem  Briefe  vollends 
mag  er  es  für  noch  weniger  noth wendig  gehalten  haben,  eine  leicht 
verständliche  Ableitung  einer  Formel  zu  geben.  Regiomontan  Hess 
übrigens  die  Lehre  vom  Sehnenviereck  nicht  mehr  aus  den  Augen. 
Unter  den  Aufgaben,  welche  er  am  4.  Juli  1471  an  Magister  Roder 
einschickte,  ist  auch  die  enthalten^),  Fläche  und  Schwerpunkt  des  in 
den  Kreis  von  100  Fuss  Durchmesser  eingezeichneten  Sehnenvierecks 
zu  suchen,  dessen  Seiten  sich  wie  die  Zahlen  4,  7,  13,  19  verhalten. 
Man  bemerkt  sofort,  dass  gegen  die  ältere  Fassung  nur  zwei  Zahlen 
sich  geändert  haben  und  die  Forderung  des  Schwerpunktes  hinzu- 
getreten ist.  Auch  diese  letztere  neue  Forderung  stellt  einen  wesent- 
lichen Fortschritt  dar.  Schwerpunktsbestimmungen  gehören  bald  zu 
ernsthaft  betriebenen  Forschungsgegenständen. 

In  dem  gleichen  Briefe  an  Bianchini  verfiel  übrigens  Regiomontan 
in  einen  ganz  unbegreiflichen  Fehler.  Er,  der  gegen  Cusanus  so 
richtig  hervorhob,   das  Kennzeichen   eines   annehmbaren  Werthes   des 


»)  Murr  1.  c.  pag.  101.       -)  Ebenda  pag.  119—126.        ^)  Ebenda  pag.  197, 
Nr.  3. 


Deutsche  Universitäten.     Regiomontanus. 


283 


Verhältnisses  des  Kreisumfanges  zum  Durchmesser  bestehe  darin,  dass 


er   zwischen  3-  und  3—  oder  zwischen  —-^ 


und  — ^  liege,    benutzt 


den  Werth  -j^  und    schreibt    ihm    noch    obendrein     die    geforderte 

Eigenschaft  zu^). 

Wir  reden  nur  noch  von  einer  wesentlich  geometrischen  Aufgabe 
aus  dem  Briefe  an  Roder:  Eine  10  Fuss  lange  Stange  ist  senkrecht 
aufgehängt,  so  dass  ihr  unteres  Ende  noch  4  Fuss  vom  Boden  ab- 
steht. Man  sucht  den  Punkt  auf  dem  Boden,  von  welchem  aus  die 
Stange  am  längsten,  d.  h.  unter  grösstem  Sehwinkel-  erscheint,  be- 
ziehungsweise, da  es  unendlich  viele  solcher  Punkte  giebt,  die  alle 
auf  einer  Kreislinie  liegen,  sucht  man  den  Abstand  derselben  vom 
unteren  Ende  der  aufgehängten  Stange^).  Diese  Aufgabe  ist  die 
erste  Maximalauf  gäbe,  welche  seit  ApoUonius  und  Zenodorus  be- 
kannt geworden  ist,  und  es  dürfte  von  Wichtigkeit  erscheinen,  zu 
versuchen,  ob  nicht  ein  Weg  gefunden  werden  könnte,  der  zur  Lösung 
führt  und  Regiomontan  zugänglich  war.  Ein  solcher  Weg  ist  folgen- 
der^): Man  denke -sich  (Figur  52)  den  gesuchten  Punkt  K  auf  CD 
bereits  gefunden,  welcher  -^  AKB  zum 
grösstmöglichen  macht  und  lege  durch  die 
drei  Punkte  A,  B,  K  einen  Kreis,  dessen 
Mittelpunkt  auf  der  Mittelsenkrechten  EG 
von  AB  liegt.  Dieser  Kreis  muss  CD  in  K 
berühren.  Hätte  er  nämlich  einen  zweiten 
Punkt  L  mit  CD  gemein,  und  läge  auf  CD 
ein  dritter  Punkt  M  zwischen  K  und  L,  so 
wäre  -^  AMB  >  AKB  als  Winkel,  dessen 
Spitze  innerhalb  des  Kreises  liegt,  während 
er    auf   demselben  Bogen    aufsteht  wie    der 

Peripherie  Winkel  AKB,  Diese  Schlussfolgerung  scheint  Regiomontan 
so  angemessen,  dass  wir  kaum  zweifeln,  sein  Gedankengang  sei  damit 
richtig  errathen.  Auch  wie  er  die  Aufgabe  praktisch  gelöst  haben 
kann,  ist  leicht  zu  errathen.  Der  Mittelpunkt  F  des  gesuchten 
Kreises  muss,  sagten  wir,  auf  EG  liegen,  und  gleich  weit,  fügen  wir 
hinzu,  von  A,  B  und  K  entfernt  sein.  Dabei  ist  CE  FK  ein  Recht- 
eck, also  FK=  CE.     Man  hat  daher  nur  mit  CE  im   Halbmesser 


^)  Murr  I.  c.  pag.  137—138:  Usus  sum  projiortione  clrcumferentie  ad  dia- 
metruni  sicut  1554  ad  497.  hec  enim  est  minor  tripla  sesquiseptma ,  maior  auteni 
tripla  superpartiente  decem  septuagesimas  pi'imas  non  tarnen  hec  est  vera  pi'O- 
portio  sed  verüati  propinqua  satis.  *)  Ebenda  pag.  201  oben.  ^)  Ad.  Lorsch, 
Ueber  eine  Maximalaufgabe.  Zeitschr.  Math.  Phys.  XXJII,  Hist.-litter.  Abthlg. 
S.  120. 


284  ö5.  Kapitel. 

von  B  als  Mittelpunkt  aus  einen  Kreisbogen  zu  schlagen,  welcher 
EG  in  F  schneiden  muss.  Von  diesem  Punkte  i^aus  als  Mittelpunkt 
beschreibt  man  dann  mit  der  eben  benutzten  Zirkelweite  den  Kreis 
ABK  und  hat  damit  K  gewonnen.  Den  Abstand  BK  endlich  liefert 
einmalige  Anwendung  des  pythagoräischen  Lehrsatzes. 

Fast  noch  auffallender  sind  die  algebraischen  Aufgaben,  welche 
überall  den  geometrischen  zugesellt  sind,  und  welche  Bianchini  die 
Worte  in  die  Feder  gaben  M,  dass  Regiomontan  in  den  Regeln  der 
Algebra  hoch  gelehrt  sei,  während  er  selbst  nur  in  seiner  Jugend, 
während  er  in  kaufmännischen  Rechenübungen  sich  abackerte,  einiges 
zu  seinem  Vergnügen  \  getrieben  habe;  beiläufig  wieder  ein  neues 
Zeugniss,  wenn  wir  dessen  bedürften,  dafür,  dass  in  Italien  die  Algebra 
kaufmännische  Uebung  war.  Regiomontan  wechselt  zwischen  be- 
stimmten und  unbestimmten  Aufgaben.  Kenntniss  der  ersteren,  wenn 
auch  muthmasslich  in  beschränkterem  Maasse,  als  er  sie  später  be- 
sass,  brachte  Regiomontan  gewiss  schon  aus  Deutschland  mit.  Dass 
in  Deutschland  ein  Bruder  Aquinas  in  der  zweiten  Hälfte  des 
XV.  Jahrhunderts  sich  mit  Gleichungen  viel  beschäftigte,  haben  wir 
(S.  238)  gesehen.  Mit  ihm  verkehrte  auch  Regiomontan  ^),  und  zwar 
bevor  er  bei  König  Mathias  in  Ungarn  war,  also  muthmasslich  noch 
weit  früher,  nämlich  vor  der  ersten  italienischen  Reise.  In  Italien 
dürften  ihm  dann  Aufgaben  "zu  Gesicht  gekommen  sein,  die  zu  kubi- 
schen Gleichungen  führten  (S.  160).  Zu  eben  solchen  führt  eine 
Aufgabe,  welche  Regiomontan  Bianchini  zu  lösen  vorschlägt^),  wenn 
auch  die  Fassung  dafür  zu  sprechen  scheint,  dass  Regiomontan  hier 
von  Bianchini  forderte,  was  er  selbst  zu  leisten  nicht  im  Stande  war. 
In  einem  Dreiecke  ahc  (Fig.  53),  dessen 
Seiten  ah  =  IS,  ac  =  26,  bc  =  29  sind, 
zog  ich,  sagte  er,  von  a  zur  Basis  eine 
ad,  so  dass  das  Quadrat  von  db  mit 
dem  Producte  von  da  in  ah  das  Quadrat 
von  ah  gab.  Wie  gross  ist  hd?  Sei 
ad  =  y,  hd  =  x,  so  ist  die  Bedingung  der  Aufgabe  x^  -\-  ISy  =  181 
Es  sei  nun  die  Senkrechte  ae  gezogen  und  he  =^  z,  so  ist 
ae^  _  ^j2  _  jg2  _  ^^2  _  ^g2^  jj  1,    132  _  ^2  _  252  —  (29  —  z)\ 

18*  +  29-— 25«         270  „         102        /270\2 
'■  =  58 -  -29- '   «^    =  1^  --  (-29-)  ' 

^)  Murr  1.  c.  pag.  105 — 106:  Et  haec  volo  sufficiant  quantum  ad  regulas 
algebre  de  quibus  comprehendo  vos  doctissimum  esse,  ego  quidem  in  inventute  dum 
operationes  mercantianmi  exararem  aliquantiilum  in  hoc  me  delectavi.  -)  Ebenda 
pag.  186.  ^)  I]benda  pag.  144,  Nr.  17.  Am  Schlüsse  der  Aufgabe  die  Worte: 
Si  dabitis  lineaiu  bd  dabo  cordam  unius  gradus. 


Deutsche  Universitäten.     Regiomontanus.  285 

de^  =  (hd  -  hef  =  (^  _  ,)^  =  ^^  _  ^^  +  (^)^, 
ad^  =  ae^  -\-  de^, 

Nach  der  Bedingung  der  Aufgabe  isty  =  18  —  —,  y^=  IS^- — 2x'^-{-  ^, 

also  schliesslich  durch  Gleichsetzung  der  beiden  Werthe  von  y^  und 
Weglassung  von  18^  auf  beiden  Seiten,  sowie  durch  Einrichtung  in 
eine  Form,  bei  welcher  auf  beiden  Seiten  des  Gleichheitszeichens  nur 
Positives  erscheint, 

X*  540 

324     I      29 


+  °S^-  =  3xl 


Division  durch  x  liefert  endlich  die  kubische  Gleichung: 
x^      .     540         o 

32i  +  "29;  =  ^^- 

Ist  denn,  könnte  man  hier  fragen,  Regioraontan  in  der  Lage  gewesen 
eine  solche  Ableitung  vorzunehmen,  welche  in  seinem  Briefe  ebenso- 
wenig vorkommt,  als  die  Schlussgleichung,  zu  welcher  wir  ihn  ge- 
langen liessen?  Die  Frage  ist  entschieden  zu  bejahen.  Den  Abschnitt 
he,  casus,  wie  Regiomontan  (S.  2G7)  ihn  nannte,  mit  ihm  zugleich 
die  Höhe  ae  zu  berechnen,  war  eine  geradezu  einfache  Aufgabe  für 
den  Verfasser  der  Bücher  De  triangulis  omnimodis,  und  was  dann 
noch  übrig  blieb,  war  eine  einmalige  Anwendung  des  pythagoräischen 
Lehrsatzes  auf  das  Dreieck  ade  in  Verbindung  mit  dem  Wortlaute 
der  Aufgabe.  Zweifelhaft  könnte  nur  Eines  erscheinen:  ob  Regio- 
montan die  Division  durch  x  vollzog  und  so  die  Gleichung  4.  Grades 
auf  eine  solche  3.  Grades  zurückführte.  Aber  gerade  diesen  Zweifel 
lösen  uns  die  Zusatzworte  Regiomontan's:  Gebt  Ihr  mir  die  Linie 
hd,  so  gebe  ich  Euch  die  Sehne,  welche  zu  dem  Bogen  von  1°  ge- 
hört. Der  Zusammenhang  zwischen  der  Sehne  von  3^,  welche  unter 
Anwendung  von  Quadratwurzelausziehungen  gefunden  werden  kann, 
mit  der  von  1^  liegt  in  der  Gleichung: 

(chorda  ly  +  chorda  3°  =  3  chorda  1«. 

Die  Worte  Regiomontan's  geben  uns  mithin  dreierlei  zu  erkennen: 
Erstlich,  dass  er  wusste,  dass  die  Ermittelung  von  chorda  3"  mit  Hilfe 
von  quadratischen  Gleichungen  möglich  war,  dass  aber  dann  eine 
kubische  Gleichung  gelöst  werden  musste,  um  chorda  P  zu  finden. 
Zweitens,  dass  die  Lösung  dieser  Aufgabe  seine  Kräfte  überstieg. 
Drittens,  dass  er  das  Eingeständniss  seines  Nichtkönnens  in   die    ge- 


286  55.  Kapitel. 

heimnissvollere  Maske  kleidete,  dass  er  eine  andere  kubische  Gleichung 
gleicher  Form  zur  Auflösung  aufgab.  Die  gleichen  Mittel,  so  ver- 
stehen wir  jetzt  seine  Schlussworte,  welche  gestatten,  die  eben  aus- 
gesprochene Aufgabe  durch  Rechnung  zu  beantworten,  führen  auch 
zur  rechnenden  Dreitheilung  des  Winkels. 

Wir  sprachen  von  unbestimmten  Aufgaben,  welche  Regiomontanus 
zu  stellen  liebte.  Wir  machen  deren  10  namhaft,  die  wir  etwas  über- 
sichtlicher ordnen,  als  sie  in  Regiomontan's  Briefen  erscheinen^),  und 
die  wir  zudem  in  der  heute  üblichen  Schreibweise  mittheilen: 

1.  x-^y  +  z  =  240.  97rr  +  bQy  -f  3^  =  16047. 

2.  17^  +  15  =  13y  +  11  =  10^  +  3. 

3.  23;r  +  12  =- 17^  +  7  =  10^  +  3. 

4.  rz;  +  ^  +  ^=  116.  a;2  +  ^2  ^  ^2  _  4624. 

5.  Drei  in  harmonischer  Progression  stehende  Zahlen  zu  finden, 
deren  kleinste  >  500000  ist. 

6.  Drei  Quadratzahlen  zu  finden,  welche  in  harmonischer  Pro- 
gression stehen. 

7.  Drei  Quadratzahlen  zu  finden,  welche  in  arithmetischer  Pro- 
gression stehen  und  deren  kleinste  >  20000  ist. 

8.  Drei  Quadratzahlen  zu  finden,  welche  in  arithmetischer  Pro- 
gression stehen,  und  deren  ganzzahlige  Wurzeln  die  Summe 
214  besitzen. 

9.  Vier  Quadratzahlen  zu  finden,  deren  Summe  wieder  eine 
Quadratzahl  ist. 

10.  Zwanzig  Quadratzahlen  zu  finden,  deren  Summe  eine  Quadrat- 
zahl und  >  300000  ist. 

Diese  Aufgaben  beziehen  sich  auf  theilweise  ziemlich  schwierige 
Gegenstände,  welche  auch  einem  heutigen  Zahlentheoretiker  Kopf- 
brecheu  zu  veranlassen  im  Stande  sind,  so  dass  ebensowohl  die  Frage 
berechtigt  erscheint,  wodurch  Regiomontau  veranlasst  wurde,  gerade 
solche  Aufgaben  zu  stellen,  wie  auch  die  andere  Frage,  ob  er  selbst 
die  zugehörigen  Auflösungen  besessen  haben  mag? 

In  ersterer  Beziehung  darf  gewiss  darauf  hingewiesen  werden, 
dass  Regiomontan  so  glücklich  war  (S.  263),  eine  Handschrift  der 
Diophautischen  Arithmetik  zu  entdecken,  und  dass  er  den  unschätz- 
baren Werth  des  Aufgefundenen  alsbald  erkannte  2).    Aber  fragen  wir 


^)  Die  Aufgaben  finden  sich  folgendermassen  vertheilt:  Muri-  1.  c.  pag.  99 
steht  Aufgabe  2 ;  ebenda  pag.  144 — 145  Aufgabe  1,  4,  8 ;  ebenda  pag.-  159 — 160 
Aufgabe  3,  9,  6;  ebenda  pag.  201  Aufgabe  5,  7,  10.       -)  Ebenda  pag.  135—136. 


Deutsche  Universitäten.     Regiomontanus.  9,S7 

weiter,  könnte  solches  selbst  einem  Regiomontan  zugetraut  werden, 
wäre  er  im  Stande  gewesen,  das  Werk  sofort  als  in  Wahrheit  wunder- 
schön und  von  grosser  Schwierigkeit  zu  bezeichnen,  wenn  er  ganz 
unvorbereitet  an  den  ihm  ganz  neuen  Gegenstand  herangetreten  wäreV 
Ist  nicht  weit  eher  anzunehmen,  Regiomontan  sei  mit  Aehnli ehern 
schon  vertraut  gewesen,  er  sei  in  Deutschland  in  der  dort  bekannten 
Regel  Ta  yen  (S.  240 j  geübt  gewesen,  er  sei  dann  in  Italien  noch 
näher  der  Zahlentheorie  zugeführt  worden  durch  Umgang  mit  dortigen 
Gelehrten,  welche  den  Lieblingsforschungen  Leonardo's  von  Pisa  nie 
ganz  untreu  geworden  waren?  Erinnert  doch  schon  die  7.  wie  die  8. 
der  obigen  Aufgaben  noch  deutlicher  an  die  Untersuchungen  Leonar- 
do's als  an  die  des  Diophant.  Und  auch  eine  weitere  Berechtigung 
zu  unserer  Annahme  glauben  wir  in  der  Thatsache  zu  finden,  dass 
nicht  bloss  die  10  Fragen  des  Regiomontan,  dass  auch  drei  richtige 
Antworten  erhalten  sind.  Bianchini  weiss  ^),  dass  2.  durch  1103  auch 
durch  3313  und  durch  viele  andere  Zahlen  erfüllt  wird.  Jacob  von 
Speyer  nennt")  als  Auflösung  von  1.  die  drei  Werthe  114,  87,  39, 
als  Auflösung  von  9.  die  beiden  Summen 

1  +  4  +  IG  +  100  ==  121  und  4  +  16  +  49  +  100  =  169. 
Und  wenn  auch  Bianchini  durch  die  nachfolgenden  Worte,  er  wolle 
sich  die  Mühe  nicht  geben,  weitere  Lösungen  zu  suchen,  zu  erkennen 
giebt,  dass  er  die  allgemeine  Auflösung  2210  n  -f-  1103  nicht  besass, 
so  ist  doch  keineswegs  anzunehmen,  dass  solche  Fragen  durch  blosses 
Herumtasten  ihre  Beantwortung  finden  konnten,  ohne  dass  den  Be- 
arbeitern jemals  vorher  ähnliche  Gegenstände  vorgelegen  hätten. 

Die  zweite  von  uns  aufgeworfene  Frage  können  wir  nur  dahin 
beantworten,  dass  Regiomontam  mindestens  glaubte,  zu  seinen  Auf- 
gaben auch  entsprechende  Lösungen  zu  besitzen,  mochten  sie  nun 
richtig  sein  oder  nicht.  Antwortet  er  doch  z.  B.  dem  Jacob  von 
Speier  •'^)  bezüglich  dessen  Auflösungen  von  9.:  „Du  giebst  4  Quadrat- 
zahlen von  der  Art,  wie  ich  sie  verlangte.  Es  möchte  aber  schwer 
halten,  zehn  solcher  Gruppen  von  Quadratzahlen  aufzufinden,  ich 
meine  40  unter  einander  verschiedene  Quadratzahlen,  die  vier  weise 
vereinigt  wieder  ein  Quadrat  geben,  wenn  man  nicht  die  Uebung 
eines  Kunstgi'iffes  diese  zu  beschaffen  besitzt,  und  diesen  Kunstgriff' 
gerade  verlaugte  ich."  Es  fällt  schwer,  sich  der  Meinung  zu  ver- 
schliessen,  dass  Regiomontan,  während  er  so  sehrieb,  sich  im  Besitze 
eines  derartigen  Kunstgriffes  fühlte;  es  fällt  bei  der  Art,  wie  er 
von  dem  Kunstgriffe  spricht,  fast  noch  schwerer  anzunehmen,  der- 
selbe   habe    nur    darin    bestanden,    aus    einer    bekannten    Auflösung 

')  Murr  1.  c.  pag.  103.        -)  Ebenda  pag.  167—168.        ^)  Ebenda  pag.  175. 


288  55.  Kapitel. 

a^  -\-  })'  -\-  c"  -f"  d-  =  l"  beliebig  viele  andere  durch  Vervielfachung 
mit  irgend  einem  n^  abzuleiten,  wenn  vrir  uns  auch  versucht  fühlen, 
bei  den  Aufgaben  7.  und  10.  an  derartige  Vervielfachungen  zu 
denken. 

Als  wir  von  Regiomontan's  wissenschaftlichen  Leistungen  zu 
reden  uns  anschickten,  sagten  wir  zum  voraus,  die  Unstetigkeit  seines 
Lebens  bilde  den  Hintergrund,  von  welchem  die  Grösse  seiner 
Leistungen  sich  abhebe.  Wir  liessen  damit  ahnen,  es  sei  ein  grosser 
Verlust  gewesen,  den  die  Wissenschaft  durch  den  Tod  des  erst 
40jährigen  Mannes  erlitt.  Wir  dürfen  nicht  von  Regiomontan  Ab- 
schied nehmen,  ohne  das  damals  Vorausgesandte  zu  wiederholen.  Wir 
haben  in  Regiomontanus  einen  Mathematiker  allerersten  Ranges  kennen 
gelernt,  ebenbürtig  einem  Leonardo  von  Pisa,  einem  Jordanus  Nemo- 
rarius,  einem  Oresme,  um  nur  die  drei  Namen  zu  nennen,  die  bisher 
den  besten  Klang  hatten  von  allen  in  diesem  Bande  zur  Rede  ge- 
kommenen. Erster  abendländischer  Bearbeiter  einer  wirklichen  Tri- 
gonometrie hat  er  ihr  eine  Vollendung  gegeben,  welche  bis  in  das 
XVIIL  Jahrhundert  hinein  nur  Ergänzungen,  aber  keine  veränderte 
Behandlungs weise  zuliess.  Scharfsinniger  Geometer,  geübter  Alge- 
braiker,  geistreicher  Zahlentheoretiker  hat  er  auf  allen  diesen  Ge- 
bieten gezeigt,  dass  er  auf  der  vollen  Höhe  der  Zeit  stand,  und  wäre 
es  ihm  beschieden  gewesen,  mehr  als  in  kurzen  Andeutungen  sich  zu 
ergehen,  hätte  er  Müsse  gefunden,  wie  er  es  hoifte,  sich  eingehend 
mit  anderen  und  anderen  Thei|^n  der  Mathematik  zu  beschäftigen, 
so  ist  nicht  zu  ermessen,  wie  gewaltige  Neuerungen  er  gewagt  hätte. 
Ist  doch  der  Regiomontan,  den  wir  zu  schildern  hatten,  selbst  nur 
ein  Bruchstück,  wenn  wir  so  sagen  dürfen,  des  ganzen  Regiomontan, 
während  die  Geschichtsschreiber  der  theoretischen  und  der  praktischen 
Sternkunde  sich  mit  andern  grossen  Leistungen  des  so  früh  Ver- 
storbenen abfinden  müssen. 

Ohne  in  ihr  Bereich  überzugreifen,  sei  hier  eine  Vorrichtung  kurz 
erwähnt,  die  zu  irdisch  messenden  Zwecken  nicht  minder  anwendbar, 
als  sie  sich  bei  Sternbeobachtungen  als  einfaches  Messwerkzeug  be- 
währte, lange  Zeit  hindurch  fälschlich  für  eine  Erfindung  Regio- 
•  montan's  galt.  Wir  meinen  den  Jacobsstab ^).  Nicht  als  ob  Regio- 
montan's  Name    gar    nicht   mit    dem    Jacobsstab    in   Verbindung    zu 


*)  Günther  in  der  Bibliotheca  matliematica  1885,  S.  137—140  und  1890, 
S.  73—80.  Ebenderselbe,  Unterrieht  Mittela.  S.  247,  Note  3.  Ebenderselbe, 
Martin  Behaim  (Bayrische  Bibliothek  Band  XIU,  Bamberg  1890),  S.  22  ^gg.  — 
M.  Steinschneider  in  der  Bibliotheca  mathematica  1889,  S.  36 — 37  und  1890, 
S.  107.  —  A.  Breusing,  Die  nautischen  Instrumente  bis  zur  Erfindung  des 
Spiegelsextanten  (1890),  S.  36  flgg. 


M  I  I  I   I  I   I  I  I  I  I  I  m 


Deutsche  Universitäten.     Regiomontanus.  289 

setzen  wäre,  aber  es  handelt  sich  bei  ihm  um  eine  wesentlich  astrono- 
mische Abart.  Die  einfachste  Gestalt  des  Jacobsstabes  ist  die  (Figur  54) 
eines  senkrechten  Querstabes  von 
unveränderlicher  Länge,  der  auf 
einem  in  viele  gleiche  Theile  ge-  aZD 
theilten  Längsstabe  verschiebbar  ist 
und  daran  verschoben  wird,  bis 
das   am  Ende  des  Längsstabes  be-  *'^  "**■ 

findliche  Auge  des  Beobachters  an  dem  oberen  Ende  des  Querstabes 
vorbei  einen  Höhepunkt  eiuvisirt;  ein  kleines  Bleiloth  am  unteren 
Eude  des  Querstabes  regelt  die  senkrechte  Stellung.  So  kann  der 
Höhenwinkel  des  einvisirten  Punktes  leicht  bestimmt  werden.  Die 
Vorrichtung  hiess  baculus,  genauer  baculus  geometricus,  auch 
baculus  Jacobi,  wie  man  vermuthet  von  dem  gesprenkelten  Aus- 
sehen des  eingetheilten  Längsstabes,  der  ihn  jenen  Stäben  vergleich- 
bar macht,  welcher  nach  biblischer  Sage  sich  Jacob  einst  zu  ganz 
anderen  Zwecken^)  bediente.  Diesen  geometrischen  Stab  hat  schon 
Levi  ben  Gerson  (S.  112),  dessen  Todesjahr  auf  1344  bestimmt 
worden  ist,  beschrieben  und  hat  dabei  einen  verjüngten  Maassstab 
eingerichtet,  der  ihm  gestattete,  an  seinem  Stabe  einzelne  Winkel- 
minuten abzulesen^).  Der  hebräische  Name  seiner  Abhandlung  ent- 
spricht dem  in  einer  wiener  Uebersetzung  ^)  enthaltenen  Titel  sccrc- 
torum  revelator.  Der  Name  des  Instrumentes  ist  baculus  Jacobi.  Der 
gleiche  Name  findet  sich  in  einem  Münchener  Codex  ^),  welchen  ein 
gewisser  Theodorich  Ruffi  1445  —  1450  niederschrieb.  Regiomontan 
bediente  sich  zur  Messung  des  scheinbaren  Durchmessers  von  Kometen 
eines  ähnlichen  aber  immerhin  verschieden  gehandhabten  Jacobsstabes. 
Er  visirte  längs  dem  Längsstabe  auf  den  Mittelpunkt  des  Sternes  und 
verschob  den  Querstab,  bis  derselbe  in  ganzer  Länge  den  Stern 
genau  verdeckte.  Darum  hiess  der  Stab  auch  baculus  astrono- 
micus  und  kommt  hier  eben  so  wenig  genauer  in  Betracht,  als  die 
nautische  Bedeutung  der  bei  den  Schiffern  unter  dem  Namen  Grad- 
stock in  Uebung  gekommenen  Vorrichtung,  welche  Regiomontan's 
Schüler  Martin  Behaim  den  Portugiesen  bekannt  machte. 


^)  Genesis  Kap.  .30,  Vers  37  flgg.         *)  Curtze  brieflich.         ')  Lateinische 
Handschrift  5072.         ")  Cod.  lat.  11067. 


Cantob,  Geschichte  der  Mathem.    U.    2.  Aufl.  19 


290  ö6.  Kapitel. 


5G,  Kapitel. 

Ratdolt's  Enklidausgabe.    Alberti.    Liouardo  da  Vinci. 
Die  Aritlimetilv  von  Treviso. 

Schon  unsere  Untersuchungen  über  Regiomoutan  haben  uns  ver- 
anlasst, mit  ihm  den  Boden  Deutschlands  zu  verlassen  und  in  Italien 
uns  umzuschauen.  Wir  hätten  in  Regiomontan's  Briefwechsel  den 
Namen  manches  gelehrten  Astronomen  finden  können.  Wir  unter- 
liessen  es,  auch  nur  darnach  zu  suchen.  Einzig  Bianchini  musste 
im  Vorübergehen  genannt  werden,  neben  ihm  Jacob  von  Speier, 
ein  Deutscher,  der,  wie  wir  wissen,  in  Italien  lebte. 

Xoch  einen  anderen  Deutschen  haben  wir  in  Italien  zu  erwähnen, 
der,  ohne  Mathematiker  zu  sein,  der  Mathematik  nicht  hoch  genug 
anzuschlagende  Dienste  geleistet  hat.  Erhard  Ratdolt^)  gehörte 
einer  Augsburger  Künstlerfamilie  an  und  soll  etwa  1443  geboren  sein. 
Nachdem  er  schon  in  der  Heimath  das  Buchdruckergewerbe  geübt 
hatte,  ging  er  1475  nach  Venedig  und  gründete  daselbst  eine  be- 
rühmte Druckerei,  welcher  er  11  Jahre  vorstand.  Dann  kehrte  er 
1486  nach  Augsbm-g  zurück,  wo  er  sein  Geschäft  mit  nicht  geringerer 
Auszeichnung  bis  in  sein  hohes  Alter  weiter  betrieb.  Er  soll  um 
1528  gestorben  sein.  Wir  nennen  ihn  hier  wegen  seiner  Euklid- 
ausgabe-J  von  1482.  Er  hat,  was  gewiss  nicht  ohne  Wichtigkeit 
ist,  in  diesem  Drucke  mathematische  Figuren  vervielfältigt 
und  hat  in  seiner  Widmung  an  den  Fürsten  Mocenigo  von  Venedig, 
die  selbst  eine  Neuerung,  nämlich  die  erste  Anwendung  von  Gold- 
schrift im  Drucke,  aufzeigt,  auf  jene  Erfindung  Gewicht  gelegt.  Die 
Seltenheit  mathematischer  Drucke,  sagt  er,  beruhe  auf  der  seitherigen 
Unmöglichkeit  der  Figurenherstelluug;  er  habe  nach  langer  Arbeit  es 
dahin  gebracht,  dass  eben  so  leicht  wie  die  Theile  der  Buchstaben 
auch  geometrische  Figuren  gefertigt  würden^).  Nun  ist  freilich  un- 
richtig, was  von  der  Unmöglichkeit  der  Figurenherstellung  gesagt  ist, 
denn  in  der  um  1472  durch  Regiomoutan  besorgten  Druckausgabe 
von  Peurbach's  Theorica  Planetarum  finden  sich  bereits  vortreffliche 
mathematische  Holzschnitte.  Anderntheils  sind  darüber,  wie  die 
Schlussworte  des  angeführten  Satzes  zu  verstehen  seien,  die  Kenner 
des  Druckgewerbes  selbst  im  Zweifel.     Vielleicht  handelt  es  sich  um 


1)  Allgem.  deutsche  ßiogr.  XXVII,  341— ;]4.3.  ^)  Kästner,  I,  •289—302.— 
Weissenborn,  Die  Uebersetzungen  des  Euklid  durch  Campauo  und  Zamberti 
(1882),  S.  4 — 12.  ^)  ut  qua  facilitate  Httemnim  eUmenta  imxtrimcmiur  ea  etiam 
yeometrice  fiyure  coußcerentui: 


Katdolt's  Euklidausg.   Alberti.  Lionardo  da  Vinci.    D.  Arithmetik  v.  Treviso.     291 

Herstellung  von  Figuren  aus  einzelnen  gradlinigen  oder  krumm- 
linigen Figureutheilen,  welche,  ähnlich  wie  Buchstaben  zu  Worten 
aneinandergesetzt  werden,  sich  vereinigen  Hessen.  War  llatdolt  wirk- 
lich einer  der  Ersten,  welche  Figuren  druckten,  so  hatte  er  noch  im 
gleichen  Jahre  1482  einen  Nacheiferer.  Mattheus  Cordonis  von 
Windischgrätz  hat  damals  mathematische  Figuren  in  Holzschnitt 
bei  einer  in  Padua  von  ihm  gedruckten  Ausgabe  von  Oresme's  lati- 
tudinibus  in  Anwendung  gebracht^). 

Ungleich  wichtiger  als  die  Vorgängerschaft  auf  dem  Gebiete  des 
Figurendi'ucks  ist  die  seit  1482  erst  ermöglichte  Verbreitung  geo- 
metrischen Wissens  an  der  Hand  des  im  Drucke  nunmehr  käuflichen 
Elementarwerkes.  Wie  sehr  es  einem  Bedürfnisse  entgegenkam,  ist 
aus  der  Häufigkeit  der  Nachdrucke  zu  ermessen.  Gleich  im  ersten 
Jahre  1482  sind  zweierlei  Ausgaben  vorhanden,  beide  bei  Ratdolt  in 
Venedig  gedruckt,  unterschieden  in  dem  ersten  Bogen,  späterhin  über- 
einstimmend. Es  ist  natürlich  ganz  unmöglich,  zu  entscheiden,  ob 
man  hier  wirklich  von  zwei  Ausgaben  zu  reden  hat,  oder  ob  nur  die 
erste  Lage  noch  einmal  gedruckt  worden  ist^),  wofür  wir  allerdings 
einen  Grund  nicht  abzusehen  vermögen.  Eine  weitere  Druckgebung 
hat  148G  bei  Reger  in  Ulm  stattgefunden,  eine  weitere  1491  bei 
einem  Magister  Leonardo  von  Basel,  aber  ohne  die  Widmung  an  den 
inzwischen  1485  verstorbenen  Fürsten  Mocenigo.  Und  mit  dem  Jahre 
1500  beginnen  erst  recht  neue  Auflagen,  die  wir  nur  desshalb  an 
dieser  Stelle  noch  nicht  anführen,  weil  sie  einen  anderen  Text 
enthalten  als  die  Drucke  vor  1500.  Letztere  geben,  wie  nicht  anders 
zu  erwarten,  den  aus  dem  Arabischen  übersetzten  Euklid  in  der 
handschriftlich  schon  vei*hältnissmässig  stark  verbreiteten  Ausgabe  des 
Campanus,  welchen  auch  die  Ueberschrift  des  selteneren  von  den 
beiden  Abdrücken  von  1482  nennt ^).  Die  Zusätze  des  Campanus 
sind  mit  den  Beweisen  vereinigt  in  kleineren  Buchstaben  gedruckt 
als  die  Lehrsätze,  und  Ueberschriften  von  der  Art,  wie  man  sie  später 
findet,  Eudides  ex  Campano  oder  Campanus  oder  Campani  additio 
oder  Campani  annotatio  fehlen  durchaus.  Wer  aber  den  Druck  in 
dieser  Richtung  leitete,  darüber  sind  uns  persönlich  keine  Zweifel, 
das  war  Ratdolt  selbst.  Der  Buchdrucker  war  in  der  Wiegenzeit  jener 
Kunst  meistens   ein  feingebildeter  Mann,  oftmals  Herausgeber  der  bei 


1)  Max.    Curtze  in    der  Zeitschr.  Math.  Phys.  XX,   Hist.-liter.  Abthlg. 
S.  58.  *)  Diese  Meinimg  ist,  gestützt   auf  eine   genaue  Beschreibung  beider 

Drucke,  von  G.  Valentin  in  der  Biblioth.  matliem.  1893  S.  .33 — 38  vertreten. 
^)  Praedarissimum  opus  clementorum.  Euclidis  meyarensis  una  cum  commentis 
Campani  pi^'t'spicacissimi  in  artem  (jeometriam  incipit  feliciter. 

19* 


292  56.  Kapitel. 

ihm  erscheinenden  Werke,  und  wo  er  es  nicht  war,  pflegte  man  den 
Namen  des  Herausgebers  nicht  zu  unterdrücken. 

Es  wird  auffallen,  dass  auch  derjenige  Theil  der  1482er  Ausgabe, 
welcher  die  Zusätze  des  Campanus  hervorhebt,  die  Bemerkung  ver- 
missen lässt,  Euklid's  Elemente  selbst  seien  dabei  aus  dem  Arabischen 
übersetzt .  Man  hat  sehr  richtig  hervorgehoben  ^) ,  ein  solches 
Schweigen  könne  doppelt  gedeutet  werden.  Man  schweigt  über  Dinge, 
die  man  nicht  weiss,  man  schweigt  auch  wohl  über  Dinge,  die  Jeder 
weiss.  Hier  sei  wohl  die  letztere  Deutung  richtig.  Jeder  wusste,  dass 
der  Euklid,  zu  welchem  Campanus  Erläuterungen  verfasste,  dem  Ara- 
bischen entstammte,  und  wie  wollte  man  zu  einer  anderen  Meinung 
kommen,  wenn  man  im  Texte  den  Wörtern  helmuaym  und  helmuariplic 
begegnete,  deren  Heimath  nicht  zweifelhaft  sein  konnte,  mochte  auch 
die  eigentliche  Bedeutung  nicht  bekannt  sein.  Waren  doch  vielleicht 
grade  diese  Namen  mitschuldig,  wenn,  wie  wir  (S.  263)  gesehen 
haben,  ein  so  guter  Kenner  des  Griechischen  wie  Regiomontan  dem 
Irrthume,  der  Mathematiker  Euklid  sei  der  von  Megara  gewesen,  den 
viel  unverzeihlicheren  zugesellte,  dieser  Megarenser  habe  arabisch  ge- 
schrieben. Ratdolt,  den  wir  hiermit  verlassen  wollen,  hat  übrigens 
auch  zu  Regiomontan  in  buchhändlerischer  Verbindung  gestanden. 
Er  druckte  für  ihn  1476  ein  Calendarium,  in  welchem  besonders 
hübsche  Zierleisten  angebracht  waren.  Die  Vereinbarung  über  diese 
Veröffentlichung  muss  wohl  unmittelbar  vor  Regiomontan's  Tode  ge- 
troffen worden  sein. 

Regiomontan  hat  in  seinem  Briefe  vom  Februar  1464  zwei  Männer 
als  besonders  zuverlässige  Beobachter  genannt,  Toscanelli  und 
Alberti^).  Toscanelli  ist  uns  beiläufig  als  der  Jugendfreund  des 
Cusanus  bekannt  geworden.  Wir  müssen  jetzt  Alberti's  gedenken, 
wiewohl  er  als  Baumeister  fast  nur  in  mittelbarer  Beziehung  zur 
Geschichte  der  Mathematik  steht.  Leone  Battista  Alberti  (1404 
bis  1472),  ein  auf  den  verschiedensten  Wissensgebieten  mit  Erfolg 
thätiger  Schriftsteller^),  hat  allerdings  eine  kleine  Schrift  Ficcolezze 
Matematiche  verfasst*),  in  welcher  die  Vorschrift  enthalten  ist,  einen 
rechten  Winkel  durch  Seilspannung  zu  erhalten,  indem  man  Stricke 
von  den  Längen  o,  4,  5  mit  einander  vereinige;  weniger  genau  werde 
der  rechte  Winkel,   wenn  man   die    Längen  4,  5,  6   anwende.     Aber 


^)  Weissenborn  1.  c.  S.  12.  -)  Murr,  1.  c.  pag.  148.     In  der  Anmer- 

kung zur  gleichen  Seite  hat  Murr   die  Verse  von  Ugolino  Verius  zum  Abdrucke 
gebracht,   welche   wir  im   Texte   anführen,  ^)  G.  Loria,  Per  Leon  Battista 

Alberti  in  der  Biblioth.  mathemat.  1895,  S.  9 — 12.       "')  Rosei,  Groma  e  sguadro 
(1877),  pag.  105. 


Katdolfs  Eiiklidausg.    Alberti.   Lionardo  da  Vinci.   D.  Arithmetik  v.  Treviso.     293 

diese  dem  grauesten  Alterthuin  angehörende  Vorschrift  und  ähnliche 
Kleinigkeiten  hätten  doch  nicht  ausgereicht,  Alberti  das  Lob  zu  ver- 
dienen, mit  welchem  ein  Florentiner  Dichter  ihn,  den  Florentiner  Bau- 
meister, bedenkt: 

Nee  minor  Euclide  est  AlJ^rtus,  vincit  et  ipsnm 
Vitruvium.     Quisquis  cehas  attolere  moles 
Äffeetat,  nostri  relegat  monumenta  Batistae. 

Kleiner  nicht  ist  als  Euklid  Albertus,  als  Sieger  besteht  er 
Neben  Vitruv.     Wer  immer  mit  grossen  Massen  zu  thuu  hat, 
Lese  und  lese  von  Neuem,  was  unser  Battista  zurückliess. 

Wahrscheinlich  ist  als  das  zurückgelassene  Werk  die  Architectura 
gemeint,  welche  1485  in  Florenz  gedruckt  wurde^  und  von  welcher 
schon  vor  der  Drucklegung  Lorenzo  Ghiberti  in  seiner  Chronik  von 
Florenz  rühmte,  sie  sei  unvergleichlich^).  „Eine  Erfindung,  so  fährt 
Ghiberti  fort,  die  Alberti  machte,  ist  wahrlich  der  Buchdruckerkunst 
an  Nützlichkeit  gleich  zu  achten.  Er  verfertigte  nämlich  ein  Instru- 
ment, wodurch  es  möglich  ist,  allerlei  Zeichnungen  auf  beliebige 
Weise  zu  vergrössern  und  zu  verkleinern."  Die  betreffende  Vorrich- 
tung ist  in  einer  kleineren  Schrift  Alberti's  über  Malerei,  welche 
er  am  7.  September  1435  vollendete,  beschrieben  2).  Er  nennt  sie 
Schleier,  velo.  „Man  nimmt  einen  ganz  feinen,  dünn  gewebten 
Schleier  von  beliebiger  Farbe,  welcher  durch  stärkere  Fäden  in  eine 
beliebige  Anzahl  von  Parallelogrammen  getheilt  ist.  Diesen  Schleier 
bringe  ich  nun  zwischen  das  Auge  und  die  gegebene  Sache,  so  dass 
die  Sehpyramide  in  Folge  der  Dünnheit  des  Gewebes  hindurchzudringen 
vermag.  Sicherlich  gewährt  Dir  dieser  Schleier  nicht  geringe  Vor- 
theile."  Derselbe  Alberti  hat  nach  1464  noch  eine  weitere  Abhand- 
lung De  statua  geschrieben^).  In  ihr  ergänzte  er,  möchten  wir 
sagen,  für  die  Phantasie,  was  sein  Schleier  für  das  sehende  Auge 
leistete.  War  es  doch  für  den  Künstler,  der  nicht  fortwährend  den 
abzubildenden  Gegenstand  vor  sich  hatte  und  ihn  immer  vergleichen 
konnte,  geradezu  nothwendig,  hergebrachte  Verhältnisszahlen  zu  ken- 
nen, welche  ihn  bei  der  Arbeit  unterstützten,  insbesondere,  wenn  es 
um  ein  bildhauerisches  Kunstwerk  sich  handelte.  Der  erste  Schrift- 
steller, von  welchem  Angaben  über  die  Grössen  Verhältnisse  einzelner 
Gliedmaassen  der  Menschen  uns  erhalten  sind,  war  Vitruvius  (Bd.  I, 
S.  508).  Dann  fanden  wir  Aehnliches  bei  den  lauteren  Brüdern 
(Bd.  I,  S.  697).     Letztere    verbanden    damit,    wie  -wir    uns    erinnern, 


^)  Aug.  Hagen,  Künstlergeschichten,  2.  Auflage  (1861)  I,  176.  -)  Quellen- 
schriften für  Kunstgeschichte  XI,  100.  Vergl.  auch  Libri  II,  274,  Note  2. 
*)  Quellenschriften  für  Kunstgeschichte.  XI,  200  ^gg. 


204  50.  Kapitel. 

Vorschriften  über  die  Grösse  der  einzelnen  Striche,  aus  welchen  Buch- 
staben sich  zusammensetzen,  und  wenn  wir  nicht  anstehen,  Alles,  was 
über  Körpermaasse  gesagt  ist,  in  letzter  Linie  auf  das  Künstlervolk 
des  Alterthums,  auf  die  Griechen  zurückzuführen,  so  scheint  die  nach 
Regeln  geübte  Ausführung  von  Buchstaben  uns  eher  arabisch  zu 
sein.  Kein  Volk  hat  wenigstens  so  viel  Gewicht  auf  Schönschrift 
gelegt,  als  das  arabische,  bei  welchem  derselben  nahezu  gottesdienst- 
liche Bedeutung  innewohnte.  Eine  vereinzelte  Spur  ^)  von  der  Er- 
haltung der  Regeln  über  Körperverhältnisse  ist  bei  dem  Schreiber  eines 
um  1200  etwa  entstandenen  Bruchstückes  anzutreffen,  der  als  Gewährs- 
mann für  Verhältnisszahlen  von  Gliedmaassen  einen  Egesippus  oder 
Eugippus  nennt,  vermuthlich  einem  Griechen,  indem  doch  schwer- 
lich an  den  sogenannten  Hegesippus  des  Mittelalters,  d.  h.  an  den 
Uebersetzer  des  jüdischen  Krieges  von  Flavius  Josephus  in's  Lateinische 
zu  denken  sein  wird.  Des  Weiteren  soll  Giotto  (1276 — 1336),  der 
Neubegründer  der  Malerei  in  Italien,  über  die  Verhältnisse  des  mensch- 
lichen Körpers  geschrieben  haben,  und  Gleiches  wird  auch  von  anderen 
Künstlern,  von  Piero  della  Francesca,  von  Ghirlandajo  gerühmt. 
Piero  della  Francesca  soll  daneben  auch  über  regelmässige  Vielflächner 
geschrieben  haben-).  Alberti's  Schrift  De  statua  ist  die  erste  selb- 
ständige Abhandlung  über  den  Gegenstand,  welche  der  Oeffentlichkeit 
übergeben  ist.  Er  behauptet  darin,  die  angegebenen  Maasse  einzelner 
Körpertheile  nach  Länge,  Breite  und  Dicke  beruhten  auf  vielfachen 
Messungen.  Die  Grundlage  aller  seiner  Zahlen  ist  ein  in  600  Theile 
eingetheilter,  Excmpcda^)  genannter  Maassstab  von  Meuschenlänge. 
Bei  der  Verschiedenheit  der  Einzelgrösse  von  einem  Menschen  zum 
anderen  wird  naturgemäss  die  Grösse  des  Exempeda  und  seiner  Theile 
von  einem  Menschen  zum  anderen  wechseln,  aber  die  Verhältniss- 
mässigkeit  vom  Ganzen  zu  seinen  Theilen,  von  der  Körperlänge  zu 
der  der  Gliedmaassen,  bleibt  unverändert  und  nöthigt  beim  Riesen 
wie  beim  Zwerge  die  gleichen  Zahlen  anzunehmen. 

Alberti  war  keineswegs  der  einzige  Künstler  seiner  Zeit,  welcher 
mathematische  Neigung  an  den  Tag  legte  und  als  Schriftsteller  von 
uns  genannt  zu  werden  hat.  Der  grösste  italienische  Maler  des 
XV.  Jahrhunderts  Lionardo  da  Vinci  (1452 — 1519)  steht  nicht 
minder  gross    als  Mann   der  Wissenschaft,    insbesondere    der    Natur- 


^)  Cantor,  Die  römischen  Agrimensoren  und  ihre  Stellung  in  der  Ge- 
schichte der  Feldmesskunst  (1875),  S.  157  und  223.  -)  Staigmüller  in  der 
Zeitschr.  Math.  Phys.  XXXVI,  Hist.-liter.  Abthlg.  S.  125— 127.  ^)  il,s^7tsS6(o 
=  treulich  halten,  beobachten.  Einer  Herleitung  von  Exempeda,  welche  das 
Wort  sechs  Fuss  bedeuten  lässt,  können  wir  uns  nicht  recht  befreunden,  da  uns 
sechs  Fuss  als  regelmässige,  also  mittlere  Menschenlänge  zu  gross  erscheint. 


Ratdolt's  Euklidausg.   Alberti.   Lionardo  rla  Vinci.   D.  Arithmotik  v.  Treviso.     295 

Wissenschaft  da.  Die  Geschichte  der  Physik  ermangelt  nicht,  sich 
seiner  zu  rühmen^)  und  die  Verdienste  hervorzuheben,  um  derenwillen 
man  Lionardo  da  Vinci  namentlich  als  einen  der  Begründer  der 
Optik  preist.  Die  meisten  wissenschaftlichen  Arbeiten  Lionardo's 
werden  in  der  Zeit  von  1482 — 1499  entstanden  sein.  Damals  stand 
er  in  Mailand  an  der  Spitze  einer  Anstalt,  welche  nach  dem  Namen 
des  Vorstehers  kurzweg  die  Akademie  des  Lionardo  da  Vinci  hiess, 
und  in  welcher  das  Können  wie  das  Wissen  der  zahlreichen  Schüler 
gleichmässige  Anregung  erhielt.  Vielleicht  zu  Zwecken  von  Vorträgen 
in  der  Akademie,  vielleicht  als  Vorarbeiten  zur  Herausgabe  von  Werken, 
welche  Lionardo  plante,  aber  kaum  bis  zur  Reife  des  schriftlichen 
Entwurfs  förderte,  entstanden  Hefte,  welche  theilweise  noch  heute 
vorhanden  uns  einen  bewundernden  Einblick  in  den  reichsten  Geist 
gestatten,  den  das  Ende  des  XV.  Jahrhunderts  in  Italien  hervor- 
gebracht hat.  Eine  Anzahl  solcher  Hefte  voll  von  feinen  in  Spiegel- 
schrift von  rechts  nach  links  verlaufenden  Schriftzügen  ist  nachweis- 
lich abhanden  gekommen,  wahrscheinlich  zu  Grunde  gegangen.  Nur 
13  Hefte  haben  sich  erhalten,  von  welchen  12  mit  den  Buchstaben 
Ä  bis  31  bezeichnet  in  den  Bibliotheksräumen  der  Pariser  Akademie 
der  Wissenschaften  stehen,  eines  früher  als  A^  bezeichnet,  jetzt  den 
Namen  Codice  AÜanfico  von  seiner  einem  Atlas  ähnlichen  Gestalt 
führend  in  der  Ambrosianischen  Bibliothek  in  Mailand  sich  befindet. 
Eine  photographische  Nachbildung  desselben  wird  vorbereitet,  eine 
solche  der  Pariser  Hefte  hat  stattgefunden  und  hat  sie  dem  allge- 
meinen Studium  unterbreitet^),  so  weit  der  Zustand  der  Aufzeich- 
nungen ein  Studium  gestattet.  Leider  sind  es  nur  zusammenhanglos 
hingeworfene  Bemerkungen,  oft  einander  widersprechend,  mitunter 
durch  ein  beigeschriebenes  falsch  (also  die  Unzufriedenheit  des 
Verfassers  selbst  bezeugend  und  in  keiner  Weise  ihre  Zeitfolge 
beglaubigend,  so  dass  man  nicht  weiss,  was  Lionardo's  frühere,  was 
seine  spätere  Meinung  war.  Auszüge^),  welche  grösstentheils  dem 
Codice  Atlantico  entnommen  sind,  lassen  einen  auch  für  die  Geschichte 
der  Mathematik  nicht  unwichtigen  Lihalt  jenes  stattlichen  Heftes  ver- 
muthen,  wenn  auch  bedauerlicher  Weise  die  Belegstellen  nicht  ab- 
gedruckt sind.  Betrachtungen  über  Sternvielecke,  Unterscheidung  von 
Curven  einfacher   und  doppelter  Krümmung,   Entdeckung   der  Brenn- 


1)  Heller,  Geschichte  der  Physik  I,  222—248  (1882).  °)  Charles  Ra- 

vaisson-Mollien,  Les  Manuscrits  de  Leonard  de  Vinci.  Tome  I  Manuscrit 
Ä  (1881).  Tome  II  Manuscrits  B,  B  (1883).  Tome  III  Manuscrits  C,  E,  K 
(1888).  Tome  IV  Manuscrits  F,  I  (1889)  Tome  V  Manuscrits  G,  L,  M  (1890). 
Tome  VI  Manuscrit  H  und  Ashh.  2038,  2037  (1891).  ^)  Chasles,    Apergu 

hist.  .5.30— .5.32  (deutsch  S.  625-627),  —  Libri  IV,  42,  Note  4;  46,  Note  1  und  2. 


296 


56.  Kapitel. 


linien,  Leuguuug  der  Möglichkeit  einer  Quadratur  des  Kreises,  Er- 
findung der  Zeichen  -f~  ^^d  —  ^^^^  Dinge,  die  eine  genauere  und 
dadurch  glaubwürdigere  Besprechung  verlangt  hätten.  Die  Ausbeute 
der  bisher  veröfi'entlichten  Hefte  zeigt  uns  Lionardo  da  Vinci  nicht 
als  grossen  Mathematiker.  Sie  giebt  zu  erkennen,  dass  er,  der  Mann 
der  praktischen  Anwendung,  auch  auf  die  Geometrie  sein  Augenmerk 
vorzugsweise  nach  der  Richtung  hinwandte,  ob  und  wie  sie  etwa  den 
Zwecken  des  Künstlers  dienstbar  gemacht  werden  könnte.  Weitaus 
am  häufigsten  kommen  Zeichnungen  regelmässiger  Vielecke  vor^), 
bald  so,  dass  eine  gegebene  Kreislinie  in  eine  gegebene  Anzahl 
gleicher  Theile  getheilt  werden  soll,  bald  so,  dass  über  einer  ge- 
gebeneu Strecke  als  Grundlinie  das  betreffende  Vieleck  verlangt  wird, 
und  dass  diese  Aufgabe  alsdann  durch  Auffindung  des  Mittelpunktes 
des  Umkreises  des  Vielecks  als  gelöst  betrachtet  wird.  Dabei  ist  häufig 
die  Bedingung  gestellt,  es  solle  die  Zeichnung  unter  Festhaltung 
einer  einzigen  Zirkelweite  vollzogen  werden^').  Wir  wissen,  dass 
Abu  '1  Wafä  (Bd.  I ,  S.  700)  die  gleiche  Bedingung  bei  einer  grossen 
Anzahl  von  Aufgaben  beobachtete.  Von  jetzt  an  ist  sie  dem  Abend- 
lande, insbesondere  Italien  erworben.  Betrachten  wir  nun  einige  der 
Vorschriften  Lionardo's  da  Vinci.  Um  d  (Figur  55)  beschreibt  man 
einen  Kreis,  um  h  wenigstens  einen  Kreis- 
bogen, um  a  einen  zweiten,  um  c  einen 
dritten  Kreisbogen  immer  mit  derselben 
Zirkelöfi'nung.  Dann  zieht  mau  die  Gera- 
den hc  und  dcf,  so  ist 


ha 


Kreis 


arc.  hc  =  --  desselb( 


arc.  cf 


arc.  af  = 


wie  man  leicht  erkennt,  wenn  man  die 
Figur  ergänzend  die  Hilfslinien  ah,  hd,  da  zieht^J.  Ein  anderes 
MaPj  wird  (Figur  56)  um  e  ein  Kreis  beschrieben,  um  a  ein  Kreis- 
bogen, um  c  ein  weiterer,  um  d  ein  letzter,  wieder  alle  mit  gleicher 
Zirkelöifnung.     Die  Gerade  ad  liefert  jetzt  den  Punkt  n,  die  Gerade 


*)  Cantor,  Ueber  einige  Constructionea  von  Lionardo  da  Vinci  in  der  Fest- 
schrift der  Mathematischen  Gesellschaft  in  Hamburg  anlässlich  ihres  200jähi-igen 
Jubelfestes  1890.  *)  Z.  B.  A  fol.  15  verso:   Affare  una  linia  curva  divisua  in 

parte  dispari  e  equali  come  apare  in  abc  con  un  solo  aprire  di  seste  und  häufiger. 
3)  B  fol.  40  recto.         ")  B.  fol.  27  verso. 


Katdolt's  Euklidausg.   Alberti.   Lionardo  da  Vinci.    D.  Arithmetik  v.  Treviso.     297 

h)i))i  deu  Punkt  m,  danu  soll  urc.  ani  =  ^  Kreislinie  sein.  Dabei 
sind  auf  ac  vier  Pünktclieu  angegeben,  welche  die  Fünftheilung  dieses 
Bogens  vollenden  und  je  ein  Theilchen  als  —  Kreislinie  auftreten 
lassen;  arc.  cm  ist  ungefähr  ebensogross,  arc.  am  also  g-Q^y  Unter 
Benutzung  der  auf  der  Figur  angedeuteten  Hilfslinien  hat  sich  heraus- 
/ 


Fig.  57. 

gestellt,  dass  arc.  cm  statt  12°,  die  er  rnessen  sollte,  etwa  12''  25' 
beträgt.  Noch  falscher  ist  (Figur  57)  die  Zeichnung  eines  regel- 
mässigen Fünfecks^!.  Ein  gleichseitiges  Dreieck  ist  beschrieben, 
dessen  Höhe  ist  gezogen  und  dient  als  Halbmesser  dazu,  um  von  dem 
Fusspunkte  der  Höhe  als  Mittelpunkt  aus  einen  Kreis  zu  beschreiben. 
Von  der  Spitze  des  Dreiecks  aus  wird  mit  der  Dreiecksseite  als  Halb- 
messer ein  Bogen  beschrieben,  und  dessen  Durchschnittspunkte  mit 
dem  vorhergezeichneten  Kreise  nebst  der  Spitze  des  Dreiecks  sollen 
drei  Eckpunkte  des  verlangten  Fünfecks  sein.  Lionardo  hat  selbst 
falso  an  die  Figur  geschrieben.  Gleichwohl  hat  er  den  zu  Grunde 
liegenden  Gedanken  nicht  fallen  lassen.  Vom  Eckpunkte  tn  (Figur  58) 
des  gleichseitigen  Dreiecks  mnc  hat  er-)  die  Senkrechte  mh  nach  der 
Mitte  der  Seite  nc  gezogen  und  durch  den  um  in  als  Mittelpunkt 
beschriebeneu  Kreisbogen  ha  auf  der  Höhe  des  Dreiecks  den  Punkt  a 
gefunden,  der  ihm  Mittelpunkt  des  durch  m  und  ii  gelegten  Kreises 
wird,   in   welchen    mn   als  Fünfecksseite   passt.     Diese  Zeichnung  ist 


rechnungsmässig  geprüft  dahin  zu  deuten,  dass  sin  36" 


ya 


=  0,57735 


^)  A  fol.  13  verso.         -)  A  fol.  17  verso. 


208  56.  Kapitel. 

angenommen  ist,  während  sin  36°  =  0,58778  sein  muss 


Versucli  ^)  liefert  sin  36° 


]'- 


Ein  dritter 
0,58520.    Er  besteht  iu  Folgendem 


(Figur  59).  Von  a  und  d  mit  ad  im 
Halbmesser  beschriebene  Kreisbögen  hc 
und  ef  schneiden  einander  in  jj  und  r, 
durch  welche  Punkte  die  )nrsj)]i  grad- 


Fig.  58. 


Fig.  59. 


linig  gezogen   wird.     Dann   wird 


und   pg  =^  ~  parallel   zu   a 


n   vier  gleiche    Theile    getheilt 

,    i^- ^-   .-«   ....   gezogen.     Die  ga  schneidet   die  mli  im 

Mittelpunkte  des  durch  a  und  d  hindurch- 
gehenden Kreises,  in  welchen  ad  als  Fünf- 
ocksseite  passt. 

Will  ein  regelmässiges  Siebeneck  in 
eiii^m  Kreise  von  gegebenem  Halbmesser 
erhalten  werden,  so  verfährt  Lionardo  da 
Vinci  folgendermassen-)  (Figur  60).  Aus 
einem  Punkte  c  des  Kreisumfanges  wird 
der  Bogen  ad,  aus  d  der  Bogen  ac  be- 
schrieben, cd  und  senkrecht  dazu  ah  ge- 
zogen,   so    ist    ah    genau    die    Siebeuecks- 

seite'').  Man  erkennt  hier  sofort  diejenige  Methode,  deren  sich  Abu  1 
Wafä(Bd.I,  S.  702)  bediente  und  welche  Jordanus  Nemorarius  (S.  83) 
unter  der  Bezeichnung  als  indische  Regel  lehrte. 

Das   Achteck  hat  Lionardo,   wie   wir   oben    sahen,   ganz    richtig 


^)  B  fol.  1.3  verso.       ^  B  fol.  28  recto.       ^  c  la  linia  ab  e  che  in  sopra 
meza  dela  linea  cd  sara  apiinto    -  da  tutto  il  circulo. 


del 


Ratdolt's  Euklidausg.    Albei-ti.   Lionardo  da  Vinci.   D.  Arithmetik  v.  Treviso.     299 

constriiirt  In  demselben  Hefte,  in  welchem  die  richtige  Zeichnung 
gelehrt  ist,  nur  23  Blätter  früher,  ist  in  näherungsweiser  Zeichnung 
der  Mittelpunkt^)  des  Umkreises  zu  einer  gegebenen  Achtecksseite 
gesucht  (Figur  61).  Die  mit  am  als  Halbmesser  von  a  und  m  aus 
beschriebenen  Bögen  schneiden  sich  in  j?  und  gestatten  die  Mittel- 
senkrechte zu  am  zu  ziehen.  Nimmt  man  auf  dieser  von  })  aus  nach 
oben    -^  hinzu,    so    erscheint   der  Mittelpunkt   C    des    Kreises.     Der 


Grund  für   die  Annahme    von  ^jC 


ap 


mag   darin   zu   suchen    sein. 


dass  am  im  Kreise  vom  Halbmesser  a})  Sechsecksseite  wäre,  und  dass 
8:6=  1  :  1 .  Von  ähnlichem  Gedanken  aus  dürfte  die  Vierthei- 
lung einer  Strecke  in  der  letzten  Fünfecksconstruction   sich  erklärer. 


Fig.  61. 


Fig.  fi2. 


In  dem  hier  erhaltenen  Kreise  ist  arc.  am  etwa  45"  15'  41"  statt  45". 
Unsere  Vermuthung,  wie  die  Achtecksconstruction  entstanden  sein 
könnte,  wird  durch  eine  Neunecksconstruction-)  gerechtfertigt.  Da 
9:6=  1—  :  1,  so  müsste  der  Mittelpunkt  des  Neunecks  von  dem  des 
Sechsecks  um  die  Hälfte  des  früheren  Halbmessers  abstehen,  und 
darauf  kommt  Lionardo's  Vorschrift  auch  hinaus,  denn  es  wird 
(Figur  62)  von  n  aus  ng  =  hh  ==  -^  aufgetragen.  Das  Ergebniss  ist 
arc.  a&  =  40"  12'  25"  statt  40",  aber  Lionardo  glaubte  eine  genaue 
Zeichnung  zu  besitzen  ^).    Endlich  hat  sich  Lionardo  (Figur  63)  noch 

^)  B  fol.  17  recto.     -)  B  fol.  29  recto.     ^)  e  tera  in  se  apunto  9  delle  date  linie. 


300  56.  Kapitel. 

au  einer  Construction  eines  Achtzehnecks  unter  Beibehaltung  einer 
festen  Zirkehveite  versucht  \),  welche  er  nachträglich  selbst  durch  ein 
beigeschriebenes  falso  verurtheilt  hat. 
Die  Figur  ist  bei  Lionardo  mit  Buchsta- 
ben versehen,  aber  nicht  erläutert.  Sie  er- 
klärt sich  indessen  von  selbst  und  liefert 

arc.  mn  =  Iß*^  25'  36" 
anstatt  20",  mithin    das    schlechteste  Er- 
gebniss  unter  allen. 

Die  Frage,  deren  Beantwortung  un- 
zweifelhaft von  verhältnissmässig  grösster 
Bedeutung  wäre,  ist  die  nach  dem  Werthe, 
welchen  Lionardo  da  Vinci  diesen  Zeich- 
nungen beilegte.  Hielt  er  sie  für  richtig, 
j,.    gg  oder  hat  er  nur  als  Künstler  dem  Künstler 

einige  leichte  Methoden  zur  Herstellung 
von  Figuren,  wie  sie  als  Zierrath  da  und  dort  sich  anbringen  Hessen, 
an  die  Hand  geben  wollen?  War  er  ferner  selbst  der  Erfinder  aller 
dieser  Constructionen,  war  er  es  nicht?  Wir  glauben  auf  folgende 
Dinge  hinweisen  zu  müssen.  Erstens  sind  für  eine  und  dieselbe  Auf- 
gabe der  Fünfeckszeichnung  mehrfache  Vorschläge  gemacht.  Das  ist 
nur  dadurch  zu  erklären,  dass  die  früheren  Vorschläge  den  späteren 
gegenüber  als  mangelhaft  erkannt  Avurden.  Zweitens  steht  bei  einigen 
Figuren  ein  falso,  bei  anderen  ein  apunto.  Lionardo  hielt  demnach 
erstere  für  falsch,  letztere  für  genau  richtig.  Es  will  uns  scheinen, 
als  sei  darin  eingeschlossen,  dass  er  die  Zeichnungen,  welchen  weder 
das  eine  noch  das  andere  Beiwort  beigefügt  war,  auch  weder  für 
falsch,  noch  für  genau  hielt,  mithin  für  nur  annäherungsweise  richtig. 
Von  den  beiden  als  richtig  belobten  Constructionen  ist  uns  die  des 
Siebenecks,  wie  wir  angegeben  haben,  längst  bekannt.  Sie  mag  wohl 
Lionardo  auf  irgend  eine  Weise  zur  Kenntniss  gebracht  worden  sein, 
und  er  hielt  sie  für  genau,  wie  sie  ihm  als  genau  mitgetheilt  worden 
war.  Vielleicht  ist  auch  die  Neuneckszeichnung  von  anderswoher  zu 
ihm  gedrungen,  wenn  wir  sie  gleich  weder  vorher  noch  später  irgendwo 
haben  auftreten  sehen.  Vielleicht  müssen  wir  aber  auch  die  Neun- 
eckszeichnung als  Lionardo's  Eigenthum  anerkennen  und  dann  frei- 
lich gereicht  jenes  apunto  nicht  zu  seinem  Ruhme  als  Mathematiker. 
Alle  übrigen  Vorschriften,  die  gleichfalls  ausschliesslich  in  den  Heften 
Lionardi's  da  Vinci  gefunden  worden  sind,  schreiben  wir  ohne  weiteres 
ihm  zu,  es  dahin  gestellt  sein  lassend,  was  seine  eigentliche  Absicht  war. 


1)  B  fol.  13  recto. 


ß.attlolt's  Euldidausg.   Alberti.   Lionanlo  da  Vinci.   D.  Arithmetik  v.  Troviso.     301 

In  den  Heften,  welche  man,  trotzdem  ihr  Format  von  dem  eines 
Foliobogens  bis  zum  kleinsten  Sedez  wechselt,  insgesammt  als  Notiz- 
bücher zu  bezeichnen  das  Recht  hat,  deren  Inhalt  mitunter  eine  recht 
kunterbunte  Mannigfaltigkeit  aufweist,  kommen  auch  mathematische 
Dinge  ausser  jenen  Vielecksconstructionen  noch  vor.  In  den  veröffent- 
lichten Heften  ist  mehr  Geometrisches  als  Rechnungen  zu  finden. 
Letztere  erscheinen  vorzugsweise  im  Hefte  E.  Es  sind  Uebungen  in 
Rechnungen  mit  Proportionen.  Ein  Text  ist  denselben  nicht  bei- 
gefügt. Auch  im  Hefte  I  sind  mancherlei  Rechnungen,  welche  aber 
sämmtlich  Lionardo's  Bedeutung  auf  diesem  Gebiete  als  eine  recht 
dürftige  erscheinen  lassen.  Namentlich  besass  er  vor  Bruchrechnungen 
eine  heilige  Scheu  ^).  Unter  dem  Geometrischen  mögen  noch  folgende 
Dinge  erwähnt  werden:  die  uralte  Höhenmessung  durch  den  Schatten, 
welche  gerühmt  wird^),  eine  Methode,  die  Flussbreite  zu  messen^), 
welche  genau  mit  derjenigen  übereinstimmt,  die  einst  Sextus  Julius 
Africanus  lehrte  (Bd.  I,  S.  410),  das  Dreieck^)  mit  den  Seiten  13,  14, 
15,  welches  zu  dem  unverwüstlichen  Bestände  der  Geometrie  fast  aller 
Himmelsstriche  gehört,  und  welches  aus  den  beiden  aneinander- 
hängenden  rechtwinkligen  Dreiecken  5,  12,  13  und  9,  12,  15  ent- 
standen ebenso  leicht  wiederholt  gebildet  als  übertragen  worden  sein 
kann.  Eine  Figur-'')  mit  den  beigeschriebenen  Zahlen  der  Längen- 
maasse  versinnlicht  den  Satz  der  Proportionalität  einer  Kreistangente 
und  den  beiden  Abschnitten  einer  von  einem  Punkte  der  Tangente 
ausgehenden  Secante.  Die  Quadratur  eines  Kreisausschnittes'')  er- 
folgt, man  sollte  sagen,  nach  indischem  Vorbilde  (Bd.  I,  S.  014)  durch 
Zerschneiden  in  kleinere,  aber  dem  Ganzen  ähnliche  Theile,  welche 
beim  Geradmachen  des  gebogenen  Theiles  der  Figur  eine  kammartige 
Gestalt  annehmen,  so  dass  zwei  solcher 
Figuren  vermöge  eines  Ineinanderschie- 
bens  ein  Rechteck  hervorbringen.  Ein 
anderer  Versuch,  die  Kreisquadratur  zu 
verdeutlichen,  besteht  darin''),  dass  (Fi- 
gur 64)  ein  Kreisausschnitt  durch  Gerad- 
biegen seiner  Wölbung  unmittelbar  in  ein 
gradliniges  Dreieck  übergeführt  wird,  wo-  Fig.  g4. 

bei  das  Dreieck  mit  ebeusovielem  Flächen- 

raume  aus  dem  Kreisausschnitte  heraustritt,  als  es  im  Innern  des  Aus- 
schnittes freilässt.  Ein  dritter  Versuch  ist  höchst  bemerkenswerth, 
weil   er  die  Quadratur  mittels   des   Rollens    eines  Rades  her- 


')  I  fol.  135  (87)  verso.     -)  A  fol.  C  recto:  e  bona  regola.     ^)  E  fol.  51  verso. 
*)  E  fol.  73  (25)  verso.     '^)  E  fol.  72  (24)  recto .     ^)  E  fol.  25  recto.     ')  E  fol.  25  verso 


302  TjC.  Kapitel. 

stellt.  Dabei  ist  zwar  ein  grober  Schreibfehler  untergelaufen,  aber 
der  Sinn  ist  nicht  misszuverstehen.  Man  soll  ein  RacP),  dessen  Dicke 
dem  halben  Radius  gleich  ist  (irrthümlich  ist  dafür  der  halbe  Durch- 
messer gesagt),  ganz  umrolleu,  so  lässt  es  eine  Spur  zurück,  welche 
dem  Kreise  des  Rades  flächengleich  ist.  In  einem  anderen  Hefte  ^) 
ist  der  Schwerpunkt  der  Pyramide  von  dreieckiger  Grundfläche  richtig 
bestimmt,  indem  behauptet  wird,  er  liege  auf  der  Axe  der  Pyramide 
und  zwar  so,  dass  die  Entfernungen  zur  Spitze  und  zur  Grundfläche 
sich  wie  3  zu  1  verhalten.  Fehlerhaft  und  mehr  als  ein  Sehreibfehler 
ist  es  dagegen,  wenn  in  dem  gleichen  Hefte  behauptet  wird^),  das 
doppelte  Diametralviereck  eines  Würfels  sei  so  gross  wie  das  Diametral- 
viereck des  doppelten  Würfels.  Das  Diametralviereck  des  Würfels 
von  der  Seite  a  (h)  ist  a^y2{h~y2).  Soll  ?r|/2  =  2a-]/2  sein,  so 
folgt  h  =  «1/2,  wäkrend  die  Verdoppelung  des  Würfels  h  =  ay~2 
erfordert.  Wieder  in  einem  anderen  Hefte  (dem  Hefte  I)  sind  ziem- 
lich viele  geometrische  Figuren  gezeichnet,  aber  meistens  ohne  be- 
gleitenden Text.  Eine  ganze  Anzahl  derselben  ist  augenscheinlich 
dem  pythagoräischen  Lehrsatze  gewidmet,  so  die  bekannte  Figur  zum 
euklidischen  Beweise  des  Satzes,  aber  auch  eine  andere 
(Figur  65),  welche  den  Sonderfall  des  gleichschenklig 
rechtwinkligen  Dreiecks  erläutert.  Wir  begnügen  uns 
mit  diesen  Auszügen,  die  immerhin  gestatten,  den  wei- 
tei-en  Veröfi'entliehungen  mit  einiger  Spannung  entgegen- 
zusehen, ob  also  der  Codice  atlantico  wirklich  das  ent- 
hält, was  frühere  Untersucher  behauptet  haben. 
Eigentliche  Mathematiker  waren  die  italienischen  Künstler,  von 
denen  hier  die  Rede  sein  musste,  nicht.  An  solchen  fehlte  es  aber 
keineswegs,  Xamen,  Schriften  haben  sich  erhalten,  auch  der  Druck 
hat  ihre  Schriften,  mitunter  sogar  in  wiederholten  Ausgaben,  ver- 
vielfältigt. Die  älteste  derartige  Druckschrift,  von  der  man  gegen- 
wärtig Kenntniss  besitzt*),  besteht  aus  62  Blättern  von  je  32  Zeilen 
auf  der  Seite.  Die  Typen  sind  gothisch.  Das  Buch  hatte  seinen 
Ursprung  in  Treviso  in  der  Druckerei  eines  bekannten  dortigen 
Meisters  Michiel  Manzolo  oder  Manzolino  im  Jahre  1478.  Der  Drucker 
ist  zwar  nicht  genannt,   aber  die  vorhandene  Angabe    des  Drnckortes 

^)  E  fol.  25  verso :  La  intern  revolutione  della  rota  della  qiiaJe  la  grossezza 
sia  equale  al  suo  semidiamitro  lasscia  di  se  vesstigio  equah  alla  quadratura  del 
suo  cierchio.  *)  F  fol.  51  recto.  ^  F  fol.  59  recto.  *)  Vergl.  Bald.  Bon- 
compagni  in  seiner  sehr  umfassenden  Abhandlung  in  den  Atti  deW  Accademia 
Pontißcia  de'  Xiwvi  Lincei  (1862—1863),  T.  XVI  pag.  1—64,  101—228,  301—364, 
389—452,  503-630,  683—842,  909—1044.  Ein  Exemplar  der  Arithmetik  von 
Treviso  ist  im  Be.sitze  der  Abtei  Gottweih. 


Ratdolt's  Euklidausg.    Alberti.    Lionardo  da  Viuci.   D.  Antbmetik  v.  Treviso.     303 

und  des  Jahres  verbunden  mit  den  Typen  haben  durch  sorgsame  Ver- 
gleichung  zu  jenem  kaum  anzuzweifelnden  Ergebnisse  geführt.  Wer 
dagegen  der  Verfasser  der  Arithmetik  von  Treviso,  wie  sie 
künftig  bei  uns  heissen  mag,  war,  hat  nicht  ermittelt  werden  können. 
Nur  den  Zweck  seines  Werkes  giebt  er  kund,  indem  er  sagt,  er  sei 
von  jungen  Leuten,  die  dem  Kaufmannsstande  sich  widmen  wollten, 
inständig  gebeten  worden,  die  Rechnungsregeln  zusammenzustellen, 
lieber  einige  dieser  Rechuungsregeln  giebt  der  Auszug,  dessen  wir 
uns  bedienen  konnten,  Auskunft,  und  sie  erinnern  vollständig  an  das, 
was  uns  als  Kaufmannsarithmetik   bekannt  ist. 

Die  Multip lication  wird  nach  sehr  mannigfaltigen  Methoden 
gelehrt.  Die  erste  Methode  heisst  nioltiplicarc  per  colona^).  Sie  wird 
geübt,  wenn  man  es  nur  mit  einem  einziifrigen  Multiplicator  zu  thun 
hat  und  lässt  das  Product  einfach  unter  den  Multiplicandus  setzen. 
Sind  beide  Factoren  zweiziffrig,  so  wird  die  kreuzweise  Multiplication 
angewandt"),  welche  den  Namen  des  nioltiplicare  per  croxetfa  führt. 
Die  dritte  Methode  heisst  moltiplicare  per  scachiero^).  Um  sie  aus- 
führen zu  können,  bedürfe  man  nur  der  Uebung  in  der  ersten  Methode 
per  colona,  deren  wiederholte  Anwendung  sie  sei.  Als  Beipiel  ist 
abcredruckt: 


829 
24 

1 
6 

3316 
1658 

19896 

6 

wobei  die  am  Rande  mitgeführten  Zahlen  die  der  Neunerprobe  sind. 
Wird  an  diesem  Beispiele  nicht  recht  klar,  woher  der  Name  der 
schachbrettartigen  Multiplication  rühre,  so  erkennt  man  solches  um  so 
deutlicher  an  einem  Beispiele,  welches  auf  dem  folgenden  Blatte  in 
vier  verschiedenen  Formen  abgedruckt  ist*).  Es  handelt  sich  um  314 
mal  934,  und  die  Musterrechnungen  sehen  folgendermassen  aus: 

9        3        4 


3736/4 

934/1 
2802  /3 

3        7        3        6 

9        3        4 

2        8        0    12 


29 


*)  Boncompagui,   1.  c.  pag.  60. 
pag.  102— 1U3.  *j  Ebenda  pag.  330. 


*)  Ebenda  pag.  101. 


Ebenda 


304 


')&.  Kapitel. 


9 

3 

4 

9        3        4 

0/ 

/2 

3 

1 
4 

3  \|  1\|  l\. 

4 

1 
3 

6 

0/ 
/9 

0/ 
/3 

0/ 

,/  4 

\9 

o\ 

\3 

o\ 

7 

3/ 
/6 

1/ 

X 

\7 
2\ 
2 

\9 

o\ 

\  2 
1\ 

2 

2 

7 

6 

9 

3 

Der  Gedanke  ist  offenbar  immer  der  gleiche  und  auch  die  Be- 
nennung der  Methode  die  gleiche,  trotzdem  werden  fünf  Unterarten  der- 
selben unterschieden,  die  darauf  beruhen,  ob  der  Multiplicator  gleich 
unter  dem  Multiplicandus  oder  seitlich  von  den  Theilproducten  steht, 
ob  senkrecht  einander  kreuzende  Striche  ein  Schachbrett  bilden,  ob 
auch  noch  Diagonalen  der  einzelnen  Schachfelder  vorhanden  sind,  die 
von  rechts  oben  nach  links  unten,  die  aber  auch  von  links  oben  nach 
rechts  unten  gezogen  sein  können. 

Beim  Dividiren  wird  zuerst^)  der  modo  de  imrUre  per  colmia 
gelehrt.  Es  ist  die  Division  durch  einen  einziffrigen  Divisor,  der 
links  vom  Dividenden  geschrieben  wird,  während  der  Quotient  unter 
dem  Dividenden  zu  stehen  kommt.  Die  Zwischenrechnungen  (Bildung 
von  Producten  einzelner  Quotientenstellen  in  den  Divisor  und  Sub- 
traction  vom  Dividenden)  werden  im  Kopfe  ausgeführt,  genau  so  wie 
es  bei  der  Multiplication  gleichen  Namens  geschah.  Hat  der  Divisor 
mehr  als  nur  eine  Ziffer,  so  tritt  das  ^)ar//rc  jjer  hafelJo^)  in  sein  Recht, 
d.  h.  das  Uebersichdividiren  mit  den  vielfachen  Durchstreichungen 
von  Zahlen,  welche  dem  Beispiele  die  Umrisse  eines  Segelschiffes  ver- 
leihen. 

Au  die  beiden  wichtigsten  Rechnungsarten  schliessen  sich  An- 
wendungen an  und  zwar  zuerst  die  regida  de  le  tre  cose"'),  womit 
selbstverständlich  die  Regeldetri  gemeint  ist;  dann  kommt  die 
Mischungsrechnung ^),  bei  welcher  Legirungen  feinen  Metalls  mit  ge- 
riugwerthigem  vorgenommen  werden.  Die  Beimischung  von  Kupfer 
heisst  consolare.  Den  Ursprung  des  Namens  hat  man^)  sehr  scharf- 
sinnig mit  astrologischen  Träumereien  in  Verbindung  gebracht.  Die 
Sonne  bringt  nämlich  nach  der  Meinung  der  Astrologen  Gold  hervor, 
ist  also  auch  im  Stande,  geringe  Metalle  in  Gold  zu  verwandeln,  und 
wenn  auch  keine  Umwandlung  des  Kupfers  bei  der  Vermischung  mit 
Edelmetallen  erzielt  wird,  so  vermehrte  sich  doch  die  Gewichtsnienge 
der  allerdings  jetzt  geringerwerthigen  Legirung.     Das  vorgenommene 


^)  Boncompagni  1.  c.  pag.  554.  -)  Ebenda  pag.  559 — 560.  *)  Ebenda 
pag.  562.  •*)  Ebenda  pag.  565.  ^)  Peacock  in  der  Encydopedia  metropoU- 
tana  Vol.  I,  pag.  466  s.  v.  Ärithmetic. 


RatiloH's  Euklidaiisg.   Alberti.  Lionardo  da  Vinci.  D.  Arithmetik  v.  Treviso.     305 

Geschäft  selbst  führt  den  kaum  verständlichen  Namen  la  diredana 
impromissa^)  (die  un versprochene  Enterbung?).  Von  anderen  An- 
wendungen nennen  wir  la  regula  de  le  do  cose  che  se  consongeno^), 
d.  h.  die  Kurieraufgabe  und  la  regiäa  de  le  do  cose  die  se  cazano^), 
d.  h.  die  Aufgabe  von  dem  Hunde,  der  einen  Hasen  jagt.  Gegen 
Schluss  des  Werkes  ging  der  Verfasser  zu  Fragen  über,  welche  bei 
der  Anfertigung  von  Kalendern  von  Wichtigkeit  waren.  So  lehrt  er 
trovare  lo  aiireo  numero^),  die  Auffindung  der  goldenen  Zahl,  d.  h.  des 
um  1  vergrösserten  Restes  der  Jahreszahl  bei  Division  derselben  durch  19. 
So  giebt  er  die  Dauer  eines  Monats^)  zu  29  Tagen  12  Stunden  und 
793  Punkten  an,  von  welchen  1080  auf  eine  Stunde  gehen.  In  dieser 
letzten  Angabe  liegt  ein  Beweis  dafür,  dass  der  Verfasser  in  der 
Kalenderkunde  der  Schüler  jüdischer  Astronomen  war,  denn  diese 
haben  seit  dem  XL  Jahrhundert  mindestens  und  bis  in  das  XVIL  Jahr- 
hundert hinein  die  Stunde  in  1080  Gelachim  eingetheilt. 

Ausser  und  nach  der  Arithmetik  von  Treviso  sind  noch  viele 
andere  ihr  verwandte  Bücher  am  Ende  des  XV.  Jahrhunderts  ge- 
schrieben und  die  einen  etwas  früher,  die  anderen  etwas  später  ge- 
druckt worden'').  Der  Nizzarde  Pellos,  der  Parmesaner  Giovanni 
Tedaldo,  die  Venetianer  Girolamo  Tagliente  und  Piero  Borgi 
(oder  Borgo  oder  Borghi)  sind  von  ihren  Zeitgenossen  hochgeschätzte 
Schriftsteller  gewesen.  Besonders  der  Thesoro  universale  des  Tagliente  '^) 
wurde  wiederholt  gedruckt.  In  ihm  findet  sich  bestimmt  ausge- 
sprochen, die  Ziifern  seien  indischen  Ursprunges  und  seien  im  Jahre 
1200  nach  Italien  gebracht  worden.  Die  Arithmeüca  des  Borgi^) 
von  1484  zeichnet  sich  gleichfalls  durch  manche  Neuerungen  aus. 
Borgi  kennt  die  Wörter  nuUa  und  millione,  welche  er  eingehend 
erklärt.  Er  lehrt  an  sechs  Beispielen,  wie  man  durch  a  •  10"  divi- 
dire,  indem  man  vom  Dividenden  n  Stellen  rechts  abschneide  und  die 
links  verbleibende  Zahl  durch  a  dividire.  Ein  solches  Beispiel,  in 
welchem  die  letztere  Division  nicht  aufgeht,  ist  —55-57^  •  Borgi  be- 
schreibt im  Texte  ganz  genau,  man  solle  2345  durch  3  teilen,  wobei 
781  als  Quotient  und  2  als  Rest  erscheine,  man  solle  an  diese  2 
die    abgeschnittenen   Stellen   678    anhängen   und   erhalte   dadurch    als 


')  Boncompagni  1.  c.  pag.  565.  ^)  Ebenda  pag.  570.  ')  Ebenda  pag.  575. 
*)  Ebenda  pag.  581.  ^')  Ebenda  pag.  688  und  1040.  «)  Vergl.  Libri  III,  147 
mit  Boncompagni  1.  c.  pag.  141,  146,  162,  332,  554,  581  u.  s.  w.  ^)  Von 

Libri  unrichtigerweise  einem  Lucas  Antonio  de  Uberti  zugeschrieben.  Vergl. 
Boncompagni  1.  c.  pag.  160 — 162.  ®)  Wir  verdanken  diese  Angaben  gleich 
vielen  anderen  Hen-n  G.  Wertheim,  dessen  Bibliothek  an  mathematischen 
Seltenheiten  reich  ist.  Wir  werden,  wo  wir  künftig  auf  seine  Mittheilungen  uns 
stützen  „Wertheim  brieflich"  citiren. 

Cantor,  Geschichte  der  Mathem.    II.    2.  Aufl.  20 


306  57.  Kapitel. 

endgültiges  Eregebniss  der  Division  781^--  Am  Rande  steht  ausser- 
dem das  Bild  der  Rechnung,  nämlich 

p.     3000 

2345  I  678 

781  1^ 

„_,   2678 

781  

3000 

Aber  keines  dieser  Werke  übte  einen  so  nachhaltigen  Eindruck,  einen 
so  weit  über  die  Grenzen  Italiens  hinaus  sich  erstreckenden  Einfluss, 
als  die  Schriften  des  Luca  Paciuolo,  mit  denen  wir  uns  in  ent- 
sprechend  ausführlicher  Darstellung   zu   beschäftigen  haben. 


57.  Kapitel. 

Luca    Paciuolo. 

Luca  Paciuolo^)  dürfte  am  richtigsten  in  dieser  Namensform 
geschrieben  werden.  In  einer  italienischen  Eingabe  an  den  Dogen 
von  Venedig  nennt  er  sich  zwar  de  Pacioli,  anderwärts  Pacci- 
uolus  und  Paciolus,  sein  Biograph  Baldi  (1553 — 1615)  sagt  aber 
ausdrücklich  fu  de  la  famiglia  de  Faciuoli.  Paciuolo  also  ist  etwa 
1445  in  Borgo  San  Sepolcro  im  oberen  Tiberthale  geboren  zu  einer 
Zeit  als  dort  der  Maler  Pier o  della  Francesca  lebte,  der  wenigstens 
den  Namen  eines  tüchtigen  Geometers  (S.  294)  hinterlassen  hat.  Ob 
Paciuolo  dessen  Unterricht  empfing,  ob  er,  was  wahrscheinlicher  ist, 
da  ein  Bildniss  Paciuolo 's  von  Piero  nach  1494  gemalt  im  Besitze 
des  Fürsten  von  Urbino  sich  befand,  erst  in  späteren  Lebensjahren 
in  freundschaftlichem  Verkehr  zu  ihm  seine  Einwirkung  empfand, 
steht  dahin.  Im  Jahre  1464  kam  Paciuolo  nach  Venedig  in  das  Haus 
eines  Kaufherrn  Antonio  de  Rompiasi^),  das  in  der  Judenstadt  (la 
Giudecca)  lag.  Er  wurde,  selbst  kaum  20  Jahre  alt,  der  Erzieher 
von  dessen  drei  Söhnen  und  erhielt  gemeinschaftlich  mit  ihnen  den 
mathematischen  L'nterricht  eines  Domenico  Bragadino,  dessen 
Name  durch  Paciuolo  auf  uns  gekommen  ist.  Jedenfalls  verweilte 
Paciuolo  mehrere  Jahre  bei  dem  Rompiasi,    und   dort  legte   er   wohl 


')  Die  Biogi-aphie  des  Luca  Paciuolo  ist  am  gründlichsten  behandelt 
von  H.  Staigmüller,  Zeitschr.  Math.  Phys.  XXXIV, Histor.-liter.  Abthlg.  S. 81—102 
und  121 — 128.  ^)  In    der  Ausgabe   der  Summa  des  Paciuolo  von  1494  steht 

Rompiasi,  in  der  Ausgabe  von  1523  Ropiansi.  Nachforschungen,  welche  Carl 
Peter  Kheil  (lieber  einige  ältere  Bearbeitungen  des  Buchhaltungstractates 
von  Luca  Pacioli  S.  68 — 69)  in  Venedig  veranlasste,  haben  den  Namen  Rompiasi 
actenmässig  bestätigt. 


Luca  Paciuolo.  307 

auch  den  Grund  zu  kaufmännischen  Kenntnissen,  von  denen  seine 
Schriften  Zeugniss  ablegen.  Jedenfalls  schrieb  Paciuolo  1470  sein 
erstes  mathematisches  Lehrbuch  für  die  mehrgeuannten  Schüler,  war 
aber  1471  in  Rom  im  Hause  des  uns  bekannten  Leon  Battista 
Alberti,  der  damals  von  Florenz  dorthin  zog.  Zwischen  1470  und 
147G  trat  Paciuolo  dem  Franziscanerorden  bei,  und  seit  dieser  Zeit 
führte  er  ziemlich  ausschliesslich  den  Namen  Fra  Luca  di  Borgo 
Sancti  Sepulchri.  Seine  Ordensobern  verschafften  ihm  meistens 
Verwendung  als  Professor  der  Mathematik  an  verschiedenen  Orten. 
In  Perugia,  in  Rom,  in  Neapel,  in  Venedig,  in  Mailand,  in  Florenz, 
in  Bologna  hat  er  gelehrt,  an  mehreren  dieser  Orte  zu  wiederholten 
Malen  nach  kürzerer  oder  längerer  Abwesenheit.  Man  darf  ihn  daher 
fast  einen  Wanderlehrer  der  mathematischen  Wissenschaften  nennen. 
Nach  1514  wird  er  aber  in  den  Acten  keiner  Universität  mehr  er- 
wähnt. Um  diese  Zeit  also  muss  er  gestorben  sein.  Seiner  Be- 
ziehungen zu  den  beiden  Künstlergelehrten  Piero  della  Francesca 
und  Alberti  ist  gedacht  worden.  Auch  der  dritten  von  uns  in  dieser 
Eigenschaft  weitläufiger  besprocheneu  Persönlichkeit  stand  er  nahe. 
In  Mailand  waren  Paciuolo  und  Lionardo  da  Vinci  eng  befreundet. 
Ersterer  berechnete  für  letzteren,  der,  wie  wir  wissen,  kein  grosser 
Rechenkünstler  war,  die  Gewichtsmenge  Erz,  welche  zur  Herstellung 
eines  Reiterstandbildes  erforderlich  war,  das  errichtet  werden  sollte. 
Letzterer  beeinflusste  den  ersteren  bei  der  Abfassung  eines  Buches, 
von  welchem  wir  noch  zu  reden  haben,  und  zeichnete  die  Figuren 
zu  demselben.  Man  findet  in  einer  selbstbiographischen  Stelle  des 
Hauptwerkes  von  Paciuolo  den  Satz^):  „Seit  wir  als  Unwürdige  das 
Kleid  des  seraphischen  heiligen  Franziscus  nach  einem  Gelübde  an- 
legten, kam  es  uns  zu,  durch  verschiedene  Länder  zu  wandern."  So 
schrieb  er  1487,  und  man  hat  sonst  den  Satz  so  aufgefasst,  dass  eine 
Reise  ins  Morgenland  damit  gemeint  sei,  welche  seinem  Ordenseintritte 
unmittelbar  folgend  in  die  Jahre  1470 — 147G  fallen  müsste;  auf 
dieser  Reise  habe  er  arabische  Mathematik  kennen  gelernt.  Gewiss 
mit  Recht  hat  man  dagegen  gesagt^),  Paciuolo  würde  einer  solchen 
Reise,  von  der  auch  sein  ältester  Biograph,  Baldi,  schweigt,  in  an- 
deren Worten  gedacht  haben,  als  in  so  allgemeinen,  die  ohne  jeden 
Zwang  auf  seine  an  den  verschiedensten  Orten  Italiens  wechselnde 
Lehrthätigkeit  gedeutet  werden  können.  Man  hat  hinzugefügt,  dass 
Paciuolo  jedenfalls   damals  bei  Arabern  nicht    viel  Mathematik  mehr 


^)  Staigmüller  1.  c.    S.  86   hat   die  ganze  Stelle   aus   der  Summa  fol.  67 
verso    im  Urtexte    und    in    deutscher   Uebersetzung    abgedruckt.  '')    Ebenda 

S.  98—99. 

20* 


308  '>"■  Kapitel. 

lernen  konnte,  selbst  wenn  er  der  Sprache  durchaus  mächtig  gewesen 
wäre.  Der  Ulüg  Beg'sche  Gelehrtenkreis,  die  letzte  Vereinigung  von 
tüchtigen  Mathematikern  im  Morgenlande  (Bd.  I,  S.  735  i  war  20  Jahre 
nach  der  Ermordung  jenes  Fürsten  wohl  schon  zerstreut.  Endlich 
ist  auch  die  Kenntniss  der  arabischen  Sprache  Paciuolo  abgesprochen 
worden,  denn  würde  ein  des  Arabischen  Kundiger  gesagt  haben: 
certa  regola  ditta  El  cataym  quäle  seciindo  alcuni  e  vocaholo  araho^), 
würde  er  an  anderer^)  Stelle  den  Zweifel  geäussert  haben:  Algebra  et 
almucabida  in  lingua  arabica  over  caldea  secondo  alcuni? 

Wir  müssen  nun  zur  Uebersicht  über  die  Werke  des  Paciuolo 
uns  wenden.  Wir  haben  oben  gesagt,  dass  er  1470  ein  Lehrbuch 
der  Mathematik  seinen  Schülern,  den  Brüdern  Rompiasi,  widmete.  Ein 
zweites  Lehrbuch  kürzerer  Fassung  schrieb  er  1476  in  Perugia  für 
seine  dortigen  Schüler,  ein  drittes  über  feinere  Gegenstände  1481  in 
Zara.  Alle  drei  sind  verschollen  und  sind  verschmolzen  zu  der  1487 
wieder  in  Perugia  niedergeschriebenen,  1494  in  Venedig  gedruckten 
Summa  de  Anthmetica  Geometria  Froportioni  et  Proportionalita,  welche 
gemeiniglich  kurzweg  die  Summa  des  Paciuolo  genannt  wird  und 
auch  von  uns  so  genannt  werden  soll.  Ein  neuer  Abdruck  ist  1523 
erfolgt.  Wieder  in  Venedig  und  zwar  1509  erschien  eine  Euklid- 
ausgabe des  Paciuolo,  im  gleichen  Jahre  am  gleichen  Druckorte 
seine  Divina  proportione,  welche  zwar  schon  1497  in  Mailand 
vollendet  war,  aber  erst  1509  vermehrt  durch  eine  damals  fertig 
gestellte  Abhandlung  über  die  Baukunst  in  Druck  gegeben 
wurde.  Ein  viertes  Werk  Paciuolo's  De  viribus  quantitatis  be- 
findet sich  handschriftlich  in  der  Universitätsbibliothek  zu  Bologna^); 
über  dessen  Inhalt  ist  Genaues  nicht  veröffentlicht.  Fünftens  hat 
Ebenderselbe  eiue  Abhandlung  über  das  Schachspiel^)  verfasst, 
von  welcher  er  an  zwei  Orten  redet,  welche  aber  sonst  keine  Spur 
hinterlassen  hat.  Sie  war  eine  der  ersten,  wenn  nicht  die  erste  über 
diesen  Gegenstand,  dessen  Literatur  zu  verfolgen  unseren  Zwecken 
natürlich  sanz  fremd  ist.  Eine  sechste  Schrift  endlich  woUte  Pa- 
ciuolo  noch  veröffentlichen''),  scheint  aber  die  Zeit  dazu  nicht  mehr 
gefunden  zu  haben.  Er  leitet  nämlich  die  Abhandlung  über  Baukunst 
von  1509  mit  einem  Briefe  ein,  in  welchem  er  verspricht  dieser  Kunst 
ein  grösseres  Werk  zu  widmen  und  damit  eine  Lehre  von  der 
Perspective  vereinigen  zu  wollen,  welche  sich  auf  die  Schriften 
von  Piero  della  Francesca  stützen  werde,  von  denen  er  einen  Auszug 
sich  bereits  gemacht  habe. 


^)  Summa  fol.  98  verso.       *)   Ebenda  fol.  144  recto.       ^)  Staiginüller  1.  c. 
5.  99.       ")  Ebenda  S.  100.       ^)  Ebenda  S.  127. 


Luca  Pacinolo.  309 

Die  Summa')  besteht  der  Inhaltsübersicht,  Snmmario,  zufolge 
aus  fünf  Haupttheilen,  parte  principale  prima  bis  quinta,  deren  Inhalt 
freilich  in  nicht  sehr  deutlicher  Weise  sich  gliedert.  Der  erste  Haupt- 
theil,  welcher  ungefähr  mit  dem  sich  deckt,  was  die  früheren  Schrift- 
steller als  Arithmetik  und  was  sie  als  Algorismus  bezeichneten,  son- 
dert sich  verhältnissmässig  leicht  ab,  ebenso  der  fünfte  geometrische 
Haupttheil;  dagegen  ist  bei  den  drei  zwischenliegenden  Haupttheilen 
kaufmännischer  Rechnungsaufgaben  nicht  gut  einzusehen,  warum  über- 
haupt eine  Scheidung  in  Haupttheile  bei  ihnen  versucht  wurde.  Der 
gleichen  Meinung  scheint  im  Grunde  Pacinolo  auch  gewesen  zu  sein, 
da  im  Werke  selbst  die  eben  auseinandergesetzte,  in  der  Vorrede  an- 
gekündigte Scheidung  nicht  festgehalten  wird.  Hier  sind  nur  zwei 
getrennte  Haupttheile ,  ein  arithmetischer  und  ein  geometrischer, 
vorhanden,  jeder  mit  besonderer  von  1  anfangender,  nicht  selten 
fehlerhafter  Blattbezeichnung,  während  die  Rückseiten  der  Blätter 
unbezeichnet  sind.  Jeder  dieser  beiden  thatsächlich  vorhandenen  Haupt- 
theile zerfällt  in  Bistinctiones ,  jede  Distinctio  in  Tradatus,  jeder 
Tractat  in  Articidi.  Wir  gedenken  der  Druckfolge  nach  Einzelheiten 
hervorzuheben ,  .  ohne  einem  bestimmten  geistigen  Zusammeiihange 
nachspüren  zu  wollen,  wo  kein  solcher  vorhanden  ist. 

Die  vollkommenen  Zahlen  endigen  abwechselnd  mit  6  und  8  und 
können  eine  andere  Randziffer  nicht  haben,  denn  die  Traurigen  leben 
ordnungslos,  die  Guten  und  Vollkommenen  bewahren  immer  die  vor- 
geschriebene Ordnung-). 

Regelmässige  Vielflächner  kann  es  nur  fünferlei  geben  ^).  Zur 
Ecke  gehören  mindestens  drei  Winkel,  deren  Summe  3G0"  nicht  über- 
steigen darf;  drei  Sechseckswinkel  sind  aber  schon  zusammen  360'' 
und  bilden  daher  keine  Ecke.  Folglich  sind  die  einzigen  Möglich- 
keiten der  Eckenbildung  die  aus  drei  Fünfeckswinkeln,  aus  drei  Vier- 
eckswinkeln, aus  drei,  vier  oder  fünf  Dreieckswinkeln. 

Der  4.  Artikel  des  2.  Tractates  der  1.  Distinctio  kehrt  zu  den 
vollkommenen  Zahlen  zurück"^)  und  giebt  für  deren  Bildung  die  euklidi- 
sche Regel  (Bd.  I,  S.  253 — 254)  unter  Nennung  seiner  Quelle. 

Der  7,  Artikel  des  4.  Tractates  der  1.  Distinctio  wendet  sich 
zu  den  Numeri  congrui.  Schon  im  vorhergehenden  Artikel  ist 
Leonardo  von  Pisa  mit  seiner  Schrift  über  die  Quadratzahlen  als 
mas.sgebend  bezeichnet,  und  ihm  folgt  Paciuolo  auch  hier,  noch  ge- 
genauer allerdings  im  6.  Tractate  der  2.  Distinctio,  wo  die  allgemeine 


^)  Kästner  I,  65—82.  —  Chasles,  Äjiergu  liist.  533—539  (deutsch  629— 
636).  —  Libri  III,  137—143.  ^)  Summa  fol.  3  recto.  ^)  Ebenda  fol.  4  recto. 
^)  Ebenda  fol.  6__verso. 


310  57.  Kapitel. 

Formel  (er  -f-  ß^)  +  4«/3(«^  —  ß^)  als  nur  Quadratzahlen  enthaltend 
angegeben  ist,  während  an  der  erstgenannten  Stelle  ausschliesslich 
von  dem  Sonderfalle   /3  =  «  +  1  die  Rede  ist^). 

Die  Einleitung^)  zum  1.  Tractat  der  2.  Distinctio  nennt  die 
verschiedenen  Rechnungsverfahren,  deren  man  sich  bediene:  1.  Nume- 
ratio,  2.  Additio,  3.  Subtractio,  4.  Multiplicatio,  5.  Divisio,  6.  Pro- 
gressio,  7.  Extractio.  Die  früheren  Schriftsteller  wie  Giovanne  de 
sacro  husco  und  Frodocimo  de  heldomandis  da  Padua  nahmen  aller- 
dings neun  s^yetie  della  pratica  numerale  an.  Da  aber  Duplation 
und  Mediation  in  der  Multiplication  und  Division  enthalten 
sind,  so  kann  man  sie  entbehren.  An  diese  Einleitung  schliesst 
sich  unmittelbar  die  Numeration  an,  die  mancherlei  zu  erwähnen  ge- 
bietet: die  alten  Ausdrücke  digitus  und  articulus  sammt  ihrer  Erklä- 
rung; das  Vorkommen  der  Wörter  mdla  oder  cero  und  des  Wortes 
miUione,  welches  dann  auch  weiter  in  Zusammensetzungen  gebraucht 
wird,  z.  B.  niilUone  de  millioni'^  Punkte,  welche  au  Anzahl  zunehmend 
unter  die  jeweils  4.  Ziffer  gesetzt  das  Aussprechen  der  Zahlen  er- 
leichtern sollen  z.  B. 

8     659      421      635     894676. 


Die  Zahlen  werden  von  rechts  nach  links  geschrieben  nach  Art  der 
Araber,  welche  nach  Einigen  die  Erfinder  der  Kunst  sind,  die  als- 
dann aus  Unwissenheit  statt  modo  ardbico  fälschlich  Äbaco  genannt 
wurde;  Andere  leiten  dagegen  Abaco  von  einem  griechischen  Worte 
ab;  und  nun  folgt  ein  leerer  Platz,  der  vermuthlich  dazu  bestimmt 
war,  das  Wort  aßat,  oder  ein  ähnliches  zu  enthalten,  welches  aber 
nicht  gedruckt  werden  konnte. 

Beim  Addiren^)  bedienen  sich  die  Kaufleute  der  Umkehrung 
der  Reihenfolge  als  Probe,  indem  sie  einmal  hinauf-  und  einmal  hin- 
unteraddiren.  Gelehrte  bedienen  sich  der  Neuner-  und  der  Siebener- 
probe. Die  Siebenerprobe  ist  die  zuverlässigere^),  weil  die  Neuner- 
probe zwei  grosse  Mängel  hat:  man  kann  bei  ihr  nicht  erkennen, 
ob  Nullen  ausgelassen  wurden,  oder  Ziffern  in  verkehrter  Reihenfolge 
geschrieben  worden  sind. 

Der  2.  Tractat  der  2.  Distinction  wendet  sich  zu  der  Subtrac- 
tion  und  behandelt  sie  in  verschiedenen  Artikeln,  namentlich  den 
Fall  berücksichtigend,  dass  eine  Subtrahendenziffer  grösser  ist  als  die 


^)  Summa  fol.  13  verso  (statt  13  ist  15  gcdi'uckt)  und  fol.  46  recto.     -)  Ebenda 
fol.  19   recto.  ^)  Ebenda  fol.  '20  recto   und  verso    (gedruckt  ist   10  für    20). 

"■)  Ebenda  fol.  22  recto. 


Luca  Paciuolo. 


311 


Minuenden  Ziffer  gleichen  Ranges^).    Ist  6432  von  8621   mit  dem  Reste 

2189  abzuziehen,    so  sagt  man:    2  von   1  geht  nicht,  aber  2  von  10 

ist  8  und  8  und  1  ist  9;  dann  ist  3  und  1  zusammen  4,  aber  4  von  2 

geht  nicht,  dagegen  4  von  10  ist  ()  und  6  und  2  ist  8;  4  und  1  ist  5 

von  6  bleibt  I5    6  von  8  bleibt  2.     Eine   zweite  Methode  borgt  von 

der   nächsten  Minuendenziffer,    vrenn  nöthig,   eine   1    in   Gestalt    von 

10  und  sagt  2  von  11  bleibt  9,  3  von  11  bleibt  8,  4  von  5  bleibt  1, 

6  von  8  bleibt  2.     Eine    dritte  Methode   endlich  borgt  10,  ersetzt  sie 

aber  durch  Erhöhung  der  nächsten  Subtrahendenziffer  um  1;  sie  sagt 

2  von  11  bleibt  9,  4  von  12  bleibt  8,   5  von  6  bleibt  1,    6   von  8 

bleibt  2. 

Der    3.    Tractat    der    2.   Distinction    hat    die    Multiplication    zur 

Aufgabe,  die  in  nicht  weniger  als  acht  Methoden  gelehrt  wird").    Die 

erste  Methode  heisst  in  Venedig  scacherii,  in  Florenz   hericocoU.     Das 

Musterbeispiel  ist : 

y876 

6789 


8 

8 

8 

8  ;4 

7 

9 

0 

0|8| 

6i9 

1      3 

2 

h 

9      2  !  5     6 

67048164 

Der  venetianer  Name  ist  uns  aus  der  Arithmetik  von  Treviso  bekannt, 
der  florentiner  stammt  von  einer  dort  üblichen  aus  Aprikosenteig 
geformten  und  mit  Viereckchen  bedruckten  Leckerei.  Die'  zweite 
Methode  heisst  casteUucio  und  setzt  in  Theilmultiplicationen  9000  mal 
6789,  dann  800  mal,  dann  70  mal,  endlich  6  mal  die  gleiche  Zahl  6789: 

9876 

6789 


61101000 

5431200 

475230 

40734 


17048164 


Die  dritte  Methode  a  colonna  oder  per  tavoletta  kennen  wir  gleich- 
falls. Hier  ist  ein  Fortschritt  insofern,  als  auch  ein  kleiner  zwei- 
ziff'riger  Multiplicator    wie    1 3   zur  gleichzeitigen  "  Vervielfachung   b6- 


')  Summa  fol.  24  verso  und  25  recto.     ")  Ebenda  fol.  20  recto  bis  29  recto. 


312 


57.  Kapitel. 


nutzt  wird.  Die  vierte  Methode  per  crocetta  oder  per  casella  bedarf, 
sagt  Paciuolo,  etwas  mehr  Einbildungskraft  und  Gehirn  als  die  an- 
deren, vole  alquanto  pin  fantasia  e  cervello  che  alcuno  defjli  altri,  was 
freilich  bei  dem  kreuzweisen  Verfahren  nicht  in  Abrede  gestellt  wer- 
den kann.     Verschiedene  Musterbeispiele  wie 


aber  auch  solche  mit  vierziffrigen  Factoren  dienen  zur  Erläuterung. 
Die  fünfte  Methode  heisst  per  quadrilatero,  offenbar  weil  die  schach- 
brettartige Figur  zum  Rechtecke  geordnet  erscheint,  wie  es  auch  in 
der  Arithmetik  von  Treviso  bei  einem  Verfahren  der  Fall  war: 


5432 
5432 


1 

0 

8 

6 

4 

16      2      9 

e' 

2      17      2      8 

2 

7 

1 

6      0  i 

Sind  auch  noch  die  Diagonalen  der  einzehieu  Feldchen  gezeichnet, 
sei  es  von  links  oben  nach  rechts  unten,  sei  es  umgekehrt,  so  ent- 
steht dadurch  die  sechste  Methode  gelosia  oder  jt)er  graticula.  Die 
Namen  rechtfertigt  der  Verfasser,  indem  er  das  Aussehen  der  Rech- 
nung einem  Gitterwerke,  graticula,  vergleicht,  welches  auch  gelosia 
genannt  werde,  weil  man  die  Fenster  derjenigen  Räume,  in  welchen 
Frauenzimmer  wohnen,  eifersüchtigerweise  vergittere,  um  den  Verkehr 
mit  Männern  zu  hindern^),  und  ähnlich  sei  es  bei  Klöstern,  an  denen 
Venedig  einen  Ueberfluss  besitze.  Die  siebente  Methode  ist  die  per 
repiego,  wo  unter  repiego^)  verstanden  sei,  dass  man  eine  Zahl  als 
Product  zweier  anderen  betrachte.  Wolle  man  also  24  mal  29  rech- 
nen, so  zerlege  man  24  in  4  mal  6,  nehme  4  mal  29  oder  116  und 
dann  6  mal  116  und  finde  696.  Die  achte  Methode  heisst  a  scapegrjo 
oder  das  Verfahren  mit  Köpfen.  Der  eine  Factor  wird  geköpft,  d.  h. 
in  beliebige  Summanden  zerlegt,  mit  welchen  leicht  multipliciren  ist. 
Statt  24  mal  42  setzt  man  4  -f-  6  -|-  5  -|-  0  mal  42,   rechnet  die  ein- 


')  Bekanntlich   lieissen   auch  in   Frankreich    sowie   in  manchen   Gegenden 
Deutschlands  die  Fensterläden  Jalousien.         ^)  ripiego  =  Ausweg. 


Luca  Paciuolo.  313 

zelneii   Theilprodukte    168,  252,  210,  378    und    vereinigt    sie    durch 
Addition  zu  1008. 

Der  4.   Tractat  der  2.   Distinction  ist  der  Division  gewidmet^). 

Neben   der  Division  a  tavoletta   bei   einziffrigem  Divisor,    neben   der 

a  repiego  dureb  Factorenzerlegung   des   Divisors  erscheint  unter  dem 

Namen  danda,    dessen   die  Praktiker   sich   bedienen,    das  Dividiren 

unterwärts.     Das  Beispiel  dafür  (07535376  :  9876  =  9876)  benutzt 

den  Namen  Divisor  im  gleichen  Sinne,  wie  wir  ihn  gebrauchen;  statt 

des  Wortes  Quotient   dient  Proveniens.     Die   Gestalt   ist   folgende: 

Divisor  Proveniens 

9876  9876 

97535376 

88884 


86513 
79008 


75057 
69132 
59256 

Nach  dieser  Methode  danda,  deren  Name  sich  dadurch  rechtfertigt, 
dass  bei  Auffindimg  jeder  neuen  Ziffer  des  Proveniens  der  Divisor 
so  oft  gegeben  werden  müsse,  als  es  möglich  sei,  kommt  erst  das 
Dividiren  überwärts,  welches  mit  einem  uns  ähnlich  schon  bekannten 
Ausdrucke  a  galea  heisst.  Sie  war  offenbar  noch  immer  die  häufigere, 
da  sie  an  weitaus  den  meisten  Beispielen  gelehrt  wird,  und  da  ihr 
Name  nicht  nur  mit  dem  segelschiffartigen  Aussehen  der  Beispiele 
gerechtfertigt  wird,  sondern  auch  damit,  dass  sie  die  schnellste  sei, 
wie  die  Galeere  das  schnellste  Schiff'.  Eine  Bestätigung  der  Behaup- 
tung, die  Methode  danda  sei  die  der  Praktiker  gewesen,  hat  sich  in 
einer  Krakauer  Handschrift  des  XV.  Jahrhunderts  gefunden").  Dort 
übt  ein  gewisser  Magister  Matheus  Moretus  de  Brixia  das 
Dividiren  imter  sich  an  2482  :  165.     Das  Beispiel   sieht  dort  so  aus: 

165 


2482 
165 


825 


7 
15  Il65 


Ausser  allem  Zusammenhange  mit  dem  Uebrigen  erscheint  eine 
Seite  voll  Zeichnungen^)  verschieden  gekrümmter  Hände,  durch  welche 
die  Zahlen  1—9,  10—90,  100—900,  1000—9000  in  Zeichen  dar- 
gestellt werden  sollen,  dann    geht   der  5.  Tractat  der  2.  Distinction 


1)  Summa  fol.  31  verso  bis  34  recto.       ^)  Curtze  brieflich  unter  Berufung 
auf  Codex  Cracoviensis  601.         ')  Summa  fol.  36  verso. 


314  ö7.  Kapitel. 

zu  den  Progressionen  über,  mit  denen  die  verschiedenartigsten  Dinge 
vermengt  sind.  Da  erscheinen  Summationen  von  Quadratzahlen  ^), 
von  Kubikzahleu-);  da  ist  die  Anzahl  der  Versetzungen  von  zehn  Per- 
sonen berechnet^);  dazwischen  treten  Kurieraufgaben'*)  auf  und  dann 
wieder  die  Aufgabe  von  der  Belegung  der  64  Felder  des  Schach- 
brettes mit  Weizenkömern  in  fortwährend  verdoppelter  AnzahP). 
Beweise  oder  Ableitungen  von  Regeln,  nach  Avelchen  verfahren  wird, 
sind  grade  bei  den  etwas  schwierigeren  Aufgaben  nicht  vorhanden, 
dagegen  ist  aber  einmal  auf  L.  P.  (natürlich  Leonardo  Pisano)  ver- 
wiesen, der  in  seiner  Schrift  De  numeris  quadratis  genaue  Beweise 
geliefert  habe^).  Für  mancherlei  Kenntnisse  mögen  ja  da  und  dort 
ältere  Quellen  zu  entdecken  sein.  Eine  Münchener  Handschrift  des 
XIII.  Jahrhunderts'')  enthält  z.  B.  die  allgemeine  Regel,  dass  aus 
n  Elementen    1  ■  2  ■  Z  •  ■•  n  Versetzungen  gebildet  werden  können. 

Der  6.  Tractat  der  2.  Distinction  ist  der  Wurzelausziehung 
gewidmet,  und  dabei  ist  besonders  auf  die  angenäherte  Berechnung 
irrationaler  Quadratwurzeln^)  geachtet,  welche  snrdi  genannt  werden 
und  bei  welchen  das  Zeichen  Fl  der  Quadratwurzel  in  Anwendung 
tritt.     Sei    ]/j.  eine  irrationale  Quadratwurzel  mit  dem  ersten  Nähe- 

rimgswerthe  u,  so  ist  a-\ =  a,   ein  zweiter,  a,  -\ ^.v^-  =«» 

ein  dritter  Näherungswerth  u.  s.  w.  So  allgemein  stellt  zwar  natür- 
lich Paciuolo  die  Sache  nicht  dar,  aber  das  Verfahren  an  bestimmten 
Beispielen  ist  deutlich  genug.     So  setzt  er 

,       .  1 

y6rv2  +  ^  =  2l;    yö^2i  +  ^  =  2.^; 

1 

6  —  6 

9      ,  400         ^881 


^«~2f„  +  — F  =  2 


1960 


^  1 

und  dieser  Werth  genüge,  weil  dessen  Quadrat  6  nur  um  ]t^^^  über- 
steige. Ist  die  Quadi-at Wurzel  aus  einem  Bruche  verlangt^),  so  muss 
die  Wurzel  aus  Zähler  und  Nenner  einzeln  gezogen  werden,  um  dann 
die  Division  auszuführen,  was  sehr  misslich  sei,  wenn  eine  oder  gar 
beide  Zahlen  sich  irrational  erweisen;  von  einem  Rationalmachen 
der  Brüche  ist  somit  nicht  die  Rede.     Die  Kubikwurzelausziehung  *°) 


')  Summa   fol.  38  verso.  *)  Ebenda  fol.  44  recto.  ^)  Ebenda  fol.  43 

verso.  *)  Ebenda  fol.  42  recto.  ^)  Ebenda  fol.  43  recto.  ^)  Ebenda  fol.  39 
recto.  ^  Curtze  brieflich  unter  Berufung  auf  Cod.  lat.  Mon.  234.  *)  Summa 
fol.  45:    De   approximatione   rudicum   in   surdis.  ®)  Ebenda   fol.  45  verso. 

^")  Ebenda  fol.  46  verso  und  47  recto. 


Liica  Paciuolo.  315 

beschränkt  sich  auf  den  Fall  einer  genauen  Kubikzahl  ohne  Ausdeh- 
nung auf  Irrationalwerthe  und   deren  nur  angenäherte  Berechnung. 

Jetzt  erst  folgt,  wiewohl  Brüche  schon  vorkamen ,  die  3.  und 
4.  Distinction  von  den  Brüchen^).  Sie  werden  mit  einem  Bruch- 
striche, riga,  geschrieben,  unter  welchem  der  Nenner,  denominatore, 
über  welchem  der  Zähler,  numeratore  oder  denominato,  steht.  Ihre 
Keuntniss  muss  noch  nicht  sehr  verbreitet  gewesen  sein,  wenn  Paciuolo 
erzählen  kann-),  in  einer  gewissen  italienischen  Stadt,  in  der  er  selbst 
gelebt  habe,  hätten  Kaufleute  bei  Handelsgeschäften  die  Brüche  durch 
die  nächsthöhere  ganze  Zahl  ersetzt,  unter  der  Redensart,  die  Casse 
wolle  nicht  verlieren.  Die  Aufsuchung  des  grössten  Gemeintheilers, 
schisaforc,  von  Zähler  und  Nenner  kann  in  verschiedener  Weise  er- 
folgen ^).  Man  kann  die  Division  durch  alle  Primzahlen ,  welche 
kleiner  sind  als  die  kleinere  der  zu  prüfenden  Zahlen  durchprobiren, 
wozu  auch  Tabellen  ausgerechnet  worden  sind;  man  kann  besser  die 
Methode  anwenden,  welche  Euklid  lehrte,  und  sei  es  auch  nur  in  der 
Gestalt,  wie  sie  bei  Boethius  auftrete,  wo  statt  der  Division  wieder- 
holte Subtraction  gelehrt  werde.  Bei  der  Auseinandersetzung  des 
Rechnens  mit  Brüchen  geht  die  Multiplication  der  Addition  voraus^), 
denn  Brüche  und  Ganze  sind  so  durchaus  verschieden,  dass  bei  dem 
Einen  als  leichter  zuerst  abzuhandeln  ist,  was  bei  dem  Andern  als 
schwieriger  nachfolgt.  Nachdem  beide  Rechnungsarten  und  auch  die 
Subtraction  besprochen  sind,  kommt  Paciuolo  zu  einem  Zweifel,  den 
wir  als  kennzeichnend  erörtern  wollen.  Ist  es  ,  fragt  er  in  der 
4.  Distinction^),  nicht  ein  Widerspruch,  wenn  Brüche  bei  der  Mul- 
tiplication mit  einander  sich  gegenseitig  kleiner  machen,  während 
multipliciren,  vervielfachen,  auf  das  Grösserwerden  hinweise,  wie 
auch  gesagt  sei:  Wachset  und  vervielfältigt  euch  und  füllet  die 
Erde!  Eine  der  Spitzfindigkeiten,  mit  welchen  Paciuolo  sich  über 
diese  Schwierigkeit  —  für  ihn  ist  es  eine  solche  —  hinweghilft,  be- 
steht darin,  dass  er  meint,  grösser  werden  heisse  sich  mehr  von  der 
Einheit  entfernen,  und  das  könne  nach  der  Richtung  der  Ganzen 
wie  nach  der  der  Brüche  geschehen,  und  in  diesem  Sinne  sei  wirklich 

—  =  —  •  —  grösser  als  jeder  der  Factoren.     Das  Einreihen,  inßgare, 

von  Brüchen   ist  nichts  anderes  als    das  Bilden  aufsteigender  Ketten- 
brüche, wie  es  Leonardo  von  Pisa  (S.  10)  schon  übte.     Nur  der  neue 

^)  Summa  fol.  47  verso  bis  56  verso.  ^)  Ebenda  fol.  47  verso :  E  quando 
hauo  a  scotere  li  rotti  tali  costuma'Ao  farli  sani  dicendo  la  cassa  non  vol  perdere 
sicommo  in  certa  degne  citta  ditalia  dove  personalmente  mi  son  trovato  e  questa 
mala  observantia  atesa.  ^)  Ebenda  fol.  49  recto  bis  50  recto.  ^)  Ebenda 

fol.  50  recto.         ^)  Ebenda  fol.  53  verso. 


316  57.  Kapitel. 

Name  ist  inzwischen  dazugekommen,  der  aber,  wie  wir  wissen,  nicht 
von  Paciuolo  herrührt,  sondern  seit  Paolo  Dagomari  dall'  Abaco 
(S.  165)  weit   verbreitet   war\).     Die  Aufgaben   sind  doppelter  Natur. 

2        12       5 
Einmal    soll     • r-  • •     der    Infilzation    unterworfen    werden. 

o        4        5        6 

Wir  würden  dafür  sagen,  man  sucht  den  Werth  von 

A  +  _i_  _i_     -     _| «  _  _  -  •  l+_i  .      -     j ! 

3    ~  3-4     '     3-4-5     I     3-4-5-6  3-4         '     3  •  4  •  5     l^  3  •  4  •  5  •  6 

_  9-5  +  2  5  _  47-6  +  5  _  287 

3-4-5     ~l3-4    5-6  3-4-5-6  360 ' 

Das  andere  Mal  soll   aus  ^-   eine   Bruchreihe    nach   den  Nennern  3, 

4,  5,  6  gebildet  werden.  Man  dividirt  287  durch  6;  der  Quotient 
ist  47,  der  anzuschreibende  Rest  5.  Dann  dividirt  man  47  durch  5; 
der  Quotient  ist  9,  der  anzuschreibende  Rest  2.  Die  weitere  Division 
von  9  durch  4  giebt  den  Quotient  2  mit  dem  anzuschreibenden 
Reste  1.  Endlich  liefert  die  Division  von  2  durch  3  den  Quotient  0 
mit  dem  anzuschreibenden  Reste  2.     Mithin  ist 

287  ^1       2       5 

36Ö         ■  T  '  T  '   5   "  T  ' 

wiederhergestellt,  wobei  auf  die  einzelnen  Pünktchen,  welche  einen 
wesentlichen  Bestandtheil  der  Schreibweise  bilden,  zu  achten  ist. 

Die  5.  Distinction  macht  ausführlich  mit  der  Regeldetri  be- 
kannt^). Am  Ende  dieses  Abschnittes  sind  die  Abkürzungen  angege- 
ben, deren  man  sich  bediene,  und  zwar  ebensowohl  Abkürzungen  des 
gewöhnlichen  Rechnens,  als  solche,  die  caratteri  alf/ebraici  genannt 
werden,  und  die  man  in  der  regula  della  cosa  oder  der  Algebra  und 
Almucabala  anwende.  An  dieser  Stelle  ist  es,  dass  Paciuolo  von 
seinen  früheren  Schriften  spricht,  und  jenen  kurzen  Bericht  über 
seine  Lebensschicksale  giebt,  der  (S.  306 — 307)  die  Grundlage  unseres 
Wissens  davon  bildete.  Unter  den  algebraischen  Zeichen  sind  die 
Wurzelzeichen,  nämlich  1^  mit  nachfolgendem  Wurzelexponenten,  zu 
bemerken.  Für  ß:2  steht  auch  ß:  allein.  Dann  folgt  R3  oder  Reu., 
3;,4  oder  Rß:  und  dann  nur  mit  Zahlenzeiger  weiter  bis  B:30  für  die 
di-eissigste  Wurzel.  Ferner  sind  Namen  und  Zeichen  der  bekannten 
Zahl  und  der  verschiedenen  Potenzen  der  Unbekannten  mit  positiv 
ganzzahligen  Exponenten  vorhanden.  Die  bekannte  Zahl  heisst  numero 
und  wird  n^  geschrieben,  Namen  und  Zeichen  der  Potenzen  der  Un- 
bekannten sind: 


^)  Summa  fol.  56  recto :    TJn  altro  acto  se  reeerca  nel  travagliare  degli  rotti 
äetto  (kil  viilgo  infUrare.         -)  Ebenda  fol.  57  recto  bis  67  recto. 


Luca  Paciuolo.  317 

cosa  =  CO.        ceuso  =  ce.        cubo  =  cu.        censoceuso  =  ce  ce. 

primo  relato  =  p^r".   censo  de  cubo  =  cubo  de  censo  =  ce  cu.   seeundo  relato  =2''r". 

censo  de  censo  de  censo  =  ce  ce  ce.        cubo  de  cubo  =  cu  cu. 

censo  de  primo  relato  =  cep"r". 

Die  Reihe  der  Potenzen  der  Unbekannten  setzt  sieh  bis  zur  29.  fort. 
Die  Zusammensetzungen  der  Wörter  haben  stets  multiplicative  Be- 
deutung, und  da  es  die  Exponenten  sind,  welche  einander  multipli- 
ciren,  so  ist  die  wiederholte  Potenzirung  gemeint,  z.  B.  censo  de  cubo 
=  (a;^)"  =  x^.  Daraus  folgt  die  Nothwendigkeit  neuer  Namen  der 
Potenzen,  so  oft  eine  Primzahl  als  Exponent  auftritt.  Primo  relato 
und  secoudo  relato  für  x^  und  x'^  haben  wir  angegeben;  ter^o  relato 
=  x^^  folgt  u.  s.  w.  bis  septimo  relato  =  x-^.  Nun  tritt  aber  eine 
Unregelmässigkeit  ein:  x^^  =  {x^y  sollte  primo  relato  de  primo  relato 
heissen,  und  heisst  statt  dessen  octavo  relato  und  x"'^^  sodann  nono 
relato.  Die  Verwandtschaft  der  Wörter  primo  relato,  seeundo  relato 
mit  dem  akoyog  TtQCJtog,  ccXoyog  ÖsvrsQog,  deren  Michael  Psellus 
(Bd.  I,  S.  473)  sich  bediente,  ist  unabweisbar.  Schwieriger  ist  es, 
eine  Erklärung  dafür  zu  geben,  wie  uXoyog  zu  relato  werden  konnte? 
Man  hat  wohl  versucht^)  als  arabische  Uebersetzung  des  a}.oyog 
'a'mä  =  unvernünftig  zu  vermuthen,  dann  wäre  die  fünfte  Potenz 
durch  ein  ä^oyog  verwandt  =  per  'a'mä  relato  und  falsch  gelesen 
primo  relato.  Die  Geschichte  der  Wortverunstaltungen  wäre  dann  um 
ein  schlagendes  Beispiel  reicher.  Aber  wo  bleibt  seeundo  relato  u.  s.  w., 
wo  die  radice  relata  (S.  158)? 

In  der  6.  Distinction  werden  Proportionen  behandelt-).  Paciuolo 
giebt  hier  gelegentlich  eine  Liste  von  solchen  Schriftstellern,  welche 
früher  schon  mit  dem  Gegenstande  sich  beschäftigt  hätten:  Euklid, 
Boethius,  Thebit,  Ameto  Sohn  Josephs,  Giordano,  Thomas  beduar- 
din,  Blasius  de  Parma,  Albertutius  de  Saxonia,  Plato,  Aristoteles, 
Archimed  werden  genannt.  Bei  Thebit  wird  ein  auffallender  Zusatz 
gemacht:  Tliebit  ancora  degno  philosoplio  (del  quäle  molto  Boetio  ex- 
2)onendo  Euclide  fa  mentione,  maxime  nel  quinto),  das  klingt,  als  wenn 
Paciuolo  eine  Euklidausgabe  gekannt  hätte,  welche  Boethius  zuge- 
schrieben war,  und  in  deren  fünftem  Buche  Thebit  mehrfach  erwähnt 

wurde.  In  Bezug  auf  Archimed  ist  beigefügt,  er  habe  3^  und  3— 
als  Grenzen  für  das  Verhältniss  des  Kreisumfangs  zum  Durchmesser 
erkannt,  während  die  untere  Grenze  Archimed's  in  Wahrheit  3—  war 

und  3-    nur  bei  Vitruvius  einmal  (Bd.  I,  S.  508)  als  Näherungswert!! 


^)  Briefliche  Mittbeilung  von  H.  Armin  Wittstein.  -)  Summa  fol.  67 

verso  bis  98  verso. 


318  r,7.  Kapitel. 

der  Zahl  n  erscheint.  Woher  mag  Paciuolo  diese  untere  Grenze  ge- 
kannt haben,  die  allerdings  der  Ungleichung   3      <  ;i;  <  3—  genügt? 

Wir  sehen  keinerlei  Antwort  anf  diese  nicht  unwichtige  Frage.  Den 
eigentlichen  Inhalt  der  G.  Distinctiou  brauchen  wir  nicht  näher  zu 
erörtern.  Es  sind  lauter  längst  bekannte  Dinge,  für  die  Folgezeit 
wenig  erheblich. 

-Die  7.  Distinctiou  kommt  zu  den  Regeln  des  falschen  Ansatzes^) 
und  zwar  des  einfachen  wie  des  doppelten.  Paciuolo  weiss  in  beiden 
sehr  gut  Bescheid.  Ihm  ist  z.  B.  die  Bedeutung  des  Wortes  Elcha- 
tayn,  die  zwei  Fehler  (Bd.  I,  S.  689;,  bekannt  gewesen:  JEl  cataym 
quäle  (secondo  alcimi)  e  vocabiäo  arabo  e  in  nostra  lengua  sona  quanto 
che  a  dire  regola  delle  doi  false  positioni,  und  die  Rechnung  selbst 
wusste  er  auf's  deutlichste  auseinanderzusetzen.  Das  erste  Beispiel 
für  den  doppelten  falschen  Ansatz  verlangt  44  Ducaten  unter  3  Per- 
sonen theilen  zu  lassen,  sodass  die  zweite  doppelt  so  viel  als  die 
erste  und  noch  4,  die  dritte  soviel  als  die  beiden  ersten  zusammen 
und  noch  6  erhalte.  Hat  der  erste  8,  so  hat  der  zweite  20,  der 
dritte  34,  alle  drei  haben  62  statt  44,  also  18  zu  viel.  Hat  der 
erste  6,  so  hat  der  zweite  16,  der  dritte  28,  alle  drei  haben  50 
statt  44,  also  6  zu  viel.  Der  Unterschied  der  beiden  Annahmen  für 
den  Besitz  des  ersten  ist  8  —  6  =  2,  der  der  Fehler  18  —  6  =  12; 
12  als  Fehlerunterschied  stammt  aus  2  als  Annahmeunterschied,  also 
würden  6  weitere  Fehlerunterschiede  aus  einem  weiteren  Annahme- 
unterschiede um  1  sich  herleiten  und  es  muss  der  erste  5,  der  zweite 
14,  der  dritte  25  erhalten.  Nach  dieser  Begründung  folgt  erst  die 
mechanische  Regel  geknüpft  an  das  Schema: 
48  Gü  108 


Man  soll  links  die  Zahlen  der  einen,  rechts  die  der  anderen  Annahme 
schreiben,  darunter  die  Fehler,  darüber  die  jeweiligen  Producte  der 
Annahme  in  den  gegenüberstehenden  Fehler.  Zwischen  diesen  Pro- 
ducten  und  ebenso  zwischen  den  Fehlern  stehen  die  Unterschiede 
derselben.  Der  Quotient  der  beiden  Unterschiede  giebt  die  Wahrheit, 
vorausgesetzt   dass   beide  Annahmen   in    dem  Sinne  irrig  waren,   dass 


*)  Summa  fol.  1)8  verao  bis  111  ver.so. 


Luca  Paciuolo.  319 

beidemal  zai  viel  entstand.  Die  anderen  Möglichkeiten  des  doppelten 
falschen  Ansatzes,  dass  beidemal  zu  wenig  oder  einmal  zu  wenig, 
einmal  zu  viel  entsteht,  sind  dann  gleichfalls,  natürlich  an  anderen 
Zahlen,  durchaus  genügend  erörtert. 

In  der  umfangreichen  S.  Distinction  geht  Paciuolo  zur  Algebra 
über^).  Er  beginnt  mit  der  Erklärung  der  Zeichen  p'  und  lu,  welche 
2ih(S  und  minus  oder  piu  und  meno  heissen,  und  deren  Nothwendig- 
keit  am  deutlichsten  sich  erweise,  wo  Grössen  verschiedener  Art  in 
Verbindung  treten.  So  könne  man  4  co.  (cosa)  und  o  co.  zu  7  co. 
ohne  weiteres  vereinigen,  aber  wenn  co.  (cosa)  und  ce.  (censo)  ver- 
einigt oder  von  einander  abgezogen  werden  sollen,  könne  man  nur 
4  ce.  p  3  CO.  oder  3  co.  m  4  ce.  und  dergleichen  schreiben.  Dabei  sei 
besonders  zu  beachten,  dass  die  Stellung  rechts  und  links  von  p  gleich- 
gültig sei,  nicht  aber  so  bei  m,  d.  h.  3  co.  p"  4  ce.  und  4  ce.  p^  3  co. 
seien  gleichwerthig,  nicht  aber  3  co.  in  4  ce.  und  4  ce.  m  3  co.  Bei 
der  Multiplication  finden  vier  Regeln  statt  ^): 

plus  mal  plus  macht  immer  plus, 
minus  mal  minus  macht  immer  plus, 
plus  mal  minus  macht  immer  minus, 
minus  mal  plus  macht  immer  minus. 

Dass  minus  mal  minus  als  Product  plus  liefere,  sei  anscheinend  Un- 
sinn, da  klarerweise  minus  4  weniger  als  Null  sei  (peroche  chiaro  e 
che  ni  4  e  manco  che  nulla),  allein  mau  könne  die  Richtigkeit  be- 
weisen. Es  sei  10  m  2  soviel  als  8,  also  10  m  2  mal  10  in  2  gewiss 
04.  Nun  sei  bei  zweitheiligen  Factoren  eine  Multiplication  anzu- 
wenden, derjenigen  vergleichbar,  die  mau  kreuzweise  nenne,  z.  B. 
a^h  vervielfache  sich  mit  a  p  h  so,  dass  erst  a  mal  a,  dann  a  mal  h 
zweimal,  dann  &  mal  h  genommen  werde.  So  erhält  man  bei  10  in  2 
mal  10  in  2  erst  10  mal  10  oder  100,  dann  2  mal  10  mal  m  2  oder 
iii  40,  welche  mit  dem  100  zu  60  sich  vereinigen,  und  endlich  m  2 
mal  m  2,  die  'p  4  geben  müssen,  damit  64  als  Endergebniss  erscheine ^). 
Den  vier  Multiplicationsregeln  entsprechen  ebensoviele  Divisionsregeln, 
welche  gleichfalls  ausgesprochen  sind.  Dann  kommen  die  vier  Ad- 
dition sregeln  ^) : 

plus  zu  plus  addirt  giebt  immer  plus, 
,  minus  zu  minus  addirt  giebt  immer  minus, 
plus  zu  minus  addirt  zieht  immer  ab  (abatte)  und  giebt  den  Namen 

des  Grösseren, 
minus  zu  plus  addirt  zieht  immer  ab   und  giebt  den  Namon  des  Grösseren. 


^)  Summa  fol.  111  verso  bis  150  recto.     -)  Ebenda  fol.  112  verso.     ^)  Ebenda 
fol.  113  recto.         *)  Ebenda  fol.  114  recto. 


■520  57.  Kapitel. 

Die  Subtractionsregeln  ähulicli  zusammengestellt^)  beschliessen  den 
1.  Tractat  der  8.  Distinctiou.  Vorher  sind  aber  zahlreiche  Subtrac- 
tionsbeispiele  durchgerechnet  und  ist  als  maassgebend  ausgesprochen, 
dass  bei  gutem  Subtrahiren  eine  Grösse  übrig  bleiben  müsse,  welche 
zu  dem  Abgezogenen  addirt  das  wieder  hervorbringe,  wovon  man 
subtrahirt  habe^).  Was  die  benutzten  Anfangsbuchstaben  p,  m  be- 
trifft, deren  Ursprung  keiner  Rechtfertigung  bedarf,  so  sind  Manche 
geneigt,  aus  ihnen  -\-  und  —  abzuleiten.  Man  habe  bei  sehr  raschem 
Schreiben  nur  die  allerallgemeinste  Gestaltung  der  Buchstaben  bei- 
behalten, die  dann  als  Striche  sich  kundgaben.  Ohne  für  diesen  Er- 
klärungsversuch einzutreten,  bemerken  wir,  dass  er  immerhin  dem 
Verticalstriche  im  Pluszeichen  eine  Bedeutung  giebt,  und  sich  nicht 
damit  begnügt,  ihn  als  blosses  Unterscheidungsmerkmal  zu  dem 
Horizontalstriche  hinzutreten  zu  lassen.  Wir  persönlich  ziehen  die 
S.  231  angegebene  Herleitung  vor. 

Die  drei  folgenden  Tractate  derselben  8. ,  Distinctiou  sind  dem 
Rechnen  mit  Wurzelgrössen  gewidmet^),  einem  Gegenstande,  der  an 
Schwierigkeiten  überreich  war  und  seii;  musste,  so  lange  eine  all- 
gemeine Potenzenrechnung  nicht  vorhanden  war,  und  diese  fehlte 
noch  geraume  Zeit  trotz  Oresme's  Vorgange.  Das  Multipliciren  und 
Dividiren  einfacher  Wurzelgrössen  geht  noch  leidlich  genug,  aber 
schon  deren  Addition  wird  mittels  eines  Kunstgriffes  bewerkstelligt, 
der  an  dem  Beispiele^)   yiÖ  -f  ]/4Ö  =  ]/9()  gelehrt  auf 


Ya  4-  yh  =  Va^  6  +  2  Y^  _ 

liinausläuft,  d.  h.  die  Rationalität  von  Yah  voraussetzt.  Ist  ]/afe 
irrational,  so  entsteht  eine  radice  universale  oder  radice  legativ'),  d.  h. 
die  Wurzel  aus  einer  Grösse,  welche  selbst  aus  theilweise  oder  ganz 
irrationalen  Bestandtheilen  durch  Addition  oder  Subtraction  zusam- 
mengesetzt ist,  z.  B.  kS  — 1/60  =  ]/5  —  1/3.  Das  Zeichen  der  ver- 
einigten   Wurzel  «J    ist    ^V,    also    z.  B.    ^V  40  m  ß:   320    bedeutet 

V -iO  —  ]/320.  Paciuolo  bewegt  sich,  wie  er  selbst  ausdrücklich  er- 
klärt, auf  dem  Boden  des  X.  Buches  der  euklidischen  Elemente,  und 
wo  er  diesen  Boden  verlässt  und  Allgemeines  selbst  zu  leisten  versucht, 
so  etwa  wo  er  dreitheilige  Grössen  unter  einem  Wurzelzeichen  be- 
handeln will,  verfällt  er  in  Irrthum^). 


^)  Ebenda  fol.  115  recto.  ^)  Ebenda  fol.  114  verso:  a  voler  ben  sottrare 
hisognn  che  remanga  teil  quantita  de  ditio  sottramento  che  gionta  dlla  quantüa 
che  Vomo  cava  refacia  la  quantita  da  laqual  si  cavo.  ^)  Ebenda  fol.  115  verso 
bis  144  recto.  *)  Ebenda  fol.  116  verso.  ^)  Ebenda  fol.  117  verso.  ^)  Ebenda 
fol.  122  verso.         ')  Ebenda  fol.  142  verso. 


Luca  Paciuolo.  321 

Der  5.  Tractat  führt  zu  der  eigentliclien  Algebra,  „Angelangt 
sind  wir,  rief  Paciuolo  wahrhaft  begeistert^),  an  dem  vielbegehrteu 
Orte,  bei  dem  Ursprünge  aller  Fälle,  bei  der  Regula  de  la  cosa,  wie 
die  Leute  sie  nennen,  oder  bei  der  Arte  maggiore  [die  grössere  Kunst, 
vermuthlich  im  Gegensatze  zur  kleineren  Rechenkunst]  d.  h.  dem 
speculativen  Verfahren,  welches  in  arabischer  oder,  wie  Andere  wollen, 
in  chaldäischer  Mundart  Algebra  und  Almucabala  genannt  wird.  In 
unserer  Sprache  würde  es  klingen  wie  Herstellung  und  Gegenüber- 
stellung, Algebra  nämlich  ist  Herstellung  und  Almucabala  ist  Gegen- 
überstellung." Die  richtige  Uebersetzung  der  beiden  Fremdwörter 
geht  bei  Paciuolo  Hand  in  Hand  mit  richtigem  Verstau dniss  dessen, 
was  nun  eigentlich  Herstellung,  was  Gegenüberstellung  sei,  denn 
man  solle,  sagt  er  später-),  aufpassen,  dass  man  die  Gleichungen 
dadurch  wiederherstelle,  dass  man  die  beiderseitigen  Glieder  (li  ex- 
tremi  de  la  equatione)  richtig  einander  gleichsetze  und  dann  Ueber- 
flüssiges  beseitige  (levando  li  superflui),  wie  die  beiden  Wörter  des 
Namens  es  vorschreiben  (Bd.  I,  S.  676). 

Drei  einfache  und  drei  zusammengesetzte  Fälle  sind  zu  unter- 
scheiden.    Jene  kommen  auf 

ax'  =  bx,         ax^==c,         hx  =^  c 
hinaus,   diese  auf 

ax^-\-hx  =  c,         hx  -\-  c-=  ax'^,         ax^  -{-  c  =  bx. 

Die  Auflösung  der  zusammengesetzten  Fälle  ist  in  je  vier  Hexametern 
gelehrt  ^) : 

Primi   canonis  versus. 

Si  res  et  census  numero  coequantur,  a  rebus 

Dimidio  sumpto  censum  producere  debes 

Addereque  numero,  cuius  a  radice  totiens 

Tolle  semis  rerum,  census  latusque  redibit. 

Secundi   canonis  versus. 
Et  si  cum  rebus  dragme  quadrato  pares  sint, 
Adde  sicut  primo  numerum  producto  quadrato 
Ex  rebus  mediis,  eiusque  radice  recepta 
Si  rebus  mediis  addes,  census  patefiet. 


1)  Summa  fol.  144  recto:  Gionti  con  Vaiuto  de  dio  al  luogo  molto  desideraio: 
cioe  ala  madre  de  tutti  U  casi  detta  dal  vulgo  la  regola  della  cosa  over  Arte 
magiore  cioe  pratica  speculativa ,  altramente  chiamata  Algebra  et  almucabala  in 
lingua  arahica  over  caldea  secondo  alcuni  che  in  la  nostra  sona  quanto  che  a  dire 
restaurationis  et  oppositionis.  Algebra  id  est  Restauratio.  Almucabala  id  est 
Oppositio.  *)  Ebenda  fol.  148  recto :  Secondum  essentiale  notandum.  ^)  Ebenda 
fol.  145  recto. 

C AKTOR,  Geschicbte  der  Mathem.    II.     2.  Aufl.  91 


322  57.  Kapitel. 

Tertii   canonis  versus. 
At  si  cum  numero  census  radices  equabit, 
Dragmas  a  quadrato  deme  rerum  medietarum, 
Cuiusque  supererit  radicem  adde  traheve 
A  rebus  mediis,  sie  census  costa  notescet. 

Erlernen  wird  aus  diesen  Versen  sehr  zweifelhafter  Güte  Niemand 
die  Auflösung  der  quadratischen  Gleichungen;  wer  dieselbe  aber  kennt, 
wird  sie  in  den  Beschreibungen  wiederfinden  mit  Einschluss  der  zwei- 
fachen Möglichkeit  der  Auflösung  des  dritten  Falles. 

Zunächst  werden  nun  Beispiele  der  einfachen  Fälle  behandelt 
und  dabei  die  Frage  aufgeworfen,  ob  nicht  auch  die  zwei  Fälle  zu 
unterscheiden  seien,  in  welchen  ax  =  hx  oder  ax^  ^  hx^  vorgelegt 
wäre;  von  einem  Falle  a  =  h  könne  an  sich  keine  Rede  sein.  Aber 
auch  jene  beiden  Fälle  sind  nicht  als  solche  vorhanden.  Ist  nämlich 
in  ax  =  hx  eine  Uebereinstimmung  zwischen  a  und  &,  so  ist  die 
Frage  unbestimmt  odei-,  wie  Faciuolo  sagt,  el  quesito  sarehe  conduso, 
die  Frage  wäre  damit  abgeschlossen.  Ist  dagegen  a  von  h  verschieden, 
so  ist  die  Aufgabe  unmöglich,  weil  ein  Mehr  einem  Weniger  nicht 
gleich  sein  kann;  ganz  ähnlich  verhält  es  sich  mit  ax^  ==  hx^.  An 
die  Auflösung  a:  =  0  denkt  mithin  Paciuolo  nicht.  Bei  den  zusam- 
mengesetzten Fällen  kommt  es  bei  Handhabung  der  Regeln  darauf 
an,  die  Gleichung  vorher  so  umzuformen,  dass  das  quadratische  GHed 
nur  mit  1  vervielfacht  auftrete,  und  unsere  Leser  werden  auch  be- 
merkt haben,  dass  die  oben  abgedruckten  Verse  diese  Umformung 
bereits  als  vorgenommen  voraussetzen.  Man  solle  sich  merken,  dass 
alle  vorgelegten  Aufgaben,  sofern  sie  der  Auflösung  fähig  sind,  sich 
auf  einen  der  sechs  Fälle  oder  auf  einen  denselben  proportionalen 
Fall,  at  alcun  altro  a  qndli  proportionato,  zurückführen  lassen^).  Man 
solle  sich  ferner  merken,  dass  im  dritten  zusammengesetzten  Falle 
nach  richtiger  Umwandlung  in  die  Form  x^  -{-  c='bx  die  Ungleichung 

—  ^  c  stattfinden  müsse,  weil  sonst  eine  Auflösung  nicht  mög- 
lich sei  ^). 

Auch  von  Gleichungen  mit  zwei  Unbekannten  ist  gelegentlich 
die  Rede^).  Die  älteren  Handbücher  hätten  gewöhnlich  erste  und 
zweite  Cosa  dafür  gesagt.  Die  neueren  sagten  lieber  cosa  für  die 
eine  Unbekannte,  quantita  für  die  andere. 

Nun  zu  den  Fällen,  welche  Paciuolo  proportionale  genannt  hatte. 
Sie  sind^),  wenn  der  Uebersichtlichkeit  wegen  wieder  die  heutige 
Schreibweise  benutzt  wird,  folgende  acht: 


')  Summa  fol.  145  verso.        *)  Ebenda  fol.  147  recto.         ^)  Ebenda  fol.  148 
verso:  Quartum  essenticde  nvtandnm.         *)  Ebenda  fol.  149  recto. 


Luca  Paciuolo.  323 

1.  ax^  =  e.      2.  ax^  =  dx.      3.  ax^  =  cxr.      4.  ax"  -\-  cx^  =  dx. 
5.  ax^  -\-  dx  ^^  cx'\  6.  ax^  -j-  e  =  cx^.  7.  ax'^  +  <^^^  =  ^« 

8.  ax^  =  c.r^  +  ^■ 
Neben  4.  sowohl  als  neben  5.  ist  das  Wort  Impossibile  gedruckt. 
Es  scheint  uns  keinem  Zweifel  unterworfen,  dass  Paciuolo  sich 
vollbewusst  war,  dass  Gleichungen  zwischen  ax^,  cx'^,  e  von  wesent- 
lich übereinstimmender  Art  mit  solchen  zwischen  ax-'^,  ex",  e  sind, 
die  dem  entsprechend  aufgelöst  werden  können.  Einen  an- 
deren Sinn  vermögen  wir  dem  Ausspruche^)  nicht  beizulegen,  was 
vom  vierten  Grade  gesagt  sei,  gelte  für  jeden  anderen,  sofern  die 
Verhältnissmässigkeit  gewahrt  bleibe.  Ebensowenig  dürfen  wir  zwei- 
feln, dass  die  doppelte  Betonung  der  Unmöglichkeit  der  Formen 
ax^  -\-  cx^  =  dx,  ax^  -\-  dx  =  cx^  auch  auf  die  kubischen  Glei- 
chungen ax^  -\-  ex  ^^  d,  ax^  -\-  d  ^=  ex  sich  beziehe.  Sagt  der  Verfasser 
doch  in  der  Weitschweifigkeit,  welche  ihn  kennzeichnet,  man  habe 
bisher  bei  Gleichungen  zwischen  hx^,  cx^,  e  oder  ax'^,  bx^,  e  u.  s.  w. 
noch  keine  guten  Regeln  aufstellen  können,  und  schliesst  er  doch  die 
Auseinandersetzung  mit  den  Worten-):  wo  die  einzelnen  Glieder  nicht 
verhältnissmässige  Gradunterschiede  zeigen,  sei  die  Kunst  bis  jetzt 
ihrer  Aufgabe  noch  nicht  gewachsen,  gerade  so  wie  eine  Quadratur 
des  Kreises  noch  nicht  gefunden  sei.  Impossibile  heisst  demnach  für 
Paciuolo  die  kubische  Gleichung  nicht  in  dem  Sinne,  als  ob  ihre 
Auflösung  überhaupt  unmöglich  wäre,  sondern  weil  man  sie  noch 
nicht  vollziehen  konnte.  Mit  diesem  Wechsel  auf  die  Zukunft, 
möchten  wir  beinahe  sagen,  schliesst  die  8.  Distinction.  Aber  bevor 
wir  den  Gegenstand  verlassen ,  müssen  wir  zurückgreifen  auf  eine 
Gleichung  vierten  Grades,  welche  schon  in  der  2.  Distinction  vor- 
gekommen war.  Wir  haben  (S.  314)  die  Summenformel  für  Kubik- 
zahlen  angeführt,  welche  in  der  2.  Distinction  enthalten  sei.  Sie 
ist  auch  in  der  That  dort  vorhanden^),  aber  nicht  ohne  weiteres.  Sie 
ist  eingeführt  durch  eine  Aufgabe,  welche  in  heutiger  Gestalt  als  die 
Gleichung  erschiene 

(1  +  2  H [-  ^)  -f  (13  _^  03  -I \-x'')  =  20400. 

Die  Summirung  beider  eingeklammerter  Reihen 


*)  Sumuia  fol.  149  verso:  E  quello  che  habiamo  dedutto  di  censo  de  censo 
se  liahi  a  intendere  di  qualunca  altra  dignita  over  quantita  proportiondbiliter. 
-)  Ebenda  fol.  150  recto:  Quando  in  li  toi  agiiaglimanti  te  ritrovi  termini  de 
diversi  intervalli  fra  loro  disproportionati  dirai  che  l'arte  ancora  a  tal  caso 
non  a  dato  modo  si  commo  ancora  non  e  dato  modo  al  quadrare  del  cerchio. 
^)  Ebenda  fol.  44  recto. 

21* 


324  57.  Kapitel. 

gestattet  die  Umformung  in  x^  ^  2x^  -{-  iix^  -{-  2x  =  81600  und 
durch  beiderseitige  Addition  von  1  entsteht   (x^  -\-  x  -{-  ly  =  81601. 

Daraus  folgt  x'-{-x-j-l  =Y8160i,  x  =  ]/y8l6ÖI  —  A  _ i_ .    Ob 

Paciuolo  das  Gefühl  hatte,  dass  nur  die  eigen thümliche  Gestaltung 
der    Zahlencoefficienten    (noch    deutlicher    hervortretend ,    wenn    man 

x(x  -\-  1) 

../  —  =  y  setzen  würde)  dort  eine  Auflösung  zuliess,  und  er  dess- 

halb  von  der  Aufgabe  schwieg,  wo  sie  in  der  8.  Distinction  recht 
eigentlich  hätte  erwähnt  werden  müssen,  ob  sein  Grund  zum  Schweigen 
vielmehr  der  war,  dass  in  der  8.  Distinction  nur  zwei-  und  drei- 
gliedrige Gleichungen  vorgeführt  wurden,  das  dürfte  kaum  zu  ent- 
scheiden sein.  Die  Stärke  des  Einwandes  aber,  dass  jene  Formeln 
für  1  +  2  H h  a^  und  für  P  -f  2^  -| \-  x^  nur  unter  der  An- 
nahme ganzzahliger  Werthe  von  x  Geltung  haben,  dass  sie  also  in 
dem  hier  in  Frage  kommenden  Beispiele  gar  nicht  benutzt  werden 
dürfen,  hat  Paciuolo  nicht  einmal  geahnt. 

Die  9.  und  letzte  Distinction  der  ersten  Abtheilung  der  Summa  ^ ) 
ist  eine  ungemein  reichhaltige.  Ihr  1.  Tractat  benennt  sich  von  den 
Gesellschaftsrechnungen,  de  societatibus.  Unter  einer  Menge  von  Auf- 
gaben ist  auch  die  bekannte  Testamentgeschichte  ^)  von  der  Wittwe, 
welche  nach  dem  Tode  des  Mannes  Zwillinge  verschiedenen  Ge- 
schlechtes zur  Welt  bringt  und  doppelt  so  viel  als  das  Mädchen, 
halb  so  viel  als  der  Sohn  erhalten  soU  (Bd.  I,  S.  523).  Paciuolo 
scheint  an  dieser  Aufgabe  besonderes  Gefallen  gefunden  zu  haben, 
denn  er  erzählt  ausdrücklich,  sie  sei  ihm  am  16.  December  1486  in 
dem  Tuchladen  des  Giuliano  Salviati  in  Pisa  von  einem  würdigen 
florentiner  Kaufmann  Nofrio  Dini  mitgetheilt  worden.  Der  2.  Trac- 
tat benennt  sich  nach  Viehpacht  um  halbe  Nutzung,  soccita,  und 
Wohnungsmiethe ,  der  3.  nach  Tauschgeschäften ,  de  harattis ,  von 
Waaren  verschiedener  Gattung  und  verschiedener  Werthe  gegen  ein- 
ander, der  4.  Tractat  führt  Wechselgeschäfte,  de  canihiis,  als  Ueber- 
schrift  und  belehrt  ebensowohl  über  die  Form  des  Wechsels,  als  über 
die  Art  wie  die  verschiedenen  Münzen,  welche  da  und  dort  in  Uebung 
sind,  in  gegenseitiges  Verhältniss  zu  bringen  seien,  damit  Niemand 
übervortheilt  werde.  Im  5.  Tractate  handelt  es  sich  um  Zinsrech- 
nung, de  meritis,  und  zwar  zuerst  um  einfachen  Zins,  dann  um  Zinses- 
zins, im  6.  um  Legirung  edler  Metalle,  del  modo  a  legare  e  consolare 
le  monete.     Die  Geschichte  des  italienischen  Handels  wie  des  Handels 

^)  Summa  fol.  löO  recto  bis  224:  verso.         -j  Ebenda  fol.  Iü8  recto. 


Luca  Paciuolo.  325 

überhaupt  darf  die  sechs  ersten  Tractate  dieser  9.  Distinction  als 
reiche  Fundgrube  erkennen,  welche  vielleicht  noch  nicht  zur  Genüge 
ausgebeutet  ist.  Der  Geschichte  der  Mathematik  geben  dieselben 
kaum  Anlass  zum  längeren  Verweilen.  Wir  nehmen  höchstens  davon 
Vermerk,  dass  die  Ueberschrift  del  modo  a  saperc  componere  le  tavole 
de  merito  uns  zeigt,  dass  damals  bereits  Zinstafeln  in  Gebrauch 
waren,  und  dass  in  Paciuolo's  Zinszinsrec-hnungen,  worauf  wir  bei 
späterer  Gelegenheit  zurückzukommen  haben,  einige  Irrthümer  mit 
unterlaufen,  die  freilich  selbst  nicht  eigentlich  mathematische  Fehl- 
schlüsse sind. 

Wichtiger  ist  uns  der  7.  Tractat  von  den  Eeisen,  de  viagiis^). 
Die  sieben  ersten  Aufgaben  dieser  Gattung,  bei  welcher  es  sich 
immer  darum  handelt,  dass  Jemand  mehrere  Reisen  macht,  mit  dem 
mitgenommenen  Gelde  bald  Gewinn,  bald  Verluste  erzielt,  die  dem 
Kapitale  proportional  sind,  während  dieses  durch  die  Ergebnisse  der 
früheren  Reisen  sich  fortwährend  ändert,  führen  zu  quadratischen 
Gleichungen.  Die  achte  Aufgabe  dagegen  führt  zu  einer  Exponen- 
tialgleichung. Es  hat  einer  so  viele  Reisen  gemacht,  als  er  am 
Anfange  Ducaten  hatte*  bei  jeder  Reise  verdoppelte  er  sein  Geld 
und  hatte  schliesslich  30  Ducaten;  wie  viele  Reisen  waren  es?  Hatte 
er  X  Ducaten,  so  wurden  sie  durch  fortwährende  Verdoppelung  nach 
1 ,  2j  ■  '  •  X  Reisen  zu  x  •  2,  x  •  2^,  •  •  ■  x  ■  2"",  also  soll  sein  x  ■  2""  =  30, 
eine  Gleichungsform,  welche,  wie  wir  kaum  zu  sagen  brauchen,  Pa- 
ciuolo in  Zeichen  zu  kleiden  nicht  verstand.  Sein  Verfahren  ist 
folgendes.  Er  versucht  aus  der  Bedingung  der  Aufgabe  Folgerungen 
zu  ziehen,  indem  er  bestimmte  Annahmen  macht.  Wären  es  zwei 
Reisen  gewesen,  in  welchen  2  Ducaten  sich  zwei  mal  verdoppelt 
hätten,  so  hätte  der  Reisende  zuletzt  8  Ducaten,  mithin  zu  wenig. 
Wären  es  vier  Reisen  gewesen,  in  welchen  4  Ducaten  sich  vier  mal 
hätten  verdoppeln  müssen,  so  wären  schon  am  Schlüsse  der  dritten 
Reise  32  Ducaten  erzielt  gewesen,  mithin  zu  viel.  Da  2  eine  zu 
kleine,  4  eine  zu  grosse  Annahme  ist,  so  wird  3  versucht.  Dessen 
dreimalige  Verdoppelung  giebt  24,  wieder  zu  wenig,  also  liegt  die 
gesuchte  Zahl  zwischen  3  und  4,  und  es  war  überhaupt  keine  ganze 
Anzahl  von  Reisen,  sondern  3  und  dann  noch  eine  Bruchreise,  welche 
gemacht  wurden.  Sei  in  unseren  heutigen  Zeichen  x  jener  Bruch, 
das  Anfangscapital  folglich  3  +  rc.  Nach  drei  Reisen  wurde  es  zu 
24  -f-  Sx.  So  weit  ist  Alles  in  Ordnung.  Nun  schliesst  aber  Paciuolo, 
man  sieht  nicht  warum,  der  Gewinn  der  noch  zu  machenden  x  Reisen 
müsse 


^)  Summa  fol.  186  recto  bis    188   recto.      Die    wichtigsten    Aufgaben    sind 
auch  abgedruckt  bei  Libri  III,  286—294. 


326  57.  Kapitel. 

x(24:  -\-Sx) 
sein,  und  so  erhält  er 

24  +  8.r  +  x(24  +  8a;)  =  30,  x*^  +  4,r  =  -J- ,  .r  =  ]/4^  —  2 
und  3  -f-  a;  oder  die  Zahl  der  Reisen,  beziehungsweise  der  DucateD, 
welche    zuerst    mitgenommen    wurden,     1  -|- 1/ 4--  =  3,17944947. 

Wollte  man  die  Annäherung  prüfen,  bis  zu  welcher  diese  Auflösung 
reicht,  so  bekäme  man: 

3,17944947  •  23.i'9*«*^  =  28,80458. 

Paciuolo  ist,  was  wir  wiederum  kaum  zu  sagen  brauchen,  zu  einer 
derartigen  Prüfung  nicht  im  Stande,  aber  für  ihn  bedarf  es  keiner 
Prüfung.  Er  ist  von  der  Richtigkeit  seines  Verfahrens  so  fest  über- 
zeugt, dass  er  es  in  wiederholten  Beispielen  an  immer  krauser  aus- 
sehenden  Zahlan   übt,    bis   er  gar  in   der   elften   Aufgabe^)   zu    einer 

.      „..  ^24733     ,     -1  /r,  1643489177         ,         ,, 

Auflosung    3-3-+    |/  ^,007002864    ^^^^''S^'- 

Die  Uebergänge  der  einzelnen  Tractate  der  letzteren  Distinction 
in  einander  scheint  beim  Drucke  etwas  in  Verwirrung  gerathen  zu 
sein.  Muthmasslich  soll  die  Aufgabe,  welche  als  14.  im  7.  Tractate 
bezeichnet  ist,  schon  die  erste  des  8.  Tractates  sein.  Sie  lautet  etwa 
folgendermassen^):  Das  Quadrat  einer  Zahl  ist  dem  Producte  zweier 
anderen  gleich.  Wird  die  erste  auf  Kosten  der  zweiten  um  den  so- 
vielten  Theil  derselben  vermehrt,  als  3  ein  Theil  der  ersten  ist,  so 
wird  die  gewonnene  Summe  das  fünffache  des  Restes.  Wird  die  erste 
auf  Kosten  der  dritten  um  ihren  sovielten  Theil  vermehrt,  als  5  ein 
Theil  der  ersten  ist,  so  wird  die  jetzt  hervorgebrachte  Summe  das 
siebenfache  des  neuen  Restes.  Cosa  und  quanü  nennt  dabei  Paciuolo 
die  erste  und  zweite  Zahl.     Nennen  wir  sie  a;  und  y,  so  verhält  sich 

X  :?>  ^  y  :  — ,  und  die  erste  Veränderung  der  Zahlen  bedingt 
^  +  '^l~='^{y  —  ^'P\     d.h.     y 


X  y  X  I  ^        hx  —  18 

'   hz 
Ist  z  die  dritte  Zahl ,   so  verhält  sich  x  \b  =  z  \  — ,   die  zweite  Ver- 

.  ^ 

änderung  der  Zahlen  bedingt  also 

,        bZ  r-  I  ä2\  1      1  X'^ 

xA =  Hä d.h.     z  =  - T^:- 

'x  V  X  J  7x—  40 

Da  aber  von  vorn  herein   x-  =  yz  bekannt  war,  so  muss 

.,  x'  X- 

^    "^  bx—  18  '  Ix—  40 

/ 
')     Summa  fol.  187  verso.  -)  Ebenda  fol.  188  recto. 


Luca  Paciuolo.  327 

sein  und  daraus  folgt  alsdaun 

.=  +  21-^  =  9-.,    -  =  4S  +  lAM- 

Trotzdem  drei  Unbekannte  (unsere  x,  y,  z)  in  der  Aufgabe  vor- 
kommen, kann  man  sie  im  Grunde  doch  nur  als  quadratische  Glei- 
chung mit  zwei  Unbekannten  bezeichnen,  indem  bei  der  Besprechung 
der  Beziehungen  zwischen  x  und  y  kein  z  vorkam  und  ebenso  kein 
//,  wo  die  Beziehungen  zwischen  x  und  z  in  Rede  kamen.  Den 
gleichen  Charakter  tragen  sämmtliche  Aufgaben  des  Tractates  bis  zu 
derjenigen,  welche  die  Nummer  22  führt.  Immer  sind  zwei  Unbe- 
kannte aus  Gleichungen  bald  des  ersten,  bald  des  zweiten  Grades  zu 
ermitteln.  Die  23.  Aufgabe  dürfte  die  1.  des  9.  Tractates  darstellen. 
Mit  ihr  beginnt  eine  neue  Gruppe  von  Aufgaben,  in  deren  jeder  drei 
Unbekannte  vorkommen. 

Der  10,  Tractat^)  ist  wieder  mit  bestimmtem  Namen  abgesondert. 
Er  heisst:  Von  den  aussergewöhnlichen  Aufgaben,  de  straoräinariis. 
Auch  hier  sind  es  meistens  Textgleichungen  ersten  und  zweiten 
Grades,  welche  gelöst  werden  sollen;  mitunter  bedarf  es  dazu  keiner 
Algebra,  sondern  nur  der  Rechnung  mit  Proportionen.  Ganz  über- 
raschend erscheint  dazwischen  folgende  Aufgabe  -) :  Ein  Spiel,  welches 
auf  6  gewonnene  Punkte  gespielt  wird,  muss  in  einem  Augenblicke 
unterbrochen  werden,  in  welchem  der  eine  Spieler  auf  5,  der  andere 
auf  2  steht;  wie  ist  der  Einsatz  zwischen  ihnen  zu  theilen?  Paciuolo 
meint,  die  Theilung  habe  im  Verhältnisse  der  schon  gewonnenen 
Punkte,  also  im  Verhältnisse  von  5  zu  2  zu  erfolgen.  Aehnlicher- 
weise  will  er  den  Einsatz  zwischen  3  Schützen,  die  auf  6  Treffer 
gewettet  haben,  aber  zu  schiessen  aufhören,  nachdem  der  erste 
4  mal,  der  zweite  3  mal,  der  dritte  2  mal  getroffen  hat,  im  Ver- 
hältnisse von  4:3:2  getheilt  wissen.  Beide  Aufgaben  sind  unrichtig 
gelöst,  verdienen  aber  darum  nicht  weniger  Beachtung,  da  sie  das  erste 
bekannte  Vorkommen  yon  Wahrscheinlichkeitsaufgaben  in  einem 
Lehrbuche  der  Rechenkunst  darstellen. 

Der  Begriff  der  Wahrscheinlichkeit  im  mathematischen  Sinne  ist, 
wie  hier  einschaltend  bemerkt  werden  soll,  allerdings  älter.  Ein  im 
Jahre  1477  in  Venedig  gedruckter  Commentar  zu  Dante's  Divina 
Commedia  spricht  sich  über  die  Häufigkeit  gewisser  Würfe  aus^j, 
welche  mit  drei  Würfeln  geworfen  werden  können.  Der  niederste 
Wurf  sei  3  und  könne  nur  auf  eine  Weise  entstehen,  nämlich  durch 
1   auf  jedem  Würfel.     Auch  4  könne  nur   auf  eine  Weise  entstehen. 


^)  Summa  fol.  194  recto,  bis  197  verso.     ^)  Ebenda  fol.  197  recto.     ')  Libri 
11,  188  Note. 


328  57.  Kapitel. 

durch  1  auf  zwei  Würfeln  und  2  auf  dem  dritten.  Aehnlich  verhalte 
es  sich  mit  den  beiden  höchsten  Würfen  18  und  17,  für  die  es 
gleicherweise  nur  je  eine  Möglichkeit  gebe.  Alle  anderen  Würfe 
seien  in  mehrfacher  Weise  zu  bilden,  z.  B.  5  =  1  +  1-|"3 
=  1  -\-  2  -\-  2  u.  s,  w.  Die  nur  in  einer  Art  möglichen  Würfe  heissen 
azari.  Der  Ursprung  dieses  Wortes  ist  das  arabische  asar,  schwierig, 
und  von  ihm  ist  das  spätere  liasard  abgeleitet.  Man  sieht,  dass  auch 
hier  die  Gleichstellung  des  Wurfes  3  mit  dem  3  mal  wahrschein- 
licheren Wurfe  4  mangelhaft  war,  und  mangelhaft  blieb  die  Behand- 
lung von  Fragen  der  Wahrscheinlichkeitsrechnung  noch  geraume  Zeit, 
auch  nachdem  die  Mathematiker  begonnen  hatten,  sich  mit  ihnen 
zu  beschäftigen. 

Wir  kehren  zur  Berichterstattung  über  die  Summa  zurück  und 
zwar  zum  11.  Tractate  der  9.  Distinction,  de  scripturis'^).  In  ihm  ist 
eine  gedrängte,  aber  scharf  und  klar  gefasste  Anweisung  zur 
doppelten  Buchhaltung  gegeben,  die  erste  derartige  Lehre  in 
einem  Werke  über  Rechenkunst.  Ei-finder  der  doppelten  Buchhaltung 
war  Paciuolo  wohl  gewiss  nicht.  Es  dürfte  fraglich  sein,  ob  diese 
Art  die  Geschäftsbücher  einzurichten  und  zu  führen  überhaupt  abend- 
ländischen Ursprunges  war,  oder  ob  sie  sei  es  von  Arabern,  sei  es 
von  Juden  herrührt.  Es  ist  auch  keineswegs  unmöglich,  dass  in 
Venedig,  wo  die  doppelte  Buchhaltung  jedenfalls  ihre  zweite,  wenn 
nicht  ihre  erste  Heimath  hatte,  schon  vor  der  Summa  Lehrgänge 
dieser  Kunst  vorhanden  waren;  aber  jedenfalls  besitzen  wir  sie  nicht 
gedruckt  und  haben  sie  gewiss  nicht  entfernt  so  viel  zur  Verall- 
gemeinerung der  doppelten  Buchführung  beigetragen  als  die  Summa, 
welche  durch  die  Vollständigkeit,  in  welcher  sie  erschien,  ihren  Ein- 
fluss  ungemein  hob. 

Dieser  beabsichtigten  Vollständigkeit  sollte  zuversichtlich  auch 
der  12.  und  letzte  Tractat,  der  sogenannte  Tarif^),  la  tariffa  de 
tutti  costumi,  dienen.  Unter  Tarif  ist  genau  dasselbe  verstanden,  was 
man  heute  Münz-,  Maass-  und  Gewichtsvergleichungstafeln  nennt, 
damals  nur  um  so  umfangreicher  und  nothwendiger,  als  jedes  der 
kleinen  und  kleinsten  Staatswesen  Italiens  eifersüchtig  an  seinen 
Sondergewohnheiten  festhielt,  die  von  denen  der  Xachbarn  abwichen, 
mochte  man  auch  im  engsten  Handelsverkehr  mit  ihnen  stehen.  Von 
dem  Tarife  wissen  wir,  was  wir  von  der  Anweisung  zur  doppel- 
ten Buchhaltung  nur  für   nicht   ausgeschlossen   halten:    es  gab  einen 


*)  Summa  fol.  197  verso  bis  fol.  211  recto.  Eine  deutsche  Uebersetzung 
mit  zahlreichen  Anmerkungen  bei  E  L.  Jäger,  Luca  PaccioU  und  Simon  Stevin 
nebst  einigen  jüngeren  Schriftstellern  über  Buchhaltung  (Stuttgart  1876. 
*)  Ebenda  fol.  211  verso  bis  224  verso. 


Luca  Paciuolo.  329 

solchen^)  vor  Erscheinen  der  Summa.  Er  ist  1481  in  Florenz  ge- 
drnckt  und  führt  den  Namen  Lihro  dl  mercatantie  et  Usance  dei  Paesi. 
Ein  gewisser  Chiarini  soll  ihn  verfasst  haben,  wenn  eine  solche  Zu- 
sammenstellung überhaupt  einem  Verfasser  zugeschrieben  werden  kann. 
Sie  pflegt  allmälig  zusammengetragen,  allmälig  vervollständigt  zu 
werden  und  gelangt  zum  Drucke,  wenn  sie  unentbehrlich  wird.  Wir 
stimmen  daher  durchaus  der  Ansicht  bei,  Paciuolo  habe  sich  durch 
die  Aufnahme  von  Chiarini's  Tafeln,  auch  wenn  sie,  wie  der  Fall  zu 
sein  scheint,  ganz  unverändert  erfolgte,  keines  Eingriffes  in  fremdes 
geistiges  Eigenthum  schuldig  gemacht,  ganz  abgesehen  davon,  dass 
das  Zeitalter  des  kaum  ein  halbes  Jahrhundert  alten  Buchdruckes 
geneigt  war,  geistiges  Eigenthumsrecht,  auch  wo  es  unzweifelhaft 
vorhanden  war,  wenig  zu  achten.  Man  druckte  ein  Buch  in  einer 
Stadt,  man  sicherte  sich  in  dieser  Stadt  durch  ein  Privilegium  für 
eine  gewisse  Zeit  gegen  Nachdruck,  aber  den  Drucker  einer  anderen 
Stadt  unter  anderem  Landesherrn  hinderte  dieses  nicht  im  gering- 
sten, seine  Presse  in  Bewegung  zu  setzen,  wie  er  es  für  gut,  d.  h. 
für  nutzbringend  fand. 

Wir  haben  (S.  309)  gesagt,  die  Summa  bestehe  aus  zwei  Haupt- 
theilen,  einem  arithmetischen  und  einem  geometrischen,  deren  Blätter 
im  Drucke  je  einer  besonderen  Zählung  unterworfen  sind.  Ueber 
die  224  Blätter  des  I.  Theiles  haben  wir  berichtet,  wir  kommen  zu 
den  76  Blättern  des  II.  Theiles^).  Er  zerfällt  in  acht  Unterabthei- 
lungen, weil  es  acht  Glückseligkeiten  giebt^),  und  der  wesentliche 
Inhalt  wird  angekündigt  als  1.  Viereckige  und  dreieckige  Figuren 
zu  messen.  2.  Von  Linien,  welche  von  einem  Punkte  innerhalb  oder 
ausserhalb  eines  Dreiecks  ausgehend  dasselbe  schneiden.  3.  Fläche 
der  Figuren  von  vier  und  mehr  Seiten.  4.  Kreismessung  und  von  den 
Oberflächen  von  Bergen.  5.  Theilung  von  Oberflächen.  6.  Körperliche 
Inhaltsbestimmungen.  7.  Messen  durch  blosses  Anschauen.  8.  Schöne 
und  artige  Aufgaben  der  Geometrie.  Die  Aehnlichkeit  mit  dem  geo- 
metrischen Werke  Leonardo's  von  Pisa  liegt  für  jeden  Kenner  dieses 
letzteren  schon  aus  der  mageren  Ankündigung  zu  Tage.  Paciuolo 
sucht  sie  so  wenig  zu  verbergen,  dass  er  geradezu  sagt*),  er  folge 
meistentheils  dem  Leonardo  und  erkläi-e  zum  voraus  ihn  für  den 
Urheber  jedes  Satzes,   der  keinem  Andern  zugewiesen   sei.     Was  Pa- 


^)    Libri    III,    143    Note    2.  ')    Um    Verwechslungen    zu    vermeiden, 

citiren  -wir  diesen  IL  Theil,  der  durchweg  geometrisch  ist,  als  Summa  (Geom.). 
*)  Summa  (Geom.)  fol.  1  recto:  Divideremola  in  8  altri  parti  pa/rtiali  a  reverentia 
delle  8  beatitudine.  ^)  Ebenda    fol.  1  recto :   E  perche  noi  seguüiamo  per  la 

magiore  parte  Leonardo  Pisano,  lo  intendo  dechiarire,  che  quando  si  porra  alcuna 
proposta  senga  autore  quella  fia  di  detto. 


330  57.  Kapitel. 

ciuolo  so  bestimmt  ausspricht  bedarf  keiner  besonderen  Bestätigung, 
sonst  könnten  wir  sie  aus  den  meisten  Dingen  entnehmen,  von 
welchen  die  Rede  war,  als  die  Practica  Geometriae  des  Pisaners 
(S.  35 — 40)  behandelt  wurde. 

Wir  erwähnen  als  einziges  Beispiel  aus  der  1.  Distinction  den 
Beweis  der  heronischen  Dreiecksformel  ^),  sei  es  auch  nur,  um  daran 
anknüpfend  zu  bemerken,  dass  Paciuolo,  wenn  als  Abschreiber,  doch 
als  denkenden  Abschreiber  sich  erwies;  er  hat  einen  kurzen,  apa- 
gogischen  Zwischenbeweis  eingeschaltet"),  der  bei  Leonardo  fehlt. 
In  der  2.  Distinction  handelt  es  sich,  was  in  der  vorausgeschickten 
Inhaltsanzeige  nicht  klar  ausgedrückt  ist,  um  die  Länge  von  Linien, 
welche  irgend  zwei  gegebene  Punkte,  die  zu  einem  gegebenen  Drei- 
ecke in  Beziehung  stehen,  verbinden.  Die  letzte  Aufgabe  dieser 
Distinction  ist  z.  B.  folgende^)  (Fig.  66).  Die  Seite 
ac  eines  gegebenen  bei  &  rechtwinkligen  Dreiecks 
ahc  wird  bis  d  um  ein  gegebenes  Stück  cd  ver- 
längert, man  sucht  lid.  Sei  ac  =  b,  ah  ^  4,1)0  =  ^, 
ad  =  20.     Man   fällt   die  de   senkrecht  zu  ah,   so 

ist  de  ^=  — =  — ;—  =  12.    Aehnlich  findet  sich 

ac  5 

fle=16,  &e=ae  — «6  =  16  — 4  =  12,  hd  =  y2SS. 
Aus  der  3.  Distinction  erwähnen  wir  beispielsweise 
einige  Aufgaben.    Wie  gross  ist  die  Seite  des  Qua- 
drates,  dessen  Fläche  nebst  der   Seitensumme  140 
beträgt?^)    oc^  -\-  Ax  ^  140  und  a:  =  10.     Von  einem  Rechtecke  ist 
die  kleinere  Seite  6   und   das  Produkt  80   der  grösseren  Seite  in   die 
Diagonale   gegeben,   wie   gross   sind   die  beiden  letzteren  Strecken?^) 

■|/80M-(^y  +  ^  =  100  ist  das  Quadrat  der  Diagonale  10.  Wie 
Paciuolo  zu  dieser  Auflösung  gelangte,  ist  leicht  zu  erkennen.  Heisst 
die  Diagonale  x,  so  ist  —  die  grössere  Seite  und 


^^  =  ^  +  6^     ^''=80^-f6V,    ,r^  =  |+]/80^-f  (ly. 

Eine  Ungleichung  ist  in  folgendem  Satze ^)  ausgesprochen:  In  jeder 
gleichseitigen  und  gleichwinkligen  Figur  ist  das  Product  des  halben 
Durchmessers  des  Innenkreises  in  mehr  als  den  halben  Umfang  der 
Figur  grösser  als  der  Inhalt  des  genannten  Kreises.  In  der  4.  Distinction 


^)  Summa  (Geom.)  fol.  11  recto.  ^)  Darauf  hat  Hult seh  aufmerksam  ge- 
macht Zeitschr.  Math.  Phys.  IX,-  214  Note  49.  ^)  Summa  {Geom.)  fol.  14 
verso.  *)  Ebenda  fol.  16  recto.  '•')  Ebenda  fol.  19  recto.  ^)  Ebenda 
fol.  25  verso. 


Luca  Paciuolo. 


331 


ist  unter  Anderem  die  archimedische  Verhältnisszahl  3~    ähnlich  wie 

bei  Archimed  selbst  mit  Hilfe  des  regelmässigen  96-Ecks  abgeleitet^). 
Ueberdies  ist  eine  SehnentafeP)  vorhanden,  bei  welcher  ebenso  wie 
bei  der  Begründung  ihrer  Herstellung  wir  Leonardo  wiedererkennen, 
der  selbst  aus  dem  Almagest  schöpfte,  und  nicht  weniger  werden  wir 
an  Leonardo  erinnert,  wo  es  sich  um  Messungen  am  Abhänge  eines 
Berges  handelt^)  und  dabei  das  Arcliipendidum  (S.  38)  benutzt  ist. 
Ebenso  ist  die  5.  Distinction  von  den  Theilungen'*),  die  6.  von  den 
Körperausmessungen  ^),  die  7.  vom  praktischen  Feldmessen ^)  unter 
Anwendung  eines  Gnomons,  eines  Spiegels  u.  s.  w.  in  steter  Anlehnung 
an  Leonardo  bearbeitet. 

Eine  gewisse  Selbständigkeit  Paciuolo's  giebt  sich  ausser  in 
kleinen  Abänderungen,  von  denen  wir  eine  erwähnt  haben,  nur  in  der 
8.  Distinction''),  de  diversis  casibiis  idilissimis  indifferenter  positis,  zu 
erkennen,  wenigstens  in  den  100  vermischten  Aufgaben  derselben,  an 
welche  sich  zum  Schlüsse  noch  eine  Abhandlung  über  die  gewöhn- 
lichen Körper,  Farticidaris  tractatus  circa  corpora  re(jidaria  et  ordinaria 
anschliesst^).  Die  21.  Aufgabe  verlangt  in  ein 
Quadrat  die  zwei  grössten  Kreise  einzuzeichnen, 
die  darin  nebeneinander  Raum  finden.  Jeder 
der  beiden  Kreise  wird  der  sein,  der  dem  gleich- 
schenklig rechtwinkligen  Dreiecke  einbeschrieben 
ist,  welches  selbst  in  zweifachem  Vorhandensein 
durch  Ziehung  einer  Diagonale  des  Quadrates 
entsteht.  Man  ist  also  darauf  hingewiesen,  zu- 
nächst die  Aufgabe  zu  lösen,  den  Innenkreis 
irgend  eines  gleichschenkligen  Dreiecks  zu  finden, 
und  diese  Aufgabe  tritt  als  die  22.  auf.  Zieht  man 
(Figur  67)  vom  Kreismittelpunkte  aus  Verbin- 
dungslinien nach  den  Endpunkten  des  Dreiecks,  so  zerfällt  dasselbe  in 
drei  Dreiecke,  deren  gemeinsame  Höhe  der  Halbmesser  des  gesuchten 
Kreises  ist,  während  die  Seiten  des  Dreiecks  die  Grundlinien  darstellen. 
Die  Gesammtfläche  ist  also  das  Product  des  Halbmessers  in  den 
halben  Dreiecksumfang,  und  kennt  man  dieselbe  Fläche  nach  der 
heronischen  Formel  aus  den  drei  Seiten  des  Dreiecks,  so  berechnet  sich 
leicht  der  Kreishalbmesser.  Die  42.  und  die  77.  Aufgabe  sind  über- 
einstimmend,   und  zwar  ist   die  -Uebereinstimmung  nicht  etwa   einer 


Fig.  G7. 


0  Summa  (Geom.)  fol.  31.  «)  Ebenda  fol.  33.         »)  Ebenda  fol.  35  recto. 

*)  Ebenda  fol.  35   verso  bis  43  verso.         ^)  Ebenda  fol.  43  verso   bis  49  verso. 

®)  Ebenda  fol.  50  recto   bis   52  recto.         '')  Ebenda  fol.  52   verso   bis    68  verso. 
®)  Ebenda  fol.  68  verso. 


332  57.  Kapitel. 

Vergesslichkeit  des  Verfassers  zuzuschreiben,  sondern  beim  ersten 
Vorkommen  verweist  er  im  voraus  auf  die  77.  Aufgabe.  Beidemal 
werden  drei  concentrische  Kreise  von  der  Eigenschaft  gesucht,  dass  die 
Flächen  der  beiden  äusseren  Kreisringe  der  des  inneren  Kreises  gleich 
seien.     Bei  der  42.  Aufgabe  ist  6  als  Durchmesser  des  grössten  Kreises 

gesetzt.  Seine  Fläche  ist  daher  der  Zahl  (-]  =  9  proportional,  und 
dei-en  Drittel,  beziehungsweise  zwei  Drittel  sind  proportional  den 
Zahlen  3  und  6.  Demgemäss  sind  2  ")/3  =  yi2  und  2  ]/6  =  ]/24  die 
Durchmesser  des  inneren  und  des  mittleren  Kreises.  Bei  der  77.  Auf- 
gabe ist  7  als  Durchmesser  des  grössten  Kreises  gesetzt  und  zunächst 

22      /7\2  1 

dessen  Fläche  "  •  (  — I  =  38—  berechnet.    Auf  jeden  der  drei  gleichen 

5  .  .  2 

Flächentheile  fallen  somit  12—,  auf  zwei  Theile  25^.  Der  innere 
Durchmesser  ist  folsrlich 


V 


12^ 

r,    aui 

zwei   Theile  2b  ~ 

'14 
11  ' 

<- 

-v^. 

'14 
11  ' 

25|  = 

-]/.2l 

id  der  mittlere 


Die  44.  Aufgabe  lässt  aus  zwei  Säcken  von  gleicher  Höhe,  in  welche 
man  6  beziehungsweise  24  Maass  Frucht  einfüllen  kann,  durch  Zu- 
sammennähen der  Tücher  einen  einzigen  Sack  bilden  und  fragt,  wie- 
viel er  enthalten  werde.     Gerechnet  wird  folgendermassen: 


YG  -{-Y24:  =V{y6  +y24)'  =  ye  -f  24  +  2yT44  =y54 , 
also  sei  der  Inhalt  54  Maass.     Die  Meinung  ist  offenbar  die,  dass  bei 
h  als  Höhe  und  t\  beziehungsweise  r,  als  Halbmesser  des  ersten  und 
zweiten  gefüllten  Sackes,  deren  Rauminhalt  :t)\^h  =  v^  und  :trjh  =  v^ 

sein  müsse,  folglich  >"i  =  1/— V,  ^*2  ^  [/  ;  '  -^^^  Breite  dfer  beiden 
Sacktücher  ist  27t)\,  ^Ttr.-,,  zusammen  2:i{i\-\-  r^)  und  der  neue  Sack 
hat  also  zum  Rauminhalte 

^3  =  7c(i\  +  r^yh  =  fi  -f  ^2  +  SVt'iVg  • 
Irrig  ist  au  der  Rechnung  nur  das,  dass  die  Böden  der  Säcke  sowie 
der  oben  beim  Zubinden  nothwendige  Theil  derselben  ausser  Acht 
gelassen  sind.  Die  Aufgabe  51  verlangt  in  das  Dreieck  von  den 
Seiten  13,  14,  15  zwei  gleiche  Kreise  einzuzeichnen,  die  einander  und 
je  zwei  Dreiecksseiten  berühren.  Mit  allgemeinen  Buchstaben  ge- 
rechnet seien  (Figur  68)  a,  h,  c  die  Seiten,  h  die  daraus  ableitbare 
Höhe  des  Dreiecks  ABC,  x  der  gesuchte  Kreishalbmesser.     Das  ganze 

Dreieck  ABC  hat    den  Inhalt  -r--     Es   zerfällt  aber  in    die  Stücke 


Luca  Paciuolo. 


333 


ÄOP  =  x(h  —  x),     äOB  = 


APC 


BOT -{-C PN 


bx 
2x 


0PNT  =  2x'', 


Folglich  ist 
ah 

'¥ 
und 


=  hx  —  x^  -\-  ~  X  -\- 


ah 


X  +  2x^  -]-  ~  X  —  x^ 


2Ä  +  a4-fe  +  c 
In  dem  vorliegenden  Falle  ist 


a  = 
und 


15,     ö=13, 


14,     h  =  11 


168  14 

eil"    ^ 


Aelinliclie  Aufgaben,  welche  wir  aber 
nur  nennen,  ohne  über  die  Auflösungen 
zu  berichten,  folgen:  52.  In  ein  gleich- 
schenkliges Dreieck  drei  gleiche  ein- 
ander gegenseitig  und  je  zwei  Seiten  be- 
rührende Kreise  einzuzeichnen.  53.  54. 
55.  In  einen  Kreis  3,  4,  5  gleiche 
Kreise  einzuzeichnen,  von  denen  jeder 
zwei  benachbarte  und  den  gemeinschaft- 
lichen Umkreis  berühren  soll.  56.  In 
einen  Kreis  7  gleiche  Kreise  einzu- 
zeichnen, von  denen  einer  dem  Umkreis 
concentrisch  ist,  während  die  6  anderen 
je  2  benachbarte,  ausserdem  den  Um- 
kreis und  den  inneren  Kreis  berühren. 
Die  Aufgabe  61  verlangt  aus  dem  ge- 
gebenen Inhalte  eines  Dreiecks  die  Seiten 

zu  finden  unter  der  weiteren  Voraussetzung,  dass  die  Grundlinie  um 
1  grösser  als  die  eine,  um  1  kleiner  als  die  andere  Nachbarseite  sein 
soll.     Die  Höhe  trifft  die  Grundlinie  x  so,  dass  der  Abschnitt  an  der 


kleineren  Seite 


der  an   der  grösseren   Seite  -^  +  2   ist. 


Höhe  selbst   ist  also  T/t  ^^  —  3  und  die  Fläche  -^  1/—  x^  —  '^ 
dem  vorgelegten  Beispiele  soll  dieselbe  84  sein.     Hier  ist  also 


Die 
In 


^'  =  ^0^+1 


056, 


4x^  +  37636,     x'  =  )/37636  -f  2  =  196, 
c  =  yi9Ö  =  14 


334 


)7.  Kapitel. 


und  die  beiden  anderen  Seiten  x  —  1  =  13,  a:  -j-  1  =  15.  Die  Auf- 
gabe 76  verlangt,  in  das  Dreieck  mit  den  Seiten  13,  14,  15  solle 
ein  Halbkreis  beschrieben  werden,  der  die  Seiten  13,  15  berühre, 
während  der  Mittelpunkt  auf  der  Seite  14 
liege  (Figur  69).  Ist  e  der  Mittelpunkt  des 
gesuchten  Halbkreises  vom  Halbmesser  r, 
ad  die  Höhe  h  des  Dreiecks  ahc,  so  ist 
ah 


Aahe  = 


rig.  69. 


Aabc 


r,     Aace 


h,    also  r 


2 

bc 
ab  -\-  ac 


■h 


14 


^h 


Ov- 


Die  80.  Auf- 


und  in  den  gegebenen  Zahlen  r       i  -^  i  i  ,- 

gäbe  lässt  zwei  concentrische  Kreise  je  von  einer  Persönlichkeit  nach 
derselben  Richtung  durchlaufen,  und  die  81.  Aufgabe  weicht  nur 
darin  von  der  80.  ab,  dass  sie  die  Umlauf bewegungen  in  einander 
entgegengesetztem  Sinne  vollziehen  lässt.  Wenn  nun  die  Geschwindig- 
keiten beider  Personen  gegeben  sind,  und  sie  am  Anfange  der  Be- 
wegung auf  dem  gleichen  Halbmesser  sich  befanden,  so  fragt  es  sich, 
wann  ein  solches  Zusammentreffen  beider  wieder  stattfinden  werde? 
Diese  Aufgabe  hat  sammt  den  Zahlen,  welche  Paciuolo  angiebt,  sich 
auf  den  heutigen  Tag  fortgeerbt,  nur  dass  man  statt  von  zwei  Per- 
sonen^ von  den  beiden  Zeigern  einer  Uhr  zu  reden  pflegt,  von  welchen 
der  Minutenzeiger  12  mal  den  Umkreis  der  Uhr  durchläuft,  während 
der  Stundenzeiger  es  einmal  thut,  und  das  sind  eben  die  für  die 
beiden  Personen  angegebenen  Geschwindigkeiten.  Die  Zeichnung  zur 
Aufgabe  zeigt  überdies  die  beiden  Personen  so  gerichtet,  dass  ihre 
Bewegung  im  Sinne  des  Zeigers  einer  Uhr  verläuft.  Die  Versuchung 
liegt  sehr  nahe,  anzunehmen,  Paciuolo  oder  wer  ihm  nun  die  Aufgabe 
gestellt  haben  mochte,  habe  wirklich  an  eine  Uhr  dabei  gedacht,  und 
doch  würde  man,  glauben  wir,  im  Irrthum  befangen  sein,  gäbe  man 
dieser  Versuchung  nach.  Die  Erfindung  der  Taschenuhren  fäUt  zwar 
etwa  in  die  Zeit  des  Druckes  der  Summa,  während  grosse  Räderuhren 
schon  seit  dem  XIII.  Jahrhunderte  in 
Italien  in  Gebrauch  waren,  aber  gerade 
letztere  waren  zu  24  Stunden  von  1  bis 
24  eingetheilt,  und  bei  ihnen  musste  also 
der  Minutenzeiger  nicht  12,  sondern  24 
Umläufe  vollenden,  während  der  Stunden- 
zeiger einmal  umlief.  In  der  96.  Aufgabe 
(Fig.  70)  ist  ein  Dreieck  ahc  durch  seine  drei  Seiten  gegeben; 
ferner  ist   die   Entfernung  eines  Punktes  d  im   Innern   des  Dreiecks 


Luca  Paciuolo.  335 

von  den  Eckpunkten  h  und  c  gegeben;  man  sucht  die  Entfernung 
da  von  dem  dritten  Eckpunkte.  Rechnung  allein,  heisst  es,  sei  hier 
sehr  beschwerlich,  bequemer  sei  folgendes  Verfahren.  Die  Dreiecke 
ahc  und  dhc  sind  beide  ihren  sämmtlichen  Seiten  nach  gegeben.  In 
ihnen  kann  man  also  die  Hohen  ag,  df  finden,  sammt  den  Punkten 
g,  f  der  Grundlinie,  in  welche  diese  Höhen  eintreffen.  Fällt  g  mit 
/■  zusammen,  so  ist  einfach  ag  —  df  =  ad.  Fallen  die  Punkte  g, 
/"aber  nicht  zusammen,  so  ist  ag  —  df=ae,  hf — hg  =  de,  und 
ad  ist  die  Hypotenuse  des  rechtwinkligen  Dreiecks  mit  den  Katheten 
ae,  de.  Die  100.  und  letzte  Aufgabe  verlangt  in  eine  Halbkugel  den 
grössten  Würfel  zu  setzen.  Er  ist,  sagt  Paciuolo,  die  Hälfte  eines 
parallelopipedischen  Körpers  von  den  Dimensionen  2  zu  1,  der  der 
ganzen  Kugel  einbeschrieben  wird,  und  dessen  Diagonale  der  Kugel- 
durchmesser sein  muss  u.  s.  w.  Die  Auffindung  der  Diagonale  eines 
Parallelopipedons  ist  nämlich  schon  früher^)  nach  dem  bei  Leonardo 
von  Pisa  vorkommenden  Satze  (S.  39)  gelehrt,  und  es  ist  daher  als 
bekannt  angenommen,  dass  hier  die  Diagonale  .r-]/6  sein  muss,  wenn 
X  die  Würfelseite  bedeutet.     Ist  d  der  Kugeldurchmesser  und  zugleich 

jene    Diagonale,    so    findet   sich  x  ==  --=_  •     Die    wiederholt    genannte 

Diagonale  heisst  bei  Paciuolo  abwechselnd  axis  und  diamefro. 

Wir  sagten  (S.  331),  an  die  100  vermischten  Aufgaben,  von  denen 
wir  eine  ganz  beträchtliche  Anzahl  als  Probe  der  fast  fortwährend 
algebraischen  Behandlung  vorgeführt  haben,  schliesse  sich  noch 
eine  Abhandlung  über  die  gewöhnlichen  Körper.  Sie  füllt  etwa 
13  Druckseiten  und  enthält  wesentlich  Rechnungsaufgaben,  deren  Art 
gleich  aus  der  ersten  ersichtlich  ist,  in  welcher  es  darum  sich  handelt^), 
den  Körperinhalt  des  Tetraeders  zu  berechnen,  dessen  Kanten  alle  die 
Länge  ]/24  haben.  Die  Höhe  der  Grundfläche,  diametro  d'una  de  le 
hase,  ist  ^/(v^)'  —  {^^Y  =  ]/l8  ,  deren  Flächeninhalt 

|/24-]/l8=]/IÖ8, 

die  Höhe  des  Körpers^),  l'axis,  ist  4,  also  der  Körperinhalt 

~  •  4  •  y  1Ö8  =  1/192 . 

Auch  die  Division  durch  3  ist  an  dieser  Stelle  als  bekannt  betrachtet, 
da  in  einem  früheren  Abschnitte  gelehrt  wurde*),  wenn  man  den 
Rauminhalt   einer  Pyramide   zu  messen   beabsichtige,   müsse   ftian  die 


^)  Summa  (Geom.)  fol.  44  recto.  ')  Ebenda   fol.  68  verso.  ^)  Ebenda 

fol.  46  verso  über  die  Körperhöhe  des  Tetraeders.         *)  Ebenda  fol.  43  verso. 


336  57.  Kapitel. 

Grundfläclie,  welche  Gestalt  sie  immer  besitze,  cli  che  forma  sia,  mit 
dem  dritten  Tkeil  der  Höhe  vervielfachen. 

Wir  unterlassen  es,  andere  von  diesen  Aufgaben  zu  nennen  und 
erwähnen  nur  noch  einen  Gegenstand,  der  in  den  kurzen  der  ge- 
nannten Schlussabhandlung  vorhergehenden  Einleitungsworten  vor- 
kommt. Paciuolo  spricht  nämlich  hier  von  den  Modellen  der  regel- 
mässigen Körper,  le  forme  materiali,  welche  er  angefertigt  habe^). 
Er  will  im  April  1489  im  Palaste  des  Cardinais  Giuliano  della  Ro- 
vere  Monsignore  de  San  Pietro  in  vinculo  (später  Papst  Julius  II) 
eine  Sammlung  derselben  dem  Herzoge  Guidobaldo  von  Urbino  über- 
reicht haben.  Auch  in  einem  anderen  Werke,  von  dem  wir  noch  zu 
reden  haben,  in  der  Divina  Proportione,  erzählt  Paciuolo  von  drei 
solchen  Sammlungen  von  je  60  Modellen,  welche  in  Florenz,  in  Mai- 
land und  in  Venedig  sich  befänden.  Es  waren  nach  dieser  grossen 
Anzahl  zu  urtheilen  durchaus  nicht  nur  die  fünf  regelmässigen  Körper, 
sondern  auch  abgeleitete  Formen.  Lionardo  da  Vinci  hat  sie  für  die 
Divina  Proportione  seines  Freundes  (S.  307)  auf  59  Tafeln  in  vor- 
züglichen perspektivischen  Abbildungen  gezeichnet.  Der  Stoff,  aus 
welchem  die  Modelle  hergestellt  waren,  war  vermuthlich  nicht  Pappe 
oder  Holz,  man  hat  vielmehr  Grund,  an  aneinandergefügte  Glas- 
täfelchen zu  denken.  Wir  haben  (S.  306)  von  einem  Bildnisse  des 
Paciuolo  gesprochen,  welches  Piero  della  Francesca  malte.  Paciuolo 
ist  mit  seiner  Summa  vor  sich  dargestellt,  wonach  wir  das  Bild  als 
nach  1494  entstanden  bezeichnen  dürfen.  Aber  noch  eine  andere 
Einzelheit  von  jenem  Gemälde  wird  uns  berichtet:  von  oben  hingen 
einige  aus  Kry stall  gebildete  regelmässige  Körper  herab  ^),  und  diese 
Stelle  kann  man  kaum  anders  deuten,  als  wir  es  thaten.  Auf  die 
Körper  selbst  kommen  wir  mit  einigen  Worten  bei  der  Divina  Pro- 
portione zurück. 

Jetzt  erübrigt  uns  nach  dem  weitläufigen  Berichte,  den  wir  über 
die  Summa  erstattet  haben,  ein  verbindendes  Endurtheil  zu  fassen. 
Wir  fürchten  nicht,  den  Widerspruch  unserer  Leser  wachzurufen, 
wenn  wir  die  Summa  als  das  Werk  bezeichnen,  welches  das  Bedürfniss 
der  Zeit  forderte,  zugleich  als  das  Werk,  welches  dieses  Bedürfniss 
durchaus  befriedigte.  Es  war  reichhaltig  wie  kein  anderes  von  den 
im  Drucke  erschienenen,  ja  wie  kein  anderes  zeitgenössisches  Werk, 
das  uns  handschriftlich  erhalten  ist.  Es  begann  bei  den  ersten  An- 
fangsgründen  der  Rechenkunst   und  endete    mit  Anwendung  der  Al- 

»)  Staigmüller  in  der  Zeitschr.  Math.  Phys.  XXXIY,  Hist.-liter.  Abthl. 
S.  89,  97,  127.  -)  col  suo  libro  avanti  de  la  Somma  Aritmetica  et  alcuni  corpi 
regolari  finti  di  cristdllo  appesi  in  alto.  Bald.  Boncompagni  im  Bullet.  Bon- 
compagni  XII,  364. 


Luca  Paciuolo.  337 

gebra  auf  geometrische  Fragen,  welche  von  dem  heutigen  Leser  nicht 
ohne  Nachdenken  gelöst  werden  können.  Es  enthielt  Vorschriften, 
die  man  nicht  eigentlich  zur  Rechenkunst  zählen  konnte,  die  aber 
dem  Kaufmann  und  Allen,  welche  zu  Kaufleuten  in  Beziehung  standen, 
unentbehrlich  waren.  Es  stammte  aus  der  Feder  eines  Mannes,  der 
selbst  früher  in  kaufmännischen  Kreisen  lebend  diesen  Kreisen  dadurch 
bestens  empfohlen  war,  zugleich  eines  Mannes,  der  innerhalb  eines 
geachteten  Ordens  eine  nicht  unbedeutende  Rolle  spielte,  der  an 
Hochschulen  als  Lehrer  thätig  war,  und  der  darum  von  Geistlichen 
und  Gelehrten,  mochten  sie  noch  so  eifersüchtig  ihrer  Standesehre 
sich  bewusst  sein,  als  ebenbürtig  angesehen  werden  musste.  Und 
diesen  äusseren  Empfehlungen  entsprach  die  Form.  Um  ein  schönes 
Italienisch  zu  lernen  wird  man  freilich  eben  so  wenig,  als  um  sich 
in  einem  Latein  zu  üben,  welches  Cicero  Ehre  machen  würde,  die 
Summa  zur  Hand  nehmen!  Die  Sprache  ist  vielmehr  ein  geradezu 
barbarisches  Gemenge  von  schlechtem  Latein  mit  schlechtem  Italienisch 
und  konnte  in  Folge  dessen  ein  humanistisch  gebildetes  Ohr  oder 
Auge  nur  verletzen,  aber  war  man  über  diese  erste  Empfindung 
hinaus,  so  musste  die  anspruchslose  Naivität  des  Verfassers,  seine  red- 
liche Anerkennung  fremden  Verdienstes,  die  Klarheit  seiner  Aus- 
einandersetzung der  verschiedenen  Verfahren,  die  einleuchtende  Art 
seiner  Beweisführung,  wo  eine  solche  vorhanden  ist,  gewinnen.  Pa- 
ciuolo war  ja  kein  grosser  Mathematiker,  das  darf  man  ruhig  zugeben. 
Er  selbst  wiU  nie  für  einen  solchen  gelten.  Aber  so  unbedeutend, 
für  wie  manche  Schriftsteller  unseres  Jahrhunderts  ihn  verrufen  haben, 
war  er  denn  doch  nicht.  Wir  möchten  ihn  in  dieser  und  in  mancher 
anderen  Beziehung  den  Kästner  seiner  Zeit  nennen,  überschätzt 
während  seiner  persönlichen  Wirksamkeit,  später  unterschätzt,  sei  es 
von  Solchen,  die  nicht  merken  lassen  wollten,  wie  viel  sie  ihm  ver- 
dankten, sei  es  von  Solchen,  die  durch  die  Langathmigkeit  seiner 
Schriften  sich  niemals  hindurchgelesen  haben,  sei  es  endlich  von 
Solchen,  welche  ihrer  Zeit  weit  voraneilend  dem  Vorgänger  nicht  ver- 
zeihen konnten,  dass  sie  nichts  bei  ihm  zu  Jemen  fanden.  Worin 
aber  die  persönlichen  Verdienste  Paciuolo's  liegen,  ist  leicht  aus- 
zusprechen. Es  ist  erstens  immer  ein  Verdienst,  das  wissenschaft- 
liche Bedürfniss  einer  Zeit  zu  erkennen  und  ihm  Genüge  zu  thun. 
Es  muss  aber  Paciuolo  als  besonders  verdienstlich  nachgerühmt  werden, 
dass  er,  die  beiden  Schulen  der  praktischen  Rechenkunst,  von  welchen 
schon  so  häufig  die  Rede  war,  gleich  genau  kennend,  für  die  des 
Leonardo,  gegen  die  des  Jordanus  sich  entschied.  Man  sollte  nicht 
als  ein  Geringes  verachten,  dass  er  es  war,  der  die  Halbierung  und 
A'erdoppelung  verdammte  und  verbannte,  dass  er  dem  Dividieren  unter- 

Cantoe,  Geschiclite  der  Mathem.    II.     2.  Aufl.  22 


338  57.  Kapitel. 

wärts  Bahn  brach.  Man  sollte  noch  weniger  gering  achten,  dass  er 
auch  die  zahlentheoretischen  Lehren  des  grossen  Pisaners  den  Mathe- 
matikern Europas  im  Drucke  bekannt  gab,  und  dass  er  so  zu  neuen 
Untersuchungen  Anlass  gab,  die  praktisch  kaum  irgend  einen  Werth 
hatten,  aber  die  den  mathematischen  Scharfsinn  übten  und  ihm  zeigten, 
dass  es  ausserhalb  des  täglichen  Geschäftsgebrauches  Wissenswerthes 
und  der  Forschung  Bedürftiges  gebe.  Die  gleiche  Bedeutung  hat  für 
die  Förderung  geometrischen  Denkens  gehabt,  was  Paciuolo  aus 
Leonardo's  Practica  Geometriae  veröffentlichte.  Den  Zusammenhang 
aber  von  Algebra  und  Geometrie  hat  er  nun  gar  in  seinen  100  Auf- 
gaben zum  allgemeinsten  Bewusstsein  gebracht.  Nennen  wir  endlich 
die  Lehre  von  den  Gleichungen  selbst,  deren  Regeln  in  Verse  ge- 
bracht, dem  Gedächtnisse  leicht  eingeprägt  werden  konnten,  deren 
noch  nicht  gelösten  Fälle  dem  Leser  besonders  hervorgehoben  wurden, 
deren  Giltigkeitsbereich  aber  durch  die  sogenannten  proportionalen 
Fälle  eine  weite  Grenzhinausschiebung  erfuhr,  so  werden  hierin  Ver- 
dienste genug  genannt  sein,  um  unser  erstes  Urtheil  über  den,  der 
sie  sich  erwarb,  zu  rechtfertigen. 

Wir  sagten  (S.  308),  Paciuolo  habe  1509  in  Venedig  eine  Aus- 
gabe des  Euklid  veranstaltet.  Sie  fällt  dieser  Jahreszahl  nach  eigent- 
lich in  einen  späteren  Abschnitt  unserer  Darstellung.  Alle  Ueber- 
sichtlichkeit  müsste  jedoch  verloren  gehen,  wenn  wir  in  peinlichem 
Festklammern  an  den  zufälligen  Wechsel  des  Jahrhunderts  die 
Leistungen  eines  Mannes  regelmässig  auseinanderreissen  wollten. 
Andererseits  ist  Paciuolo's  Euklidausgabe  nicht  zu  beurtheilen,  ohne 
vorher  eine  andere  zu  nennen,  welche  1505  in  Venedig  im  Drucke 
erschienen  war,  und  welche  wir  also  gleichfalls  hier  vorweg  nehmen 
müssen.  Wir  haben  uns  (S.  291)  mit  der  Ratdolt'schen  Euklid- 
ausgabe von  1482  beschäftigt,  welche  den  dem  Arabischen  ent- 
stammenden Text  und  die  Anmerkungen  des  Campanus  enthielt.  Diese 
Ausgabe  war  wenig  mehr  als  10  Jahre  alt,  da  gelangte  eine  griechische 
Handschrift  der  euklidischen  Elemente  mit  Einschluss  der  sogenannten 
euklidischen  letzten  stereometrischen  Bücher,  aber  auch  der  Phäno- 
mena  und  der  verschiedenen  optischen  Schriften  Euklid's,  sowie  der 
Daten  in  den  Besitz  eines  Venetianers,  Bartholomaeus  Zam- 
bertus,  italienisch  Zamberti  genannt^).  Er  übersetzte  alle  diese 
Schriften  in's  Lateinische  und  that  dasselbe  für  den  Commentar 
des  Proklos  zu  den  euklidischen  Elementen.  Letztere  Uebersetzung 
ist  handschriftlich   noch   vorhanden").     Sie  trägt  die  Bemerkung,   sie 


*)  Weissenborn,    Die  Uebersetzungen   des   Euklid    durch    Campano    und 
Zamberti  S.  12—28.         -)  Cod.  lat.G  der  Münchener  Bibliothek.    Vergl.  Fried- 


Luca  Paciuolo.  339 

sei  1539  entstanden,  als  der  Uebersetzer  sein  66.  Lebensjahr  vollendet 
hatte.  Darnach  wäre  Zamberti  1473  geboren  und  hätte  die  Euklid- 
übersetzung in  der  Mitte  seiner  zwanziger  Jahre  veranstaltet.  Das 
ist  Alles,  was  wir  von  seiner  Persönlichkeit  wissen.  Wann  er  nämlich 
die  Euklidübersetzung  anfertigte,  wissen  wir  aus  der  Druckausgabe, 
welche  am  Ende  die  Jahreszahl  1505  trägt,  während  die  Elemente 
schon  im  Jahre  1500  gedruckt  waren,  so  dass  der  ganze  Druck 
fünf  Jahre  in  Anspruch  nahm,  vielleicht  in  Folge  kriegerischer  Ereig- 
nisse, die  damals  das  venetianische  Staatswesen  beunruhigten,  vielleicht 
weil  es  so  lange  währte,  bis  der  Druck  mit  einem  Privilegium  ver- 
sehen war.  Ne  quis  presens  opus  Venetiis  cudat  aut  alibi  impressum 
vendere  audeat:  midcta  adiiinda  lä  in  Privi  •  pressius  legitur^)  heisst 
die  Formel,  welche  wir  hier  beispielsweise  einmal  mittheilen.  Das 
Privilegium  war  auf  10  Jahre  ertheilt^).  lieber  diese  Zamberti'sche 
Euklidausgabe  von  1505  ist  Folgendes  zu  bemerken.  Zamberti 
hält,  gleich  allen  seinen  Zeitgenossen,  den  Mathematiker  Euklid  und 
Euklid  von  Megara  für  dieselbe  Persönlichkeit.  Er  sieht  in  ihm  auch 
nur  den  Urheber  der  Sätze,  während  Theon  als  der  Erfinder  der  Be- 
weise gilt.  Das  Auffinden  des  griechischen  Textes  hat  also  in  zwei 
wichtigen  Irrthümern  eine  Richtigstellung  hervorzubringen  nicht  ver- 
mocht; der  eine  Irrthum  blieb,  der  andere  veränderte  sich  dahin, 
dass  ein  fälschlich  angenommener  Urheber  der  Beweise,  Campanus, 
durch  einen  anderen,  Theon,  ersetzt  wurde,  dem  sie  ebensowenig  an- 
gehörten. Verbessert  sind  dagegen  manche  Uebersetzungssünden,  zu 
wekhen  der  Durchgang  durch  das  Arabische  früher  Veranlassung  ge- 
geben hatte,  und  da  jede  solche  Verbesserung  unter  herbem  Tadel 
gegen  Campanus  vorgenommen  wird,  da  die  von  diesem  gebrauchten 
Namen  helmuain  und  helmuariphe  als  barbarische,  unlateinische,  un- 
verständliche Zusätze  getadelt  werden^),  so  kann  an  der  Wahrheit 
des  Satzes,  so  auffallend  es  klingt,  Zweifel  nicht  entstehen:  Zamberti 
wusste  nicht  mehr,  was  nur  23  Jahre  früher  Gemeingut  der  wissen- 
schaftlich Gebildeten  gewesen  war  (S.  292),  dass  die  Ausgabe  des 
Campanus  auf  einer  Uebersetzuug  aus  dem  Arabischen  beruhte^).  Er 
glaubte,  dieser  sein  Vorgänger  habe,  ebenso  wie  er  selbst,  griechische 
Handschriften  benutzt,  und  diese  Meinung  wurde  von  den  meisten 
Zeitgenossen  Zamberti's  getheilt.  Eine  der  Stellen,  welche  Zamberti 
zu  ganz  besonders  eifrigem  Zorn  aufregte,  war  das  unglückliche  Miss- 
verständniss   im  V.  Buche   der  Elemente^),  von  welchem   wir  wieder- 


lein's  Ausgabe    des   Commentars    des   Proklos   (Leipzig   1873)   in   der  Notarum 
explicatio  unter  Z. 

1)  Weissenborn  1.  c.  S.  17  und  24.         ^)  Ebenda  S.  14.         ^)  Ebenda  S.  22. 
*)  Ebenda  S.  27.         ^)  Ebenda  S.  23. 

22* 


340  i>7.  Kapitel. 

holt  zu  sprechen  hatten.  Die  Bewegung,  welche,  wie  man  annehmen 
darf,  das  Erscheinen  des  Zamberti 'sehen  Euklid  verursachte,  bewog 
Paciuolo  seinerseits  auch  eine  Euklidausgabe  zu  veran- 
stalten •'^).  Es  war  eine  Ehrenrettung  des  Campanus  gegen  Zamberti, 
welche  er  beabsichtigt  haben  muss,  und  die  er  auf  Kosten  Ratdolt's 
vollzog.  Die  Werke  des  Euklid  von  Megara,  des  scharfsinnigen  Philo- 
sophen, des  unbestrittenen  Fürsten  unter  den  Mathematikern,  erzählt 
uns  der  weitschiehtige  Titel -),  seien  von  Campanus,  der  zuverlässigsten 
Mittelperson,  übersetzt  worden;  die  Schuld  der  Abschreiber  und  Buch- 
händler^) habe  die  Uebersetzung  so  verunstaltet,  dass  man  sie  kaum 
als  den  Euklid  anzuerkennen  vermöge.  Jetzt  habe  Lucas  paciolus  die 
Fehler  verbessert,  129  falsch  gezeichnete  Figuren  berichtigt  und  vieles 
Nothwendige,  auch  kleine  Erläuterungen  zu  schwierigen  Stelleu,  bei- 
gefügt. Der  Name  Zamberti's  kommt  im  ganzen  Buche  nicht  ein 
einziges  Mal  vor*).  Er  wird  einfach  todtgeschwiegen,  und  nur  ge- 
wisse kleine  Gegensätze  verrathen  dem  kundigen  Leser,  gegen  wen 
manche  verborgene  Bosheit  gemünzt  ist.  Zamberti  nannte  sich,  wo 
er  eigene  Bemerkungen  machte,  Interpres-^  Paciuolo  bedient  sich  dafür 
des  Ausdruckes  Castigafor.  Zamberti  wusste  gegen  Campanus  ein 
Füllhorn  von  Schmähworten  auszuschütten,  Pa.ciuolo  nennt  ihn  den 
zuverlässigsten,  besten,  vortrefflichsten  Uebersetzer  und  rühmt  seine 
Ausgabe  als  die  vollkommenste.  Zamberti  sagt,  seine  Ausgabe  be- 
ruhe auf  einem  griechischen  Texte,  Paciuolo  rühmt  dankbar  die  Hilfs- 
leistungen, welche  er  von  Scipio  Yagius,  einem  Manne  von  Er- 
leuchtung in  beiden  Sprachen,  womit  natürlich  die  griechische  Aind 
lateinische  Sprache  gemeint  sind,  erfahren  habe;  da  muss  wohl  der 
Wunsch  Paciuolo's  auf  Zamberti  gedeutet  werden,  es  möchten  doch 
auch  Andere  suchen,  sich  Wissen  anzueignen  und  nicht  bloss  zu 
prahlen  und  mit  dem,  was  sie  nicht  wissen.  Wind  zu  machen^), 
lieber  die  Anmerkungen  Paciuolo's  wissen  wir  durch  einen  Gelehrten, 
der  diese  seltenste  aller  Euklidausgaben  selbst  gesehen  hat,  und  der 
nichts  weniger  als  zu  den  Bewunderern  Paciuolo's  gehört^),  dass  sie 
neben  manchen  Trivialitäten  auch  praktische  und  nützliche  Winke 
und  Erklärungen  einzelner  Worte  enthalten,  dass  sie  neue  Beweise 
bringen,  die  aufzufinden  freilich  nicht  schwer  sei,  wenn  man  sich, 
wie  Paciuolo  häufig  genug  thue,  gestatte,  vom  Gedankengange  seines 


^)  Weisseuborn  1.  c.  S.  28  —  56.  —  Staigmüller  1.  c.  S.  94  —  95. 
*)  Weiss enborn  1.  c.  S.  30.  ^)  Das  Wort  lihrariorum  ist  gebraucht,  welches 
die  beiden  Bedeutungen  haben  kann  und  vermuthlich  hier  haben  sollte. 
*)  Weissenborn  I.  c.  S.  50.  ^)  Ätque  utinam  et  alii  cognoscere  vellent  non 

ostentare  aut  ea  quae  nesciunt  veluti  fumum  venditare non  conarentur.       ")  Weissen- 
born 1.  c.  S.  52. 


Luca  Paciuolo.  341 

Schriftstellers  abzuweichen  und  als  bekannt  anzunehmen,  was  erst 
später  folge,  dass  in  ihnen  endlich  auch  Verschiedenes  stecke,  was 
ein  für  die  damalige  Zeit  bedeutendes  Wissen  erkennen  lasse.  Wir 
finden  in  diesem  Urtheile,  insbesondere  unter  Berücksichtigung  der 
Meinung,  welche  derjenige,  der  es  aussprach,  sich  über  Paciuolo  ge- 
bildet hatte,  lediglich  eine  Bestätigung  unserer  eigenen  Ansicht  von 
der  wissenschaftlichen  Stellung  Paciuolo's  innerhalb  seiner  Zeit.  Von 
Einzelheiten,  welche  uns  berichtet  werden,  heben  wir  hervor,  dass 
zwei  Figuren  die  nicht  unzutreflFenden  Namen  des  Gänsefusses, 
jyes  anseris,  und  des  Pfauenschwanzes,  cauda  pavonis,  beigelegt 
sind^).  Es  sind  das  die  Figuren  zum  7.  und  8.  Satze  des  III.  Buches, 
welche  die  Länge  der  Strecken  betreffen,  die  von  einem  ausserhalb 
des  Mittelpunktes  liegenden  Punkte  innerhalb  des  Kreises  und  von 
einem  Punkte  ausserhalb  des  Kreises  nach  einem  Punkte  der  Kreis- 
linie selbst  gezogen  werden.  Wir  heben  ferner  hervor,  dass  Paciuolo 
am  11.  August  1508,  mithin  etwa  ein  Jahr  vor  dem  vom  Juni  1509 
datirten  Erscheinen  seiner  Euklidausgabe,  in  der  Bartholomäuskirche 
in  Venedig  vor  einem  Kreise  von  über  500  feingebildeten  Zuhörern, 
deren  einige  genannt  sind,  eine  Rede  oder  sollen  wir  sagen  eine 
Predigt  hielt-),  welche  die  Einleitung  zu  einer  Vorlesung  über  das 
V.  Buch  der  euklidischen  Elemente  bildete. 

Wir  kommen  zu  dem  dritten  Werke  Paciuolo's,  zu  seiner  Divina 
Proportione^)  von  1509,  Vom  Juni  1509  ist  nämlich  die  Druck- 
vollendung auch  dieses  Bandes  bestätigt,  während  die  Fertigstellung 
derjenigen  Abtheilung,  welche  eigentlich  als  Divina  Proportione  im 
engeren  Sinne  zu  bezeichnen  ist,  bis  auf  den  14.  December  1497 
zurückgeht,  als  Paciuolo  noch  in  Mailand  sich  befand.  Diese  eigent- 
liche Divina  Proportione  von  23  Blättern  setzt  im  Drucke  die  Blatt- 
zählung bis  zum  33.  Blatte  fort.  Die  Fortsetzung  besteht  in  einer 
wesentlich  dem  Vitruvius  entnommenen  Abhandlung  über  Baukunst, 
welche  aber  auch  andere  für  die  bildende  Kunst  bemerkenswerthe 
Dinge  enthält.  Daran  schliesst  sich  wieder  auf  27  besonders  mit 
Blattzahlen  versehenen  Blättern  ein  Buch  von  den  fünf  regelmässigen 
Körpern  und  solchen  Körpern,  welche  von  diesen  sich  ableiten.  Unter 
der  Divina  Proportione,  dem  göttlichen  Verhältnisse,  versteht  Paciuolo 
den  goldenen  Schnitt.  Er  bespricht  das  Vorkommen  desselben 
insbesondere  bei  regelmässigen  Körpern,  wie  es  in  dem  von  Hypsikles 
herrührenden    sogenannten    XIV.  Buche    des    Euklid   und    anderwärts 

')  Weissenborn  1.  c.  S.  42.  ^)  Ebenda  S.  44.  ^)  Kästner  I,  417— 
449.  —  Libri  III,  143—144.  —  Pfeifer,  Der  goldene  Schnitt  und  dessen  Er- 
scheinungsformen in  Mathematik,  Natur  und  Kunst  (Augsburg  1885),  S.  43  flgg.  — 
Staigmüller  1.  c.  S.  95—97. 


342 


57.  Kapitel. 


gelehrt  ist.  Von  den  regelmässigen  Körpern  leitet  aber  Paciuolo  auch 
andere  ab,  indem  er  zwei  ihm  eigenthümliche  stereometrische  Ver- 
fahren in  Anwendung  bringt,  das  Abschneiden,  abscindere,  und  Auf- 
setzen, elevare'^).  Es  sind  ähnliche  Veränderungen  gemeint,  wie  sie 
die  Natur  an  Steinformen  hervorbringt,  und  welche  von  einer  ein- 
fachen Grundgestalt  aus  verstanden  werden  können,  wenn  man  theils 
Abspaltungen,  theils  Verwachsungen  mannigfacher  Art  als  Ursache 
annimmt.  Das  Tetraeder  z.  B.  wird  abgeschnitten^),  indem 
an  den  vier  Ecken  des  Körpers  ein  dem  Ganzen  ähnliches  Stück, 
dessen  einzelne  Kanten  ein  Drittel  der  ursprünglichen  betragen,  ent- 
fernt wird.  Der  neue  Körper  ist  von  8  Ebenen  begrenzt,  von  welchen 
4  Sechsecke  und  4  gleichseitige  Dreiecke  sind.  Das  aufgesetzte 
Tetraeder  entsteht,  indem  auf  jeder  Körperfläche  ein  dem  ursprüng- 
lichen Körper  gleicher  Aufsatz  angebracht  wird.  Es  besteht  demnach 
aus  einem  inneren  und  4  äusseren  Tetraedern,  welche  jenes  ein- 
schliessen  und  verbergen.  Der  neue  Körper  hat  12  gleichseitige 
Dreiecke  als  Grenzflächen.  Dem  abgeschnittenen  Tetraeder  neuerdings 
Körperstücke  aufzusetzen  erklärt  Paciuolo  wegen  der  sechseckigen 
Flächen  für  unmöglich,  weil  diese  keine  körperlichen  Winkel  zu  bilden 
gestatten.  Das  ist  so  zu  verstehen:  Paciuolo  will  den  jedesmaligen 
Körperaufsatz  aus  lauter  gleichseitigen  Dreiecken  als  Grenzflächen  ge- 
bildet wissen.  Eine  Pyramide  über  einem  gleichseitigen  Sechsecke 
aber  kann  nur  gleichschenklige  Dreiecksflächen  besitzen.    Wollte  man 

sie  gleichseitig  wählen,  so 
würden  sie  nicht  zur  Pyramide 
sich  zusammensetzen,  sondern 
nur  eine  ebene  Deckung  des 
schon  vorhandenen  Sechsecks 
liefern,  welches  also  keine  kör- 
perlichen Winkel  zu  bilden 
gestattet  (Figur  71).  In  dem 
gleichen  Sinne  kann  Abschnei- 
den und  Aufsetzen  bei  allen 
regelmässigen  Köi'pern  vorge- 
nommen werden,  Aufsetzen  auf  einem  vorher  abgeschnittenen  Körper 
aber  beim  Oktaeder  und  beim  Ikosaeder  ebensowenig  wie  beim  Tetra- 
eder, wohl  aber  beim  Hexaeder  und  Dodekaeder.  Es  ist  für  Paciuolo 
kennzeichnend,  dass  er,  wo  er  vom  Hexaeder  zu  reden  anfängt,  hin- 
zufügt, dieser  Körper  sei  an  Gestalt  dem  teuflischen  Werkzeuge  ähn- 

•)  Kästner,  De  corporibus  regulär ibus  abscissis  et  elevatis  in  den  Commen- 
tationes  Societat.  Beg.   Scient.   Gottingensis  XII,   61 — 98   (1796).  *)  Kästner 

I,  428—429. 


Fig.  71. 


Luca  Paciuolo.  343 

lieh^  welches  man  Spielwürfel,  dado  oder  taxillo,  nenne.  Ausser  den 
regelmässigen  Körpern  werden  auch  halbregelmässige  geschildert,  und 
auch  an  ihnen  wird  das  Abschneiden  und  Aufsetzen  gelehrt.  Es  ist 
darauf  aufmerksam  gemacht  worden  \),  dass  Paciuolo  in  der  Divina 
Proportione  Buchstaben  als  Stellvertreter  allgemeiner  Zahlen  anwende. 
Er  sage  z.  B.,  wenn  drei  Grössen  gleicher  Art  gegeben  seien  —  denn 
sonst  finden  Verhältnisse  zwischen  ihnen  nicht  statt  —  und  die  erste 
sei  a  oder  9,  die  zweite  h  oder  6,  die  dritte  c  oder  4,  dann  stehen 
sie  in  dem  Verhältnisse  von  a  zu  h  u.  s.  w. 

Unter  mathematischen  Wörtern,  welche  Paciuolo  erklärt,  er- 
scheint auch  corausto^).  Wir  wissen  (Bd.  I,  S.  516  und  813),  dass 
dieser  Ausdruck  der  Sprache  der  römischen  Feldmessung  angehört, 
und  sehen  also  durch  ihn  den  Beweis  erbracht,  dass  Agrimensoren 
jetzt  auch  in  Italien  wieder  gelesen  wurden,  wie  der  gleiche 
Beweis  für  Deutschland  an  Johann  Widmann  (S.  235 — 236)  geführt 
werden  konnte. 

Wir  erwähnten  aber,  mit  der  eigentlichen  Divina  Proportione  sei 
eine  die  Baukunst  und  die  bildenden  Künste  überhaupt  betreffende 
Abhandlung  vereinigt.  In  letzterer  Beziehung  sind  vornehmlich  die 
Untersuchungen  über  die  Maasse  und  Verhältnisse  des  menschlichen 
Körpers  zu  nennen,  denen  vermuthlich  ähnlich,  über  welche  wir 
(S.  294)  als  von  anderen  Italienern  herrührend  berichtet  haben.  Ein 
auf  dem  Rücken  liegender  Mensch  solle  Arme  und  Füsse  so  weit  als 
möglich  auseinanderspreizen.  Die  Endpunkte  der  Mittelfinger,  der 
grossen  Zehen  und  das  Oberste  des  Kopfes  liegen  alsdann  auf  einer 
Kreislinie,  deren  Mittelpunkt  der  Nabel  ist^).  Die  Verhältnisszahlen 
des  menschlichen  Körpers  werden  in  ganzen  Zahlen  ausgesprochen, 
deren  keine  grösser  als  10  ist.  Nach  diesen  Verhältnisszahlen  ist  aber 
der  Riese  wie  der  Zwerg  gebaut. 

Wir  sprachen  oben  auch  schon  von  der  letzten  Abtheilung  des 
Bandes,  von  dem  Büchlein  von  den  regelmässigen  Körpern.  Man 
solle  sie  mit  den  umschriebenen  Kugeln  zusammen  betrachten,  dann 
könne  man  ihre  Abmessungen,  ihre  Flächen,  das  Verhältniss  eines 
Körpers  zu  einem  anderen  berechnen.  Den  Schluss  endlich  machen 
Zeichnungen,  welche  auf  den  gesammten  Inhalt  des  Bandes  sich  be- 
ziehen. Sie  sind  von  vollendeter  Ausführung,  was  nicht  Wunder 
nehmen  kann,  denn  kein  geringerer  Meister  als  Lionardo  da  Vinci 
(S.  336)  hat  sie  entworfen.  Paciuolo  setzt  seine  Leser  selbst  in 
Kenntniss    von    dieser  Hilfsleistunsr   seines   berühmten  Freundes,    der 


1)  Libri  III,  144,   Note  2.  *)  Kästner  I,   434,   Z.  2  v.  u.  ^)  Ebenda 

I,  437. 


344  ö8.  Kapitel. 

auch  nicht  ohne  Einfluss  auf  die  Abfassung  des  Werkes  gewesen  sei. 
Unter  den  Figuren  bemerken  wir  die  Herstellung  von  Buch- 
staben mittels  Zirkel  und  Lineal,  eine  Aufgabe,  von  der  wir 
bisher  nur  als  von  einer  solchen  reden  konnten,  mit  welchen  Araber 
sich  beschäftigt  haben  (S.  294). 

Dieses  ist  also  das  dritte  und  letzte  Werk  Paciuolo's,  von  welchem 
zu  reden  war.  Die  ihm  angehörende  Bildung  neuer  Körper  durch 
Abschneiden  und  Aufsetzen  stellt  wenigstens  seiner  stereometrischen 
Phantasie  ein  nicht  übles  Zeugniss  aus,  wenn  auch  nicht  mehr  als 
das,  da  die  mathematisch  bedeutsamen  Fragen,  zu  welchen  jene  neuen 
Körper  anregen  konnten,  unerörtert  bleiben.  Jedenfalls  aber  hat  die 
Divina  Proportione  mit  dazu  geholfen,  den  Namen  des  Verfassers  in 
weitere  und  weitere  Kreise  zu  tragen,  und  auch  dieser  Umstand  mag 
fördernd  für  die  wachsende  Einwirkung  seines  Hauptwerkes,  der  Summa, 
gewesen  sein. 


68.  Kapitel. 

Andere  Italiener.     Die  Franzosen  Cluiquet  und  Lefevre. 

Paciuolo  war,  wie  die  Schilderung  seines  Lebenslaufes  uns  ge- 
zeigt hat,  an  verschiedenen  Universitäten  Italiens  als  Lehrer  thätig, 
bald  da  bald  dort  seinen  wechselnden  Wohnsitz  aufschlagend.  Ein 
rascher  Tausch  innerhalb  der  Universitäten  Italiens  gehörte  geradezu 
zu  den  Eigenthümlichkeiten  dieser  Hochschulen,  unterstützt  durch  die 
Sitte,  dass  die  Professuren  fast  überall  nur  auf  wenige  Jahre  ver- 
liehen zu  werden  pflegten,  dann  erneuert  oder  nicht  erneuert  wurden, 
je  nachdem  die  Thätigkeit  des  Lehrers  eine  erspriessliche  gewesen 
war  oder  nicht,  je  nachdem  die  Anerbietungen,  die  man  ihm  machte, 
verlockender  als  das  von  anderwärts  Gebotene  schienen  oder  nicht. 
Die  kleinstaatliche  Nebenbuhlerschaft  der  italienischen  Hochschulen 
kann  nur  von  Solchen  verstanden,  aber  auch  gewürdigt  werden, 
welche  ähnliche  Verhältnisse  der  Wettbewerbung  zwischen  oft  nur 
wenige  Wegstunden  von  einander  entfernten,  aber  anderen  Landes- 
hoheiten untergeordneten  Bildungsanstalten  selbst  kennen  gelernt 
haben.  Ein  rasches  Leben  strömt  durch  solche  Schulen.  Sie  können 
und  dürfen  nicht  verknöchern.  Sie  müssen,  wenn  sie  es  auch  bei  der 
Ungleichheit  der  zur  Verfügung  stehenden  Geldmittel  nicht  in  Allem 
einander  gleich  thun  können,  versuchen,  in  irgend  einem  Fache  mit 
Glück  den  Wettkampf  aufzunehmen,  und  eine  derartige  Anstrengung 
aller    Kräfte    trägt    immer    einen    sicheren    Lohn:    das    Gedeihen    der 


Andere  Italiener.     Die  Franzosen  Chuquet  und  Lefevre.  345 

Wissenschaft  in  der  allen  Anstalten  gemeinsamen  grösseren  Heimath, 
mag  sie  immerhin  ein  einheitliches  Staatswesen  nicht  genannt  werden 
können.  So  kam  in  Italien  in  der  zweiten  Hälfte  des  XV.  Jahr- 
hunderts die  Mathematik  an  den  Universitäten  mehr  und  mehr  in 
Aufschwung,  mehr  und  mehr  in  die  Hände  von  eigentlichen  Fach- 
männern, ein  Uebergang,  der  allerdings  schon  50  Jahre  früher  (S.  204) 
begonnen  hatte. 

In  Piacenza^)  war  schon  um  das  Jahr  1400  eine  Professur  der 
Astrologie  vorhanden,  und  dort  ist  auch  die  Geburtsstätte  jenes 
Georg  Valla^)  gewesen,  der  humanistische  Studien  im  Dienste  der 
Mathematik  trieb.  Unter  Giovanni  Morliani  von  Mailand  machte 
es  sich  mit  dieser  letzteren  Wissenschaft  bekannt.  Sein  Hauptwerk 
ist  eine  Art  von  Encyklopädie,  welche  1501  nach  des  Verfassers  Tode 
durch  Aldus  im  Drucke  herausgegeben  wurde.  Sie  führte  den  Titel 
De  expeiendis  et  fugiendis  rebus  und  ist  wesentlich  auf  griechische  und 
römische  Ueberlieferung  gegründet,  während  arabisch-mittelalterliche 
Wissenschaft  bei  Seite  geschoben  war.  Die  Geometrie  scheint  in 
dieser  Encyklopädie  ganz  besonders  bedacht  gewesen  zu  sein.  Im 
3.  Kapitel  des  IV.  Buches  derselben  sei  eine  Abhandlung  von  den 
Kegelschnitten  enthalten,  die  erste  der  Zeitfolge  nach,  in  welcher 
ein  abendländischer  Schriftsteller  mit  diesen  Curven  sich  beschäftigt 
hat.  Im  37.  Kapitel  des  XL.  Buches  ist  auf  die  Stelle  des  Quintilian 
(Bd.  I,  S.  510 — 512)  aufmerksam  gemacht,  in  welcher  von  falschen 
Flächenschätzungen  aus  dem  Umfange  die  Rede  ist^).  Eine  Aufgabe, 
welche  Georg  Valla  sei  es  aus  dem  Liber  Geoponicus  des  Heron  von 
Alexandrien,  sei  es  aus  dem  Rechenbuche  des  Maximus  Planudes  ge- 
schöpft hat,  mag  er  mit  einer  dieser  Quellen  unmittelbar  oder  mittel- 
bar bekannt  geworden  sein,  hat  sich  bei  einem  Schriftsteller  des 
XVI.  Jahrhunderts  erhalten^).  Es  handelt  sich  um  die  Auffindung 
zweier  Zahlenpaare  von  gleicher  Summe  aber  derart  ungleichem  Pro- 
ducte,  dass  das  Product  der  beiden  ersten  Zahlen  zu  dem  der  beiden 
anderen  sich  wie  1  :  4  verhält. 

Die  vorzugsweise  mathematische  Universität  Italiens  war  Bologna. 
Sie  besass  zwei  Lehrstühle,  den  einen  für  Astrologie,  den  anderen  für 
Arithmetik  und  Geometrie.  Jeder  derselben  war  aber  mehrfach  be- 
setzt, d.  h.  es  waren,  was  in  der  Wirkung  auf  die  Pflege  der  Wissen- 
schaft ziemlich  auf  das  Gleiche  hinausläuft,  neben  dem  Inhaber  der 
Professur  noch  zwei,  drei,  vier  andere  Gelehrte  vorhanden,  deren  Namen 

')  Denifle,  Die  Universitäten  des  Mittelalters  bis  1400,  Bd.  I,  S.  571. 
*)  Libri  11,  272.  Note  1.  ^)  So  berichtet  Daniel  Schmenter,  Deliciae  mathe- 
maticae  pag.  125.  •*)  Cardanus,    Opera  IV,    179  (Lyon   1663).     Vergl.  auch 

Cantor,  Agrimensoren  S.  62. 


346  58.  Kapitel. 

wir  aus  den  Vorlesungsverzeichnissen  kennen^),  und  welche  zum  Unter- 
richte sich  erboten.  Man  darf  daran  wohl  die  Vermuthung  knüpfen, 
es  habe  sich  nicht  stets  um  den  gleichen  Lehrstoff  gehandelt,  und 
wenn  Vorschriften  aus  dem  Jahre  1404  eine  Regelung  des  astrologischen 
Unterrichts  und  eine  Vertheilung  desselben  in  vier  Jahresaufgaben 
beabsichtigen^),  wenn  wir  von  eigentlicher  Mathematik  in  diesem  Lehr- 
plane nur  dem  Rechnen  mit  ganzen  und  gebrochenen  Zahlen  und  den 
drei  ersten  Büchern  Euklids  (je  eines  in  jedem  der  drei  ersten  Jahre) 
begegnen,  während  die  längste  Zeit  durch  Astronomie  und  Astrologie 
im  heutigen  Sinne  dieser  Ausdrücke  in  Anspruch  genommen  war,  so 
dürfen  wir  vertrauen,  dass  auch  anderes  im  Flusse  Befindliches,  z.  B. 
die  nirgends  ausdrücklich  genannte  Lehre  von  den  Gleichungen,  den 
Studierenden  nicht  vorenthalten  blieb,  wenn  sie  nach  ihr  fragten. 
Gerade  Paciuolo's  Lehrthätigkeit  bestärkt  uns  in  dieser  Meinung. 
Niemand  zweifelt  daran,  dass  seine  Summa  aus  Vorlesungsheften  all- 
mälig  herausgewachsen  sei;  ihrem  Inhalte  entsprechende  Vorlesungen 
muss  er  folglich  gehalten  haben,  mögen  sie  auch  in  dem  Bologneser 
Verzeichnisse  für  1501  in  die  unscheinbaren  Worte  sich  verhüllen 
leggeva  Matematica,  er  las  über  Mathematik^).  Am  Schlüsse  des 
XV.  und  am  Anfange  des  XVI.  Jahrhunderts  waren  in  Bologna  gleich- 
zeitig vier  Männer  vorhanden,  deren  Nebeneinanderleben  nicht  gedacht 
Werden  kann,  ohne  die  edelsten  Früchte  für  die  mathematischen  Wissen- 
schaften zur  Reife  zu  bringen. 

Paciuolo  haben  wir  soeben  genannt.  Als  Astronom  lehrte 
gleichzeitig  Domenico  Maria  von  Novara,  als  Mathematiker 
Scipione  del  Ferro,  als  Studierender  weilte  dort  seit  October  1496 
Nicolaus  Kopperlingk  aus  Thorn^),  wenn  wir  die  Schreibweise 
des  Kassenbuches  der  Bologneser  Rechtsstudierenden  deutscher  Nation 
uns  aneignen,  womit  sie  den  Begründer  der  heutigen  Sternkunde  be- 
zeichnet. Den  novareser  Astronomen  haben  wir  nicht  anders  als  im 
Vorübergehen  zu  nennen.  Kaum  viel  ausführlicher  werden  wir  im 
folgenden  Zeitabschnitte  mit  seinem  deutschen  Schüler  uns  beschäftigen 
dürfen,  ohne  eines  Einbruches  in  das  uns  verschlossene  Gebiet  der 
Astronomie  und  ihrer  Geschichte  uns  schuldig  zu  machen.  Gleich- 
falls für  das  XVI.  Jahrhundert  sparen  wir  endlich  um  des  Zusammen- 
hanges mit  anderen  Männern  und  ihren  Leistungen  willen  Scipione 
del  Ferro,  den  Erfinder  der  Auflösung  der  kubischen  Gleichungen. 


^)  Malagola,  Bella  vita  e  delle  opere  di  Antonio  Urceo  detto  Codro  (Bo- 
logna 1878)  pag.  567—571  und  574.  *)  Ebenda  pag.  572—573.  ^)  Ghe- 
rardi,  Einige  Materialien  zur  Geschichte  der  mathematischen  Facultät  der 
alten  Universität  Bologna  (deutsch  von  Max.  Curtze),  Berlin  1871,  S.  44,  An- 
merkung 1.         ^)  Malagola  1.  c.  pag.  562. 


Andere  Italiener.     Die  Franzosen  Chuquet  und  Lefevre.  347 

Wir  verlassen  Italien  und  begeben  uns  nach  Frankreich  ^  wo  in- 
zwischen ein  Schriftsteller  aufgetreten  war,  den  wir  ohne  italienische 
Beeinflussung  nicht  verstehen  noch  würdigen  können.  Nicolas  Chu- 
quet aus  Paris  ^)  hatte  Medicin  studiert  und  in  dieser  Wissenschaft 
des  Baccalaureat  erworben.  Vielleicht  fand  diese  Erwerbung  in  Lyon 
statt,  wo  eine  berühmte  Aerzteschule  blühte.  Jedenfalls  begann  und 
vollendete  Chuquet  in  Lyon  im  Jahre  1484  ein  Werk,  welches  er 
Le  Triparty  en  la  sciencc  des  nonibres  benannte.  Es  ist  zwar  ausser 
in  unserem  Jahrhunderte  (1880)  niemals  gedruckt  worden,  fand  aber 
jedenfalls  handschriftliche  Verbreitung  und  wurde  im  XVI.  Jahr- 
hunderte von  einem  im  59.  Kapitel  zu  behandelnden  Schriftsteller 
so  umfassend  benutzt,  dass  das  Wort  „abschreiben"  nicht  selten  besser 
zutrifft  als  sogar  „ausschreiben".  Lyon  war  so  recht  der  Platz,  an 
welchem  die  Entstehung  eines  umfassenden  Rechenwerkes  von  der 
Art  dessen,  mit  welchem  wir  es  zu  thun  haben,  geplant  und  vor- 
bereitet werden  konnte.  Ein  grossartiger  Handel  befand  sich  dort 
in  wesentlich  italienischen  Händen^).  Eine  medicinische  Schule  sowie 
angesehene  Buchdruckereien  zeugen  von  wissenschaftlichem  Leben. 
Das  waren  ähnliche  Einflüsse,  wie  diejenigen,  welche  anf  Paciuolo 
wirkten,  und  mit  annähernd  gleichem  Erfolge.  Wir  behalten  es  uns 
vor,  am  Schlüsse  unserer  Auseinandersetzungen  einen  Vergleich  zwischen 
beiden  Schriftstellern,  dem  italienischen  Mönche  und  dem  französischen 
Arzneigehilfen  zu  ziehen;  hier  bemerken  wir  nur,  dass  die  Summa 
zehn  Jahre  später  gedruckt  worden  ist  als  der  Triparty  entstand,  dass 
somit  eine  Beeinflussung  des  letzteren  Werkes  durch  das  erstere  an 
dem  Widerspruch  der  Zeitfolge  scheitert,  wie  wir  das  Gleiche  auch 
für  die  weiter  oben  (S.  243 — 248)  besprochene  Dresdner  Algebra  mit 
gleicher  Bestimmtheit  behaupten  dürfen.  Die  umgekehrte  Beeinflussung 
Paciuolo's  durch  die  Dresdner  Algebra,  durch  den  Triparty  kann  eben- 
sowenig vermuthet  werden,  ist  auch  niemals  vermuthet  worden,  da 
damals  ein  italienischer  Kaufmann  es  einfach  für  lächerlich  gehalten 
hätte,  von  einem  Deutschen,  einem  Franzosen  Gegenstände  der  Rechen- 
kunst oder  der  Lehre  von  den  Gleichungen  erlernen  zu  sollen.  Wo 
also  Uebereinstimmungen  sich  finden,  werden  wir  an  gemeinsame  An- 
lehnung an  Vorgänger  aus  italienischen  Handelskreisen  zu  denken 
haben.  Wo  Uebereinstimmung  zwischen  Chuquet  und  Paciuolo  fehlt, 
werden  wir,  der  Neigung  des  letztgenannten  jede  mögliche  Vollstän- 
digkeit anzustreben  uns  erinnernd,  an  Eigenthümlichkeiten  Chuquet's 


^)  Ar  ist.  Marre,  Notice  sur  Nicolas  Chuquet  et  son  Triparty.  Bulletino 
Boncampagni  XIII,  585 — 592.  An  die  Abhandlung  schliesst  sich  dann  der  Ab- 
druck des  Triparty  selbst  an.         ^)  Marre  I.  c.  pag.  571,  Note  1. 


348  58.  Kapitel. 

denken  müssen,  insbesondere  bei  denjenigen  Stellen,  auf  welche  er 
ein  Erfinderrecht  geradezu  beansprucht. 

Triparty  en  la  science  des  nombres  nennt  Chuquet  das  in 
drei  Theile  zerfallende  Werk.  Der  1.  Theil  handelt  von  dem  Rechnen 
mit  rationalen,  der  2.  von  dem  mit  irrationalen  Zahlen,  der  3.  von 
der  Lehre  von  den  Gleichungen.  Die  Sprache  ist  eine  dem  heutigen 
Französischen  schon  ziemlich  nahestehende.  Eine  Accentbezeichnung 
kommt  indessen  noch  nirgend  vor. 

Beim  Zahlenschreiben  führt  die  Xull  den  Xamen  cMjfre  oder 
nuJle.  für  sich  hat  sie  nichts  zu  bedeuten,  de  soy  ne  vaiät  ou  signifie 
rien,  aber  indem  sie  eine  Stelle  einnimmt,  giebt  sie  denen,  die  vor 
ihr  sind,  einen  Werth.  Mais  eile  occupant  mig  ordre  fait  vcdoir  Celles 
qui  sont  apres  elle^).  Zur  bequemeren  Aussprache  werden  die  Zahlen 
von  rechts  anfangend  in  je  sechsstellige  Gruppen  abgetheilt,  wobei  man 
die  Anfangsstelle  jeder  auf  die  erste  folgenden  Gruppe  durch  ein 
Pünktchen  bemerklich  macht.  Das  Wort  Million,  Million  von 
Millionen  u.  s.  w.  bietet  Mittel  zur  Benennung  so  grosser  Zahlen. 
Man  kann  aber  auch  nächst  den  Millionen  die  Byllionen,  Tryl- 
liouen,  Quadrillionen,  Quyllionen,  Sixlionen,  Septyllionen, 
Octyllionen,  Nonyllionen  et  ainsi  des  aidfres  se  plus  oidtre  on 
voulait  proceder  unterscheiden-).  Bei  den  einzelnen  Rechnungsarten 
sind  überall  unbewiesene  Regeln  ausgesprochen.  Gewisse  Kunstaus- 
drückc  treten  dabei  auf,  welche  sich  in  Frankreich  unverändert  fort- 
erhalten haben,  so  das  garder,  im  Sinne  behalten,  bei  der  Addition, 
das  emp-imter,  borgen,  bei  der  Subtraction.  Die  geborgten  10  werden, 
wie  bei  den  Italienern,  durch  Erhöhung  der  nächsten  Subtrahenden- 
ziffer um  eine  Einheit  ersetzt^).  Beim  Multipliciren"*),  wo  es  sich 
um  den  nomhre  multipliant  und  den  nonihre  a  midtiplier  handelt,  ist 
in  Dreieck.sgestalt  das  kleine  Einmaleins  abgebildet,  laquelle  chose  est 
appelle  le  petit  liiiret  de  aJgorisme.  Die  sich  selbst  leicht  erläuternde 
Figur,  welche  aber  in  überflüssiger  Breite  erklärt  wird,  sieht  so  aus 
(s.  S.  349). 

Die  Multiplication  wird  mit  imter  einander  mit  Einrücken  an- 
geschriebenen Theilproducten,  aber  auch  schachbrettartig  gelehrt.  Bei 
dem  letzteren  Verfahren  ist  nur  von  kleinen  Viereckchen,  quadranglcs 
die  Rede,  ein  Wort  wie  ecldquicr  kommt  nicht  vor,  wiewohl  es  in 
Frankreich  in  verschiedenen  Bedeutungen  sehr  wohl  bekannt  war^). 
Beim  Dividiren   wird  der  diviseur  oder  partiteur  von   dem   nomhre  a 


^)  Triparty  im  Bullet.  Boncampagni  XTTT,  593.     ^)  Ebenda  pag.  594.     *)  Ebenda 
pag.  595.         *)  Ebenda  596 — 599.  ^)  Cantor,    Mathematische  Beiträge   zum 

Kulturleben    der  Völker  S.  133 — 135    über    eine    schachbrettartige  Buchung    in 
Frankreich  und  England. 


Andere  Italiener.     Die  Franzosen  Chuquet  und  Lefevre. 


349 


partir  unterschieden.  Das  Verfahren  selbst  erfolgt,  wie  nicht  anders 
zu  erwarten,  überwärts.  Das  dabei  übliche  allmälige  Verschieben  des 
Divisors  nach  rechts  heist  anteriorer.  Unmittelbar  an  die  Division 
schliessen  sich  die  Proben,  preimes,  und  zwar  die  durch  9,  deren 
Irrthumsquellen   im  Fehlen   von  Neunern    oder   von  Nullen   oder  im 


1 

1 

2 

3 

4 

5 

6 

7 

8 

9    0 

1 

2 

3 

4 

5 

6 

7 

8 

9 

0 

2 

2 

3 

4 

5 

6 

7 

8 

9 

0  [   / 

* 

6 

8 

10 

12 

14 

16 

18 

0  \   .'■ 

3 

3 

4 

5 

6 

7 

8 

9 

0 

9 

12 

15 

18 

21 

24 

27 

0 

4 

4 

5 

6 

7 

8 

9 

0 

/ 

16 

20 

24 

28 

32 

36 

0 

/ 

5 

5 

6 

7 

8 

9 

0 

/ 

25 

30 

35 

40 

45 

0 

/ 

6 

6 

7 

8 

9 

0 

/ 

36 

42 

48 

54 

0 

/ 

7 

7 

8 

9 

0 

49 

56 

63 

0 

s 

8 

9 

0 

/ 

64 

72 

0 

/ 

/ 

9 

9 

0 

/ 

81 

0 

/ 

0 

0 

/ 

0 

/ 

falschen  Anordnen  an  sich  richtiger  Ziflfern  bestehen  können^),  die 
durch  7,  welche  seltener  täuscht,  weil  die  7  den  angeschriebenen 
Ziffern  weniger  verwandt  ist^),  i^our  cause  que  7  a  moins  de  famüia- 
rite  avec  les  nomhres  que  9,  endlich  die  durch  entgegengesetzte  Rech- 
nungsverfahren. Nun  folgen  nomhres  Routz,  die  Brüche.  Numerateur 
und  Denominateur  sind  die  Namen  für  Zähler  und  Nenner;  reduire 
heisst  mehrere  Brüche  auf  gemeinsamen  Nenner  bringen;  ahreuier 
heisst  einen  Bruch  kürzen.  Das  Kürzen  tritt  namentlich  dann  ein, 
wenn  als  gemeinsamer  Nenner  mehrerer  zu  addirenden  Brüche  über- 
flüssigerweise das  Product  aller  Nenner  gewählt  wurde.  Es  kann 
allmälig  erfolgen,  aber  auch  auf  einen  Schlag,  indem  der  grösste  Ge- 
meintheiler  von  Zähler  und  Nenner  nach  euklidischer  Weise,  deren 
Erfinder  freilich  nicht  genannt  ist,  gesucht  wird.     Beim  Multipliciren 

von  Brüchen  ist  als  ein  Sonderfall    die  Vervielfachung   mit  — ,  ~.       . 

ö  2  '    3  '    4  ' 

')  Triparty  1.  c.  pag.  G02.         ^)  Ebenda  pag.  604. 


350  58.  Kapitel. 

—  hervorgehoben-,  diese  erzeuge  das,  was  man  mecUer,  tiercoyer,  qiiar- 

toyer,  quintoyer  nenne ^).  Davon,  dass  ein  Theil  dieses  Sonderfalles 
einmal  als  besondere  Rechnungsart  galt,  ist  ebensowenig  hier  die 
Rede  als  etwas  später,  wo  im  Anschlüsse  an  die  Divison  von  Brüchen 
des  Verdoppeins,  Verdreifachens,  Vervierfachens  Erwähnung  geschieht^). 
(Commeyit  on  peidt  doubler  tripler  et  quadrupler  tous  nomhres.)  Nach 
mehrfachen  Uebungsbeispielen  für  alle  Rechnungsarten  gelangt  Chuquet 
zu  den  progressions^),  d.  h.  zu  arithmetischen  Progressionen,  welche 
durch  Vervielfachung  der  Summe  des  ersten  und  letzten  Gliedes  mit 
der  halben  Gliedei'zahl  summiert  werden.  Der  Art  nach  und  un- 
beschadet der  einzigen  Summationsregel  giebt  es  vielerlei  Progressionen, 
ununterbrochene  deren  Differenz  1  ist,  progression  naturelle  ou  continue, 
und  unterbrochene  mit  von  1  verschiedener  Differenz,  progression  mter- 
cise  ou  discontinue,  wobei  das  Anfangsglied  in  beiden  Fällen  entweder 
die  Einheit  oder  eine  andere  Zahl  sein  kann.  Es  folgen  zahlen- 
theoretische Untersuchungen  nach  Art  deren,  welche  Boethius,  der 
auch  als  Vorbild  genannt  ist,  in  seiner  Arithmetik  vereinigt  hatte^j. 
(^Et  tout  ce  dit  hoete  en  son  arismetique.)  Wir  nennen  gerade  und  un- 
gerade Zahlen,  vollkommene  Zahlen,  welche  abwechselnd  6  und  8  als 
Randziffer  haben,  die  befreundeten  Zahlen  220  und  284  (von  welchen 
allerdings  bei  Boethius  nichts  steht),  die  Verhältnisse  in  ihrer  über- 
grossen Mannigfaltigkeit.  Die  geometrische  Progression^)  heisst  die 
der  nomhres  constitucz  par  ordonnance  continue  en  toutes  proporcions 
multiplex,  und  der  Quotient  je  zweier  aufeinanderfolgender  Glieder 
heisst  der  denominateur  des  Verhältnisses  jeuer  Zahlen.  Die  Summe 
wird  gefunden  durch  Division  mit  der  um  die  Einheit  verringerten 
Benennung  in  das  um  das  erste  Glied  verringerte  Product  des  letzten 
Gliedes  in  eben  jene  Benennung. 

Mit  den  Worten  De  la  midtiplicacion  et  propriete  des  nomhres 
proportionalz  eröffnet  sich^)  eine  hochwichtige  gemeinsame  Be- 
trachtung einer  arithmetischen  und  einer  geometrischen 
Reihe.  Die  arithmetische  Reihe  ist  die  mit  1  beginnende  Reihe  der 
natürlichen  Zahlen,  die  geometrische  Reihe  beginnt  mit  irgend  einer 
Zahl,  besitzt  aber  eine  dem  Anfangsgliede  gleiche  Benennung,  in 
Zeichen  geschrieben:  es  handelt  sich  um  die  Reihen 
1       2      3      •••       n 


Chuquet  hebt  hervor,   dass  das  Product  von   irgend   zwei  Zahlen  der 


^)  Triparty  1.  c.  pag.  Gll— 612.         -)  Ebqnda  pag.  612—613.         ^)  Ebenda 
pag.  617.     *)  Ebenda  pag.  619—628.       ^)  Ebenda  pag.  628.       ")  Ebenda  pag.  629. 


Andere  Italiener.     Die  Franzosen  Chuquet  und  Lefevre.  351 

unteren  Reihe  wieder  ein  Glied  derselben  Reihe  gebe,  und  dass  dessen 
in  der  oberen  Reihe  zu  suchende  Ordnungszahl  die  Summe  der  Ord- 
nungszahlen der  beiden  Factoren  sei.  Dem  Gedanken  nach  war  da- 
durch auf  ein  logarithmisches  Rechnen  hingewiesen,  wenn  es 
auch  noch  mehr  als  ein  Jahrhundert  dauern  sollte,  bis  aus  dem  zu- 
nächst unfruchtbaren  Gedanken  ein  wirkliches  Rechnen  wurde. 

Die  Regeldetri,  rigle  de  troys,  wird  gelehrt^)  und  auf  die  ver- 
schiedensten Aufgaben  angewandt,  auch  auf  solche,  die  mittels  ein- 
fachen und  doppelten  falschen  Ansatzes,  rigle  de  ime  posicion  und 
rigle  de  deiix  posicions,  gelehrt  werden-),  die  selbst  eine  Regeldetri 
voraussetzen.  Bei  solchen  Aufgaben  ist  von  negativen  Zahlen  unter 
dem  Namen  ung  moins  vielfach  die  Rede,  und  die  Regeln,  welche 
beim  Rechnen  mit  denselben  obwalten,  werden  genau  auseinander- 
gesetzt^). Moins  4  avec  10  l'addicion  monte  6  et  qui  de  10  soustrait 
moins  4  il  reste  14,  also  —  4  und  10  steigt  auf  6  und  —  4  von  10 
bleibt  14  heisst  es  einmal,  und  an  späterer  Stelle  im  IL  Theile  des 
Werkes  qui  multiplie  plus  par  plus  et  moins  par  moins  II  en  vieut 
plus.  Et  qui  multiplie  plus  par  moins  vel  a  contra  il  en  vient  tou- 
siours  moins,  oder  plus  mal  plus  und  minus  mal  minus  geben  plus, 
plus  mal  minus  oder  umgekehrt  geben  immer  minus.  Die  Zeichen*) 
der  beiden  Zahlenarten  sind  p'  und  m. 

Den  Abschluss  des  I.  Theiles  bildet  die  von  Chuquet  als  sein 
Eigenthum  in  Anspruch  genommene  Regel  der  mittleren  Zahlen, 
la   rigle  des  nomhres  moyens^).     Sie  besteht  in  der  Behauptung,   der 

Zahlenwerth  j—rrf  ^^^g^  immer  zwischen  -^  und  -^  •  Die  Richtig- 
keit der  Behauptung  zu  beweisen  fällt  allerdings  dem  Erfinder  nicht 
ein.      Sie    ergiebt    sich    am    einfachsten    durch    Bildung    der   beiden 

Ol  +  «2  ^  «1  h  —  Oj  h  A  «1^  «2  _  ^2  ^  Ol  b^  —  a^  bi 
K  b,  -f  b,  b,{b,  +  b,)  ""^  b,  +  b,  b,  b,{b,  +  b,)  ' 
welche  unter  der  einzigen  Voraussetzung,  dass  h^^  und  ft^  das  gleiche 
Vorzeichen  besitzen,  selbst  gleichen  Vorzeichens  sein  müssen.  Die 
Anwendung  dieses  Mittelwerthsatzes  wird  so  gemacht,  dass  man  zur 
Lösung  einer  Aufgabe  versuchsweise  zwei  Werthe  der  unbekannten 
Grösse  ansetzt,  deren  eine  zu  viel,  die  andere  zu  wenig  hervorbringt, 
und  dass  man  dann  fortwährend  neue  Versuchswerthe  aus  den  mitt- 
leren Zahlen  sich  bildet.  Ganzzahlige  Versuchswerthe  werden  der 
Regel  untergeordnet,  indem   man  sie  als  Brüche   mit  dem  Nenner  1 

1)  Triparty  pag.  631.  *)  Ebenda  pag.  638  bezw.  pag.  650.  ^)  Ebenda 
pag.  641  vom  Addiren  und  Subtrahiren,  pag.  722  vom  Multipliciren  positiver  und 
negativer  Zahlen.  ")  Ebenda  pag.  655.  ^)  Ebenda  pag.  643—654.     Schon 

pag.  632  kündigt  Chuquet  sie  mit  den  Worten  an.-  Je  y  ay  adiouste  la  rigle 
des  iwmbres  moyetis. 


352  58.  Kapitel. 

13 

betrachtet.  Es  soll  z.  B.  die  Gleichung  x^  -j-  ^'  =  ^^sT  gelöst  wer- 
den, und  mau  findet  a;  =  —  zu  klein,  rr  =  — -  zu  gross.  Der  erste 
Mittelwerth  heisst  v-^r--,  =  v  ^^^  zeigt  sich  beim  Versuche  zu  klein. 
Der  zweite  Mittelwerth  ist  -s^ri   ^^  T '      ^^    erweist   sich    zu  klein. 

Der   dritte  Mittelwerth   !,  T^  "=  X    besitzt    die    gleiche    Eigenschaft. 

23-1-6         29 
Der  vierte  Mittelwerth    ,    ,    ,   ==  —  giebt    erst    ein    zu  Grosses ,    und 

4  -[-  1  o     °  ' 

2.3  29  .       ■  23-1-29  52     - 

somit  ist  ietzt  zwischen  ~  und  V  der  Mittelwerth  -, — ,—^  =  ^  dem 

•^  4  5  4  -}-  5  9 

Versuche  zu  unterwerfen.  Er  erweist  sich  als  richtig,  und  die  Auf- 
gabe ist  gelöst.  Man  erkennt  sofort,  dass  nach  dieser  Methode  jede 
Gleichung  näherungsweise  aufgelöst  werden  kann,  wenn  man  die 
Mühe  der  jedesmal  neu  anzustellenden  Versuchsrechnung  nicht  scheut. 
Man  erkennt  ebenso,  dass  die  Wahl  irgend  einer  anderen  Versuchs- 
grösse  z.  B.  des  arithmetischen  Mittels  zwischen  einem  zu  Grossen 
und  einem  zu  Kleinen  genau  die  gleiche  Berechtigung  hätte.  Aber 
man  kann  nicht  leugnen,  dass  für  den  Chuquet'schen  Mittelwerth  als 
Vorzug  sein  verhältnissmässig  langsam  anwachsender  Nenner  geltend 
gemacht  werden  kann. 

Der  2.  Theil  des  Triparty  behandelt,  wie  wir  es  angekündigt 
haben,  Irrationalzahlen.  Genauer  gesprochen  werden  Wurzelgrössen, 
seien  sie  rational  oder  irrational,  für  sich  und  in  Verbindung  mit 
anderen,  also  ebenfalls  rationalen  oder  irrationalen  Zahlen,  der  Unter- 
suchung unterworfen^).  Wurzeln,  sagt  der  Verfasser  zur  Einleitung 
in  dieses  Buch,  giebt  es  vielerlei,  zweite,  dritte,  vierte,  fünfte  Wurzeln 
und  so  endlos  fort.  Erste  Wurzeln  giebt  es  nicht,  racines  premieres 
ne  se  trouvent  pas.  Wollte  man  pour  cause  de  continuacion  de  ordre, 
um  die  Ordnungszahlen  fortzusetzen,  von  solchen  reden,  so  müsste 
man  sagen,  erste  Wurzel  sei  jede  einfache  Zahl.  Als  Zeichen  der 
Wurzel  dient  ein  ß  mit  rechts  erhöht  angebrachter  Ordnungszahl. 
Es  ist  also 

^112  =  12,  rM6  =  4,  r364_4^  ^^6  =  2,  ^5243  =  3. 
Die  zweiten  und  dritten  Wurzeln  seien  von  den  Alten  Quadrat-  und 
Kubikwurzeln  genannt  worden,  für  vierte  Wurzel  sagen  Manche 
Quadratwurzel  der  Quadratwurzel.  Soll  eine  Wurzel  aus  einer  aus 
zwei  Theilen,  deren  einer  selbst  eine  Wurzel  ist,  bestehenden  zusam- 
mengesetzten Zahl   gezogen  werden,    so  unterstreicht  man  die  zusam- 


^)  Triparty  pag.  654. 


Andere  Italiener.     Die  Franzosen  Chuquet  und  Lefevre.  353 

mengesetzte  Zahl   und  nennt  das  Verlangte   eine  verbundene  Wurzel, 
racine  lyee.     Beispielsweise  ist 

R^UlTRnSO  so  viel  wie  ?>^^^b, 

R^7p'B.^40      ist  R22p'R25 

Sind  die  unter  dem  Wurzelzeichen  zusammengesetzten  Grössen  durch 
iT  verbunden,  so  ist  es  gleichgültig,  welche  Grösse  rechts  und  welche 
links  von  dem  fT  geschrieben  wird,  ganz  anders  wenn  m  das  ver- 
bindende Zeichen  ist.  Wurzelgi'össen  können  auf  gleiche  Wurzel- 
benennung gebracht  werden  ^),  z.  B.  R^  und  R.^  beide  auf  R^.  So  ist 
K-5p'R2  3  in  Rg  17017  R'^  7500  p'  R^2352  zu  verwandeln  und 
R^4p'R-6  in  R^  22  p'R^  384.  Die  erste  der  beiden  hier  angegebenen 
Verwandlungen  ist  nicht  ohne  Wichtigkeit.  Es  lässt  sich  ihr  ent- 
nehmen, dass  die  Erhebung  von  5  p'R-3  zur  dritten  Potenz  so  er- 
folgte, das  erst  die  zweite  Potenz  28p'R-300  gebildet  und  diese 
dann  wiederholt  mit  5p'R^3  vervielfacht  wurde.  Wäre  die  Binominal- 
formel  für  die  Erhebung  zur  dritten  Potenz  benutzt  worden,  welche 
man,  wie  aus  der  Ausziehung  der  Kubikwurzeln  hervorgeht,  doch 
kannte,  so  hätte  die  umgewandelte  Form  R«  170  p'Rn6875  p"  R^27 
lieissen  müssen.  Die  Ausziehung  der  Quadratwurzel  wird  in  muster- 
haft klarer  Weise  gelehrt^).  Keine  Quadratzahl  besitzt  2,  3,  7,  8  als 
Randziffer,  das  Vorkommen  einer  solchen  beweist  also,  dass  man  es 
mit  einer  unvollkommenen  Wurzel,  racine  Imparfaide,  zu  thun  habe, 
bei  deren  Aufsuchung  die  Benutzung  der  Mittelwerthregel  empfohlen 
wird.  Zweite  Wui'zeln  aus  Brüchen  zu  ziehen  muss  man  die  Wurzel 
des  Zählers  und  die  des  Nenners  für  sich  suchen.  Geht  dieses  nicht, 
so  hat  man  den  betreffenden  Bruch  durch  Erweiterung  in  eine  solche 
Form  zu  bringen,  dass  entweder  der  Zähler  oder  der  Nenner  ein 
genaues  Quadrat  werde;   welches  von  beiden  erreicht  wird,  darauf  ist 

keinerlei   Gewicht  gelegt.      So   verwandelt  Chuquet  die  R^  —  ebenso- 

.25  35 

wohl  in  R^  —  als  in  R^      •     Später  dagegen  ^),  wo  das  Rechnen  mit 

zusammengesetzten  Irrationalitäten  gelehrt  wird,  ist  das  Rational- 
machen des  Nenners  eines  Bruches  durch  Erweiterung  mittels  einer 
von  ihm  nur  im  Vorzeichen  abweichenden  Zahl  ausdrücklich  vor- 
geschrieben: II  fault  multiplier  le  partiteur  par  ung  nombre  qui  soyt 
a  lay  egal  en  nombre  et  dissemblant  en  plus  ou  en  moins.     So  wird 

- — Q-^uirj —  mit  6  m  R-  7    erweitert    und    giebt  — — oder 


^)  Triparttj  pag.  658— G59.     ^)  Ebenda  pag.  69.8—699.      ■■)  Ebenda  pag.  7.S1. 
Cantok,  Geschichte  der  Mathem.   n.    2.  Aufl.  23 


354  58.  Kapitel. 

R"  %IT  ^  ^^  841  ^^^^  ^^  ^'  ^^^  letztgenannte  Ergebniss  zu  finden, 
musste  freilich  vorher  die  Addition  und  Subtraction  von  Wurzel- 
grössen  durchgenommen  werden,  wozu  Rechnungsverfahren  führen, 
welche  auf  der  Grundlage  der  Formel  (]/a  -j-yhy  =  a  ~\-  h  ^  Y^ab , 

also  auch  ]/a  ih  V^  =  ^^  +  ^  ih  V^aö  beruhen,  und  welche  vor- 
aussetzen, dass  ah  ein  vollständiges  Quadrat  sei^).  An  die  Aus- 
ziehung der  zweiten  Wurzeln  aus  Brüchen  reihen  sich  Wurzelaus- 
ziehungen höherer  Ordnung  an.  Kubikzahlen  können  jede  Ziffer  als 
Randziffer  besitzen,  es  giebt  mithin  kein  äusseres  Zeichen,  dem  man 
die  Irrationalität  einer  dritten  Wurzel  sofort  entnehmen  könnte.  Die 
Ausziehung  der  dritten  Wurzel  aus  vollkommenen  Kubikzahlen  wird 
erörtert.  Die  Anweisung  dazu  ist  auch  ganz  richtig,  aber  sehr  gut 
weiss  Chuquet  offenbar  mit  der  Ausführung  nicht  umzugehen.  Was 
nun  gar  irrationale  dritte  Wurzeln  betrifft,  so  könne  mau  ähnlich 
verfahren  wie  bei  den  zweiten  Wurzeln,  d.  h.  Mittelwerth versuche 
anstellen,  aber  ce  n'est  qua  temps  perdu  et  labeur  sans  vtilite  ne 
aulcune  necessite,  es  ist  nur  verlorene  Zeit  und  Mühe  ohne  Nutzen 
und  Nothwendigkeit  -).  Bei  den  vierten  Wurzeln  kann  die  Bemerkung 
von  Nutzen  sein,  dass  die  Randziffer  0,  1,  5,  6  sein  müsse.  Bei- 
spielsweise sei  R*  30  4980  0625  zu  suchen^).  Wie  bei  der  zweiten 
und  dritten  Wurzel  zwei-  und  dreiziffrige  Gruppen  gebildet  werden, 
so  hat  man  bei  der  vierten  Wurzel  deren  von  je  vier  Ziffern  abzu- 
trennen. Die  äusserste  dritte  Grappe  links  heisst  30  und  zeigt,  dass 
die  höchste  Ziffer  der  Wurzel  nur  2  sein  kann.  Die  Randziffer  5 
lässt  auf  die  gleiche  Randziffer  der  Wurzel  schliessen.  Wenn  also 
eine  genaue  vierte  Wurzel  vorhanden  ist,  so  muss  sie  zweihundert- 
fünf und  irgend  ein  Zehner  heissen.  Man  dividiert  nun  in  30  4980  0625 
mit  225,  245,  235.  Letztere  Division  geht  auf  und  giebt  den  Quo- 
tienten 12977875.  Den  theilt  man  wieder  durch  235  und  findet  den 
Quotienten  55225,  der  sich  endlich  als  235  mal  235  erweise.  So  solle 
man  es  auch  bei  anderen  Zahlen  machen,  wenn  man  es  nicht  vorziehe 

1^2  30  4980  0625  =  55225  und  R^  55225  =  235 
zu  rechnen.  Dass  Chuquet  wirklich  an  die  Ausführbarkeit  solcher 
Rechnungsverfahren  dachte,  zeigt  sein  linket  des  racines^),  d.  h.  eine 
Tabelle  der  zehn  ersten  Potenzen  der  Zahlen  1  bis  10,  zeigt  ferner 
eine  Zerlegung  höherer  Wurzelausziehungen  in  niedrigere^).  ^^  sagt 
Chuquet  ist  1\^^^-,  R»^  ist  R'^R-;  R^-  ist  R^R^  aber  auch  R^R^  oder 
R^R^R^  u.  s.  w. 


^)  Tnparty  pag.  712  flgg.  ^)  Ebenda  pag.  703.  ^)  Ebenda  pag.  704. 

")  Ebenda  pag.  705.         '")  Ebenda  pag.  707—708. 


Andere  Italiener.     Die  Franzosen  Chuquet  und  Lefevre.  355 

Wenn  wir  als  Inhalt  des  dritten  Theils  die  Lehre  von  den  Glei- 
chungen angekündigt  haben,  so  scheint  dieses  mit  der  Ueberschrift  ^) 
La  tierce  et  derreniere  partie  de  ce  liure  qui  trade  de  Ja  rigle  des 
Premiers  nur  schlecht  in  Einklang  zu  bringen.  Wie  passt  rigle  des 
Premiers  zu  Gleichungen?  Es  beruht  dieses  auf  einer  Ausdrucks- 
weise, deren  Erfindung  Chuquet  sich  wenigstens  mittelbar  durch  die 
Worte  zuschreibt^),  die  Alten  hätten  Sache,  cJiose,  genannt,  was  er 
Erstzahl,  premier  nenne.  Das  wäre  also  ein  neuer  Name  für  die  un- 
bekannte Grösse,  welche  als  Länge  aufgefasst  auch  Linear  zahl 
nomhre  linear  heissen  kann.  Aber  mit  diesem  einen  neuen  Namen 
gehen  andere,  geht  zugleich  eine  ganze  Bezeichnung  Hand  in  Hand, 
welche  von  höchster  Wichtigkeit  ist.  Chuquet  sagt  nämlich  von  ein- 
fachen Zahlen,  sie  hätten  gar  keinen  Namen,  beziehungsweise  den 
Namen  Null,  sans  aulcune  denominaeion  ou  dont  sa  denominacion 
est  0.  Er  geht  dann  in  der  Benennung  aufwärts.  Zweitzahlen, 
nomhres  seconds,  sind  ihm  die,  welche  früher  cliamps  genannt  wurden. 
Drittzahlen  nomhres  tiers,  Viertzahlen  nomhres  quarfz  sind  die  früher 
ad)ics  und  champs  de  champs  genannten.  Damit  hört  Chuquet's  Ver- 
gleichung  der  alten  und  der  neuen  Benennungen  auf,  aber  nicht  die 
neuen  Benennungen  selbst,  die  unzählbar  sind,  veu  quelles  sont  Innu- 
merables.     Auch  vier  alte  Bezeichnungen  führt  Chuquet  an 

ß  tf  D  +tf 
für  die  vier  ersten  Potenzen  der  Unbekannten.  Er  ersetzt  sie, 
und  nicht  sie  allein,  durch  kleine  rechts  erhöht  ange- 
schriebene Zahlen.  Ihm  ist  also  12"  die  Zahl  12,  während  12^, 
12^,  12^'  nach  heutiger  Bezeichnung  12a;,  12a;^,  12x^  bedeuten.  Er 
bleibt  sogar  dabei  nicht  stehen  und  scheut  sich  nicht  8^  multiplie 
par  7^""  monte  56-  zu  schreiben^),  um  ^x^  ■  1  x~'^  =  66x^  damit  aus- 
zudrücken. Es  ist  ein  ungeheurer  Fortschritt,  dem  wir  gegenüber- 
stehen, und  wir  wissen  kaum,  ob  wir  mehr  die  Kühnheit  zu  bewun- 
dern haben,  welche  negative  Exponenten  einzuführen  wagte,  oder 
die  Folgerichtigkeit,  welche  einen  Exponenten  0  schuf.  Die  Dresdner 
Handschrift  hatte  ja  (S.  244)  etwas  dem  Exponenten  0  wenigstens 
AehnHches,  und  dadurch  steigt  unsere  Bewunderung  der  hei  Chuquet 
allein  sich  zeigenden  negativen  Exponenten. 

Der  Vergleich,  welchen  wir  zwischen  dem  Triparty  und  der 
Dresdner  Algebra  leise  angedeutet  haben,  ruft  eine  andere  Frage  mit 
Nothwendigkeit  hervor:  wie  verhält   sich  Chuquet  zu   Oresme? 


^)  Triparty  pag.  736.         *)  Ebenda  pag.  737.  =*)  Ebenda  pag.  740.     Eine 

vollständige  Reehnungsanweisung  für  ähnliche  auch  additiv  oder  subtractiv  mit 
einander  verbundene  Potenzen  pag.  740 — 746. 

23* 


356  58.  Kapitel. 

Letzterer  hat  reiehlicli  100  Jahre  vor  Chuquet  gelebt.  Er  hat  eine 
Potenzreehnung  mit  gebrochenen  Exponenten  erfunden,  welche  aller- 
dings nur  in  einer  Handschrift  sich  erhalten  hat,  während  ein  anderes 
Werk  des  berühmten  Verfassers  1482  und  abermals  1486  gedruckt 
worden  ist,  also  gerade  zur  Zeit,  als  Chuquet  1484  den  Triparty  ver- 
fasste,  hochgeschätzt  worden  sein  muss,  um  so  rasch  einen  neuen 
Abdruck  zu  verstatten.  Sollte  damals  Chuquet  aus  einer  anderen 
Handschrift  des  Oresme'schen  Proportionenwerkes  (noch  heute  sind 
deren  wenigstens  fünfzig  vorhanden)  jene  ältere  Erfindung  kennen 
gelernt    und   ausgebeutet  haben? 

Wir  glauben  dieser  Frage  ein  ganz  bestimmtes  Nein  entgegen- 
setzen zu  dürfen.  Erstens  war  Oresme's  Bezeichnung  doch  die  einer 
ganz  anderen  Sache.  Oresme  rechnete  mit  Potenzen  bestimmter 
Zahlengrössen,  welche  dann  freilich  bald  ganzzahlige,  bald  gebrochene 
Exponenten  besassen,  aber  nicht  mit  Potenzen  der  Unbekannten,  die 
Chuquet  wenigstens  bei  seiner  symbolische.^  Bezeichnung  durch  rechts 
erhöhte  Exponenten  allein  im  Auge  hat,  wenn  auch  seine  Verglei- 
chung  arithmetischer  und  geometrischer  Progressionen,  auf  welche  er 
im  dritten  Theile  neuerdings  zu  reden  kommt  ^),  genügend  zeigt,  dass 
der  Begriff  der  Potenzen  gegebener  Zahlen  ihm  nicht  minder  klar 
war.  Zweitens  aber  können  wir  gerade  die  gebrochenen  Exponenten 
zum  Beweise  nehmen,  dass  Chuquet  von  Oresme's  Vorgängerschaft 
nichts  wusste.  Es  ist  geradezu  undenkbar,  dass  Chuquet  durch  eine 
von  ihm  in  Erfahrung  gebrachte  Anwendung  gebrochener  Exponenten 
auf  seine  ausgiebige  Benutzung  der  Potenzbezeichnung  geführt  wor- 
den sein  sollte,  und  die  gebrochenen  Exponenten  selbst,  so  noth- 
wendig  zum  Ausbau  seines  Systems  sie  waren,  beseitigt  hätte.  Zu 
dieser  Annahme  wären  wir  aber  gezwungen;  denn  Wurzelexponenten, 
d.  h.  solche,  die  rechts  erhöht  neben  R  stehen,  kommen  im  dritten 
Theile  des  Triparty  wie  in  den  vorhergehenden  massenhaft  vor, 
nirgend  aber  gebrochene  Exponenten. 

Ein  Beispiel  mit  Wurzelgrössen  ist  folgendes.     Aus 


V 


lä-'  =  12 


19 


wird  geschlossen    1—- a;^  ^  144,  x^=\2b,  x  =  ö.     Bei    Chuquet^) 
sieht  das  Beispiel  so  aus:  R^  ^^  w^  ^^^  egale  a  12.     Or  multiplie  chas- 

cune  partie  en  soy  si  auras  I^ts^  dune  part  et  144  de  laultre.    Partir 
maintenant  le   nombre   par  le   tiers    et    trouveras    R^  125   qui  est   5. 


^)  Triparty  pag.  740 — 741.         *)  Ebenda  pag.  765. 


Andere  Italiener.     Die  Franzosen  Chuquet  und  Lefevre.  357 

Wir   unterlassen    nicht    auf   die   Schreibweise    1^  — —  aufmerksam    zu 

125 

machen,  bei  welcher  der  gemischtzahlige  Zahlencoefficient  die  unbe- 
kannte Hauptgrösse  zwischen  sich  nimmt.  Sie  erinnert  etwas  an  die 
Stellung  des  Proportionalitätsbuchstaben  p  in  (S.  133)  Oresme's 


aber  wir  sind  überzeugt,  dass  diese  kleine  Aehnlichkeit  den  erwähnten 
Verschiedenheiten  gegenüber  nicht  als  für  eine  Anlehnung  ausschlag- 
gebend betrachtet  werden  wird. 

Nein,  italienische  Muster  waren  es,  wie  wir  wiederholen  dürfen, 
denen  der  Verfasser  der  Dresdner  Algebra,  denen  Chuquet,  denen 
Paciuolo  folgte,  und  wenn  bei  Paciuolo  und  Chuquet  die  Wurzel- 
bezeichnungen so  genau  zusammentreffen,  dass  ein  gemeinsamer  Ur- 
sprung dieser  Zeichen  nicht  Von  "der  Hand  zu  weisen  ist,  so  dürfen 
wir  in  den  rechts  erhöht  oder  nicht  erhöht  dem  R  beigegebenen 
Wurzelexponenten  den  Keim  zu  erkennen  haben,  aus  welchem  Chu- 
quet's  positive  und  negative  Exponenten  entstanden  sind. 

Das  eben  zum  Abdrucke  gebrachte  Beispiel  einer  Chuquet'schen 
Gleichungsauflösung  liess  schon  eine  merkwürdige  Aehnlichkeit  mit 
dem  heutigen  Verfahren  hervortreten.  Ein  anderes  Beispiel  mag  den 
Eindruck  noch  vertiefen.  Es  handelt  sich  bei  diesem  Beispiele^)  um 
das  Rationalmachen  einer  Gleichung.  Chuquet  behandelt  hier  die 
Gleichung,  equipolence  des  nonibres,  wie  folgt,  indem  wir  nur  wenige 
Zwischenworte  weglassen: 

^2 42^41  p  21p- 1  egaulx  a  100 
R^42'p4^  dune  part  et  99  m  2^  daultre 
42  p'41  egaulx  a  9801  5i396^p^42 
400^  dune  part  et  9801  daultre. 

Weiter  ist  die  Ausrechnung  nicht  geführt,  und  auch  heute  würde 
man  sich  leicht  damit  zufrieden  geben,  am  Schlüsse  die  einer  Auf- 
lösung nahezu  gleichkommende  Gleichung  400.r  =  9801  auftreten 
zu  sehen,  wenn  ]/4a;-  -{-  4x  -\-  2x  -{-  1  =^  100  den  Ausgang.spunkt 
bildete. 

Andere  Gleichungen  werden  auf  andere  Schlussgestalten  zurück- 
geführt, deren  es  im  ganzen  vier  giebt,  die  sogenannten  canons ,  ein 
Wort,  bei  welchem  man  sofort  der  Canonen  im  Bamberger  Rechen- 
buche, der  als  Canones  betitelten   metrischen   Gleichungsauflösungen 

^)  Trrparty  pag.  746. 


358  58.  Kapitel. 

bei  Paciuolo  sich  erinnern  wird.  Die  vier  Formen  Chuc[uet's  sind^) 
nach  heutiger  Schreibart: 

1.  ax""  =  hx"+^  2.  ax"  +  hx''+^  =  cx"'+^^ 

3.  ax"  =  hx"+^  +  cx"+^'^      4.  ax"  +  cx"+^^  =hx^+^. 

Das  sind  vier  von  den  sieben  Algorismen  der  Dresdner  Algebra 
(S.  245);  aber  welcher  Fortschritt  der  Klarheit  von  dort  zu  Chuquet, 
welcher  Fortschritt  auch  gegenüber  den  proportionalen  Gleichungen 
Paciuolo's,  welche  dieser  (S.  322)  erst  am  Ende  deiner  Lehre  von 
den  Gleichungen  zur  Sprache  brachte,  während '  Chuquet  von  dem 
allgemeinen  Falle  ausgeht ,  ihn  allein  behandelt ,  d  =  1  nur  als 
nebensächlichen  Sonderfall  betrachtet,  der  besondere  Beachtung  nicht 
bedarf. 

Zahlreiche  Beispiele  dienen  freilich  mit  Recht  auch  bei  Chuquet 
zur  Einübung  sämmtlicher  vier  Fälle,  und  sie  werden  uns  zu  einigen 
Bemerkungen  Anlass  geben.  Gleich  beim  ersten  Canon  meint  Chu- 
quet^'), die  Denominationen  der  beiden  Glieder  müssten  verschieden 
sein,  denn  Ax^  =^  Ax^  (4^  egal  4^)  gestatte  gar  keine  Folgerung 
(ceste  raison  ne  conclut  riens)  und  9x^=^dx'^  (9^  egal  5-)  sei  un- 
möglich (la  raison  est  impossible).  Für  Chuquet  wie  für  Paciuolo 
(S.  322)  gab  es  also  keine  Auflösung  x  =  0,  und  ebensowenig  wird 
dieses  bei  ihren  Vorgängern,  wie  sie  geheissen  haben  mögen,  der 
Fall  gewesen  sein. 

Dass  beim  vierten  Canon  zwei  Wurzelwerthe  erscheinen,  je  nach- 
dem die  vorkommende  Quadratwurzel  addirt  oder  subtrahirt  wird, 
sagt  der  Verfasser  gleich  bei  der  ersten  Schilderung  der  vier  Cano- 
nen^).  Er  kommt  bei  Gelegenheit  einzelner  Beispiele  darauf  zurück, 
und  hier  weist  er  darauf  hin,  dass  bald  zwei  Auflösungen,  bald  gar 
keine  möglich  sei.  Letzteres  wenn,  nachdem  die  ganze  Gleichung 
durch  den  Coefficienten  des  höchsten  Gliedes  getheilt  wurde,  das 
Quadrat  des  halben  Coefficienten  des  mittelhohen  Gliedes  kleiner  sei 
als  der  Coefficient  des  niedersten  Gliedes.     Aus  12 -|- 3:r^  =  9  a;  folge 


-|±14^, 

/  3  \  2 

woraus  die  Unmöglichkeit  sich  zeige,  weil  (^j  <  4:    H  sensuit  que 
ceste  raison  est  impossible. 


*)  Triparty  pag.  748 — 749.  Die  gleich  weit  von  einander  abstehenden 
Potenzen  besitzen  differances  de  nombre  egalement  distans  lune  de  laultre.  Ist 
der  Abstand  1,  so  hat  man  denominacions  prochaines,  ist  er  grösser,  so  sind 
letztere  non  prochaines.  *)  Ebenda  pag.  750.  ')  Ebenda  pag.  749  und  dann 
später  pag.  805. 


Andere  Italiener.     Die  Franzosen  Chuquet  und  Lefevre.  359 

Die  vier  Canonen  erschöpfen,  wie  Chuquet  sich  deutlich  bewusst 
ist,  keineswegs  alle  erdenkbaren  Fälle.  Er  schliesst  darum  sein  Werk 
mit  folgender  Aeusserung  ^) :  „Zur  Vollendung  und  Erfüllung  dieses 
Buches  bedarf  es  noch  der  Auffindung  allgemeiner  Regeln  und  Ca- 
nonen für  drei  Glieder  von  ungleicher  gegenseitiger  Entfernung, 
auch  für  vier  oder  mehr  Glieder,  mögen  sie  gleicher  oder  ungleicher 
gegenseitiger  Entfernung  sein.  Diese  Fälle  lassen  wir  für  Solche, 
welche  tiefer  eindringen  wollen."  Klarer  konnte  die  Aufgabe  der 
Zukunft  gewiss  nicht  ausgesprochen  werden! 

Die  Handschrift,  aus  welcher  der  Triparty  herausgegeben  ist, 
lässt  demselben  eine  sehr  grosse  Anzahl  der  verschiedenartigsten 
Aufgaben  nachfolgen,  welche  auf  Rechenkunst,  auf  Algebra,  auf  Geo- 
metrie, auf  Handelsgeschäfte  aller  Art  sich  beziehen.  Leider  ist 
dieser  Anhang  nicht  vollständig  veröffentlicht,  sondern  nebst  kurzer 
Einleitung  nur  der  Wortlaut  von  166  Aufgaben  sammt  ihren  Auf- 
lösungen-), aber  ohne  die  Auflösungswege,  welche  nur  im  Allgemeinen 
als  algebraische  bezeichnet  werden.  Eine  dieser  Aufgaben,  und  zwar 
eine,  welche  in  der  Handschrift  ziemlich  weit  hinten  steht,  ist  eine 
chronologische  und  bietet  den  Vortheil,  welchen  solcherlei  Aufgaben 
nicht  selten  zeigen,  auf  die  Zeit  der  Niederschrift  sich  zu  beziehen. 
Sie  sagt^):  maintenant  que  Ion  compte  1484  et  le  2^  Jour  de  mmj, 
ist  also  in  der  gleichen  Zeit  entstanden,  in  welcher  der  Triparty  ge- 
schrieben ist,  und  dieser  Umstand  verbunden  mit  dem  anderen,  dass 
die  Aufgaben  einen  Anhang  zum  Triparty  bilden,  haben  Veranlassung 
gegeben,  die  ganze  Sammlung  Chuquet  zuzuschreiben.  Manche  Auf- 
gaben der  Sammlung  hat  man  auch  in  einer  anderen  etwa  gleich- 
altrigen wiedererkannt.  Diese  letztere*),  niedergeschrieben  im  XV.  Jahr- 
hunderte in  Pamiers  (Departement  de  l'Arriege)  in  dem  romanischen 
Dialecte  der  Landschaft  Foix,  zu  welcher  jene  Stadt  gehört,  bedient 
sich  aber  bei  ihren  Auflösungen  nicht  der  Gleichungen.  Chuquet, 
wenn  er  wirklich  der  Urheber  der  166  gedruckten  Aufgaben,  oder 
mindestens  ihrer  algebraischen  Auflösungen  war,  ist  mit  rein  nega- 
tiven Auflösungen  wohl  vertraut.  Die  Aufgabe  XIV  führt  zu 
der  Gleichung 

(|  +  |  +  20-^)(l-l-l)  =  10, 


*)  Triparty  pag.  814:  Reste  encore  pour  la  perfection  et  accomplissement  de 
ce  Hure  trouver  rigles  et  canons  generaulx  pour  iroys  differanccs  de  nombre  inega- 
lement  distans.  Et  encore  pour  quatre  ou  plusieurs  diff'erances  soient  egalement 
ou  inegalement  distans  lune  de  laultre.  Lesquelles  sont  delaissees  pour  ceulx  qui 
plus  auant  vouldront  profunder.  ^  Bulletino  Boncompagni  XIV,  pag.  413 — 460 
^)  Ebenda  pag.  415.         *)  Ebenda  pag.  416. 


360  58.  Kapitel. 

3  3  .  . 

woraus  x  =  —  7— ,  20  —  a:  =  ^'^Tf  ^^^  ^^^  beiden  Theile  gefunden 
werden,  in  welche  die  Zahl  20  zerlegt  werden  soll,  und  welche  ge- 
wissen in  jener  Gleichung  sich  kundgebenden  Bedingungen  genügen 
sollen.  Der  Verfasser  fügt  der  Auflösung  die  Worte  bei:  Ainsi  ce 
calciile  est  vray  qiie  aiäcims  ticnnent  Impossihle^),  somit  ist  die  Rech- 
nung richtig,  welche  Manche  für  unmöglich  halten.  Auch  über  den 
Sinn  rein  negativer  Auflösungen  spricht  er  bei  Aufgabe  XLIII  sich 
aus-).  Diese  fragt  nach  dem  Einkaufspreise  und  der  Anzahl  von 
Aepfeln  eines  Wiederverkäufers  unter  folgenden  Bedingungen.  Ver- 
kauft er  3  um  ein  Geldstück,  so  gewinnt  er  15  solcher  Geldstücke, 
und  verkauft  er  4  um  ein  Geldstück,  so  gewinnt  er  davon  14.  Es 
waren  12  Aepfel  und  deren  Einkaufspreis  war  — 11,  welches  Oiiill 
geschrieben  ist.  Das  wird  nun  folgendermassen  erläutert:  Der  erste 
Besitzer  gab  die  Aepfel  dem  Wiederverkäufer  und  erliess  ihm  über- 
dies eine  Schuld  von  11  Geldstücken,  damit  dieser  ihm  die  Aepfel 
nur  abnehme.  Weniger  glücklich  ist  die  Erläuterung  der  Aufgabe 
XXXV,  welche  gleichfalls  zu  einer  negativen  Auflösung  führt  ^). 

Die  Aufgabe  CXIV  führt  zu  einer  imaginären  Auflösung. 
Sie  verlangt "^j  zwei  Zahlen  zu  finden,  deren  Summe  y  72  und  deren 
Product  ]/6Ö  sei  und  findet  dieselben  als  Summe,  beziehungsweise 
DifiFerenz  von  R^9  und  I^^  81  in  R- 60;  dann  rechnet  der  Verfasser 
zur  Probe  die  Multiplication  der  beiden  Zahlen  aus,  und  bei  dieser 
Rechnung  zeigt  sich,  dass  er  als  zweiten  Theil  der  Auflösung  eigent- 
lich R-R^Sl  iS  R-60  verstanden  hatte  und  die  zwei  aufeinander 
folgenden  Wurzelzeichen  '^'^^  irriger  Weise  zu  ß:^  vereinigte.  Die 
ganze  Aufgabe  scheint  ihm  darnach  nicht  vollständig  klar  gewesen 
zu  sein,  und  wenn  wir  sagten,  eine  imaginäre  Auflösung  erscheine, 
so  ist  dieses  vielleicht  dahin  einzuschränken,  dass  der  Verfasser  selbst 

sich  dessen  bei  seiner  Rechnung  nicht  bewusst  war,  dass  |/  ]/81  —  ]/60 
die  Quadrat  wurzelau  sziehung  aus  einer  negativen  Zahl  verlangte. 
Dieses  Bewusstsein  spricht  sich  dagegen  mit  voller  Klarheit  in  einer 
Randnote  von  anderer  Handschrift  aus,  und  wenn  wir  auch  über 
ihre  Entstehungszeit  durchaus  im  Dunkel  sind,  glauben  wir  doch  den 
Inhalt  mittheilen  zu  sollen.  Das  Product  zweier  Theile  von  ge- 
gebener Summe,  sagt  der  Schreiber  der  Randnote,  sei  am  grössten, 
wenn  die  Theile  einander  gleich  gewählt  werden.  Hier  sei  dieses 
grösste  Product  (— )/72j  =  y  81.  Nun  werde  aber  das  noch  grössere 
yöÖ  als  Product  verlangt,  und  das  sei  unmöglich. 

^)  Bulletino  Boncompagni  XIV,  pag.  419.  *)  Ebenda  pag.  427.  ^)  Ebenda 
pag.  424.         '')  Ebenda  pag.  444 — 445. 


Andere  Italiener.     Die  Franzosen  Chuquet  und  Lefövre.  361. 

Neben  den  bestimmten  Aufgaben  kommen  auch  unbestimmte 
vor,  z.  B.  die  Aufgabe  LXXVIII,  zu  welcher  der  Verfasser  eine  Zu- 
satzbemerkung gemacht  hat,  welche  die  gegenseitige  Abhängigkeit 
der  Wurzeln  solcher  Gleichungen  deutlich  ausspricht^):  Et  par  ainsi 
appert  que  telles  raisons  ont  response  necessaire  de  deux  en  deiix  mais 
de  img  a  iing  Uz  ont  teile  response  que  Ion  veidt,  d.  h.  einzeln  ge- 
nommen erhalten  die  Unbekannten  behebige  Werthe,  paarweise  auf 
einander  bezogen  sind  sie  dagegen  bestimmt.  Es  handelt  sich  um 
das  Gleichungssystem: 

x^-\-x.,-\-  100  =  3(.^3  +  cc^  —  100) 
^2  +  •'*^3  +  106  =  4.{x^  -{-X,  —  106) 
x.^  -f  x^  -f  145  =  5(,ri  4-  X,  —  145) 
x^  +  Xi  -f  170  =  {^{x.^  +  X.,  —  170) 
dessen  allgemeine  Auflösung 

Xc,  =  215  —  x^,    x.  =  \h-\-  x^,    x^  =  190  —  x^ 

zwar  nicht  angegeben  ist,  wohl  aber  die  besonderen  Werthe  100, 
115,  115,  90  und  80,  135,  95,  110,  welche  bei  x,  =  \00  und  .r^  =  80 
entstehen. 

Die  Aufgaben  CXLIX  bis  CLII  sind  unbestimmt  vom  zweiten 
und  dritten  Grade  ^).  Eine  Quadratzahl  zu  finden,  welche  um  7  ver- 
mehrt wieder  eine  Quadratzahl  gebe.  Ein  Quadrat  zu  finden,  welches 
um  4  vermehrt  wieder  eine  Quadratzahl  gebe.  Drei  Quadratzahlen 
mit  der  Summe  13  zu  finden.  Drei  Kubikzahlen  mit  der  Summe  20 
zu  finden.     Die  entsprechenden  Auflösungen  sind: 

(ir+(|)' +  (!)'  =  20. 

An  zwei  Stellen  3),  Aufgabe  LXIX  und  CV,  ist  von  einem  Buche 
eines  Mönches  Barthelemy  de  Rommans  vom  Predigerorden  die 
Rede,  welches  im  Uebrigen  nicht  bekannt  ist,  die  Vergessenheit  aber, 
in  welche  es  gerieth,  verdient  zu  haben  scheint.  Geschichtlich  be- 
merkenswei-th  sind  endlich  einige  Textaufgaben,  welche  theils  schon 
früher  bei  diesem  oder  jenem  Schriftsteller  bekannt  geworden  sind, 
theils  mindestens  von  nun  an  in  zahllosen  Wiederholungen  wieder- 
kehren. Wir  nennen  Aufgabe  XXIII  von  den  nach  dem  Tode  des 
Vaters  geborenen  Zwillingen,  welche  römisch  ist  (Bd.  I,  S.  523), 
CLXIII  und  CLXIV  von  dem  Wolfe,   der  Ziege  und  dem  Kohlkopfe, 


1)  Bulletino  Boncompagni   XIV,  434.         *)  Ebenda  pag.  455.         ^)  Ebenda 
pag.  432  und  442. 


362  58.  Kapitel. 

welclie  über  einen  Fluss  zu  setzen  sind,  und  von  den  ebenso  Vorsicht 
in  der  Auswahl  der  allein  Bleibenden  beansiiruchenden  drei  Ehe- 
paaren, die  beide  möglicherweise  auf  Alcuin  zurückgehen^),  CLX  von 
dem  Ringe  an  einem  gewissen  Gelenke  eines  gewissen  Fingers  einer 
gewissen  Person,  welche  Leonardo  von  Pisa  errathen  lehrte  (S.  8). 
Wir  nennen  Aufgabe  CLVII,  welche  die  Grundlage  eines  heute  noch 
üblichen,  artigen  Kunststückes  ist,  endlich  CXLVI  von  den  in  einen 
Kreis  zu  ordnenden  15  Christen  und  15  Juden,  von  welchen  immer 
der  9.  Mann  ertränkt  werden  soll,  bis  nur  15  übrig  bleiben,  und 
wobei  die  Anordnung  so  zu  treffen  ist,  dass  nur  Juden,  diese  aber 
alle,  dem  Tode  verfallen.  Auch  diese  Aufgabe  hat  im  Laufe  der 
Zeiten  nur  geringe  Aenderungen  erfahren,  wesentlich  darin  bestehend, 
dass  es  bald  Juden,  bald  Türken  weren,  die  man  in's  Wasser  werfen 
Hess.     Von  ihrer  Geschichte  wird  im  75.  Kapitel  die  Rede  sein. 

Wir  haben  (S.  347)  eine  Vergleichung  zwischen  Paciuolo  und 
Chuquet  zum  Schlüsse  unseres  Berichtes  über  den  Triparty  des  Letz- 
teren in  Aussicht  gestellt.  Zu  wessen  Gunsten  sie  ausfallen  muss 
ist  nicht  zweifelhaft.  In  Paciuolo  haben  wir  einen  fleissigen,  tüch- 
tigen, theoretisch  wie  praktisch  gebildeten  Schriftsteller  kennen  ge- 
lernt, nicht  jeder  Bedeutung  ledig,  aber  immerhin  nicht  als  grosser 
Mathematiker  zu  bezeichnen  (S.  337).  Seine  Eigenthümlichkeiten 
hatten  wir  vorzugsweise  auf  geometrischem  Gebiete  zu  suchen,  wo  er 
die  Lehren  der  Algebra  vortrefflich  anzuwenden  wusste.  Ob  auch 
Chuquet  und  wie  weit  er  in  der  Geometrie  Bescheid  wusste,  ist  uns 
unbekannt.  In  seinem  Triparty  findet  sich  nichts  aus  diesem  Gebiete, 
und  die  geometrisch-algebraischen  Aufgaben  der  Sammlung,  welche 
dem  Triparty  als  Anhang  dient,  und  von  welcher  wir  annahmen,  sie 
könne  vielleicht  durch  Chuquet  zusammengestellt  worden  sein,  sind 
nicht  veröffentlicht.  Aber  in  Arithmetik  und  Algebra  war  Chuquet 
ein  ideenreicher  Kopf.  Er  begnügte  sich  keineswegs  damit,  das  von 
Anderen  Gewonnene  zu  beherrschen,  er  ging  weit  über  diese  Vor- 
gänger hinaus.  Wir  haben  in  unserem  Berichte  eine  ganze  Reihe 
von  Gedanken  besonders  hervorgehoben,  die  mit  grösserer  oder  ge- 
ringerer Wahrscheinlichkeit  Chuquet  angehören;  die  Mittelwerth- 
methode,  die  gleichzeitige  Betrachtung  einer  arithmetischen  und  einer 
geometrischen  Reihe,  die  Andiespitzestellung  ganz  allgemeiner  Formen 
in  der  Lehre  von  den  Gleichungen,  die  Anwendung  ganzzahlig  posi- 
tiver und  negativer  Exponenten  und  des  Exponenten  Null,  ferner  im 
Anhange,  w^nn  dieser  wirklich  von  Chuquet  herrührt,  die  klare  Ein- 
sicht  in    das   Wesen    einer   unbestimmten  Gleichung,   die    Rechnung 


')  Cantor,  Die  römischen  Agrimensoren  S.  149. 


Andere  Italienei-.     Die  Franzosen  Chuquet  und  Lefevrc.  363 

mit  einem  imaginären  Ausdrucke,  das  sind  doch  Dinge,  die  ilirem 
Urheber  einen  Platz  unter  den  Männern  von  wahrhafter  Erfindungs- 
gabe anweisen.  Wir  sind  weit  entfernt  davon,  hier  bestreiten  zu 
wollen,  was  wir  selbst  früher  behaupteten,  dass  Chuquet  Vorgänger, 
italienische  Vorgänger  besessen  haben  muss,  an  die  er  vielfach  sich 
anlehiite.  Aber  besass  Paciuolo  diese  Vorgänger  weniger?  Und  wenn 
Chuquet  entlehnte,  woran  Paciuolo  trotz  umfassenden  Wissens  nicht- 
achtend  vorüberging,  giebt  das  Chuquet  nicht  erst  recht  das  Zeugniss, 
dass  er  zu  würdigen  verstand,  was  Paciuolo  nebensächlich  erschien? 
Gewiss,  wir  dürfen,  wir  müssen  Chuquet  als  Mathematiker  um  eine 
beträchtliche  Stufe  höher  als  Paciuolo  stellen. 

Das  ist  nun  wiederum  nicht  so  gemeint,  als  bedauerten  wir  hier 
die  Lobsprüche,  welche  wir  früher  auf  Paciuolo's  Summa  häuften,  als 
suchten  wir  sie  zurückzunehmen.  Keineswegs.  Paciuolo  und  Chuquet, 
beide  Männer,  wie  das  beiden  gespendete  Lob  bestehen  geschichtlich 
gleichberechtigt  nebeneinander.  Man  darf  nicht  vergessen,  was  die 
Berühmtheit  der  Summa  hervorbrachte,  was  sie  möglich  machte.  Sie 
war,  wie  wir  mit  den  schon  einmal  ausgesprochenen  Worten  wieder- 
holen, das  Werk,  welches  das  Bedürfniss  der  Zeit  forderte,  zugleich 
das  Werk,  welches  dieses  Bedürfniss  durchaus  befriedigte,  und  sie 
erschien  im  Drucke!  Der  Triparty  blieb  Handschrift,  und  er  wäre, 
dürfen  wir  behaupten,  auch  als  gedrucktes  Buch  nicht  zu  der  so- 
fortigen Verbreitung  und  zu  dem  Einflüsse  gelangt,  deren  die  Summa 
sich  erfreute.  Der  Eine  kaufte  und  las  die  Summa  als  Lehrbuch  der 
Rechenkunst  und  der  Algebra,  der  Zweite  wegen  der  Darstellung  der 
Buchhaltung,  der  Dritte  wegen  der  Belehrung  über  Wechsel,  welche 
er  aus  ihr  schöpfen  durfte,  der  Vierte  wegen  der  als  Tariifa  bezeich- 
neten Tabellen,  der  Fünfte  wegen  der  hundert  Aufgaben  am  Schlüsse 
des  Werkes-,  aber  den  Triparty  hätte  nur  jener  Erste  etwa  sich  an- 
geeignet, hätte  ihn  gelesen,  vielleicht  verstanden,  vielleicht  aber  auch 
nicht  verstanden.  So  vollendet  klar  Chuquet's  Darstellungsweise  uns 
heute  vorkommt,  den  Zeitgenossen  wären  grade  die  Dinge,  um  derent- 
willen wir  ihn  am  höchsten  stellen,  so  überraschend  neu  gewesen 
dass  die  sachliche  Schwierigkeit  von  der  sprachlichen  Durchsichtig- 
keit keinen  weiteren  Nutzen  gezogen  hätte,  als  dass  man  statt  am 
Ausdrucke  vielmehr  am  Inhalte  verständnisslos  vorbeigegangen  wäre. 
Wir  dürfen  diese  Behauptung  aufstellen,  denn  wir  sind  in  der  Lage 
sie  zu  beweisen.  Ein  Schriftsteller  aus  der  ersten  Hälfte  des  XVL  Jahr- 
hunderts, mit  dem  wir  es  im  nächsten  Kapitel  zu  thun  haben  werden, 
hat  ganze  Seiten  aus  dem  Triparty  einfach  abgeschrieben.  Was  uns 
von  hoher  Bedeutung  schien,  das  hat  er  vernachlässigt.  Der  Schrift- 
steller, wer  er  auch  sei,  und  wann  auch  seine  Lebenszeit  falle,  schreibt 


364  58.  Kapitel. 

zunächst  in  der  -wissenschaftliclien  Sprache  seines  Landes  und  für 
das  Verständniss  seiner  Heimathsgenossen.  Fehlt  ihm  dieses,  so  wird 
er  schwerlich  baldige  Anerkennung  finden.  Das  Frankreich  Chuquet's 
war  für  ihn  nicht  reif;  ein  Ausspruch  Lefevre's  kann  und  mag  als 
Beleg  dienen. 

Jacques  Lefevre^)  gehörte  zu  den  berühmtesten  Franzosen 
der  zweiten  Hälfte  des  XV.  und  des  ersten  Drittels  des  XVI.  Jahr- 
hunderts. Geboren  in  Etaples  um  1455  führte  er  von  dieser  seiner 
Vaterstadt  den  latinisirten  Namen  Faber  Stapulensis.  Seine  Stu- 
dien machte  er  in  Paris  und  erwarb  sich  dort  die  Würde  eines 
Magisters  der  freien  Künste.  Als  solcher  ging  er  vor  1486  zu  mehr- 
jährigem Aufenthalte,  jedenfalls  bis  1492,  nach  Italien  und  wandte 
sich  dort  den  mathematischen  Wissenschaften  zu.  Nach  Frankreich 
zurückgekehrt  setzte  er  in  der  Heimath  ein  ziemlich  unstetiges  Reise- 
leben fort.  Theologische  Streitigkeiten,  ein  Wahrzeichen  der  Zeit, 
in  welcher  Lefevre  lebte,  entfesselten  den  Zorn  der  Kirchenbehörde 
gegen  ihn,  ohne  der  Gunst  des  Hofes  Eintrag  zu  thun.  Lefevre  war 
sogar  unter  Franz  I.  eine  Zeit  lang  Prinzenerzieher.  Er  starb  1537 
in  einem  Alter  von  mehr  als  80  Jahren  in  Nerac.  Lefevre  erzählt 
nun-),  ein  Grieche,  mit  welchem  er  über  die  pariser  Universität  ge- 
sprochen, habe  diese  sehr  gelobt;  nur  Eines  fehle  ihr:  Mathematik. 
Wenn  eine  Stütze  jener  Anstalt,  wie  Lefevre  es  damals  war,  ein 
solches  Urtheil  —  von  unserem  Standpunkte  aus  dürfen  wir  es  eine 
Verurtheilung  nennen  —  ohne  Widerrede  veröffentlicht,  wenn  er 
vielmehr  noch  bestätigend  hinzusetzt,  dadurch  sei  er  erst  veranlasst 
worden,  den  mathematischen  Wissenschaften  den  ihnen  gebührenden 
Fleiss  zuzuwenden,  dann  muss  es  doch  um  die  pariser  Mathematik 
schlecht  bestellt  gewesen  sein,  und  Paris  war  Frankreich. 

Was  that  nun  Lefevre,  um  dem  von  ihm  erkannten  Uebelstande 
nach  Ki-äften  abzuhelfen?  Er  veranstaltete  Druckausgaben  von  vier 
Werken  verstorbener  Mathematiker.  Drei  dieser  Drucke  gehören  dem 
XVI.  Jahrhunderte  an,  sollen  aber  des  Zusammenhanges  wegen  hier 
vorweggenommen  werden.  Zuerst  gab  er  1496  die  Arithmetik  des 
Jordanus  Nemorarius,  welche  1514  wiederholt  gedruckt  wurde. 
Das  war  entschieden  ein  glücklicher  Griff,  aber  bezeichnend  bleibt 
es  immerhin,  dass  grade  die  Arithmetik  des  Jordanus  gewählt  wurde, 
dasjenige  Werk,  in  welchem  er  am  wenigsten  selbständig  auftrat, 
und  welches  dementsprechend  weitaus  nicht  die  Wirkung  übte,  welche 
von  einem  Abdrucke  der  Bücher  De  numeris  datis  etwa  erzielt  werden 


^)  Nouvelle  Biograjjhie   universelle   XXX,    333 — 339,    Artikel    von   Ernest 
Gregoire.         *)  Kästner  I,  283. 


Andere  Italiener.     Die  Franzosen  Chuquet  und  Lefevre.  365 

konnte.  Dann  kam  zweitens  1507  die  Sphaera  des  Johannes  von 
Sacrobosco.  Neue  Auflagen  von  1511,  von  1526,  von  1531  be- 
zeugen, wie  vielfachen  Wünschen  damit  entsprochen  war.  War  die 
Sphaera  doch  immer  noch  das  vorzugsweise  benutzte  Lehrbuch  der 
Astronomen,  und  gerade  in  Paris  bildete  es  noch  unverändert  den 
Inhalt  von  Universitätsvorlesungen,  schliesslich  auch  kein  glänzendes 
Zeugniss  für  die  Lehrer,  für  welche  ein  Peurbach  nicht  gelebt  zu 
haben  scheint.  Dann  kam  1514  ein  Abdruck  der  Werke  des  Ni- 
colaus  von  Cusa,  aber  wir  fürchten  kaum  Widerspruch  gegen 
unsere  Ansicht,  es  seien  die  politisch -religiösen  Streitschriften  des 
Cardinais  gewesen,  welche  dem  Herausgeber  am  wichtigsten  waren, 
und  die  mathematischen  Schriften  seien  nur  so  nebenbei  mit  zum 
Drucke  gelangt.  Das  vierte  Druckwerk  endlich  ist  eine  Euklid- 
ausgabe ^)  von  1516.  Wir  erinnern  uns  (S.  339),  dass  Zamberti 
1505  ein  zehnjähriges  Privilegium  für  seinen  aus  dem  Griechischen 
übersetzten  Text  erworben  hatte.  Diese  Frist  war  eben  abgelaufen, 
als  Lefevre  einen  neuen  Abdruck  in  der  berümten  Druckerei  des 
Stephanus  in  Paris  unternahm.  Er  hatte  in  Michael  Pontanus 
einen  engbefreundeten  Mitarbeiter,  der  im  weiteren  Verlaufe  des 
Druckes,  als  Lefevre  nach  Narbonne  sich  begab,  die  ganze  Leitung 
allein  übernahm,  so  dass  es  scheinen  möchte,  als  sei  Lefevre  nicht 
anders  an  der  Ausgabe  betheiligt  gewesen,  als  durch  die  ihm  gewor- 
dene Aufforderung  eine  solche  zu  veranstalten,  durch  die  Unterhand- 
lung mit  dem  Drucker  und  durch  ein  dem  Werke  vorgesetztes  Wid- 
mungsschreiben aus  seiner  Feder.  Aber  gleichviel,  wer  der  eigent- 
liche Herausgeber  war,  eine  neue  Euklidausgabe  konnte  für  die 
Hebung  des  mathematischen  Interesses  in  Frankreich  Erspriessliches 
leisten,  konnte  überhaupt,  wenn  sie,  was  nicht  sehr  schwer  zu  errei- 
chen war,  über  die  schon  vorhandenen  Druckausgaben  sich  erhob, 
von  nicht  unbedeutendem  Nutzen  sein.  Sehen  wir  uns  darum  die 
pariser  Ausgabe  von  1516  etwas  näher  an. 

Der  Abdruck  enthält  nicht  sämmtliche  Euklidische  Werke,  son- 
dern nur  die  sogenannten  15  Bücher  der  Elemente,  und  diese  in  den 
beiden  vorhandenen  Uebersetzungen,  in  der  des  Campanus  und  der 
des  Zamberti.  Euklid  selbst  heisst  auf  dem  Titelblatte  nach  wie  vor 
Megarensis.  Campanus  wird  ebenda  als  Gallus  transalpinus  bezeichnet, 
d.  h.  als  Italiener,  da  der  Ausdruck  in  Paris  gebraucht  wurde;  in 
Italien  würde  dieselbe  Benennung  einem  Franzosen  gegolten  haben, 
ähnlich  wie  der  fast  gleichbedeutende  Ausdruck  Ultramontanus  nörd- 
lich   der    Alpen    von   einem    Italiener,    südlich    derselben    von    einem 


')  Weissenboru,  Die  Uebersetzungen  des  Euklid  S.  üG — 63. 


366  58.  Kapitel. 

Nichtitaliener  gebraucht  wurde.  Zamberti  heisst  Venetianer,  und 
Theon  ist  als  Alexandriner  genannt.  Eine  Erwähnung  des  arabischen 
Vermittelungstextes,  dessen  Campanus  sieh  bediente,  fehlt  durchaus, 
man  scheint  daher  von  diesem  so  wesentlichen  Umstände  noch  immer 
keine  Kenntniss  besessen  zu  haben.  Die  Druckfolge  ist  die,  dass 
zuerst  immer  die  Lehrsätze  in  der  Lesart  des  Campanus  stehen,  über- 
schrieben Eudides  ex  Campano.  Dann  kommen  dessen  Beweise  mit 
der  wechselnden  Ueberschrift  Campanus  oder  Campani  additio  oder 
Cmnpani  amiotatio.  Unmittelbar  darauf  folgt  Eudides  ex  Zamberto 
d.  h.  die  Lehrsätze  in  der  Lesart  Zamberti's,  und  dessen  Beweise 
unter  dem  Namen  Theon  ex  Zamberto  erscheinen  bei  jedem  einzelnen 
Satze  an  vierter  Stelle.  Die  Zusätze  des  Campanus,  soweit  sie  auf- 
genommen sind  —  die  Dreitheilung  des  Winkels  fehlt  —  sind  unter  den 
schon  erwähnten  Ueberschriften  Campani  additio  oder  annotatio  mit- 
enthalten. Zamberti's  feindselige  Aeusserungen  gegen  Campanus  sind 
durchweg  entfernt.  Man  sollte  sagen,  der  Leser  müsse  gewünscht 
haben,  über  das  Verhältniss,  in  welchem  die  vier  Persönlichkeiten 
Euklid,  Campanus,  Theon,  Zamberti  zu  einander  standen,  etwas  zu 
erfahren,  der  Herausgeber  müsse  diesen  Wunsch  vorahnend  zu  be- 
friedigen gesucht  haben,  aber  das  ist  nicht  der  Fall.  Weder  auf 
dem  weitschweifigen  Titelblatte  noch  in  dem  Lefevre'schen  Widmungs- 
briefe ist  Aufschluss  gegeben.  Die  Druckfolge  allein  konnte  allen- 
falls zu  Muthmassungen  führen,  welche  kaum  anders  ausfallen  konn- 
ten, als  dass  der  Transalpine  Campanus  und  der  Alexandriner  Theon 
jeder  für  sich  Beweise  zu  den  euklidischen  Sätzen  erfunden  haben. 
Waren  beide  Schriftsteller  gleichzeitig,  war  der  zuerst  genannte  Cam- 
panus der  ältere?  Darüber  schweigen  die  Herausgeber,  und  gleiches 
Schweigen  ist  die  Antwort  auf  die  nicht  minder  sich  aufdrängende 
Frage,  wieso  Campanus  und  Theon  zu  im  wesentlichen  übereinstim- 
menden Beweisen  gelangt  waren.  Wenn  aber  der  Leser  in  diesen 
wichtigen  Punkten  auch  nicht  die  Andeutung  einer  Auskunft  erhielt, 
so  wird  man  in  der  pariser  Euklidausgabe  von  1516  einen  Fortschritt 
nicht  zu  erkennen  vermögen. 

Wir  sind  wieder  an  dem  Schlüsse  eines  Abschnittes,  eines  Jahr- 
hunderts angelangt.  Die  Ausdehnung  unserer  Darstellung  hat  wesent- 
lich zugenommen,  und  eine  weitere  Zunahme  wird  in  den  folgenden 
Abschnitten  bemerklich  werden.  Liegt  das  daran,  dass  mit  der  Er- 
findung der  Buchdruckerkunst  mehr  Schriften  Verbreitung  fanden, 
über  welche  dann  auch  leichter  zu  berichten  ist?  Zum  Theil  verhält 
es  sich  so,  aber  das  ist  doch  nicht  Alles.  Die  Mathematik  beginnt 
in  der  That  einen  '  neuen  Aufschwung  zu  nehmen.  Es  sind  nicht 
mehr  ganz  vereinzelte  Geister,  welche  mathematische  Gredanken  neuer 


Andere  Italiener.     Die  Franzosen  Ohuquet  und  Lefevre.  367 

Art  liegen  und  äussern;  in  Italien  vorzugsweise,  daneben  in  Deutsch- 
land, beginnt  die  Mathematik  Volkseigenthum  zu  werden,  und  je 
breiter  die  Grundlage,  um  so  höher  kann  von  ihr  aus  das  Gebäude 
errichtet  werden.  Wir  haben  in  diesem  Abschnitte  Persönlichkeiten 
auftreten  sehen,  deren  Leistungen  wir  zum  Theil  in  ausführlicheren 
Uebersichten  zusammengefasst  haben.  Wir  brauchen  hier  nur  die 
Namen  Widmann  und  Regiomontanus,  Lionardo  da  Vinci  und  Pa- 
ciuolo,  endlich  den  des  alleinstehenden  Chuquet  zu  Aviederholen,  um 
die  Baumeister  vereinigt  zu  haben,  welche  in  der  zweiten  Hälfte  des 
XV.  Jahrhunderts  den  mathematischen  Bau  am  meisten  förderten. 
Rechenkunst,  Algebra,  Anwendung  der  Algebra  auf  Geometrie  und 
damit  einigermassen  verwandt  auch  Trigonometrie  waren  die  haupt- 
sächlichen Gebiete  ihrer  Thätigkeit,  während  eine  reingeometrische 
Untersuchungsweise  etwas  in  den  Hintergrund  zurückgedrängt  erscheint. 


XIII.   Die  Zeit  von  1500—1550. 


Caktok,  Geschiclite  uer  Mathem.    II.    2.  Aufl.  24 


59.  Kapitel. 
Französische,  spaiiisclie  niid  portugiesisclie  Matlieinatiker. 

Als  wir  im  vorigen  Kapitel  mit  Chuquet  uns  beschäftigten,  be- 
riefen wir  uns  für  die  Behauptung,  sein  Triparty  sei  ein  für  die  da- 
maligen Franzosen  zu  gedankenreiches  Werk  gewesen,  auf  einen 
Schriftsteller  dieses  Landes,  der  nur  kurze  Zeit  später  lebend  der 
Handschrift  des  Triparty  sich  bediente.  Wir  meinten  Estienne  de 
la  Roche  genannt  Vi  lief  ran  che  aus  Lyon.  Von  seinem  Leben 
ist  ausser  dem  Geburtsorte,  den  wir  dem  Titelblatte  seines  Buches 
Larismethique  nouellement  composee  par  maistre  Estienne  de  la  röche 
dict  Vülefranche  natif  de  Lyon  sus  le  Bosne  entnehmen,  nicht  das 
Geringste  bekannt.  Diese  Arithmetik  ist  1520  zuerst,  dann  1538  in 
einem  zweiten  Abdrucke  erschienen.  Nimmt  man  an,  der  Verfasser 
habe  das  Buch  mit  40  Jahren  veröfifentlicht,  so  gelangt  man  zu  einem 
Geburtsjahre  um  1480,  welches  angegeben  worden  ist^),  aber  jene  An- 
nahme selbst  schwebt  durchaus  in  der  Luft  und  kann  sich  ganz  ge- 
wiss nicht  auf  eine  in  dem  Buche  zu  erkennende  besondere  geistige 
Reife  des  Verfassers  stützen.  De  la  Roche  gesteht  von  vornherein 
zu,  dass  er  nur  die  Blüthen  mehrerer  geübten  Meister  vereinigt  und 
aufgehäuft  habe,  wozu  er  irgend  kleine  Zuthaten  beifügte,  welche  er 
als  Praktiker  ersonnen  habe').  Als  die  von  ihm  vorzugsweise  be- 
nutzten Meister  nennt  er  Nicolas  Chuquet  von  Paris  und  Bruder 
Lucas  von  Burgo  Sancti  Sepulcri,  d.  h.  also  Paciuolo.  Zwischen  beiden 
uns  wohlbekannten  Namen  erscheint  auch  als  dritte  Quelle  ein  Phi- 
lipp Friscobaldi  von  Florenz.  Vielleicht  gelingt  es  italienischen 
Fachgenossen   über    diese    Persönlichkeit    und   über   ihre    Leistungen 


^)  Marie,  Histoire  des  sciences  mathematiques  et  physiques  II,  228.  *)  Aut 
playsir  et  louange  de  dieu  le  createur  et  de  la  tres  glorieuse  vierge  marie  sa 
tressaeree  mere  et  de  mon  seigneur  saint  estienne  mon  tresreverend  patron  et  de 
toute  la  court  celestielle  de  paradis  ay  collige  et  amasse  la  fleur  de  plusieurs 
maistres  expertz  en  cest  art:  comme  de  maistre  nicolas  chuquet  parisien,  de  philippe 
friscobaldi  florentiis:  et  de  frere  luques  de  burgo  sancti  sepulcri  de  lordre  des 
freres  mineurs  avecques  quelque  petite  addicion  de  ce  que  iay  peu  invente  et  ex- 
perimente  en  mon  iemps  en  la  pratique. 

■     24* 


372  59.  Kapitel. 

Klarheit  zu  schaffen.  Da,  wie  wir  wiederholt  hervorgehoben  haben, 
wichtige  italienische  Quellenschriften  uns  noch  fehlen,  so  ist  jede 
Sjiur  zu  verfolgen,  welche  möglicherweise  dahin  führen  könnte,  den 
Algebraiker  zu  erkennen,  welchen  Chuquet,  welchen  der  Verfasser  der 
Dresdner  Algebra  benutzte. 

De  la  Roche's  Arithmetik  besteht  aus  drei  Abtheilungen.  Die 
erste  von  140  Druckseiten  ist  vielfach  wörtlich  dem  Triparty  ent- 
nommen und  stellt  für  sich  ein  Lehrbuch  der  Rechenkunst  und  der 
Algebra  vor.  Die  zweite  Abtheilung  von  298  Druckseiten  beschäftigt 
sich  mit  dem  kaufmännischen  Rechnen,  wie  es  bei  Paciuolo  in  aller 
Ausführlichkeit  gelehrt  ist.  Die  letzten  20  Druckseiten  können,  wie- 
wohl nicht  äusserlich  von  der  zweiten  Abtheilung  getrennt,  als  dritte 
Abtheilung  betrachtet  werden;  sie  wenden  die  Rechenkunst  auf  Geo- 
metrie an.  Wir  haben  den  Triparty  als  wesentliche  Quelle  der  ersten 
Abtheilung  genannt.  Wir  würden  ein  ganz  verkehrtes  Bild  derselben 
erwecken,  wenn  wir  nicht  auf  die  Lücken  hinwiesen,  die  eine  ge- 
nauere Vergleichung  bemerken  lässt.  De  la  Roche  hat  aus  dem  Triparty 
nicht  übernommen  die  den  Begriff  des  logarithmischen  Rechnens  ent- 
haltende Vergleichung  einer  arithmetischen  und  einer  geometrischen 
Reihe,  nicht  den  Exponenten  Null,  nicht  die  negativen  Exponenten, 
nicht  den  Ausblick  auf  Gleichungen  mit  mehr  als  drei  Gliedern  oder 
mit  ungleich  von  einander  entfernten  Gliedern  als  Aufgabe  der  Zu- 
kunft. Das  sind  aber  gerade  die  bahnbrechenden  Gedanken  Chuquet's, 
welche  weggelassen  sind,  offenbar  nur  aus  dem  Grunde,  welchen  wir 
oben  andeuteten,  weil  eben  De  la  Roche  sie  in  ihrer  Bedeutung  zu 
würdigen  nicht  fähig,  wenigstens  nicht  reif  war.  Am  deutlichsten 
zeigt  sich  diese  ünreifheit  bei  dem  Exponenten  Null.  Wenn  Chuquet 
gesagt  hat,  man  könne  (S.  355)  einfache  Zahlen  als  solche  betrachten, 
die  gar  keinen  Namen,  beziehungsweise  den  Namen  Null  führen,  so 
schrieb  De  la  Roche,  als  er  an  die  betreffende  Stelle  kam,  nicht  etwa 
einfach  ab,  sondern  er  liess  die  bessere  Hälfte  des  Satzes  weg  und 
sprach  nur  von  Zahlen,  welche  keinen  Namen  führen^).  Er  hat  eben 
nicht  verstanden,  dass  das  unscheinbare  Zeichen  0  rechts  erhöht  ge- 
schrieben eine  Erfindung  darstellte,  die  erst  nach  weiteren  100  Jahren 
zur  Geltung  kommen  sollte.  Mit  aller  Breite  verweilt  De  la  Roche 
dagegen  bei  den  kaufmännischen  Rechnungsaufgaben,  die  ihm  des 
reichlich  doppelten  Raumes  würdig  erscheinen,  den  er  der  ersten  Ab- 
theilung widmete.  Hier  sind  auch  jene  Regeln  mitgetheilt,  welche 
insbesondere    bei  Vervielfachungen    benannter  Zahlen  in  Anwendung 


^)  De  la  Roche,   Larismetliiqiie  etc.  fol.  42  recto  letzte  Zeile:   hs  nombres 
qui  nont  nulle  denomination  sont  occupatis  le  premieur  Heu  en  lordre  des  differences. 


Französische,  spanische  und  portugiesische  Mathematiker.  373 

traten,  und  welche  auf  der  Auffassung  des  Multiplicators  als  einer 
Summe  beruhen,  deren  einzelne  Summanden  die  Vielfachen  leicht  finden 
lassen.  Tollet rechnung  war  der  Name,  unter  welchem  wir  (S.  224 
— 225)  Aehnliches  in  Deutschland  kennen  gelernt  haben.  Jetzt  heisst  das 
Verfahren^)  Regeln  der  Praktik,  und  diesem  Namen  wie  der  Sache 
selbst  werden  wir  künftig  in  allen  Ländern  begegnen.  Ein  Beispiel 
möge  den  Sinn  unserer  Worte  erläutern^).  Man  will  in  Livres  aus- 
gedrückt das  960fache  von  6  Sous  9  Deniers  wissen,  während  1  Livre 
=  20  Sous,  1  Sou  =  12  Deniers   ist.     Man  zerfällt  G  Sous  9  Deniers 

in  5  Sous,  1  Sou  3  Deniers,   6  Deniers   oder  in  —  Livre  +  —  Livre 
'  '  4  '    Ifa 

+  —  Livre  und  rechnet: 

i  von  960  ist  240, 

4  von  960  ist     60, 

16  ' 

^  von  960  ist     24, 

40  ' 

zusammen  324  Livres. 

Auch  einiges  Geometrische,  sagten  wir,  sei  in  De  la  Roche's  Buch 
vorhanden^ ^  Gross  ist  das  Wissen  nicht,  von  welchem  hier  An- 
wendung gemacht  ist,  aber  es  sind  wenigstens  richtige  Formeln,  nach 
denen  gerechnet  ist,  wie  wir  im  Gegensatze  zu  einem  vielgebrauchten 
encyklopädischen  Werke,  von  welchem  wir  auf  deutschem  Boden  zu 
reden  haben  werden,  anerkennen  dürfen.     Es  handelt  sich  um  Kreis- 

22 
ausmessungen  mittels  des  archimedischen  Werthes  n  ^ -^r ,  um  mehr- 
fache Benutzung  des  pythagoräischen  Lehrsatzes,  um  die  Ausrechnung 
der  Dreiecksfläche  nach  der  heronischen  Formel,  um  Zerlegung  von 
Vielecken  in  Dreiecke.  Ein  Kreisabschnitt  wird  zum  Kreisausschnitt 
ergänzt,  der  alsdann  der  sovielte  Theil  der  ganzen  Kreisfläche  ist, 
als    sein  Bogen   Theil    der  Kreislinie*):     Z.  B.   sei   6   die  Länge    des 

Bogens  und  3—   der  Halbdiameter.     Die  Kreislinie   hat  demnach  die 

1       22  .        22  1  1  . 

Länge  2  •  3—  •  —  =  22  und  die  Kreisfläche  ist  y  •  3—  =  38—  •    Die 

Regeldetri  22  :  38^-  =  6  :  lOy  liefert  mit  lOy  die  Fläche  des  Kreis- 
ausschnittes.    Von  ihr  ist  alsdann  wieder  das  ergänzende  Dreieck  ab- 


^)  De  la  Roche  fol.  77  verso:<  Des  regles  iriefves  aultrement  dictes  regles 
de  pratique.         *)   Ebenda  fol.  79  recto.  ^)  Ebenda  fol.  220  recto:    Comment 

la  seience  des  nombres  se  peult  applicquer  aux  mesures  de  geometrie.       *)  Ebenda 
fol.  223  recto. 


374  59.  Kapitel. 

zuziehen,  vou  dessen  Ausreclinung  jedoch  nichts  gesagt  ist.  Endlich 
kommen  noch  einige  Körperausrechniingen  vor. 

So  das  Buch  des  Estienne  de  la  Roche.  Das  Urtheil  über  das- 
selbe hat  sich  im  Verlaufe  von  etwa  zehn  Jahren  sehr  zu  seinen  Un- 
gunsten verschoben.  Auf  uns,  welche  wir  die  bessere  Vorlage  kennen, 
macht  es  den  Eindruck  eines  recht  untergeordneten  Werkes;  auf  eine 
Zeit,  welcher  der  Triparty  noch  nicht  zugänglich  war,  durfte  und 
musste  es  befriedigender  wirken.  Sah  man  doch  nur  die  von  Chuquet 
entlehnten  Dinge,  ohne  zu  wissen,  wie  genau  sie  entlehnt  waren,  und 
vor  allen  Dingen  ohne  zu  wissen,  was  dem  Abschreiber  in  der  Feder 
stecken  geblieben  war. 

Wir  heben  diesen  Gegensatz  in  der  Würdigung  eines  und  des- 
selben Schriftstellers  durch  gleich  gewissenhafte  Forscher,  möglicher- 
weise durch  den  gleichen  Forscher  innerhalb  kurzer  Zwischenzeit 
nicht  ohne  Absicht  hervor.  Uns  däucht,  es  falle  dadurch  ein  bedeut- 
sames Licht  auf  den  Werth  mancher  Urtheile  in  der  Geschichte  der 
Wissenschaften.  Sehen  wir  doch  hier  das  deutlichste  Beispiel  davon, 
dass  der  glänzendste  Ruhmestitel  eines  Gelehrten  unter  Umständen 
darin  bestehen  kann,  dass  man  seine  Vorgänger  nicht  kennt,  dass 
das  Dunkel,  welches  den  Einen  Unverdientermassen  umhüllt  hat,  den 
Hintergrund  bildet,  von  welchem  das  nur  massig  helle  Bild  des  Anderen 
sich  abhebt.  Müssen  wir  bei  solchen  Erwägungen  nicht  misstrauisch 
werden  namentlich  gegen  die  Urtheile  über  solche  Männer,  deren 
Thätigkeit  viele  Jahrhunderte  hinter  dem  Zeitalter  der  häufigen  und 
erleichterten  Vervielfältigung  von  schriftstellerischen  Leistungen  zurück- 
liegend ein  zufälliges  Verlorengegangensein  dieser  oder  jener  Quellen- 
schrift um  so  eher  möglich  erscheinen  lässt?  Nur  ein  Beweismittel 
erscheint  uns  nahezu  untrüglich.  Wir  meinen  nicht  etwa  die  ein- 
stimmige Anerkennung  der  Zeitgenossenschaft.  Wie  sehr  diese  trügen 
kann,  beweist  jedes  Jakrhundert  an  Beispielen,  die  aufzufinden  nicht 
schwierig  sind.  Aber  wir  meinen  das  Vorhandensein  verschiedener, 
von  einem  Verfasser  herrührender  Werke,  welche  alle  den  Stempel 
höherer  Begabung  tragen.  Der  Fall  ist  kaum  denkbar,  dass  es  einem 
Menschen  gelänge,  wiederholt  in  die  Fusstapfen  früher  Lebender  so 
einzutreten,  dass  jede  Spur  des  Vorgängers  verwischt  würde.  Darum 
dürfen  wir  getrost  den  Ruhm  eines  Euklid,  eines  Archimed,  eines 
Apollonius  als  einen  durch  keine  Neuentdeckung  zu  gefährdenden 
erachten,  dürfen  wir  mit  gleicher  Zuversicht  Männer  wie  Leonardo 
von  Pisa,  wie  Regiomontanus  ihnen  zur  Seite  stellen.  Von  ihnen 
allen  trifft  das  Merkmal  zu,  dass  ihr  Ruf,  als  bahnbrechende  Geister 
in  der  Mathematik  gewirkt  zu  haben,  auf  mekr  als  nur  eine  von  ihnen 
verfasste  Schrift  sich  gründet. 


Französische,  spanische  und  portugiesische  Mathematiker.  375 

Einstimmige  Anerkenmmg  der  Zeitgenossenschaft ,  sagten  wir, 
kann  trügen.  Ein  Beispiel  bietet  uns  gleich  der  nächste  Schrift- 
steller, von  "welchem  wir  zu  reden  haben.  Am  Ende  des  XV.  Jahr- 
hunderts lebte  in  Brian9on,  einer  Bergveste  unweit  der  französisch- 
italienischen Grenze,  ein  Arzt  Fran9ois  Fine,  nicht  Fine,  wie  man 
aus  der  latinisirten  Form  Finaeus  zu  schliessen  geneigt  ist,  welcher 
auch  mit  Astronomie  sich  schriftstellerisch  beschäftigte.  Ihm  wurde 
1494  ein  Sohn  Oronce,  latinisirt  Orontius  Finaeus^),  geboren 
der  am  8.  October  1555  in  Paris  starb,  unbemittelt  aber  weit  und 
breit  berühmt,  der  Neubegründer  mathematischer  Studien  in  Frank- 
reich, wie  er  in  einem  an  König  Franz  I.  gerichteten  Einleitungs- 
schreiben seiner  Ti'otomathesis  sich  selbst  nennt,  worin  aber  auch  die 
ganze  Mitwelt  einstimmte.  Was  nur  von  geistiger  Bedeutung  in 
Paris  lebte,  Männer  der  Wissenschaft  und  der  schönen  Künste,  Beamte 
und  Höflinge,  Gesandte,  Prinzen,  der  König  selbst  vereinigten  sich 
in  den  Vorlesungsräumen  des  College  royal,  wo  Finaeus  seit  1532 
eine  für  ihn  errichtete  Lehrstelle  inne  hatte  und  als  Professor  mit 
beispiellosem  Zulaufe  wirkte.  Sehen  wir  zu,  welche  schriftstellerische 
Leistungen  der  Hochbewunderte  hinterliess.  Auf  die  grosse  Anzahl 
derselben  braucht  man  von  vornherein  kein  sonderliches  Gewicht  zu 
legen.  Er  vervielfältigte  dieselben  in  jeder  Weise:  durch  Uebersetzung 
in  andere  Sprachen,  durch  Veränderung  der  Ueberschrift  oder  auch 
bloss  des  Formats,  durch  Herausgabe  bald  im  Einzelnen,  bald  als 
Sammlung,  nur  um  diese  Druckwerke  immer  anderen  hochgestellten 
Persönlichkeiten  widmen  zu  können,  von  denen  er  vergeblich  Be- 
freiung aus  drückenden  Geldverhältnissen  erflehte.  Die  Geschichte 
der  Mathematik  hat  es  nur  mit  zwei  Werken  des  Orontius  Finaeus 
zu  thun.  Die  Protomathesis  ^)  von  1532  handelt  in  vier  Büchern 
von  der  Arithmetik,  in  zwei  Büchern  von  der  Geometrie,  in  fünf 
Büchern  von  der  Kosmographie,  in  vier  Büchern  von  der  Gnomonik. 
Die  drei  ersten  arithmetischen  Bücher  sind  dem  gemeinen  Rechnen 
gewidmet  und  unterscheiden  sich,  wie  es  nach  den  Auszügen,  auf 
welche  unser  Bericht  sich  stützt,  den  Anschein  hat,  nur  dadurch  von 
anderen  gleichzeitigen  Lehrbüchern,  dass  dem  Sexagesimalsystem  ein 
grösserer  Spielraum  gegeben  ist.  Die  Quadratwurzelausziehung  z.  B. 
lehrte  er  so^),  dass  dem  Radikanden  2n  Nullen  rechts  angefügt  und 
dann  ganzzahlig  die  Wurzel  gesucht  werden  soll,  welche  solcher  Weise 

^)  Nouvelle  Biographie  universelle  XVII,  706 — 712.  —  L.  Am.  Sedillot, 
Les  professeurs  de  mathematiques  et  de  physique  generale  au  College  de  France 
im  Bulletino  Boncompagni  Band  11  und  HI.  Ueber  Orontius  Finaeus  II,  .363 — 364. 
-;  Kästner  I,  449 — 453.  ^)  Tartaglia,    General  Trattato   de'   numeri  et 

misure.     Parte  11  fol.  22  (Venetia  1556). 


376  59.  Kapitel. 

lim  71  Stellen  zu  lang  ist.  Diese  n  reclits  überschiessenden  Stellen 
soll  man  dann  mit  60  vervielfachen  und  abermals  n  Stellen  rechts 
abschneiden,  mit  denen  man  wiederholt  in  gleicher  Art  zu  verfahren 
habe,  um  Sexagesimalbrüche  zu  erhalten.  Die  Kubikwurzelausziehung 
schloss  sich  an  und  wurde  wohl  nach  ähnlichen  Vorschriften  gelehrt. 
Auch  ein  Canon  Sexagenarum  war  beigefügt,  offenbar  eine  Art  von 
Einmaleinstafel  im  Sexagesimalsystem  mit  Stellungswerth  der  durch 
Kommata  getrennten  Zahlen,  die  jeder  nach  links  vorrückenden 
Zahl  den  ßOfachen  Werth  als  der  gleichen  rechts  stehenden  verleiht, 
z.  B.  64  =  1  •  60  +  4  •  1  =  1,  4;  169  =  2  •  60  +  49  •  1  =  2,  49  u.  s.  w. 
Das  vierte  arithmetische  Buch  geht  zu  den  Proportionen  über  und 
gipfelt  in  der  regula  sex  proportionalium  quantitatum,  also  in  den 
zusammengesetzten  Proportionen,  die  bei  6  darin  vorkommenden 
Grössen  18  Versetzungen  unterworfen  werden  können,  wie  sowohl 
Leonardo  von  Pisa  (S.  16)  als  Jordanus  Nemorarius  (S.  67)  gelehrt 
haben,  deren  Ersterer  Achmed  den  Sohn  Joseph's  als  Quelle  angab. 
Bei  den  zwei  geometrischen  Büchern  wird  insbesondere  die  vorzüg- 
liche Ausführung  der  Figuren  gelobt,  ein  Zeugniss  für  die  Geschick- 
lichkeit des  Verfassers  im  Zeichnen,  auf  die  er  sich  somit  nicht  um- 
sonst etwas  zugute  that.  So  soll  der  Abdruck  eines  Maassstabes  von 
6  Pariser  Zoll  bei  einer  durch  Kästner^)  angestellten  Vergleichung 
mit  einem  sehr  genauen  Messingstabe  haarscharfe  Uebereinstimmung 
gezeigt  haben,  so  soll  auch  die  Perspective  der  Raumfiguren  besonders 
gut  gelungen  sein.  Im  Uebrigen  wird  als  Inhalt  des  ersten  geometri- 
schen Buches  augegeben :  Erklärungen ,  Vorbereitung  den  Euklid 
leichter  zu  verstehen,  von  Kreisen  auf  der  Kugel,  Maasse,  eine  Sinus- 
tafel durch  alle  Minuten  in  Sechzigsteln  des  Halbmessers  ausgedrückt. 
Aus  dem  zweiten  geometrischen  Buche  nennt  unsere  Vorlage  Feld- 
messerwerkzeuge, Ausrechnung  ebener  Figuren,  Archimed's  Kreisrech- 
nung, Ausrechnung  der  Körper.    Unter  der  Bezeichnung  Kreisrechnung 

22 

dürfte   die  Benutzung  der  Verhältnisszahl  %  ^^  ~  zu   verstehen  sein. 

Finaeus  wusste,  dass  dieser  Werth  nicht  anders  als  angenähert  richtig 
ist.  Unbegreiflich  erscheint  daher,  dass  er  von  dieser  Kenntniss  aus 
den  Rückschritt  vollzog,  eine  zeichnende  Umwandlung  des  Kreises  in 
ein  Quadrat,  welche  gleichfalls  in  diesem  zweiten  geometrischen  Buche 

22 
gelehrt  ist,  und  welche,  wenn  auch  nicht  von  %  =  V  ausgehend,  doch 

auf  eben  diesen  Werth  führt,  für  genau  zu  halten,  ein  Rückschritt, 
an  welchem  nicht  zu  zweifeln  ist,  da  Finaeus  anderwärts  sich  aus- 
drücklich  gerühmt  hat^),  er  habe  zur  grossen  Wuth   seiner  Gegner 


*)  Kästner  I,  451.        *)  NoiiveUe  Biographie  universelle  XVII,  708,  Note  1. 


Französische,  spanische  und  portugiesische  Mathematiker.  377 

die  Quadratur  des  Kreises,  von  welcher  Aristoteles  an  verschiedenen 
Stellen  sage,  sie  sei  nicht  unauffindbar,  aber  noch  nicht  aufgefunden, 
wirklich  entdeckt  und  bewiesen.  lieber  die  kosmographische  und  die 
gnomonische  Abtheilung  gehen  wir,  als  dem  Inhalte  unserer  Dar- 
stellungen fern  gelegen,  hinweg.  Ebenso  begnügen  wir  uns  mit  dem 
Hinweise  auf  eine  von  Finaeus  vorgeschlagene  Methode  zur  Längen- 
bestimmung ^).  Mit  Finaeus  war  ein  Pariser  Arzt  und  Astronom 
Antoine  Mizauld^)  (1520—1578)  befreundet.  Diesem  hatte  Finaeus 
den  Auftrag  hinterlassen,  nach  seinem  Tode  ein  zweites  mathematisches 
Werk  dem  Drucke  zu  übergeben,  und  es  erschien  schon  1556  unter 
dem  prunkhaften  Titel  der  vier  Bücher  von  den  bisher  ersehnten 
mathematischen  Dingen,  De  rebus  mathematicis  hactenus  desi- 
deratis^).  Diese  ersehnten  Dinge  sind  der  Reihenfolge  nach  1.  Auf- 
findung zweier  mittleren  Proportionalen  zwischen  gegebenen  Strecken, 
2.  Rectification  des  Kreises,  3.  Theilung  der  Kreislinie  in  3,  5,  7,  11, 
13  gleiche  Längen,  beziehungsweise  Einbeschreibung  von  regelmässigen 
Vielecken  von  der  entsprechenden  Seitenzahl,  4.  Zerschneidung  der 
Kugel  in  zwei  Abschnitte,  deren  Rauminhalt  im  gegebenen  Verhält- 
nisse stehen  soll.  Alle  diese  Aufgaben  glaubte  Finaeus  unter  allei- 
niger Anwendung  von  Zirkel  und  Lineal  gelöst  zu  haben,  woraus  die 
Unrichtigkeit  seiner  Lösungen  hinlänglich  hervorgeht.  Ihnen  allen 
liegt  übrigens  ein  einziger  Gedanke  zu  Grunde,  die  Benutzung  der 
göttlichen  Proportion,  worunter  Finaeus  den  goldenen  Schnitt  ver- 
steht. Er  feierte  ihn  auch  in  einem  an  die  Spitze  gestellten  Distichon  ^) : 

Änthoris  distichon  de  divina  proportione. 
Si  quid  divinum  condebat  pulchra  mathesis 
Quod  Geometra  cölat;  haec  tibi  sola  dabit. 

Was  von  göttlichem  Inhalt  Verehrungswerthes  Mathesis 
Dem  Geometer  verbarg,  giebt  Dir  die  Eine  allein. 

Unter  den  Versen  befindet  sich  die  Zeichnung  einer  nach  äusserem 
und  mittlerem  Verhältnisse  getheilten  Strecke.  Der  Ausdruck  Bivina 
proporüo  der  Ueberschrift  lässt  vemiuthen,  dass  Finaeus  mit  der  Divina 
Proportione  des  Paciuolo  bekannt  war  und  zu  den  dort  gerühmten 
Vorzügen  des  goldenen  Schnittes  noch  andere,  bewundernswerthere 
hinzuzufügen  dachte.  Jene  Keuntniss  konnte  Finaeus  in  der  That 
besitzen.  Der  buchhändlerische  Verkehr  begann  bereits  ein  lebhafterer 
zu  werden,  und  wir  dürfen  auch  wohl  noch  auf  den  besonderen  Um- 
stand hinweisen,  dass  Liouardo  da  Vinci,  der  Zeichner  der  Figuren- 


1)  R.  Wolf,  Geschichte  der  Astronomie  S.  379  (München  1877).        *)  Pog- 
gendorff  II,  16.3.         ^)  Kästner  I,  454—457.         *)  Ebenda  S.  455. 


378  59.  Kapitel. 

tafeln  zur  Divina  Projjortione,  die  letzten  Jahre  seines  Lebens  bis 
1519  am  Hofe  desselben  Königs  Franz  I.  zugebracht  hatte,  in  welchem 
Finaeus  einen  wenn  auch  nicht  sehr  freigebigen  Gönner  verehrte. 
Finaeus  sagt  in  seinem  nachgelassenen  Werke,  die  Verhältnisszahl  7t 
liege  zwischen  -^r  und  —,  und  diese  Grenzen  sind  ja  auch  richtig. 
Dann  aber  legt  er  seinen  Zeichnungen  den  zweiten  kleineren  Werth 
zu  Grunde  und  preist  ihn  an,  er  führe  zur  genauen  Rectification. 
Nicht  als  ob  die  Zeichnungen  selbst  mit  diesem  Werthe  in  völliger 
Uebereinstimmung  sich  befänden;  es  bleibt  ein  Fehler,  welchen  Finaeus 
auf  eines  Theiles,  deren  60  auf  einen  Kreishalbmesser  gehen, 

berechnet,  wenn  die  Länge  der  dem  Kreisquadranten  gleichen  Strecke 
in  Frage  steht,  aber  dieser  so  kleine  und  unvermeidliche  Fehler  dürfe 
vernachlässigt  werden.  Gewiss  ist  auch  letztere  Behauptung  berechtigt 
und  die  ganze  Zeichnung  eine  praktisch  vollauf  genügende,  wenn 
nur  der  theoretische  Fehler  nicht  begangen  wäre,  dass  bald^<:7r, 

245 

bald  genau  "-:.-  =  %  gesetzt  würde.  Noch  weniger  gereehfertigt  sind 
die  Constructionen,  deren  Finaeus  bei  den  anderen  oben  erwähnten 
Aufgaben  als  längst  ersehnter  Erfindungen  sich  rühmt,  und  man  darf 
mit  einigem  Bedauern  feststellen,  dass  das  nachgelassene  Werk  des 
wahrscheinlich  mit  Recht  wegen  seiner  ausgezeichneten  Lehrgabe 
bewunderten  Mannes  seiner  erworben  geglaubten  Unsterblichkeit  ein 
schnelles  Ende  bereitete.  Wenn  die  Nachwelt,  unbeirrt  durch  an- 
fänglichen Ruhm,  durch  späteren  Misserfolg  Finaeus  fortwährend  eines 
Lobes  für  würdig  hält,  so  ist  es  eines  solchen,  welches  in  Finaeus  dem 
Menschen  und  nicht  dem  Mathematiker  gilt.  Finaeus  war  es  sicher- 
lich in  erster  Linie  um  die  Wissenschaft  zu  thun.  Er  war  keine 
jener  eifersüchtigen  Naturen,  die  es  nicht  ertragen  können,  dass 
einem  Anderen  als  ihnen  selbst  ein  Verdienst  zugebilligt  werde.  Das 
hat  er  durch  die  Herausgabe  fremder  Werke  bewiesen,  denen  er 
dadurch  selbst  den  Stempel  seiner  Achtung  aufdrückte.  Die  Arith- 
metik des  Silicius  hat  er  1519,  die  Margaritha  Philosophica  1523 
neu  herausgegeben,  zwei  Werke,  von  denen  die  theils  chronologische, 
theils  geographische  Gliederung,  welcher  wir  folgen,  uns  verbietet, 
jetzt  schon  mehr  als  nur  die  Namen  zu  nennen.  Es  folgte  1525  eine 
Ausgabe  von  Peurbach's  astronomischem  Hauptwerke,  der  Theorica 
nova  Planetarum,  und  Anderes  mehr,  was  unserem  Gegenstande  noch 
ferner  liegt. 

Fast  genau   derselben  Zeit  wie  Finaeus  gehörte  Jean  FerneP) 
(1497 — 1558)   an.      Zuerst   zweifelhaft,    ob   er    der  Kanzel  oder  dem 

')  Montucla  I,  576.    —  Nouvelle   BiograjjJne  universelle   XVII,  477—483. 


Französische,  spanische  und  portugiesische  Mathematiker.  379 

Vertlieidigerstande  sich  widmen  solle,  wurde  er  nur  deshalb  Arzt, 
weil  er  fühlte,  dass  seine  Stimme  für  die  Anforderungen  der  beiden 
anderen  Berufe  zu  schwach  war.  Er  hat  eine  glückliche  Wahl  ge- 
troffen, lu  der  Geschichte  der  Medicin  führt  er  den  Beinamen  des 
modernen  Galenus,  ein  hinlänglicher  Beweis  dafür,  dass  der  Schwer- 
punkt seines  wissenschaftlichen  Lebens  in  seiner  ärztlichen  Thätig- 
keit  zu  suchen  ist.  Seine  medicini sehen  Leistungen  beginnen  in- 
dessen erst  1534,  und  vorher  waren  es  astronomisch -mathematische 
Arbeiten,  die  ihn  beschäftigten.  Dem  Jahre  1528  gehört  eine  Schrift 
De  j)roiiorüonihus  an.  Seine  Cosmotheoria  aus  dem  gleichen  Jahre 
schildert  eine  unweit  Paris  durch  Fernel  ausgeführte  Gradmessung, 
welche  nicht  durch  die  Yorzüglichkeit  der  Methode,  wohl  aber  durch 
die  zufällig  erreichte  Genauigkeit  bekannt  geblieben  ist.  Die  Ge- 
schichte der  reinen  Mathematik  zeichnet  Ferners  Namen  als  den  eines 
Mannes  auf,  dessen  auf  anderem  Gebiete  erworbene  Berühmtheit  seiner 
Beschäftigung  mit  unserer  Wissenschaft  Interesse  verleiht. 

Jodocus  Clichtovaeus^),  in  Flandern  geboren  und  1543  in 
Chartres  gestorben,  wo  er  Canonicus  war,  hat  über  die  geheimniss- 
vollen Eigenschaften  der  Zahlen  geschrieben,  ausserdem  ein  Rechen- 
buch, hat  aber  überdies  möglicherweise  ein  viel  älteres  Rechenbuch 
(vielleicht  das  des  Sacrobosco?)  zum  Drucke  befördert  (S.  88). 

Den  bis  hierher  in  diesem  Kapitel  genannten  mathematischen 
Schriftstellern  lassen  wir  Charles  de  Bouvelles^),  lateinisch  Bo- 
villus  folgen.  Der  Mann  kommt  auch  in  den  Formen  Bouelles 
und  Bouilles  vor.  Er  ist  1470  in  Saucourt  in  der  Picardie  geboren 
und  war  Professor  der  Theologie  und  Canonicus  in  Noyon,  wo  er 
1553  starb.  Sein  Hauptwerk  erschien  1503  in  lateinischer  Sprache: 
Geometriae  introductionis  libri  sex,  breviusculis  annotationibus  ex- 
planata,  quibus  annectuntur  libelli  de  circuli  quadratura  et  de  cubi- 
catione  sphaerae  et  introductio  in  perspectivam  Caroli  Bovilli.  Der 
Titel  einer  französischen  Ausgabe  von  1542  lautet:  Livre  singulier  et 
utile,  touchant  l'art  et  pratique  de  Geometrie,  compose  nouvellement 
en  fran^ois  par  maitre  Charles  de  Bouvelles,  chanoine  de  Noyon. 
Andere  Ausgaben  des  wiederholt  aufgelegten  Werkes  sind  von  1547, 
1551,  1557,  1608.     In  der  französischen  Ausgabe^)  spricht  Bouvelles 

—  Wolf,  Geschichte  der  Astronomie,  S.  168 — 169. —  Les  historiettes  de  Talle- 
mant  des  Reaux  IV,  169  Note  1  (geschrieben  1657 — 1659,  gedruckt  Paris  1862). 
1)  Kästner  I,  222—226.  —  Chasles,  AperQU  hist.  47.3  (deutsch  540). 
*)  Poggendorff  I,  253.  —  Fontes,  Caroli  Bovilli  liber  de  numeris  perfectis  in 
den  Memoires  de  VAcademie  des  Sciences,  Inscriptions  et  Beiles  Lettres  de  Tou- 
louse 1894.  ^)  Chasles,  AjierQU  hist.  481  (deutsch  551).  —  S.  Günther, 
Vermischte  Untersuchungen  zur  Geschichte  der  mathematischen  Wissenschaften 
(Leipzig  1876),  S.  5—10. 


380 


59.  Kapitel. 


von  den  regelmässigen  Vielecken  und  anderen,  welche  sich 
daraus  ableiten.    Er  beginnt  (Figur  72)  mit  dem  Fünfeck  ABCDE 


und  leitet  durch  Ziehung  aller  Diagonalen  ein  ähnliches  inneres  aber 
mit  der  Spitze  nach  unten  gekehrtes  Fünfeck  ab,  welches  selbst  wieder 
durch  Verlängerung  sämmtlicher  Seiten  zum  Sternfünfecke  wird. 
Diese  beiden  Entstehungsweisen  vereint  betrachtet  lassen  aber  die 
AVinkelsumme  des  Sternfünfecks  erkennen.  Alle  Fünfeckswinkel  zu- 
sammen betragen  6  Rechte,  der  einzelne  108°.  Die  gezogenen  Dia- 
gonalen zerfallen  jeden  Winkel  wieder  in  3  gleiche  Winkel  von  je 
36°.  Das  Sternfünfeck  hat  somit  5  Winkel  von  je  36°  mit  der  Ge- 
sammtsumme  von  2  Rechten.  Ob  die  Einschränkung  auf  regel- 
mässige Vielecke,  welche  Bouvelles  sich  auferlegt,  neu  ist,  dürfte  frag- 
lich sein.  Bradwardinus  und  die  Anderen,  welche  Sternvielecken  ihre 
Aufmerksamkeit  zuwandten,  sagen  zwar  nirgend  etwas  von  dieser  Ein- 
schränkung, und  deshalb  haben  wir  geglaubt,  in  unseren  Berichten 
gleichfalls  schweigen,  in  unseren  Figuren  uns  nicht  an  die  Regel- 
mässigkeit binden  zu  dürfen,  aber  die  Figuren  jener  älteren  Schrift- 
steller sind  thatsächlich  alle  regelmässig  gezeichnet.  Neu  ist  nur  bei 
Bouvelles,  dass  er  der  Regelmässigkeit  als  Beweismittel  sich  bedient 
und  sie  desshalb  betont.  In  der  lateinischen  Ausgabe  von  1557  er- 
scheint zwar  einmal  ein  unregelmässiges  Sternachteck  ^),  so  erzeugt, 
dass  (Figur  73)  die  4  Eckpunkte  eines  Quadra- 
tes je  mit  den  Mittelpunkten  der  Gegenseiten 
verbunden  werden-,  aber  ob  Bouvelles  dieses 
Achteck  ÄEDHCGBF  als  Stern vieleck  an- 
erkannt hätte,  geht  aus  dem  Texte  in  keiner 
Weise  hervor.  Die  französische  Ausgabe  geht 
weiter  zum  Sechsecke,  dessen  angles  egreilicnts 
(Winkel  des  Sternsechsecks)  4  Rechte  betragen. 
Jede  solche  Figur  bestehe  (Figur  74)  aus  zwei 

*)  Günther  1.  c.  S.  8,  Figur  6  mit  Berufung  auf  Blatt  33  der  lateinischen 
Ausgabe. 


Französische,  spanische  nud  portugiesische  Mathematiker. 


581 


Fig.  74. 


sich  durchsetzenden  gleichseitigen  Dreiecken  und  habe  die  doppelte 
Fläche  ihres  regelmässigen  Sechsecks,  das  heisst  desjenigen  Sechsecks, 
durch  dessen  Seitenverlängerung  sie  hervorgebracht  ist. 
Beim  Siebeneck  giebt  es  ein  herausgehendes  und  ein 
noch  mehr  herausgehendes  Siebeneck^).  Bei  dem  letz- 
teren, also  bei  dem  Sternsiebeneck  zweiter  Art,  sei  die 
Winkelsumme  2  Rechte,  vrie  sie  bei  dem  Sternfünfeck 
war.  Das  eine  Mal  sei  eben  eine  Theilung  durch  7 
vorzunehmen,  wo  das  andere  Mal  nur  eine  solche  durch 
5  erforderlich  sei.  Bouvelles  will  damit  wohl  sagen, 
die  Winkelsumme  des  Siebenecks  (w-ecks)  oder  10(2«  —  4)  Rechte, 
sei  durch  7  (j/)  zu  theilen,  um  den  Winkel  des  regelmässigen  Sieben- 
ecks (n  -  ecks)  in  der   Grösse  —  ( )    Rechten    zu    finderK     Dann 

theilt  sich  jeder  Winkel  durch  5  (ii  —  2)  Diagonalen  in  ebenso  viele 

2    /  2  \ 

kleinere  Winkel   von   der   Grösse  -^  (— )   Rechte,   und   7   (n)  solcher 

Winkel  betragen  2  Rechte.  Der  ganze  letzte,  eigentlich  wesentlichste 
Theil  des  Beweises  ist  schweigend  vorausgesetzt.  Die  obengenannte 
lateinische  Ausgabe  von  1557  geht  in  mancher  Beziehung  über  den 
französischen  Text  von  1542  hinaus.  Gleich  beim  Fünfeck  ist  die 
Figur  und  deren  Beschreibung  vollständiger  als  je  zuvor  (Figur  75). 
Die  beiden  früheren  Veränderungen  des  convexen  Fünfecks  ABGBE 
durch  Diagonalenziehuug  und 
Seitenverlängerung  sind  hier  ver- 
einigt. Es  ist  bemerkt,  dass  im 
Dreieck  ACE  und  den  gleich- 
artig gebildeten  jeder  der  beiden 
Winkel  bei  A  und  E  doppelt 
so  gross  sei  als  der  Winkel 
bei  C.  Die  Axe  CF  des  her- 
ausgehenden Fünfecks  heisst  es, 
sei  zweimal  so  lang  als  die  des 
einförmigen,  uniformis ,  ein  gar 
nicht  übler  Kunstausdruck  für 
die  nach  allen  Seiten  convexe 
Figur,  der  Bouvelles  wohl  eigen- 
thümlich  ist.  Das  Sechseck  und  Siebeneck  scheint  zu  weiteren  Be- 
merkungen keinen  Anlass  geboten  zu  haben.  Dagegen  ist  in  der 
lateinischen    Ausgabe   auch    das    Achteck    noch    hinzugekommen    und 


^)  8i  on  prolonge  les  costez  de  Iheptagone   saiUant   ou   ü   surviendra   ung 
aiiltre  heptagone  moidt  plus  egredient  que  le  x>remier. 


382 


59.  Kapitel. 


zwar  sowohl  das  aus  zwei  sich  durchsetzenden  Quadraten  gebildete 
erste  Sternachteck,  wenn  man  dieses  gleichwie  das  aus  zwei  Drei- 
ecken gebildete  Sechseck  wirklich  ein  Sternvieleck  nennen  darf,  als 
auch  das  zweite  eigentliche  Sternachteck.  Dass  das  letztere  die 
Winkelsumme  von  2  Rechten  besitze,  scheint  Bouvelles  nicht  gesagt 
zu  haben.  Es  bleibe  dahingestellt,  ob  er  es  als  selbstverständlich 
verschwieg,  weil,  wie  wir  oben  zeigten;  seine  Andeutungen  beim  Sieben- 
eck einem  allgemein  geführten  Beweise  ähneln  oder  ob  jene  unsere 
Auffassung  Bouvelles  zu  viel  zutraute  und  schon  beim  Achtecke  eine 
Lücke  seines  Wissens  wie  seines  Könnens  sich  bemerklich  macht. 

Bouvelles  wird  gemeiniglich  als  derjenige  Gelehrte  genannt,  welcher 
nächst  dem  Cardinal  von  Cusa  (S.  202)  zuerst  das  Rollen  eines  Rades 
auf  einer  geradlinigen  Basis  beobachtete  und  somit  in  der  Geschichte 
der  Cykloide  Erwähnung  verdiene^).  Richtig  daran  ist,  dass  Bou- 
velles ausdrücklich  erzählt,  er  habe  einmal  auf  einer  Brücke  in  Paris 
auf  das  Rad  eines  über  das  ebene  Pflaster  rollenden  Wagens  geachtet. 
Da  sei  ihm  klar  geworden,  dass,  wenn  ein  Rad  einen  ganzen  Um- 
lauf vollendet  habe,  der  zurückgelegte  Weg  dem  Kreisumfange  gleich 
sein  müsse,  und  dass  man,  wenn  die  Punkte  der  Basis,  auf  welche 
einzelne  Punkte  des  Rades  auftreffen,  gefunden  werden,  damit  zugleich 
Strecken  erhalte,  welche  Theilen  des  Kreisumfanges  gleich  seien.  Die 
Curve  dagegen,  welche  etwa  ein  Nagel  des  Rades  in  der  Luft  be- 
schreibt, während  jene  Umdrehung  sich 
vollzieht,  also  die  eigentliche  Cykloide,  hat 
Bouvelles  keineswegs  erkannt.  Er  hält  viel- 
mehr (Figur  76)  die  bei  einer  halben  Um- 
drehung erzeugte  Curve  ohne  weiteres  für 
einen  Kreisbogen,  dessen  Mittelpunkt  um 
den  vierten  Theil  des  Halbmessers  des  rol- 
lenden Kreises  tiefer  liegt  als  der  Punkt, 
in  welchem  jener  Kreis  die  Basis  trifft,  und 
dessen  Halbmesser  gefunden  wird,  indem  man  den  so  bestimmten 
Mittelpunkt  mit  dem  Endpunkte  des  der  Basis  parallelen  Durch- 
messers   des    rollenden    Kreises    verbindet.      Eine   Erörterung    dieser 

Zeichnung  hat  zu  folgendem  Ergebnisse  geführt.    Vermöge  EH  =  -j-  *' 

■-1/4I 


und 


ED  =  r  ist  HB  =  rj/p  +  {^' 


Ferner 


^)  Wallis  in  den  Fhilosophical  Transadions  Vol.  XIX  (für  die  Jahre  1G95, 
1696, 1697)  pag.  561—566.—  S.  Günther,  War  die  Zykloide  bereits  im  XVI.  Jahr- 
hunderte bekannt?  in  Eneström's  BihUoth.  mathem.  1887,  S.  8—14.  Auf  S.  8 
der  Abdruck  der  wesentlichen  Stelle  aus  der  französischen  Ausgabe  von  Bouvelles 
und  daran  anknüpfend  die  Discussion  der  Cohstruction. 


Französische,  spaniscbe  imd  portugiesische  Mathematiker. 


383 


AH=^,      HCr  =  HD  =  ~y41 


also 


Aber  AG  =  arc.  AD  stellt  ein  Viertel  der  Kreisperipherie,  d.  h.  -^ 
dar,  mithin  ist  Bouvelles'  Zeichnung  gleichbedeutend  mit  der  Annahme 
7C=  ]/lO  .  Ob  ihm  dieser  indische  Werth  (Bd.  I,  S.  606)  von  aussen 
zugetragen  worden,  ob  er  von  selbst  auf  ihn  verfiel,  dürfte  mit  Ge- 
vrissheit  sich  nicht  entscheiden 

lassen.    Auffallend  ist  das  Zu-      ^  -^  ^ 

sammentreffen  unter  allen  Um- 
ständen. 

Einen  zweiten  missglückten 
Versuch  auf  dem  Gebiete  der 
Kreismessung  machte  Bouvelles 
in  Gestalt  einer  Arcufication  ^). 
Man  theile  (Figur  77)  eine 
Strecke  AB  in  drei  gleiche 
Theile  und  trage  auf  den 
Schenkeln  eines  rechten  Win- 
kels BCE  vom  Scheitel  C  aus  je  ein  Drittel  CF 

Nachdem  FG  gezogen,  wird  zu  dieser  Geraden  parallel  innerhalb  des 
rechten  Winkels  JK  gesucht,  so  dass  JK=  CF+  CG  +  FG.  Als- 
dann soll  der  um  C  als  Mittelpunkt  mit  CK  als  Halbmesser  beschrie- 
bene   Kreis    die    vierfache    Länge    von  AB  besitzen.     Sei    AB  =  a, 

CG  ==  —  ■     Weil    CGH  ein    rechtwinklig   gleichs'chenkliges   Dreieck 


Fig.  77. 


CG  =  ^AB  ab. 


ist,   ersriebt  sich   HG 


3|/'2 


Dari 


folcrt 


FG  =  2HG=  ^  |/2 

JK^^i2-\-  ]/2)     und     ^JK  =  3IK  =  MC  =  ".  (2  +  ]/2) , 


CK=  3IKY2  =  -J(l  +  1/2), 


Die  gezeichnete   Kreisperipherie   mit  CK  als  Halbmesser  ist  folglich 

271  ■  -  (l  4-  1/2)  und  wird  für  4  a  gehalten.    Das  bedeutet  71  =  —= 

^  _  °  l/'^  +  i 

=  6  (1/2  —  1)  =  yi2  —  6  =  2,4852814  •  •  -,  mithin  ein  viel  zu  kleiner 
Werth. 

Ein   dritter    Versuch    Lst   der   einer   Circulatur.      Halbmesser    des 


1)  Bute  0,  De  quadratura  circuli  (Lyon  1559)  pag.  155—158  berichtet  darüber. 


384  59.   Kapitel. 

dem  Quadrate  (Figur  78)  flächengleichen  Kreises  ist  die  Verbindungs- 
linie des  Mittelpunktes  des  Quadrates  mit  dem  einen  Eckpunkte  zu- 
nächst gelegenen  Yiertheiluugspunkte  der  Quadrat- 
seite. Ist  a  die  Quadratseite,  so  ist  jener  Halb- 
messer offenbar  -rVö  und  die  Kreisfläche   -^a^n. 

4    '  Ib 

Sie  soll  dem  Quadrate  a^  gleich,  also  :x  =  3,2  sein. 
Genau  die  gleiche  Construction^)  lehrte  Joachim 
Fortius  Riugelberg  in  seinem  Chaos  mathema- 
ticum ,  welches  in  einer  Gesammtausgabe  seiner 
Werke  1531  in  Lyon  gedruckt  wurde.  Ringelberg-)  ist  in  Antwerpen 
geboren,  am  Hofe  Maximilian  I.  erzogen.  Nachdem  er  erst  mit 
17  Jahren  Latein  gelernt  hatte,  stiidirte  er  in  Löwen,  Paris,  Orleans, 
Bourges  und  starb  etwa  1536. 

Endlich  yiertens  entnahm  Bouvelles  noch  eine  Circulatur,  wie 
uns  berichtet  wird^j,  einem  in  Volkssprache  geschriebenen,  von  einem 
Bauer  verfassten  Büchelchen.    Der  einem  Quadrate  flächengleiche  Kreis 

c 

hat  nämlich  nach  dieser  Vorschrift  —  der  Diagonale  als  Durchmesser. 

Sei  a  die  Seite  des  Quadrates,  a'  die  Kreisfläche.  Die  Diagonale  ist 
aY2,  der  KJreisdurchmesser 

2r  =  —ay'I ,     a  =  — - ,     «-  =  3—- r^  =  %r-     und     -t  =  3 -    • 

10      '       '  2 1/2  o  0 

Werth  und   Construction   sind   uns    wieder  von   früher   her  bekannt. 

Der  Werth   %  =  3—  ist  uns   in  diesem  Bande  bei  Paciuolo  (S.  317) 

als  untere  Grenze  jener  Verhältnisszahl  schon  vorgekommen,  die  Con- 
struction ähnelt  einer  indischen  (Bd.  I,  S.  601 — 602)  und  fällt  ganz 
mit  ihr  zusammen,  wenn  wir  die  damalige  versuchsweise  aufgestellte 

Vermuthung  von  dem  Näherungswerthe  ]/2  00  -^^  aus  welcher  folgte, 
dass  der  Kreisdurcbmesser  dort  --  der  Diagonale  war,  jetzt  rückwärts 

auf  die  ausdrücklich  ausgesprochene  Vorschrift  stützen  dürfen.  Immer 
auffallender  wird  dabei  das  ganz  unvermuthete  und  uns  kaum  erklär- 
liche Zusammentreffen  mit  Indischem,  von  welchem  die  zuerst  an- 
geführte Rectification  schon  ein  Beispiel  gab. 

BouveUes  bat  zwischen  der  lateinischen  Ausgabe  seiner  Geometrie 
von  1503  und  deren  französischen  Uebersetzung  von  1542  (S.  379) 
auch  noch   ein  von   derselben  verschiedenes  französisches  Buch:  Gco- 


^)  So  berichtet  ■vriedex-  Buteo  1.  c.  pag.  151.  -)   Jöcher,  Allgemeines 

Gelehrten-Lexikon  IE,  2102—2103.      ^)  Tartaglia,  Gemral  Trattato  de'  numeri 
et  misure.  Parte  IV  fol.  22  (Venetia  1560). 


Französische,  spanische  und  portugiesische  Mathematiker.  385 

metrie  en  fran(;oys  verfasst,  welches  1511  und  wiederholt  1514  in 
Paris  erschien.  Noch  ein  Jahr  früher  gab  der  gleiche  Pariser  Drucker 
Opuscula  de  Charles  de  Bouvelles  (1510)  heraus,  einen  Sammelband, 
in  welchem  auch  eine  theologisch -philosophisch -arithmetische  Ab- 
handlung Opus  de  XII  mimeris  eine  Stelle  gefunden  hat.  In  ihr 
ist  Einiges  über  vollkommene  Zahlen  enthalten,  z.  B.  der  Satz,  dass 
ausser  der  6  jede  andere  vollkommene  Zahl  nach  Abzug  von  1 
durch  9  theilbar  werde,  umgekehrt  lasse  sich  aber  der  Satz  nicht 
behaupten  ^). 

Wir  haben  hier  noch  eines  Guillaume  Postel")  (1510 — 1581) 
zu  erwähnen,  welcher  1540  anonym  ein  Compendiun)  de  Mathemuticis 
disciplinis  ex  Cassiodoro  herausgegeben  zu  haben  scheint.  Aus  diesem 
Buche  wird  die  wichtige  Stelle  berichtet^):  Hitius  disciplinae  tota  vis 
in  exempdis ,  additionibus  et  detractionihus  partium,  est  sita:  quam 
partem  qui  volet  plenissime  pernosse,  L.  Appulejum,  legat;  qui  primus 
Latinis  haec  argumenta  demonstravit ,  aus  welcher  ähnlich  wie  aus 
dem  Algorithmus  linealis  (S.  222)  der  Schluss  gezogen  worden  ist 
(Bd.  I,  S.  524),  ein  Rechenbuch  des  Appuleius  müsse  sich  bis  zum 
Anfange  des  XVI.  Jahrhunderts  erhalten  haben. 

Wir  wenden  uns  von  Frankreich  nach  Südwesten  zur  pyrenäischen 
Halbinsel.  Mag  es  doch  unseren  Lesern  wunderlich  genug  erscheinen, 
dass  von  diesem  Theile  Europas  in  diesem  Bande  noch  gar  nicht  die 
Rede  war.  Spanien  war  unter  arabischer  Herrschaft,  wie  wir  im 
I.  Bande  gesehen  haben,  der  Sitz  einer  hoch  entwickelten  wissen- 
schaftlichen Bildung.  Mathematische  Studien  blühten  dort.  In  der 
Mitte  des  XIII.  Jahrhunderts,  als  die  Araber  nach  Granada  zurück- 
gedrängt wurden,  herrschte  Alfons  X  el  Sabio  (der  Weise)  über 
die  Sieger,  der  Astronom  auf  dem  Königsthrone,  welcher,  wie  wir 
mehrfach  anzuführen  in  der  Lage  waren,  in  den  Alfonsinischeu 
Tafeln  eine  Tabellensammlung  berechnen  liess,  deren  die  Astronomen 
von  ganz  Europa  sich  Jahrhunderte  lang  bedienten.  Als  endlich  mit 
der  Einnahme  von  Granada  am  2.  Januar  1492  auch  das  letzte  Boll- 
werk des  Islam  gefallen  war,  da  verliess  nur  sieben  Monate  später 
Christoforo  Colombo  auf  spanischem  Schiffe  Europa,  um  die  erste 
seiner  vier  im  Dienste  des  gleichen  Landes  gemachten  Entdeckungs- 
reisen anzutreten.  Das  benachbarte  Portugal  war  nicht  minder  an 
den  grossen  Entdeckungen  betheiligt,  welche  die  Kenntniss  der  Erd- 
oberfläche  erweiterten.     In   der    ersten  Hälfte   des  XV.  Jahrhunderts 


^)  Fontes  1.  c.  Der  Satz  selbst  ist  richtig  und  wurde  zuerst  von  Wantzel 
in  den  NouveUes  annales  de  mathematiques  Hl,  337  bewiesen.  -)  Poggen- 

dorff  II,  508—509.         ^)  Vossius  pag.  40. 

Cantor,  Geschichte  der  IMathem.    II.    2.  Aufl.  25 


386  59.  Kapitel. 

lebte  der  Infant  Don  Henri que  der  Seefahrer,  in  der  zweiten 
Hälfte  des  gleichen  Jahrhunderts  trat  Martin  Behaim,  der  Schüler 
von  Regiomontanus  (S.  289)  in  portugiesische  Dienste,  am  Ende  des 
Jahrhunderts  umschiffte  Vasco  de  Gama  die  Südspitze  Afrikas. 
Solche  kühne  Seereisen  sind  undenkbar,  wenn  die  Führer  nicht  der 
praktischen  Sternkunde  in  hohem  Grade  mächtig  sind.  Sternkunde 
andererseits  setzt  immer  und  überall  eine  ihr  gleichlaufende  Ent- 
wickelung  der  Schwesterwissenschaft  der  Mathematik  voraus.  Wer 
waren  die  Träger  dieser  Entwickelung  in  Spanien  und  Portugal?  Wir 
haben  die  Frage  aufgeworfen  und  dadurch  ihre  Berechtigung  an- 
erkannt. Wir  müssen  aber  als  Antwort  die  auffallende  Erscheinung 
ins  Licht  treten  lassen,  dass  von  jener  Entwickelung  der  Mathematik 
auf  spanischem  und  ebenso  auf  portugiesischem  Boden  nur  sehr 
dürftige  Spuren  nachweisbar  sind,  so  dürftige,  dass  man  sich  ge- 
zwungen sieht,  anzunehmen,  das  kaum  Glaubliche  sei  wirklich  Wahr- 
heit: die  Schifffahrtskunde  habe,  wie  kaum  je  zuvor,  Fortschritte 
gezeigt,  die  Mathematik  sei  daneben  so  gut  wie  unbeachtet  geblieben. 
Die  wenigen  Namen,  welche  wir  zu  nennen  haben,  bestätigen  lediglich 
diesen  Ausspruch. 

Um  die  Wende  des  Jahrhunderts  haben  wir  Petro  Sanchez 
Ciruelo^)  zu  erwähnen.  Er  studirte  in  Salamanca,  zog  dann  in 
jungen  Jahren  nach  Paris,  wo  er  während  zehn  Jahren  Mathematik  und 
Philosophie  lehrte.  1510  wurde  er  Professor  der  Theologie  und  Philo- 
sophie an  der  Universität  zu  Alcala,  später  Canonicus  an  der  Kathe- 
drale von  Salamanca.  Er  war  einer  der  drei  Lehrer  und  zwar  der 
höehstgestellte  des  nachmaligen  Königs  Philipp  H.  Seine  Arithmetik 
Arithmeüce  pratice  seu  Algorismi  Tractatus  ist  1505  in  Paris  gedruckt, 
ebenda  schon  früher  1502  (nach  Anderen  1495?)  die  von  Ciruelo 
herausgegebene  Arithmetica  speculativa  des  Bradwardinus,  ebenda 
1508  eine  Ausgabe  der  Sphaera  des  Sacrobosco  mit  reichhaltigen 
Erläuterungen,   so   dass   man  fast  verpflichtet  wäre,   den   Spanier  als 


0  Poggendorff  I,  446.  Wie  dieser  sonst  so  sorgfältige  Schriftsteller  dazu 
kam,  als  Geburtsjahr  1500  etwa  anzugeben,  während  er  1496  als  Dinickjahr  der 
Arithmetik  angiebt,  ist  unerfindlich. —  Treutlein,  Das  Rechnen  im  XVI.  Jahr- 
hundert S.  42  (Supplementheft  zu  Zeitschr.  Math.  Phys.  XXTI)  hält  Sanchez  für 
den  Familiennamen.  —  NouveUe  Biographie  universelle  X,  620 — 621.  —  G.  Vi- 
euna,  Siir  quelques  ecrits  mathe'matiques  publies  en  Espagne  aiix  XVI  et  XVII 
Siecles  in  Eneström's  Bibliotheca  mathematica  1890,  33— 36.  — A.  F.  Valiin, 
Cultura  scientifica  de  Espana  en  el  siglo  XVI.  Discursos  Jetdos  ante  la  real 
academia  de  sciencias,  Madrid  1893,  ist  uns  nur  durch  einen  Bericht  von 
G.  Eneström  {Bibliotheca  mathem.  1894,  pag.  33—36)  bekannt,  scheint  aber 
wesentlich  bibliographische  Notizen  ohne  Inhaltsangabe  der  betreffenden  Werke 
zu  enthalten. 


Französische,  spanische  und  portugiesische  Mathematiker.  387 

Franzosen  zu  behandeln,  wenn  nicht  1516  und  wiederholt  1518  in 
Alcala  ein  Cursus  quatuor  maihematicarum  artiiim  liberalium  erschienen 
wäre.  Bemerkenswerth  ist  aus  seiner  Arithmetik,  dass  er  Namen  für 
10*^  und  10^^  kennt,  welche  von  den  bei  Chuquet  vorkommenden 
abweichen;  10^  heisst  ihm  cuento  und  10^-  erst  heisst  millon.  Die  geo- 
metrische Abtheilung  des  Cursus  soll  sich  hauptsächlich  an  Campanus 
und  Bradwardinus  anschliessen,  in  der  Angabe  zweier  Kreisquadraturen 
folge  er  Bouvelles.  Die  Darstellung  der  Perspective  sei  reich  an  ge- 
schichtlichen Bemerkungen. 

Wir  schalten  hier  den  Namen  eines  Ungarn  Magister  Geor- 
gius  de  Hungaria  ein,  der,  wie  die  von  ihm  benutzten  Zahlwörter 
cuento  und  millon  beweisen,  als  Schüler  Ciruelo's  betrachtet  werden 
muss.  Diese  Abhängigkeit  weist  ihm  hier  seinen  Platz  an,  während 
das  Erscheinungsjahr  1499  seiner  in  Holland  gedruckten  Arithmetik^) 
ihn  schon  im  55.  Kapitel  zur  Erwähnung  hätte  bringen  sollen. 

Etwa  in  gleiche  Linie  mit  Ciruelo  ist  Juan  Martine z  Guijeno^) 
zu  stellen.  Das  Wort  Guijeno  bedeutet  Kieselstein  und  wurde  als 
Silicius  latinisirt,  unter  welchem  Namen  der  hier  gemeinte  Schrift- 
steller verhältnissmässig  am  bekanntesten  ist.  Er  war  Professor  der 
Philosophie  an  der  Universität  Salamanca,  später  Erzbischof  von  Toledo 
und  Cardinal.  Auch  er  war  einer  der  Lehrer  Philipp  IL,  wozu  er 
als  Nachfolger  des  Ciruelo  ernannt  wurde,  nachdem  dieser,  wie  man 
erzählt,  durch  seinen  kleinen  Wuchs  sich  als  nicht  recht  tauglich  er- 
wiesen hatte.  Silicius  Hess  1514  in  Paris  eine  praktische  Arithmetik 
drucken,  welche,  wie  wir  schon  wissen  (S,  219)  das  Linienrechnen 
lehrte,  und  welche  (S.  378)  Finaeus  wenige  Jahre  später  wiederholt 
zum  Drucke  beförderte,  und  gab  Schriften  des  Suisset  heraus. 

Gasper  Lax^)  war,  obwohl  Spanier  von  Geburt,  Lehrer  an  der 
Universität  Paris  und  gab  dort  Schriften  über  Arithmetik  und  über 
Proportionenlehre  heraus.  Später  kehrte  er  nach  seiner  Heimath  zurück 
und  lehrte  in  Saragossa,  wo  er  1560  starb. 

Juan  de  Ortega*)  gehörte  dem  Orden  der  Prädicatoren  an. 
Er  Hess  1512  in  Barcelona  eine  Cominisicion  de  la  arte  de  la  aris- 
metica  y  Juntamente  de  geometria  erscheinen,  welche  dann  wiederholt 
und  in  verschiedenen  Sprachen  gedruckt  worden  ist.    Wir  sind  durch 


^)  Die  Arithmetik  des  Magisters  Georgius  de  Hungaria  aus  dem  Jahre  1499 
von  Coloman  von  Szily  und  August  Heller.  Math,  und  natm-w.  Berichte 
aus  Ungarn.  Bd.  XII.  Budapest  1894.  Die  Arithmetik  selbst  ist  gleichfalls  1894 
in  Budapest  in  Neudruck  erschienen.  *)  Poggendorff,  II,  930— 931.  3)  gi^enda 
I,  1395.  *)  Kästner,  I,  96—99.    —    Jos.  Perott,    Siir    une  arithmetique 

efS2)agnole  du  seizieme  fiiecle  im  Btdletino  Boncompagni  XV,  163 — ^169. 

25* 


388  59.  Kapitel. 

Auszüge  damit  bekannt,  dass  auch  bei  Ortega  das  Wort  cnento  mit 
der  Bedeutung  einer  Million  vorkommt,  ferner  dass 

■)/557Ö2  =  236j^     und     >^l8889  =  20^ 

gerechnet  ist.     Man  erkennt  in  diesen  Werthen  die  beiden  Formeln 

-,/—r  ,    A  —  a*  3,—  A  —  a^ 

yA  CO  a-\-  ~ — -— ,      VA  oo  a  +  -—. — j— -  • 

'  '     2a  -{-  l  '  '     3a{a  +  1) 

Die  erste  derselben  ist,  wie  wir  uns  erinnern  wollen,  arabischen  Ge- 
brauchs gewesen,  die  zweite  weicht  um  ein  Geringes  von  der  Formel 
Leonardo's  von  Pisa  (S.  32) 

yA  r\j  a  -{- 


3o(a  -f  1)  -I-  1 

ab.  Die  Quadratwurzel  ist  aber  auch  nicht  regelmässig  nach  der 
gegebenen  Formel  gebildet.     Es  kommen  Angaben  vor  wie 

1/128=11^,     1/80  =  8j^,     y75=8^u.s.w., 

welche  hergestellt  werden  konnten,  indem  man  sich  eines  neuerdings 
seit  1894  wieder  bekannt  gewordenen  Verfahrens  des  Heron  von 
Alexandria  bediente,  von  welchem  überhaupt  zahlreiche  Spuren  ver- 
muthet  werden. 

Das  ist  die  ganze  Ausbeute,  welche  Spanien  bis  zur  Mitte  des 
XYI.  Jahrhunderts  uns  bietet.  Portugal  bietet  für  den  gleich  be- 
messenen Zeitraum  weniger  und  zugleich  mehr:  einen  einzigen  Namen, 
aber  als  Träger  desselben  einen  Mann,  der  die  Wissenschaft  um 
mehrere  fruchtbare  Gedanken  bereichert  hat,  Pedro  Nuüez,  lateinisch 
Nonius^).  Er  ist  1492  zu  Alcazar  de  Sol  geboren,  studirte  in 
Lissabon,  dann  in  Salamanca.  Im  Jahre  1519  kam  er  in  die  ver- 
antwortungsreiche Stellung  eines  Oberaufsehers  der  Zölle  nach  Goa 
in  Indien,  von  wo  er  1529  als  königlicher  Kosmograph  zurückkehrte. 
1544  bis  1562  war  er  Inhaber  eines  für  ihn  gegründeten  Lehrstuhls 
der  höheren  Mathematik  an  der  Universität  Coimbra.  Er  unter- 
richtete den  Prinzen  Heinrich  von  Portugal,  welcher  später  den 
Königsthron  dieses  Landes  bestieg.  Nonius  starb  zu  Coimbi-a  1577. 
Seine  Schriften  hat  er  theils  in  lateinischer,  theils  in  portugiesischer 
Sprache  verfasst.  Eine  der  letzteren  hat  er  nachträglich  selbst  ins 
Spanische  übersetzt,  und  in  dieser  Gestalt  ist  sie  1567  in  Antwerpen 
als   Livro    de  Algebra   em  Arithmetica  e   Geometria   gedruckt  worden. 


^)  Kästner  11,  337  und  587  —  590.  —  D'ArauJo  d'Azevedo  in  von  Zach's 
Monatlicher  Correspondenz  für  Beförderung  der  Erd-  und  Himmelskunde  III, 
203—206.  —  Nouvelh  Biographie  universelle  XXXVIII,  361—363.  —  R.  Wolf, 
Geschichte  der  Astronomie  S.  327,  365,  367.  —  S.  Günther,  Studien  zur  Ge- 
schichte  der  mathematischen  und  i^hysikalischen  Geograi^hie  S.  341—344. 


Französische,  spanische  und  portugiesische  Mathematiker.  389 

In  dieser  Algebra  scheint  der  Versuch  enthalten  zu  sein^),  den 
grössten  gemeinschaftlichen  Theiler  zweier  algebraischen 
Ausdrücke  zu  ermitteln.  Wir  haben  noch  drei  andere  Schriften 
zu  erwähnen.  Sein  De  crepiiscnlis  Über  unus,  gedruckt  1542  in  Lissabon 
(Olysipone)  enthält  die  Auflösung  der  in  der  Geschichte  der  Astronomie 
wohlbekannten  Aufgabe  der  kürzesten  Dämmerung,  ist  für  uns  aber 
durch  den  Vorschlag,  wie  man  bei  Winkelmessungen  verfahren 
solle,  der  nebenbei  gemacht  ist,  merkwürdig.  Nonius  will  eine  aus 
46  concewtrischen  Kreisquadranten  bestehende  Vorrichtung  angefertigt 
wissen.  Der  äusserste  und  grösste  Kreisbogen  soll  in  90  Theile, 
mithin  in  ganze  Grade  eingetheilt  sein,  der  nächstfolgende  in  89  Theile, 
deren  jeder  also  1—  Grad  oder  P  40,"4494  .  .  .  beträgt.  Jeder  fol- 
gende Quadrant  soll  wieder  in  gleiche  Theile  eingetheilt  sein,  deren 
Anzahl  um  je  eine  Einheit  abnimmt.  Der  innerste  Quadrant  hat 
mithin  nur  45  Theile  von  je  2".  Wird  nun  der  eine  Schenkel  eines 
spitzen  Winkels  mit  dem  einen  die  Vorrichtung  begrenzenden  Halb- 
messer, der  Scheitel  des  Winkels  mit  dem  gemeinschaftlichen  Mittel- 
punkte aller  Quadranten  zur  Deckung  gebracht,  so  hatte  man  nur  zu- 
zusehen, bei  welchem  von  den  Quadranten  der  andere  Schenkel  mit 
einem  Theilstriche  zusammenfiel  und  der  wievielte  Theilstrich  es  war, 
um  den  Winkel  mit  grosser  Genauigkeit  gemessen  zu  haben.  Dass 
die  sehr  sinnreiche  Vorrichtung  wenigstens  für  Winkelmessung  sich 
nicht  einzubürgern  vermochte,  beruht  wohl  wesentlich  auf  der  tech- 
nischen Schwierigkeit,  jene  46  unter  sich  verschiedenen  Bogen- 
theilungen mit  gleicher  Zuverlässigkeit  auszuführen,  eine  Schwierig- 
keit, welche  erst  zu  einer  Zeit  vollkommen  besiegt  wurde,  als  andere 
vollkommnere  Einrichtungen  die  des  Nonius  überholt  und  verdrängt 
hatten.  Gleichwohl  hat  die  Nachwelt  den  Namen  des  Nonius  mit 
den  genauen  Winkelmessungen  verknüpft,  welche  nicht  nach  seinem 
Gedanken  zur  Ausführung  kamen. 

Die  zweite  von  uns  zu  nennende  Schrift  De  erratis  Orontii  Finei 
ist  1546  in  Coimbra  (Conimbricae)  gedruckt.  Sie  macht  gegen  den 
damals  auf  der  Höhe  seines  Ruhmes  stehenden  pariser  Lehrer  Front. 

Die  dritte  Schrift  gleichen  Druckjahres  und  gleichen  Druckortes 
wie  die  eben  angegebene  heisst  De  arte  atque  ratione  navigandi.  Von 
einem  Punkte  der  Meeresoberfläche  zum  anderen  führen  zahllose 
Wege.  Einer  derselben  ist  der  kürzeste  und  würde,  wäre  die  Meeres- 
oberfläche eben,  eine  gerade  Linie  sein.  Das  war  auch  die  ursprüng- 
liche Meinung  der  Seefahrer,  welche  in  gerader  Linie  zu  segeln  ver- 


^)  Les  Oeuvres  mathe'matiques  de  Simon  Stevin  de  Bruges  (Leiden  1634)  pag.  56, 
Probleme  LEI. 


390  60.  Kapitel. 

meinten,  wenn  sie  die  Richtung  zum  Bestimmungsorte  unverändert 
festhielten.  Nonius  war  der  erste,  welcher  es  aussprach,  dass  die 
Schiffsbahn,  welche  sämmtliche  Meridiane  der  Erdoberfläche  unter 
gleichem  spitzen  Winkel  schneidet,  als  auf  einer  Kugel  verlaufend 
keine  gerade  Linie,  aber  auch  kein  Grössterkreis  der  Erdkugel  und 
ebensowenig  ein  aus  Stücken  von  Grösstenkreisen  zusammengesetzter 
Weg  sein  könne.  Sie  sei  vielmehr  durch  das  Zusammenwirken  zweier, 
unter  Umständen  mehrerer  Kräfte  zu  Stande  gekommen,  gleich  wie 
die  Spirale  durch  zwei  vereinigte  Bewegungen  entsteht,  und  sei  eine 
eigenartige  Linie,  rimibus.  Damit  war  die  Entdeckung  derjenigen  Linie 
doppelter  Krümmung  vollzogen,  welche  am  Anfange  des  XVIL  Jahr- 
hunderts durch  Willebrord  Snellius  den  Namen  Loxodrome 
erhielt.  Die  deutschen  Seeleute  gaben  ihr  den  der  Nonius'schen  Be- 
zeichnung nachgebildeten  Namen  Rhumbs,  weil  die  beiden  sich 
vereinigenden  Bewegungen  jeweils  als  die  Seiten  eines  Rhombus  er- 
schienen. Nonius  hat  nicht  nur  das  Vorhandensein  dieser  krummen 
Linie  entdeckt,  er  ist  auch  zur  Kenntniss  einer  ihrer  überraschendsten 
Eigenschaften  vorgedrungen,  derjenigen  nämlich,  dass  Loxodromen, 
wenn  wir  uns  erlauben  schon  jetzt  des  gebräuchlichsten  Namens  uns 
zu  bedienen,  zwar  in  Windungen  um  den  Erdpol  herumgehen  und 
demselben  ohne  Aufhören  näher  kommen,  aber  den  Pol  selbst  nicht 
zu  erreichen  im  Stande  sind.  Wäre  solches  der  Fall,  so  müsste  das 
letzte  Stückchen  der  Loxodrome  mit  irgend  einem  Meridian  zusam- 
menfallend diesen  unter  dem  Winkel  0  treffen,  d.  h.  dem  Gesetze 
widersprechen,  dass  die  Loxodrome  alle  Meridiane,  welchen  sie  be- 
gegnet, unter  gleichem  Winkel  schneide. 


60.  Kapitel. 

Mathematiker  an  deutschen  Universitäten. 

Deutschland  hat  in  dem  Zeiträume  des  XIV.  Abschnittes  so  viele 
Persönlichkeiten  hervorgebracht,  welche  genannt  werden  müssen,  dass 
nothwendigerweise  eine  gewisse  Anordnung  zu  treffen  ist,  welche  die 
Uebersicht  uns  ermögliche.  Demgemäss  werden  wir  zuerst  von  der 
Mathematik  an  den  Universitäten  handeln  und  dabei  geographisch 
von  Osten  nach  Westen  fortschreiten.  Dann  aber  sprechen  wir  von 
den  viel  zahlreicheren  Mathematikern,  welche  nicht  an  einer  Uni- 
versität wirksam  waren,  und  müssen  bei  ihnen  als  neuen  Eintheilungs- 
grund  das  engere  mathematische  Gebiet  wählen,  auf  welchem  sie  ihr 
Arbeitsfeld  fanden.     Wir  geben    den  Rechenmeistern  die  erste  Stelle, 


Mathematiker  an  deutschen  Universitäten.  391 

knüpfen  an  sie  die  Cossisten  an,  dann  die  Geometer  mit  Einschluss 
derjenigen,  welche  dem  besonderen  mehr  rechnenden  Kapitel  der 
Geometrie,  welches  den  Namen  der  Trigonometrie  führt,  ihre  Kräfte 
widmeten. 

Wir  knüpfen  unmittelbar  an  Früheres  an,  wenn  wir  Wien  als 
die  Hochschule  nennen,  welche  vorzugsweise  die  mathematischen 
Wissenschaften  pflegte.  Maximilian  L,  über  dessen  Verdienste  um 
das  deutsche  Reich  die  Ansichten  noch  so  weit  auseinander  gehen 
können,  ohne  zu  beeinträchtigen,  was  er  für  seine  österreichischen 
Erblande,  was  er  insbesondere  für  seine  Hauptstadt  Wien  war,  wusste 
in  den  letzten  Jahren  des  XV.  Jahrhunderts  Männer  an  die  dortige 
Universität  zu  ziehen,  welche  ihr  zu  einer  noch  nicht  erreichten  Höhe 
verhalfen  ^).  K  o  n  r  a  d  C  e  1 1  i  s  ,  der  berühmte  Wanderprediger  des 
Humanismus,  der  von  Ort  zu  Ort  sein  Wissen  und  seine  Leiden- 
schaften, seinen  Trieb  zu  lehren  und  zu  dichten,  seine  in  jedem  Sinne 
rastlose  Thätigkeit  trug,  kam  1497  nach  Wien.  Mit  ihm  kam  sein 
Freund  Andreas  Stöberl  aus  Oettingen  im  Ries,  bekannter  unter 
der  lateinischen  Namensform  als  Stiborius^).  Beide  wurden  her- 
vorragende Mitglieder  der  von  Ofen  nach  Wien  verlegten  Donau- 
b  rüder  Schaft,  eines  gelehrten  Kreises,  welcher  Geschichte,  Mathe- 
matik und  Musik  pflegte,  und  aus  welchem  eine  eigentlich  wissen- 
schaftliche Vereinigung  mit  besonderen  Satzungen  und  feierlicher 
Eröfi*nung  am  4.  Februar  1502  herauswuchs,  gewissermassen  die  erste 
Akademie  der  Wissenschaften  in  Deutschland.  Ihr  Name  war  der 
des  Collegium  podanun  et  matJiematicorum,  und  der  Vorsitzende  der 
mathematisch  -  naturwissenschaftlichen  Abtheilung  war  Johannes 
S  t  a  b  i  u  s  ^)  (f  1522 ),  der  eben  erst  in  Nürberg  am  Chor  der  St.  Lo- 
renzkirche eine  berühmte  Sonnenuhr  angefertigt  hatte,  welche  in 
unserem  Jahrhunderte  unter  fachkundiger  Leitung  wieder  hergestellt 
worden  ist^),  der  andrerseits  auch  eine  flächentreue  Landkartenzeich- 
nung erdachte,  wahrscheinlich  die  älteste,  welche  grade  diese  Seite 
der  Aufgabe  bildlicher  Darstellung  von  Theilen  der  Erdoberfläche 
bestimmt  ins  Auge  fasste.  Von  Ergebnissen,  welche  aus  der  Grün- 
dung des  genannten  Collegiums  für  unsere  Wissenschaft  hervor- 
gegangen wären,  lässt  sich  nichts  berichten,  es  sei  denn,  dass  wir 
als  solche  die  Errichtung  von  zwei  mathematischen  Lehr- 
stühlen an  der  Wiener  Universität  gelten  lassen,   welche  Maxi- 


1)  Gerhardt,  Math.  Deutschi.  8.36—41  und  S.  51— 60.  Günther,  Unter- 
richt Mittela.  S.  249— 264.  -)  Aschbach,  Geschichte  der  Universität  Wien  II, 
374—376.  3)  Ebenda  S.  363— 373.  ")  Günther,  Unterricht  Mittela.  S.  252 
Note  1. 


392  60-  Kapitel. 

milian  vollzog,  und  wozu  er  die  Anregung,  wenn  nicht  von  dem 
Collegium  als  solchem,  doch  sicherlich  von  einflussreichen  Mitgliedern 
desselben  erhalten  hatte,  die  alle  in  einer  oder  der  andern  Weise  an 
der  Universität  lehrten,  beziehungsweise  vielleicht  lehren  wollten. 
Celtis  lehrte  unter  Anderem  mathematische  Geographie^)  unter  Zu- 
grundelegung eines  gereinigten  Textes  des  Ptolemäus  und  unter  Er- 
läuterung des  Vorgetragenen  an  einer  künstlichen  Erd-  und  Himmels- 
kugel, Vorrichtungen,  welche  vermuthlich  damals  zuerst  beim  Unter- 
richte benutzt  wurden. 

Von  den  beiden  mathematischen  Professuren  erhielt  Stiborius 
die  eine,  zur  anderen  wurde  1503  Rosinus,  das  ist  Stephan  Rösel 
aus  Augsburg,  ernannt,  der  1501  von  Krakau  nach  Wien  übergesiedelt 
war,  und  ebendort  1533  verstarb.  Wie  lange  er  dem  ihm  anver- 
trauten Lehramte  vorstand,  ist  nicht  bekannt.  Von  seinen  schrift- 
stellerischen Leistungen  erwähnen  wir  einer  in  deutscher  Sprache 
geschriebenen  Praliil;  ein  Titel,  der  uns  von  De  la  Roche  her  (S.  373) 
schon  bekannt  ist.  Stiborius  behielt  seine  Professur  nur  ganz  kurze 
Zeit.     Bereits  1503  hatte  sie  einen  neuen  Inhaber  Tannstetter. 

Georg  Tannstetter-)  war  etwa  1480  in  Rhein  am  Lech  ge- 
boren und  hatte  sich,  da  Rain  in  seiner  Heimath  so  viel  wie  Grenz- 
pfad bedeutete,  den  lateinischen  Namen  Collimitius  beigelegt.  Zum 
Magister  wurde  er  in  Ingolstadt  ernannt,  und  von  dort  kam  er  nach 
Wien.  Neben  einer  fruchtbaren  Thätigkeit  als  Schriftsteller  und 
Lehrer,  von  der  gleich  noch  die  Rede  sein  muss,  widmete  er  sich 
auch  der  Heilkunde  und  zwar  mit  solchem  Erfolge,  dass  Maximilian 
ihn  als  Leibarzt  an  seine  Person  fesselte,  ihm  bei  dieser  Gelegenheit 
den  Adelstitel  Tannstetter  von  Thamnau  verleihend.  Er  war 
auch  1519  um  den  Kaiser  bei  dessen  Tode  im  Schlosse  zu  Wels. 
Er  selbst  starb  1530.  Als  Schriftsteller  bemühte  sich  Tannstetter 
namentlich  um  die  Drucklegung  damals  schon  klassischer  Werke, 
ein  wahres  Verdienst  in  einer  Zeit,  in  der  es  immer  noch  galt,  Gutes 
durch  Vervielfältigung  zum  Allgemeingute  zu  machen,  und  wenn  die 
Nachwelt  in  der  Verleihung  des  Beiwortes  gut  auch  nicht  immer  der 
damaligen  Gegenwart  beipflichtete,  so  hat  sie  unter  allen  Umständen 
dankbar  anzuerkennen,  dass  ein  Lefevre  d'Etaples,  ein  Orontius  Finaeus, 
ein  Tannstetter  vielleicht  durch  jene  Drucklegungen  Schriften  vor 
dem  Untergange  bewahrt  haben,  die  auch  so  noch  zu  den  grössten 
buchhändlerischen  Seltenheiten  geworden  sind,  und  ohne  deren  Kennt- 
niss  wir  über  gar  Vieles  noch  mehr  im  Unklaren  wären,   als  wir  es 


')  Aschbach  1.  c.  ü,  62.  —  Günther  1.  c.  S.  250  Note  2.         ')  Poggen- 
dorff  II,  1067.  —  Aschbach  1.  c.  II,  271—277. 


Mathematiker  an  deutschen  Universitäten.  393 

sind.  Das  erste  durch  Tannstetters  Vermittekmg  gedruckte  Werk 
erschien  1514  in  Wien  bei  den  Brüdern  Leonhard  und  Lucas  Alantsee, 
welche  von  1498  bis  1522  aus  ihrer  Druckerwerkstätte  im  Ganzen 
109  Werke  hervorgehen  liessen,  eine  für  die  damalige  Zeit  bedeutende 
ZahP).  Der  Band  von  1514  ist  eine  Vereinigung^)  der  Tabulae  eclyp- 
sium  von  Peurbach  und  der  Tabula  primi  mobilis  von  Regiomontan. 
An  der  Spitze  steht  als  Einleitung^)  Viri  maihematici,  quos  inclytum 
Vienuae  gymnasium  ordine  celebres  lidbuit,  mithin  eine  Art  von  Ge- 
schichte der  Wiener  Mathematiker,  welche  die  Hauptquelle 
dessen  geworden  ist,  was  man  von  der  dortigen  mathematischen 
Schule  weiss.  Bei  Nennung  des  Stiborius,  als  dessen  Schüler  Tann- 
stetter  sich  bezeichnet,  giebt  er  ein  Verzeichniss  von  dessen  reich- 
haltiger Büchersammlung.  Ausserdem  geht  den  Peurbach'schen  Tafeln 
noch  eine  Vorrede  des  Stiborius  voraus'^),  welche  weitere  Namen 
deutscher  Mathematiker  aufbewahrt  hat.  Ein  zweiter  gedruckter  Band 
von  1515  ist  eine  Vereinigung  der  fünf  wichtigsten  Schriften  der 
mittelalterlichen  Mathematik''),  Schriften,  welche  unsere  Leser  insge- 
sammt  kennen:  die  Arithmetik  von  De  Muris,  die  Proportionenlehre 
von  Bradwardinus,  die  Latitudines  von  Oresme  in  der  durch  Blasius 
von  Parma  erläuterten  Ausgabe,  das  Rechnen  mit  ganzen  Zahlen  von 
Peurbach,  das  Bruchrechnen  von  Johann  von  Gmunden  bilden  den 
Band,  welchen  Tannstetter  einem  Schüler,  Bunderl,  zu  lieb  zum 
Drucke  befördert  hat.  Dessen  Inhalt  bildete  sonach  offenbar  einen 
wesentlichen  Theil  des  Stoffes ,  welchen  der  Schüler  sich  anzueignen 
angewiesen  war.  Unter  den  eigenen  Schriften  Tannstetter's  erwähnen 
wir  noch  eine  mit  Stiborius  gemeinsam  verfasste.  Papst  Leo  X.  hatte 
die  Frage  der  Kalenderverbesserung  sich  angelegen  sein  lassen  und 
von  Kaiser  Maximilian  die  Unterstützung  der  Wiener  Mathematiker 
erbeten^).  Die  Universität  um  Rath  gefragt  ernannte  Stiborius  und 
Tannstetter  zur  Anfertigung  eines  Gutachtens,  welches  handschriftlich 
sich  erhalten  hat.  Das  Zusammenwirken  mit  einem  gelehrten  Freunde 
entsprach  vollständig  den  Neigungen  Tannstetter's,  der  auch  freilich 
ohne  nennen swerthe  Erfolge  versuchte,  in  der  CoUimitiana  genannten 
Gesellschaft  einen  Ersatz  für  das  nach  dem  Tode  des  Celtis  ein- 
gegangene poetisch-mathematische  Collegium  zu  schaffen^).  Unter 
Tannstetter's  Verdiensten  stand  ohne  Zweifel  seine  Lehrthätigkeit 
obenan.  Rühmen  ihn  doch  die  Schüler,  so  oft  sie  schriftstellerisch 
zu  Aeusserungen  Gelegenheit  fanden,  um  die  Wette. 

*)  Allgem.  deutsche  Biographie  I,  170.     *)  Kästner  II,  .526  flgg.     ^)  Ebenda 
S.  529—532.  *)  Ebenda  S.  532  Nr.  8.  ^)   Denis,   Wiens   Buchdruckerei- 

geschicht bis  MDLX  (Wien  1782)  S.  134  flgg.  ^)  Aschbach  1.  c.  II,  376. 

'')  Ebenda  S.  273. 


394  60.  Kapitel. 

Einer  dieser  Schüler  war  der  steiermärker  Astronom  und  Arzt 
Andreas  Perlache r^),  und  dessen  Schüler  wieder  war  Johann 
Vögelin^)  aus  Heilbronn.  Letzterer  begann  seine  eigene  Lehrthätig- 
keit  an  der  Domschule  zu  Augsburg.  In  Wien  nahm  ihn  sodann 
Tannstetter  als  Gehülfen,  um  seine  Vorlesungen  ersatzweise  zu  halten, 
wenn  er  selbst  ärztlich  in  Anspruch  genommen  dieselben  aussetzen 
musste.  Im  Jahre  1528  wurde  Vögelin  mit  der  damals  erledigten 
mathematischen  Professur  bedacht  und  hatte  namentlich  den  Lehr- 
auftrag für  die  Sphaerik  des  Theodosius,  die  er  1529  im  Drucke  her- 
ausgab^). Vögelin  ist  aber  wesentlich  durch  eine  andere  schriftstel- 
lerische Leistung  bekannt,  durch  sein  Elementale  geometricum  ex 
Euclidis  geometria  von  1528.  Euklid's  Elemente  bildeten,  wie  wir 
uns  erinnern  (S.  251 — 254),  einen  Lehrgegenstand  der  Universitäten, 
aber  doch  nur  in  sehr  beschränkter  Weise.  Die  vier  ersten  Bücher 
der  Elemente  oder,  wenn  man  von  der  Proportionenlehre  in  einem 
Athem  mitreden  will,  allenfalls  die  fünf  ersten  Bücher  waren  der 
Meistbetrag  dessen,  was  den  Studirenden  geboten  wurde.  Sollte  um 
dieses  Stoffes  willen  der  Schüler  genöthigt  werden,  eine  der  im  Preise 
kostbaren  umfangreichen  Euklidausgaben  anzuschaffen,  oder  sollte  er 
ohne  gedrucktes  Hilfsmittel  den  Vorlesungen  folgen  müssen?  Das 
Erstere  schien  vielleicht  unerreichbar,  jedenfalls  unzweckmässig,  das 
Zweite  widersprach  allen  Gewohnheiten  der  Zeit.  Desshalb  Hess  ein 
gewisser  Lacher*)  aus  Mersburg  am  Bodensee  1506  in  Frankfurt  an 
der  Oder  einen  besonderen  Abdruck  der  vier  ersten  Bücher  nach  der 
Ausgabe  des  Campanus  bewerkstelligen.  Etwas  selbständiger  ging 
Vögelin  vor,  der  es  sich  angelegen  sein  liess,  das  Nothdürftigste  aus 
der  euklidischen  Geometrie  der  Ebene  zu  wenigen  Druckbogen  zu- 
sammenzustellen, wofür  er  freilich  einer  anderen  Ausdrucksweise  sich 
bedient,  wenn  er  in  der  Widmung  an .  Tannstetter  sagt^),  er  habe 
zum  Vortheile  aller  Studirenden  diejenigen  Sätze  aus  der  Geometrie 
Euklid's  ausgezogen,  welche  häufiger  bei  Beweisen  vorkommen,  und 
welche  ziemlich  nahe  daran  sind,  zum  Gipfelpunkte  der  Wissenschaften 
hinzuführen.  Armseliger  Gipfelpunkt,  aber  noch  armseligere  Genüg- 
samkeit der  Zeit,  welche  Vögelin's  kleinen  Auszug  in  wiederholten 
Nachdrucken  zu  Tasre  förderte  und  an  den  verschiedensten  Anstalten 


^)  Aschbach,   1.  c.  II,  339—343.  ^)  Ebenda  S.  340  und  S.  342.  — 

Günther,    Unterricht   Mittela.    S.  58  und  S.  256.  ^)    lieber   diese    Ausgabe 

vergl.  Nizze's  deutsche  Ausgabe  des  Theodosius  (Stralsund  1826),  Vorrede 
pag.  VI.  ■*)  Kästner  I,  302 — 305.  *)  Propter  omnium  studiosorum  commoda 
ex  Euclidis  Geometria  eas  dumtaxat  excerpi  Propositiones ,  quae  in  demonstra- 
tionibus  linearibus  crebrius  observantur,  quaeque  satis  prope  sunt  ad  discipUnarum 
culmen  perducere 


Mathematiker  an  deutschen  Universitäten.  395 

mit  Vorliebe  benutzen  Hess!  Geometrie,  das  sehen  wir  auch  aus 
dieser  Thatsache  wieder,  war  nicht  die  starke  Seite  der  deutschen 
Mathematiker  im  Allgemeinen,  und  um  so  höher  werden  wir  die- 
jenigen zu  stellen  haben,  welche  grade  auf  diesem  Gebiete  sich  aus- 
zeichneten. 

Ausser  Vögelin  war  ein  zweiter  Schriftsteller  Schüler  Tann- 
stetter's  und,  wenn  auch  ohne  Inhaber  einer  der  beiden  Professuren 
zu  sein,  Lehrer  an  der  wiener  Universität,  Heinrich  Schreiber 
aus  Erfurt,  genannt  Grammateus^).  Er  hat  1507  bis  1512  in  Wien^) 
studirt,  wo  Stiborius  und  Tannstetter  seine  Lehrer  waren,  dann  in 
Krakau  und  hat  dort  schon  1514  einen  Algorismus  ^roportionum  ver- 
fasst.  Nach  Wien  übergesiedelt,  wo  er  1518  Procurator  der  sächsischen 
Nation  war,  ein  Ausdruck,  welcher  auf  die  damals  übliche  Einreihung 
der  Studenten  in  Nationen  mit  erwählten  Führern  sich  bezieht,  war 
er  gleichzeitig  Lehrer,  wie  aus  der  Einleitung  zu  seinem  gleich  zu 
erwähnenden  Rechenbuche  hervorgeht.  Im  Jahre  1521  wurden  die 
Hörsäle  der  Wiener  Universität  wegen  einer  Seuche  geschlossen, 
Grammateus  begab  sich  damals  über  Nürnberg  nach  Erfurt  zurück. 
Später  war  er  wieder  in  Wien  und  starb  daselbst  1525,  als  er  eben 
neuerdings  zum  Procurator  gewählt  war^).  In  Nürnberg'^)  erschien 
1521  sein  seit  1518  vollendetes  Rechenbuch  in  deutscher  Sprache. 
Der  Titel,  welcher  eine  vollständige  Inhaltsangabe  in  sich  schliesst 
und  dadurch  allein  schon  bemerkenswerth  ist,  lautet  wie  folgt:  „Ayn 
new  künstlich  Buech  welches  gar  gewiss  und  behend  lernet  nach  der 
gemainen  regel  Detre,  welschen  practic,  regeln  falsi  und  etlichen  regeln 
Gösse  mancherley  schöne  und  zuwissen  notürfttig  rechnung  auf  kauff- 
mannschafft.  Auch  nach  den  proportion  der  kunst  des  gesangs  jm 
diatonischen  geschlecht  ausz  zutaylen  monochordum,  orgelpfeyffen 
und  andere  jnstrument  ausz  der  erfindung  Pythagore.  Weytter  ist 
hierjnnen  begriffen  buechalten  durch  das  zornal,  Kaps  und  schuld- 
buch. Visier  zu  machen  durch  den  Quadrat  und  triangel  mit  vil 
andern  lustigen  stücken  der  Geometrey.  Gemacht  auf  der  löblichen 
hoen  schul  zu  Wienn  in  Osterreich  durch  Henricum  Grammateum, 
oder  schreyber  von  Erffurdt  der  sieben  freyen  künste  Maister."  Als 
Einleitung  dient  eine  Widmung  an  Johannes  Tschertte  mit  der 
Ort-  und  Zeitangabe  Wien  1518.  Tschertte,  sonst  auch  Schertte  und 
Tzerte  genannt,  war  bürgerlicher  Rathsherr  in  Wien,  der  Mathematik 

')  Denis,  Wiens  Buchdruckereigeschicht  bis  MDLX,  S.lSlflg. —  Gerhardt, 
Math.  Deutschi.  S.  36—38  und  S.  51—54.  —  Günther,  Unterricht  Mittela.  S.  258 
und  häufiger.  —  Unger  S.  47  und  häufiger.  —  Christ.  Friedr.  Müller,  Hen- 
ricus  Grammateus  und  sein  Algorismus  de  integris.  Zwickau  1896.  *)  Müller 
1.  c.  S.  8  Note  34  und  S.  10-11.         =*)  Ebenda  S.  16.         ^  Ebenda  S.  18. 


396  60.  Kapitel. 

aber  so  kundig,  dass  Tanustetter  ihm  in  seinem  Mathematikerverzeich- 
nisse einen  Platz  eingeräumt  hat^).  Andere  Beziehungen  Tschertte's 
zu  Mathematikern  werden  im.  63.  Kapitel  Erwähnung  finden.  Ihm 
also  widmete  Grammateus  sein  Buch,  als  demjenigen,  der  ihn  ermun- 
tert habe,  ein  solches  „den  unwissenden  und  sondern  liebhabern  der 
kunst  an  den  tag  zu  bringen"  nachdem  er  ihm  vorher  Einsicht 
davon  gegeben.  Titel  und  Beschreibung  des  in  mehrfachen  Auflagen 
gedruckten  Buches  lassen  erkennen,  dass  es  mit  Zahlenrechnen  und 
Algebra,  mit  Buchführung  und  Geometrie  zu  thun  hat,  dass  es  also 
eine  gewisse  Vollständigkeit  anstrebte,  wie  Paciuolo  sie  in  seiner 
Summa  erreicht  hat.  Dass  italienische  Druckschriften  und  unter 
ihnen  die  Summa  damals  in  Wien  zu  Händen  sein  konnten,  ist 
keinem  Zweifel  unterworfen,  und  dass  die  aus  Humanisten  zusammen- 
gesetzte wiener  Schule  mit  Vorliebe  bei  italienischen  Schriftstellern 
sich  Rath  suchte,  kann  ebenfalls  nur  als  selbstverständlich  erscheinen. 
In  der  That  erinnert  auch  Grammateus  sehr  an  das  Vorbild  Paciuolo's, 
ohne  desshalb  eine  vollständige  Wiederholung  desselben  zu  sein.  So 
lässt  Grammateus  erstmalig  unter  deutschen  Schriftstellern  die  Ver- 
doppelung und  Halbirung  weg,  weil  sie  im  Begriffe  des  Multiplici- 
rens  und  Dividirens  mit  enthalten  seien,  wie  wir  (S.  310)  bei  Pa- 
ciuolo es  fanden,  während  er  in  dem  1514  in  Krakau  gedruckten 
Algorithmus  proportionum  die  Duplatio  und  Mediatio  noch  besonders 
betrachtete.  Eine  Verdoppelung  und  Halbirung  eines  Verhältnisses 
war  Erhebung  zum  Quadrate  und  Quadratwurzelausziehung,  und  deren 
Einzelbetrachtung  hat  niemals  aufgehört  zweckmässig  zu  sein-).  In 
dem  deutschen  Rechenbuche  weicht  dann  Grammateus  darin  von  Pa- 
ciuolo ab,  dass  er  an  die  Addition  nicht  die  Subtraction,  sondern  die 
Multiplication  anschliesst,  weil  „in  dieser  Operation  werden  funden 
alle  aigenschafft  der  addition".  Beim  Addiren  soll  man  „hab  fleiss 
dass  die  figuren  gleich  stehen  über  einander"^)  u.  s.  w.  Bei  der 
Bruchlehre ^)  wird  die  Addition,  Subtraction  und  Division  durch  Zu- 
rückführen der  beiden  mit  einander  in  Verbindung  tretenden  Brüche 
auf  gemeinsamen  Nenner  vollzogen.  Näherungsweise  Quadrat-  und 
Kubikwurzeln  zu  ziehen,  werden  die  Zahlen  nach  rechts  hin  durch 
Nullen  verlängert,  deren  Anzahl  ein  Vielfaches  von  2,  beziehungsweise 
von  3  ist,  wie  wir  solches  wiederholt  gelehrt  fanden.  Bei  der  Regel- 
detri  werden  Buchstaben  angewandt'^).  „Wie  sich  hadt  a  zum  h  also 
hat  sich  c  zum  f/."  Neben  dem  Zahlenrechnen  ist  fortwährend  auch 
das  Rechnen  auf  den  Linien  gelehrt.    In  dem  algebraischen  Abschnitte^) 

1)  Kästner  11,  532.  -)  Müller  1.  c.  S.  18.  ^')  Unger  S.  73.  ")  Ebenda 
S.  48.  «)  Gerhardt,  Math.  Deutschi.  S.  38  Note  1.  ")  Ebenda  S.  51—54.  — 
Treutleioi,  Die  deutsche  Coss.   Zeitschr.  Math.  Phjs.  XXIV,   Supplement  S.  35. 


Mathematiker  an  deutschen  Universitäten.  397 

beginnt  nach  Grammateus  „ain  newe  und  besunder  art  der  rechuung 
gezogen  auss  den  regeln  Gosse  gleicformig  in  der  Übung  allain  das 
die  namen  der  quantitet  sein  verändert".  Er  fängt  seine  Betrachtung 
damit  an,  dass  er  die  Reihe  der  von  1  an  sich  fortwährend  ver- 
doppelnden Zahlen  hinschreibt 

1  .  2  .  4  .  8  .  16  .  32  .  etc. 

Von  diesen  heisst  1  der  numerus,  dann  2  die  erste  Quantität  prima, 
4  die  andere  Quantität  secunda,  8  die  dritte  Quantität  tertia  u.  s.  w. 
Diese  Reihe  und  neben  ihr  die  Reihen,  welche  aus  den  Potenzen  von 
3,  4  u.  s.  w.  entstehen,  bilden  ihm  die  Grundlage  der  Gleichungs- 
lehre, denn  in  den  7  überhaupt  in  Erörterung  gezogenen  Gleichungs- 
formen  (als    deren  Musterbeispiele    2x  =  4,    3x"-  =  27,    2:^^^=128, 

2x^  -f  rr  =  55,  2a;-  +  18  =  15a:,  12x  -f  24  =  2^x--,  bx"^  =  20480 

angegeben  sind)  seien  zuerst  zwei  auf  einander  zunächst  folgende 
Glieder  einer  Reihe  betrachtet,  dann  zwei  Glieder,  zwischen  welchen 
eines  fehle,  zwei  Glieder,  zwischen  denen  zwei  fehlen  u.  s.  w.  Die 
Progression,  aus  welcher  hier  die  Gleichung  abgeleitet  wird,  haben 
wir  (S.  244)  in  der  Dresdner  Algebra  angetroffen;  die  Namen  pritna, 
secunda,  .  .  .  mahnen  auf's  deutlichste  an  Chuquet's  Erstzahlen,  Zweit- 
zahlen, ...  (S.  355).  Müssen  wir  neuerdings  auf  die  Aufgabe  hin- 
weisen, diese  Aehnlichkeiten  zu  erklären?  Genügt  es  nicht  daran  zu 
erinnern,  dass  Italien  uns  als  dasjenige  Land  erschien,  von  wo  die 
Allen  gemeinsame  Quelle  stammen  muss?  Die  Algebra  des  Gram- 
mateus wendet  fortwährend  die  Zeichen  -|-  und  —  an.  Das  Buch- 
halten ist,  soweit  bekannt,  durch  Grammateus  zuerst  in  deutscher 
Sprache  gelehrt  worden^).  Die  im  Titel  enthaltenen  Namen  Zornal 
und  Ka2)S  bedeuten  Journal  und  Kapsel,  also  das  Tagebuch  und  das 
Cassabuch  als  Aufzeichnung  des  in  einer  Kapsel  verwahrten  haaren 
Geldes.  In  Erfurt  hat  Grammateus  im  Jahre  1523  einen  lateinischen 
Algorismus  de  integris  herausgegeben.  Die  vier  einfachen  Rechnungs- 
verfahren nebst  der  Regeldetri  sind  darin  in  ganzen  Zahlen  mit 
mustergiltiger  Klarheit  gelehrt").  Auf  der  letzten  Seite  des  Algoris- 
mus integris  findet  sich  als  Regida  generalis  pro  solutione  quorundam 
exeniploruui  die  indische  Umkehrungsrechnuug,  welche  Leonardo  von 
Pisa  (S.  22)  als  Regula  versa  gelehrt  hat. 

Schüler  des  Grammateus  war  ein  Mann,  welcher,  wie  es  scheint, 
den  grössten  Theil  seines  Lebens  in  Wien  zubrachte,  welcher  aber 
der  wiener  Universität  als  Lehrer  nie  angehört  hat.     Es  ist  eine  be- 


^)  Ungar  S.  47—48.        ^j  Müller  1.  c.  S.  21— 33  giebt  einen  Abdruck  der 
sehr  seltenen  Schrift. 


398  60.  Kapitel. 

wusste  Folgewidrigkeit,  welche  wir  uns  zu  Schulden  kommen  lassen, 
wenn  wir  an  dieser  Stelle  anfangen  von  ihm  zu  reden,  und  dennoch 
thun  wir  es,  um  ihn  nicht  loszureissen  von  dem  Boden,  auf  welchem 
er  erwachsen  ist,  und  dessen  Spuren  überall  in  ihm  sich  nachweisen 
lassen.  Christoph  Rudolff^)  ist  in  Jauer  geboren.  Sein  Geburts- 
jahr ist  ebensowenig  bekannt  wie  sein  Todesjahr.  Die  von  ihm  ver- 
öffentlichten Schriften  sind  eine  Coss  von  1525,  eine  Beispielsamm- 
lung von  1530  „seynen  schillern  zu  souderer  Übung  auch  allen  hand- 
thierungen  personen  zu  nutz  und  gutem  verfertigt",  ein  Rechenbuch 
von  1532  (die  Vorrede  ist  allerdings  schon  von  1526),  welches  1540 
zum  wiederholten  Abdrucke  kam.  Die  Druckorte  wechseln.  In  Strass- 
burg,  in  Nürnberg,  in  Augsburg  verliessen  die  Bücher  die  Presse,  die 
insgesammt  in  Wien  geschrieben  sind.  Wir  dürfen  vielleicht  aus 
diesen  Beziehungen  Rudolff's  zu  Druckern  an  weit  entlegenen  Wohn- 
sitzen einen  Schluss  auf  die  weitreichende  Bekanntschaft  seines  Namens 
ziehen.  Zum  gleichen  Schlüsse  führt  der  Umstand,  dass  1552  kein 
Exemplar  der  Coss  mehr  aufzutreiben  war,  wenn  man  auch  den  drei- 
und  vierfachen  Preis  dafür  zu  zahlen  sich  erbot-),  und  dass  darum 
eine  neue  Ausgabe  durch  Michael  Stifel  zum  Drucke  besorgt 
wurde.  Rudolff  selbst  war  demnach  1552  jedenfalls  nicht  mehr  unter 
den  Lebenden^).  Wir  haben  den  Namen  Rudolff  geschrieben,  wie 
er  fast  überall  in  den  Drucken  sich  findet,  auch  in  der  zweiten 
Ausgabe  der  Coss,  während  auf  deren  Titelblatte  imd  in  einigen 
Ueberschriften  Ludolff  steht,  ein  vereinzeltes  Vorkommen,  welchem 
grosses  Gewicht  unmöglich  beigelegt  werden  kann.  Die  Coss  ist  dem 
Fürstbischof  Sebastian  von  Brixen  zugeeignet,  und  in  dem  Widmungs- 
schreiben bezeichnet  sich  Rudolff  als  „liephaber  der  freien  künsten". 
Berücksichtigt  man,  dass  dieser  Zusatz  in  keiner  der  späteren  Schriften 
vorkommt*),  und  dass,  wie  oben  bemerkt,  die  Beispielsammlung  von 
1530  den  Schülern  zur  Uebung  angefertigt  wurde,  so  wird  daraus  zu 
entnehmen  sein,  dass  Rudolff'  doch  allmälig  vom  freien  Gelehrten- 
thum  zum  Lehrer  übergegangen  ist,  wenn  auch  ausser  Beziehung  zur 
wiener  Universität.     Die  Coss  zerfällt  in  zwei  Theile'^j,  deren  erster 


^)  Allgemeine    deutsche    Biographie    XXIX,    571 — 572.  ^)  Vorrede    zur 

zweiten  Ausgabe.  ^)  R.  Wolf,  Geschichte   der  Astronomie  S.  340  giebt  das 

Geburtsjahr  1499,  das  Todesjahr  „etwa  1545".  Wir  wissen  nicht,  worauf  die 
erstere  Zahl  sich  gründet.  Die  zweite  wird  als  zwischen  1540  und  1552  gelegen, 
also  zwischen  einem  Jahre,  in  welchem  Rudolff  noch  lebte,  und  einem  zweiten, 
in  welchem  er  verstorben  war,  annähernde  Richtigkeit  besitzen.  *)  Gerhardt, 
Math.  Deutschi.  S.  38  Note  2.  ^)  Drechsler,  Schollen  zu  Christoph  Rudolph's 
Coss  (Programmabhandlung  des  Vitzthum'scheu  Geschlechtsgymnasiums  in  Dresden 
zu  Ostern  1851). 


Mathematiker  an  deutschen  Universitäten.  399 

der  Rechenkunst  gewidmet  ist,  wilhrend  der  zweite  mit  Gleichungen 
sich  beschäftigt.  Der  erste  Theil  entspricht  also  inhaltlich  dem 
Rechen  buche  von  1532,  ohne  mit  demselben  sich  vollständig  zu 
decken.  Im  Rechenbuche  ist  z.  B.  das  Wort  Million  benutzt,  aber 
allerdings  nur  ein  einziges  MaP).  Im  Rechenbuche  findet  sich  ferner 
die  Regel,  die  Division  durch  10,  100,  1000  u.  s.  w.  lasse  sich  so 
ausführen,  dass  man  so  viele  Ziffern,  als  der  Divisor  Nullen  besitze, 
„mit  einer  virgel"  abschneide^),  mit  anderen  Worten:  Rudolff"  ist 
ähnlich  wie  vor  ihm  Piero  Borgi  (S.  305)  der  Erfindung  der  Decimal- 
brüche  recht  nahe  gewesen,  aber  dass  es  eine  Erfindung  war,  er- 
kannte die  Zeit  noch  nicht.  Das  Rechenbuch  lehrt  nach  dem  Ziffern- 
rechnen das  auf  den  Linien  ^),  welches  bei  einfachen  Aufgaben  am 
bequemsten  sei,  während  es  „zu  subtilen  Rechnungen  zum  dickermal*) 
seumlich"  sich  erweise.  Aus  der  Coss  erwähnen  wir  nur  die  im 
7.  Kapitel  des  I.  Theils  vorhandenen  Wurzelzeichen  //,  ^K/^,  yy  für 
Quadrat-,  Kubik-  und  Biquadratwurzel.  Offenbar  haben  die  Pünkt- 
chen, von  denen  (S.  243)  die  Rede  war,  sich  zu  Strichen  verlängert, 
welche  alsdann  durch  feinere  Züge  mit  einander  in  Verbindung  traten; 
die  Ursprungsfrage  ist  damit  nicht  im  Geringsten  geklärt.  Rudolff' 
kannte  auch  den  Kettensatz^)  und  gab,  wenn  auch  ohne  eigentliche 
Herleitung,  die  Entstehung  desselben  aus  der  Regeldetri  an.  Viel- 
leicht ist  bei  Rudolff  erstmalig  hervorgehoben,  dass  beim  Kettensatze 
mit  Vortheil  eine  Kürzung  der  einzelnen  Zahlen  auftreten  könne.  So 
weit,  was  wir  an  dieser  Stelle  von  Rudolff  zu  sagen  beabsichtigten. 
Wir  kehren  zu  ihm  zurück,  wenn  wir  von  den  ausserhalb  der  Uni- 
versitäten stehenden  Cossisten  reden. 

Wir  gehen  zur  Universität  Leipzig  über.  Am  Anfange  des 
Jahrhunderts  lehrte  dort  Udalrich  Kalb  als  Professor  der  Mathe- 
matik, und  sein  Schüler,  der  Baccalaureus  Balthasar  Licht^),  wid- 
mete ihm  dankbar  seinen  Algorithmus  linealis  genau  nach  der  Art, 
wie  in  den  nürnberger  Reehenschulen  das  Verfahren  gelehrt  wurde. 
Der  Druck  erfolgte  1500  bei  Lotter  in  Leipzig^).  Seit  1513  er- 
schien in  Krakau  und  zwar  in  etwa  15  Auflagen  ein  Algorithmus 
linealis  von  Johannes  de  Landshut ^).  Wieder  etwas  später  1520 
erschien  in  Wien  ein  anderer  Algorithmus  linealis  von  einem  leipziger 


^)  Das  Wort  Million  kommt  schon  in  der  Ausgabe  von  1532  vor  und  zwar 
Blatt  21 III  recto,  und  nicht,  wie  meistens  behauptet  wird,  erst  in  der  Ausgabe 
von  1540.     Wertheim    brieflich.  «)    Gerhardt,    Math.    Deutschi.  S.  39. 

3)  Ebenda  S.  40.  *)    zum  dickermal  =  zum  Oefteren  (holländisch  dikwijls). 

5)  Ungar  S.  92.  '')  Kästner  I,  84— 88.  ')  Treutlein,  Das  Rechnen  im 

XVI.   Jahrhundert.     Zeitschr.    Math.   Phys.  XXII,    Supplement    S.  24.     Die    von 
Kästner  beschriebene  Ausgabe  ist  aus  dem  Jahre  1513.       *)  Curtze  brieflich. 


400  60.  Kapitel. 

Professor,  nämlich  von  Heinrich  Stromer^).  Dieser  geistreiche  Ge- 
lehrte aus  Auerbach  in  der  bayrischen  Oberpfalz  gebürtig  und 
häufig  mit  dem  Namen  seines  Geburtsorts  bezeichnet,  wie  er  auch 
diesen  Namen  auf  einen  von  ihm  in  Leipzig  erbauten  Hof  und  Keller 
übertrug,  war  seines  eigentlichen  Faches  Mediciner  und  beispielsweise 
1523  Decan  der  medicinischen  Facultät  in  Leipzig.  Jedenfalls  lehrte 
er  auch  Arithmetik,  denn  in  der  an  Andreas  Humelhaym  (einem  Ver- 
wandten seiner  Frau  Anna  Humelhaym)  gerichteten  Widmung  spricht 
Stromer  von  seinen  Schülern,  für  welche  er  schreibe,  damit  ihnen  die 
Rudimente  nicht  verborgen  blieben,  ne  te  ceterosque  meos  discipulos 
rudimenta  eins  xyrorsus  laterent.  Ob  dabei  an  Universitätsvorlesuugen 
zu  denken  ist,  erscheint  einigermassen  fraglich.  Wir  neigen  eher  der 
anderen  Meinung  zu,  es  habe  sich  ausserhalb  des  Universitätsrahmens 
um  die  Unterweisung  eines  Stromer  näher  stehenden  Kreises  gehan- 
delt. Stromers  Algorithmus  linealis  dürfte  vermöge  des  in  unserer 
Zeit  erfolgten  Wiederabdrucks  leichter  als  andere  ähnliche  Schriften 
zur  Hand  sein;  überdies  ist  das  Latein  desselben  unvergleichlich  viel 
besser  als  das  vieler  dem  Anfange  des  XVL  Jahrhunderts  angehören- 
den Bücher,  ein  Zeichen  für  die  höhere  allgemeine  Bildung  des  Ver- 
fassers. Diese  beiden  Umstände  vereint  veranlassen  uns  grade  an  ihn 
einige  Bemerkungen  über  das  Linienrechnen  anzuknüpfen  und  da- 
durch zu  ergänzen,  was  wir  (S.  216)  nur  in  aller  Kürze  erörtert 
haben.  Beim  Numeriren  wird  der  Grundgedanke  des  Linienrechnens 
hervorgehoben,  dass  nämlich  ein  Rechenpfennig  auf  einer  Linie  eine 
Einheit  um  so  höherer  Ordnung  bedeute,  je  weiter  die  Linie  nach 
oben  rücke,  dass  ein  Rechenpfennig  zwischen  zwei  Linien  den  halben 
Werth  nur  besitze  als  wenn  er  auf  der  oberen,  den  fünffachen  als 
wenn  er  auf  der  unteren  sich  befände.  Dem  Numeriren  ist  das  Ele- 
viren und  Resolviren  angeschlossen.  Ersteres  bedeutet  die  Dar- 
stellung einer  Zahl  durch  die  wenigsten  Rechenpfennige,  indem  man, 
wo  immer  eine  Vereinigung  und  Zusammenfassung  an  höherer  Stelle 
möglich  ist,  solches  ausführt.  Letzteres  löst  umgekehrt  eine  Einheit 
höheren  Ranges  in  niedrigere  auf,  indem  unter  Benutzung  einer 
grösseren  Menge  von  Rechenpfennigen  nach  unten  weiter  gegangen 
wird,  um  die  Zahl  dort  anzulegen.  Diese  beiden  Hilfsbegriffe  kom- 
men bei  den  zwei  folgenden  Operationen,  der  Addition  und  Subtrac- 
tion,  in  Betracht,  nur  dass  beidemal  das  gleiche  Wort  Reduciren 
sowohl  statt  Eleviren  als  statt  Resolviren  gebraucht  wird.    Das  Linien- 


*)  Allgemeine  deutsche  BiograijLie  I,  638.  Einen  Abdruck  des  Algorithmus 
linealis  besorgte  S.  Günther  in  den  Abhandlungen  der  königl.  böhmischen  Ge- 
sellsch.  der  Wissenschaften  VI.  Folge,  10.  Band  (1880). 


Mathematiker  an  cleutschen  Universitäten.  401 

rechnen  Stromer's  kennt  noch  die  alten  Rechnungsarten  des  Duplireus 
und  Halbirens,  wie  nicht  anders  zu  erwarten  steht,  da  des  Gramma- 
teus  Rechenbuch  noch  nicht  erschienen  war,  welches,  wie  wir  wissen, 
für  Deutschland  den  Abbruch  mit  dem  alterthümlichen  Gebrauche 
bezeichnet.  Beim  Dupliren  werden  die  auf  Linien  stehenden  Rechen- 
pfennige verdoppelt,  die  in  einem  Zwischenräume  befindlichen  nach 
oben  verschoben.  Das  Halbiren  verfolgt  den  gleichen  Grundgedanken 
in  entgegengesetzter  Weise.  Beim  Multipliciren  beginnt  man  an  der 
untersten  Stelle  und  vervielfacht  zeilenweise  bei  gleichzeitisfem  Ele- 
viren.  Das  Dividiren  theilt  von  oben  nach  unten  unter  gleichzeitigem 
Resolviren,  und  dabei  wird  das  Rechnen  mit  Brüchen  leise  angedeutet. 
Gelangt  man  nämlich  beim  Theilen  und  Resolviren  zu  der  untersten 
Linie,  so  ist  ein  Weiterrücken  in  verwandelter  Form  nicht  mehr  thun- 
lich.  Was  alsdann  bei  der  Theilung  übrig  ist  heisst  der  Rest,  und 
er  als  Zähler  stellt  mit  dem  Divisor  als  Nenner  einen  Bruchtheil 
eines  Ganzen  dar^).  Dagegen  hat  der  andere  von  uns  erwähnte  Schrift- 
steller über  das  Linienrechnen,  Balthasar  Licht,  sich  ausführlicher 
mit  Brüchen  beschäftigt,  insbesondere  mit  ihrem  Vorkommen  in  ein- 
zelnen Gliedern  einer  Regeldetri  ^).  Stromer  giebt  nach  dem  Divi- 
diren die  Regel  zur  Summirung  einer  arithmetischen  Progression, 
während  er  als  Beispiel  zur  Anwendung  der  Regel  nur  die  mit  1  begin- 
nende Reihe  der  natürlichen  Zahlen  bis  zu  einer  graden  oder  uncrraden 
Endzahl  benutzt.  Dann  kommt  zum  Schlüsse  die  Regeldetri  oder 
goldene  Regel  oder  KaufmannsregeP).  Man  hat  bei  ihr  folgende  drei 
Bedingungen  zu  beachten:  L  Die  Fragezahl  soll  immer  rechts 
stehen.  2.  Die  erste  und  die  dritte  Zahl  sollen  sachlich  und  im 
Namen  übereinstimmen.  3.  Die  vierte  aus  der  Regel  hervorgehende 
Zahl  muss  immer  der  zweiten  entsprechen.  Dann  verfährt  man  nach 
der  Regel :  Multiplicire  die  zweite  Zahl  mit  der  dritten,  dividire  das 
Product  durch  die  erste,  und  im  Quotient  kommt  die  vierte  Frage- 
zahl heraus. 

Die  Universität  Ingolstadt  dürfte  nächst  und  mit  Wien  die- 
jenige gewesen  sein,  an  welcher  die  Leitung  eine  gewisse  Vorliebe 
für  mathematische  Studien  bethätigte,  und  an  welcher  demzufolge 
auch  mathematisch  veranlagte  Persönlichkeiten  gern  verweilen  mochten. 
Stabius  und  Stiborius  sind  von  Ingolstadt  nach  Wien  gekommen, 
und    Peter  Apianus*)    hat   Ingolstadts   wegen    Berufungen    nach 

^)  relictum  dicitur:  quod  simul  tanquam  numerator  cum  divisore  fractionem 
integri  cotistituit.         ^  Kästner  I,  87.  ^)  Sequitur  Begula  que  nunc  de  Tri: 

nunc  Äurea:  nunc  Mercatorum  vocitatur.  *)  Allgemeine  deutsche  Biographie 

I,  505 — 506  Artikel  von  Bruhns.    —    Treutlein,  Das  Rechnen  im  XVI.  Jahr- 
hundert. Zeitschr.  Math.  Phys.  XXII,  Supplement  S.  15,  22,  56,  73  und  Die  deutsche 
Cantor,  Geschichte  der  Mathem.    II.    2.  Aufl.  26 


402  60.  Kapitel. 

Leipzig,  Tübingen,  Wien  und  sogar  über  die  devitschen  Grenzen  hin- 
aus nach  Padua  und  Ferrara  ausgeschlagen.  Dieser  vielseitig  gebildete 
Gelehrte,  der  in  der  Geschichte  der  Astronomie,  der  Geographie',  ja 
sogar  der  Inschriftenkunde  einen  nicht  minder  ehrenvollen  Platz  als 
in  der  der  Mathematik  einnimmt,  lebte  von  1495  bis  1552.  Sein 
deutscher  Name  Bennewitz  oder  Bienewitz  wurde  bald  durch  das 
latinisirte  Apianus  vollständig  verdrängt.  Der  Geburtsort  war  Leisnig 
in  Sachsen  (etwa  in  der  Mitte  zwischen  Dresden  und  Leipzig).  An 
der  Leipziger  Universität  hat  Apianus  vermuthlich  unter  Professor 
Kalb  die  mathematischen  Studien  begonnen.  Unter  seinen  eigenen 
Schülern  war  später  kein  Geringerer  als  Kaiser  Karl  V.,  so  dass  es 
nicht  Wunder  nehmen  kann,  dass  Apianus  von  engen  Verhältnissen 
ausgehend  als  wohlhabender,  ja  reichbegüterter  Edelmann  gestorben 
ist,  ein  nicht  von  gar  vielen  Fachgenossen  getheiltes  Schicksal.  Die 
Adelserhebung  fand  1541  als  Folge  der  Herausgabe  eines  dem  Kaiser 
gewidmeten  grossen  astronomischen  Werkes  statt,  welches  überdies 
dem  Verfasser  ein  Geschenk  von  3000  Goldgulden  eintrug,  abgesehen 
davon,  dass  der  Kaiser  die  Druckkosten  deckte.  Die  erste'  Schrift, 
um  deren  willen  wir  es  mit  Apian  zu  thun  haben,  ist  ein  in  deutscher 
Sprache  verfasstes  Rechenbuch:  Ein  newe  und  wolgegründt  underwei- 
sung  aller  Kauffmanns  Rechnung  in  dreien  Büchern.  Die  Widmung 
führt  die  Zeitangabe  des  7.  August  1527,  der  Druck  scheint  aber  erst 
1532  stattgefunden  zu  haben.  Andere  Auflagen  sind  von  1537  und 
häufiger.  Seit  Grammateus  war  Apian  wieder  der  erste  Universitäts- 
lehrer, der  ein  deutsches  Rechenbuch  verfasste,  und  der  durch  jenen 
Vorgänger  sich  soweit  beeinflussen  Hess,  dass  er  die  dort  überwun- 
dene Verdoppelung  und  Halbirung  nicht  wieder  in  ihr  missbräuch- 
liches  Gewohnheitsrecht  einsetzte.  Aber  darum  allein  geben  wir  selbst- 
verständlich Apianus  keinen  Platz  in  unserer  Darstellung,  und  eben- 
sowenig wegen  der  gleichmässigen  Behandlung,  die  bei  ihm  Linien- 
rechnen und  Ziffemrechnen  erfuhren,  sondern  wegen  einiger  anderen 
verdienstlicheren  Besonderheiten.  Apianus  lässt  in  seinem  Rechenbuche 
ausser  der  gewöhnlichen  Neunerprobe  auch  die  durch  die  Zahlen 
6,  7,  8  oder  durch  irgend  andere  Zahlen  zu  und  insbesondere  die 
Probe  durch  das  entgegengesetzte  Rechnungsverfahren.  Im  ersten 
Buche  ist  von  den  geometrischen  Progressionen  die  Rede,  welche 
ähnlich  wie  es  (S.  397)  bei  Grammateus  hervorgehoben  wurde,  mit 
einer  arithmetischen  Reihe  in  Verbindung  gebracht  sind.    Apian's  Dar- 


Coss,  Zeitschr.  Math.  Phys.  XXIV.  Supplement  S.  17.  —  Günther,  Peter  und 
Philip  Apian  in  den  Abhandlungen  der  königl.  böhmischen  Gesellsch.  der  Wissen- 
schaften VI.  Folge,  11.  Band.  —  Unger,  S.  51,  80,  83,  101. 


Mathematiker  an  deutsclien  Universitäten.  403 

Stellung  ähnelt  nocli  melir  der  von  Chuquet,  insofern  als  die  arith- 
metische Reihe  mit  0  beginnt.  Apianus  hebt  auch  die  Brauchbarkeit 
jener  Reihen  beim  Multipliciren  hervor,  indem  man  die  entsprechen- 
den Glieder  der  arithmetischen  Reihe  addire  und  nennt  diese  letzteren 
die  Signaturen.  Das  ist  aber  ein  besonderer  Kunstausdruck,  und 
Schaffung  einer  neuen  Benennung  durch  Kunstausdrücke  beweist 
immer,  dass  wer  sie  schuf  der  Bedeutung  des  Gegenstandes  sich  be- 
wusst  war.     Im  zweiten  Buche  ist  die  Kubikwurzelausziehung 

^^14886936  =  246 
deutlicher  dargestellt,  als  es  wohl  irgend  früher  geschah^).  Apianus 
giebt  den  nach  einander  gefundenen  Ziffern  2,  4,  6  die  Stellenzeiger 
a,  h,  c  und  lässt  die  Nebenrechnungen  zur  Auffindung  von  3a^,  3a, 
später  von  3(a  -f-  &)";  3(a  -f-  &)  am  Rande  ausführen,  wo  sie  sehr 
übersichtlich  hervortreten.  Im  dritten  Buche  ist  das  Dividiren  unter- 
wärts gelehrt"),  welches  zwar  als  Divisio  danda  in  Italien  schon 
mindestens  ein  halbes  Jahrhundert  bekannt  war,  aber  in  Deutscliland 
jetzt  erstmalig  auftrat,  freilich  ohne  rasch  allgemeinen  Eingang  zu 
finden.  Auch  hier  sind  Buchstaben  als  Stellenzeiger  der  allmälig 
herunterzuziehenden  Ziffern  des  Dividenden  vorhanden.  Heutiger  Sprech- 
und  Schreibweise  gegenüber  ist  zu  bemerken,  dass  Apianus  eine  Zahl 
nicht  durch,  sondern  in  eine  andere  getheilt  sein  lässt,  und  dass  die 
Theildividenden,  wie  sie  nach  einander  in  Betracht  kommen,  unter 
einander  gestellt  werden,  ohne  ihrer  Rangordnung ,  im  Dividenden 
entsprechend  nach  rechts  fortzurücken.  Ein  Beispiel  des  Apianus 
sieht  darnach  so  aus: 

Dividirt  378784  in  224 
Steht  also. 
ahc  quotient 

378784  1691 

224 
1547  a 
1344 
2038  & 
2016 
224  c 
000 

Endlich  ist  im  dritten  Buche  die  ToUetrechnung  (S.  224 — 225)  ge- 
lehrt. Ein  anderes  Werk  des  Apianus  sollte  mit  der  Algebra  sich  be- 
schäftigen. Das  schon  erwähnte  Widmungsschreiben  zum  Rechenbuche 
verspricht   ausdrücklich:  „die   Regulam  Cosse    mit   sampt   dem    Centi- 

^)  Treutlein,  Rechnen  im  XVI.  Jahi-hundert.     Zeitschr.  Math.  Phys.  XXII. 
Supplement  S.  72—73.         -)  Unger,  S.  54  und  80. 

26* 


404  GO.  Kapitel. 

loquio,  darinne  der  kern  ligt,  wird  ich  in  kürtzer  Zeit  (wil  Got)  auch 
in  Druck  geben",  aber  das  Versprochene  ist  nicht  erschienen,  und 
was  das  Wort  Centiloquium  bedeuten  sollte  (etwa  eine  Beispielsamm- 
lung- von  100  Textgleichungen?)  ist  durchaus  fraglich.  Ob  Apianus 
auch  der  Geometrie  seine  Thätigkeit  zugewandt  hat,  ist  zweifelhaft. 
Ein  lAher  de  mensuratione  vasonim  cum  artificiaU  partis  vacuae  in- 
ventione  wird  zwar  genannt^),  allein  diese  entweder  überhaupt  nie 
gedruckte  oder  gänzlich  verschollene  Schrift  dürfte  nur  einem  be- 
stimmten handwerksmässigen  Bedürfnisse  gedient  haben,  dessen  wir 
früher  (S.  237)  Erwähnung  gethan  haben.  Dem  Titel  nach  kann  es 
kaum  etwas  anderes  als  ein  Visirbüchlein  gewesen  sein.  Um  so 
sicherer  gestellt  ist  Apian's  Beschäftigung  mit  dem  Grenzgebiete  geo- 
metrischer und  astronomischer  Forschung,  mit  der  Trigonometrie. 
Können  wir  ihm  doch  schon  als  Verdienst  anrechnen,  dass  er  1534 
die  seiner  Zeit  durch  Gerhard  von  Cremona  ins  Lateinische  über- 
setzte Astronomie  des  Dschäbir  ihn  Aflali  (Bd.  I,  S.  749)  in  Nürn- 
berg zum  Drucke  beförderte,  aber  dieser  Uebersetzung  schickte  Apia- 
nus als  Einleitung  eine  eigene  Abhandlung  voraus:  Instrum entum,^ 
primi  möbilis,  deren  Bedeutung  gewürdigt  werden  muss^),  und  ein 
Jahr  früher  bereits  war  er  in  seiner  Introdudio  geographica  in  doc- 
tissimas  Verneri  annoMiones  auf  ganz  ähnliche  Dinge  ^)  eingegangen 
und  hatte  dort  auf  neun  Seiten  eine  Sinustabelle  zum  Drucke  gegeben, 
welche  innerhalb  des  ersten  Quadranten  die  Sinusse  aller  Winkel  in 
Zwischenräumen  von  je  einer  Minute  finden  liess.  Das  Instrumentum 
primi  mobilis  ist  eine  Vorrichtung  zur  Auf- 
findung des  Sinus  und  des  Sinus  versus  (oder 
1  minus  dem  Cosinus)  eines  Winkels  im  ersten 
Quadranten  mit  der  bei  Ablesungen  überhaupt 
erzielbaren  Genauigkeit  (Fig.  79).  Ein  rechter 
Winkel  BAC  ist  durch  den  Kreisquadranten 
BC  abgeschlossen^).  Die  Halbmesser  BA  und 
S  AC  sind,  die  erstere  Strecke  von  B  nach  A, 
die  letztere  von  A  nach  G  in  eine  gleiche  Anzahl 
von  n  (bei  Apian  vorschlagsweise  100000)  Theile  getheilt,  an  denen 
Zahlen  angebracht  sind,  welche  die  Bestimmung  haben,  das  Ablesen 
zu  erleichtern.  Ueber  AB  sowie  über  AC  als  Durchmesser  sind  von 
den  Mittelpunkten  D  und  E  aus  die  Halbkreise  AHB  und  AKC  be- 


^)  Günther,  Peter  und  Philip  Aijianus  S.  27.         *)  Kästner  I,  578—581. 
Weit   eingehender    Günther  1.  c.  S.  31—34.  ^)    Günther    1.  c.  S.  28—31. 

■*)  Wir  haben  die  Druckschrift  Apian's  nicht  zu  Händen ,  glauben  aber  der  Be- 
schreibung Günther's  1.  c.  S.  32  unter  Annahme  zweier  Druckfehler,  wo  A  und 
B  vertauscht  sind,  unsere  Figur  und  Erklärung  entnehmen  zu  dürfen. 


Mathematiker  an  deutschen  Universitäten.  405 

schrieben.     Ersterer   heisst   semicirciäus  versus,   letzterer   semicirculus 

redus.     Auf  der  Halbirenden  des  Winkels  BAC  mit  der  Entfernung 

AD 

— =   von   A  wird  ein  neuer  Mittelpunkt  0   bestimmt,  von  welchem 

2)/2 

aus  drei  concentrische  Kreisbögen  beschrieben  werden,  deren  äusserster 
durch  B  und  C  geht,  während  die  beiden  inneren  in  kleiner  Entfer- 
nung von  jenem  und  von  einander  auf  AB  und  AC  aufstehen.  Diese 
Kreisbögen  begrenzen  ein  Stück  Kreisring,  auf  welchem  die  Ein- 
theilung  von  0  bis  90°  unter  Angabe  auch  von  Bruchtheilen  von 
Graden  in  der  Richtung  von  A  nach  C  abgelesen  werden  kann.  End- 
lich ist  in  A  ein  in  beliebiger  Richtung  AG  spannbarer  Faden  vor- 
handen. Nun  sei  -^GAB^a  und  AG  schneide  in  dieser  Lage 
den  semicirculus  versus  in  H,  den  semicirculus  reetus  in  K.  Denkt 
man    die    Halbmesser  jener    Halbkreise    BH,   EK   gezogeu,    so    ist 

38«     und    BA  —  AH  =  BA  sin  vers.  a.      Ferner 


AD  AB 

Y^^        AK 

— j^T- = -^yr  ^  cos(90°  —  o;)=sin«.     Trägt  man  somit  durch  einen 

in  A  eingesetzten  Zirkel  AI ^=^  AH  auf  AB  und  AL  =  AK  auf 
AC  auf,  was  in  unserer  Figur  unterblieb,  um  sie  nicht  weiter 
mit  Buchstaben  zu  beschweren,  so  kann  man  in  /  die  Strecke 
BI  =  sin  vers.  «,  in  L  diejenige  AL  =  sin  a  ablesen.  Dass  Apianus 
ein  nicht  minder  feiner  Höfling  als  Mathematiker  war,  bewies  er 
dadurch,  dass  er  in  den  drei  sich  durchsetzenden  Kreisbögen  AHB, 
AKC ,  BGC  die  Gestalt  eines  Fuchseisens  erkannte,  des  Wappens 
der  Freihern  von  Stadion,  und  dass  er  daraus  Gelegenheit  nahm, 
seine  Schrift  dem  diesem  Geschlechte  entstammenden  Bischöfe  Christoph 
von  Augsburg,  der  sich  ihm  stets  als  Gönner  erwiesen  hatte,  zuzu- 
eignen. Bemerkenswerth  erscheint,  dass  Apianus  nur  vom  Sinus, 
Sinus  versus  und  Sinus  Complementi  (unserem  Cosinus)  Gebrauch 
machte.  Die  Tangenten  finden  sich  nirgend  bei  ihm  vor,  so  sehr 
Regiomontan's  Tabula  foecunda  geeignet  war,  sie  dem  Astronomen 
zur  Anwendung  zu  empfehlen. 

Während  der  Zeit,  von  welcher  hier  die  Rede  ist,  vollzog  sich 
eine  wissenschaftliche  That  an  der  Universität  Basel.  Dort  starb 
1541,  dort  lehrte  zuletzt  Simon  Grynaeus  der  ältere^),  der  in 
Wien  und  Ofen,  in  Heidelberg  und  Tübingen  vorher  seine  humanistische 


1)  Rud.  Wolf,  Biographien  zur  Kulturgeschichte  der  Schweiz  11,  10,  Note  10 
und  12.  —  Poggendorff  I,  967.  —  Weissenborn,  Die  Uebersetzungen  des 
Euklid  durch  Campanus  und  Zamberti  S.  64. 


406  60.  Kapitel. 

Tüchtigkeit  bewiesen  hatte.  In  Basel  gehörte  seine  Lehrthätigkeit 
vorzugsweise  der  Theologie  an,  selbstverständlich  im  Sinne  der  kirch- 
lichen Reformbestrebungen,  denen  er  sich  vollständig  angeschlossen 
hatte.  Zugleich  aber  stellte  er  seine  Kenntniss  des  Griechischen  in 
den  Dienst  der  Mathematik  und  gab  1533  in  Basel  die  erste  Aus- 
gabe des  Urtextes  der  euklidischen  Elemente  sowie  der  Er- 
läuterungen des  Proklos  zu  denselben  in  Druck.  Wenige 
Jahre  später,  1538,  Hess  er  erstmalig  einen  griechischen  Almagest 
erscheinen.  Unter  dem  Ausdrucke  einer  wissenschaftlichen  That,  dessen 
wir  uns  bedienten,  verstanden  wir  in  erster  Linie  die  griechische 
Euklidausgabe.  Sie  war  es  wirklich  durch  die  nunmehr  einem  Jeden 
gebotene  Möglichkeit,  sich  von  der  Richtigkeit  oder  Unrichtigkeit  der 
Uebersetzungen  desjenigen  Werkes  zu  überzeugen,  ohne  welches,  wie 
wir  wiedei-holt  sahen,  ein  mathematisches  Wissen  nicht  gedacht  wer- 
den konnte.  Sie  war  es  auch  durch  die  als  thatsächliche  Folgerung 
sich  ergebende  Herausgabe  der  anderen  grossen  Geometer  des  grie- 
chischen Alterthums.  Wieder  in  Basel  erschien  schon  1544  eine 
griechische  Archimedausgabe  unter  der  Leitung  von  Thomas 
Venatorius^),  dessen  deutscher  Name  Gechauff  war. 

Drei  deutsche  Universitäten  Heidelberg,  Tübingen,  Witten- 
berg sind  eng  verknüpft  durch  ihre  Beziehungen  zu  einem  Manne, 
der,  ohne  Hervorragendes  als  Mathematiker  geleistet  zu  haben,  dennoch 
in  einer  Geschichte  der  Mathematik  so  wenig  fehlen  darf  als  in  der 
Geschichte  irgend  einer  Wissenschaft,  aus  der  ein  allgemeiner  Unter- 
richtszweig geworden  ist.  Wir  meinen  natürlich  Philipp  Melanch- 
thon-),  der  als  Sohn  des  kurpfälzischen  Waffenschmieds  Georg 
Schwartzerd  1497  in  Bretten  geboren  wurde  und  1560  in  Witten- 
berg starb.  Von  October  1509  bis  Sommer  1512  war  er  an  der  Uni- 
versität Heidelberg  immatriculirt  und  erwarb  sich  dort  im  Juni  1511 
das  Baccalaureat.  Bei  seiner  Bewerbung  um  die  Magisterwürde  wurde 
er  wegen  zu  grosser  Jugend  zurückgewiesen.  Darauf  siedelte  er  im 
September  1512  nach  Tübingen  über  und  erlangte  hier,  aber  auch 
nicht  vor  Januar  1514,  den  Grad  eines  Magisters  der  freien  Künste. 
In  Tübingen  begannen  Melauchthon's  theologische  Studien.  Im  Sommer 
1518  folgte  er  einem  Rufe  nach  Wittenberg,  welcher  Universität  er 
fortan  bis  zu  seinem  Lebensende  angehörte.  Zuerst  war  er  in  Witten- 
berg als  Professor  der  griechischen  Sprache  und  Literatur  angestellt. 
Im  Jahre  1526  übernahm  er  dazu  eine  zweite  theologische  Professur, 


^)  Vossius  pag.  56.  —  Doppelmayr  S.  41,  Xote  nn  und  S.  51—52. 
*)  Hartfelder,  Phihpp  Melanchthon  als  Praeceptor  Germaniae  (VII.  Band  der 
Monunienta  Germaniae  paedagogica),  Berlin  1889. 


Mathematiker  an  deutschen  Universitäten.  407 

und  von  seinem  thatkräftigen  Eingreifen  in  die  grosse  kirchliche  Be- 
wegung der  Zeit  weiss  die  politische  und  Kirchengeschichte  zu  er- 
zählen. Wissenschaftlich  beschränkte  seine  Einwirkung  sich  gleich- 
falls keineswegs  auf  die  beiden  Fächer,  mit  welchen  sein  Beruf  ihn 
verband.  Die  Bildung  des  Volkes,  so  weit  die  Ausdehnung  des  Wortes 
Bildung  gefasst  werden  mochte,  war  das  hohe  Ziel,  auf  welches  seine 
edlen  Bestrebungen  sich  richteten.  Darum  gab  die  Mitwelt  schon 
ihm  den  Namen  Praeceptor  Germaniae,  darum  bestätigt  die  Nachwelt 
dankbar  das  schon  alte  Wort  und  nennt  ihn  den  ersten  Lehrer 
Deutschlands.  Allerdings  haben  wir  dabei  eine  nicht  unbedeutende 
Einschränkung  vorzunehmen.  Die  Schule,  deren  Verbesserung  und 
Verallgemeinerung  Melanchthon  und  gleich  ihm  seinem  Freunde 
Martin  Luther  am  Herzen  lag,  war  keineswegs  die  deutsche  Volks- 
schule. Wohl  entstand  diese  am  Anfange  des  XVL  Jahrhunderts  aus 
den  Katechisationen,  welche  mit  der  Jugend  vorzunehmen  die  kur- 
sächsische Schulordnung  von  1528  den  Pfarrern  vorschrieb,  und  zu 
deren  Vorbereitung  ein  Unterricht  nothwendig  war,  den  der  Pfarrer 
allmälig  auf  die  Schultern  des  Küsters  lud,  der  von  diesem  in  der 
Woche  abgehalten  wurde  und  nach  und  nach  vom  Unterrichte  in  den 
Evangelien  auf  das  Lesen,  Psalmensingen,  zuletzt  auf  das  Schreiben 
sich  ausdehnte.  Wohl  gab  es  daneben  deutsche  Schulen,  Rechen- 
schulen, Schreibschulen,  durch  ihre  besonderen  Namen  deutlich  zu 
erkennen  gebend,  was  in  jeder  einzelnen  gelehrt  wurde,  wobei  wir  den 
Umfang  des  Gelehrten  nicht  enge  genug  uns  denken  können.  Aber 
für  alle  diese  Schulen  hat  Melanchthon  niemals  Vorschriften  gegeben. 
Er  erachtete  sie  dessen  sicherlich  nicht  werth.  Erst  die  niedere  Latein- 
schule, in  drei  Haufen  (wir  sagen  dafür  heute  Classen)  zerfallend  und 
darum  Trivialschule  genannt,  erfreute  sich  des  Wohlwollens  des  für 
die  Schule  begeisterten  Humanisten,  der  so  sehr  Humanist  war,  dass 
er  einen  Unterricht  nicht  würdigte,  welcher  nicht  in  lateinischer 
Sprache  ertheilt  wurde,  also  den  Unterricht  in  der  Lehrsprache  als 
Vorschule  zur  Voraussetzung  hatte.  Die  Schulmeister,  sagte  Melanch- 
thon, sollen  selbst  so  weit  möglich  nichts  denn  lateinisch  mit  den 
Knaben  reden.  Gelehrt  wurde  aber  in  allen  drei  Classen  wieder  kaum 
etwas  anderes  als  Latein.  Die  Grammatik  dieser  Sprache  zu  be- 
herrschen, einen  reichen  Wortschatz  sich  anzueignen,  zahlreiche  Schrift- 
steller zu  lesen,  selbst  fiiessend  lateinisch  sprechen  zu  können,  darin 
gipfelte  der  Plan  der  Trivialschule.  Die  Erwerbung  von  Kenntnissen 
in  Geschichte,  in  Geographie,  im  Rechnen  wurde  nicht  einmal  an- 
gestrebt, geschweige  denn  erreicht.  Das  Rechnen,  wir  haben  es  schon 
gesagt,  veranlasste  die  Gründung  besonderer  Rechenschulen,  deren 
Lehrer    sich    etwas  Höheres    zu    sein    dünkten    als    der  Schreiblehrer 


408  60.  Kapitel. 

oder  der  Lehrer  im  Deutscheu.  Sie  waren  wesentlich  Bildungsstätten 
für  den  Kaufmannsstand.  Wer  aber  ausserhalb  der  Reehenschule 
Kenntnisse  im  Hantieren  mit  Zahlen  sich  verschaffen  wollte,  der 
musste,  wenn  ihm  das  Selbststudium  zahlreich  vorhandener  Rechen- 
bücher nicht  genügte,  zur  Universität  gehen.  Hier  begegnen  wir 
wieder  dem  Einflüsse  Melanchthon's,  welcher  dringend  verlangte  und 
durchzusetzen  wusste,  dass  die  Wiener  Einrichtung  von  zwei  be- 
sonderen mathematischen  Professuren  unter  den  zehn  Pro- 
fessuren der  philosophischen  Facultät,  wie  man  jetzt  statt 
des  früheren  Namens  der  Artisten  zu  sagen  anfing,  in  Wittenberg 
und  wo  man  sonst  auf  Melanchthon's  Wort  hörte,  Nachahmung  fand. 
„Die  Anfangsgründe  der  Arithmetik,  das  Addiren  und  Subtrahiren 
sind  unbedingt  zum  täglichen  Gebrauche  nothwendig  und  so  leicht, 
dass  Knaben  sie  erlernen  können;  die  Regeln  der  Multiplication  und 
Division  erfordern  allerdings  ein  wenig  mehr  Aufmerksamkeit,  aber 
bei  einiger  Anstrengung  werden  sie  doch  bald  begriffen."  So  lautet 
Melanchthon's  Programm  für  den  arithmetischen  Inhalt  von  Univer- 
sitätsvorlesungen. Es  ist  freilich  geeignet,  ein  halb  spöttisches,  halb 
mitleidiges  Lächeln  hervorzurufen,  aber  vergessen  wir  doch  Eines 
nicht:  dass  bei  Neuschaffungen  es  meistens  schwieriger  ist,  für  den 
Inhalt  die  richtige  Form,  als  für  die  Form  den  richtigen  Inhalt  zu 
finden.  Waren  erst  die  Lehrstühle  vorhanden,  so  konnten  allmälig 
deren  Inhaber  den  Unterrichtsstoff  den  Zeitbedürfnissen  nach  um- 
modeln, und  das  ist  geschehen.  Dai'in  besteht  die  ganze  weitere  in 
Deutschland  und  anderwärts  allerdings  zuerst  unsäglich  langsam  fort- 
schreitende Entwickelung  des  mathematischen  Universitätsunterrichtes 
von  drei  Jahrhunderten.  Melanchthon,  der  in  Tübingen  den  Unter- 
richt Stoff  1er 's  genossen  hatte,  eines  Astronomen,  welcher  von  der 
Zeitkraukheit  der  Sterndeutung  mit  genügender  Stärke  ergriffen  war, 
um  sie  auf  seine  Schüler  zu  übertragen,  nicht  aber  zugleich  das  Heil- 
mittel streng  geometrischer  Prüfung  ihnen  vererbte,  sah  nun  einmal 
nicht  weiter,  als  wir  es  mit  seinen  Worten  angegeben  haben,  und 
konnte  über  den  eigenen  Horizont  hinaus  auch  Anderen  nicht  als 
Wegweiser  dienen. 

Innerhalb  des  Gesichtskreises,  welchen  er  beherrschte,  lag  da- 
gegen die  Herausgabe  classischer  Werke,  in  erster  Linie  solcher  von 
griechischen  und  arabischen  Schriftstellern,  in  zweiter  aber  auch 
solcher,  welche,  neueren  Ursprungs,  vermöge  der  anerkannten  Be- 
rühmtheit ihrer  Verfasser  als  classisch  gelten  durften^).    Aratus,  Pto- 

^)  Vergl.  das  chronologisch  geordnete  Verzeichniss  der  Arbeiten  Melanch- 
thon's bei  Hartfelder  1.  c.  S.  579 — 620  mit  700  Xummern,  wovon  folgende 
hierher  gehören:  44,  187,  228,  257,  502,  528. 


Mathematiker  an  deutschen  Universitäten.  409 

lemäus,  Proklus,  Alfragan  gehören  zur  ersten,  Sacrobosco  und  Peur- 
bach  zur  zweiten  Gruppe,  an  deren  Drucklegung  Melanchthon  mehr 
oder  weniger  thätig  war.  Selbst  gleichzeitigen  Schriftstellern  you 
mathematischer  Bedeutung  erwies  er  sich  gern  nützlich.  Wir  werden 
auf  Michael  Stifel,  zu  dessen  ÄritJimetica  integra  er  eine  Vorrede^) 
verfasste,  noch  zu  reden  kommen,  eine  andere  Vorrede  verfasste  er 
zuYoegeliirs  Elemenfale geometriciun  (S.  394),  welche  alsdann  unter 
Veränderung  weniger  Schlussworte  einer  1546  bei  Hervagius  gedruck- 
ten lateinischen  Euklidausgabe  neuerdings  beigegeben  wurde  ^),  wir 
meinen  aber  vorzugsweise'  Melanchthon's  Declamatiopen.  Decla- 
mationen  nannte  man  lateinische  Reden,  welche  bei  festlichen  Gelegen- 
heiten gehalten  wurden,  und  deren  Uebung  Melanchthon  in  Witten- 
berg einbürgerte.  Elegante  Sprache  war  dem  Humanistenkreise,  der 
die  Professuren  an  den  deutschen  Hochschulen  für  sich  und  seine 
Freunde  in  Erbpacht  genommen  hatte,  die  Hauptsache,  und  da  diese 
Hauptsache  wiederum  nicht  Jedermanns  Sache  war,  so  wurde  es  Uebung, 
dass  mancher  Redner  die  ihm  aufgetragene  Declamation  von  einem 
Anderen  schreiben  liess,  ja  es  wird  erzählt^),  dass  Melanchthon  die 
meisten  öffentlichen  Reden  verfasste,  welche  in  Wittenberg  gehalten 
wurden,  und  dass  es  vorgekommen  sei,  dass  der  Festredner  schon  be- 
gonnen hatte,  während  Melanchthon  an  seinem  Schreibtische  noch 
beschäftigt  war,  das  Ende  der  Rede  niederzuschreiben.  Eine  Declamation 
über  Regiomoutanus  schrieb  und  hielt  Melanchthon  selbst.  Eine 
weitere  über  den  Nutzen  der  Arithmetik  war  die  Antrittsrede 
für  den  1536  als  Professor  der  Mathematik  nach  Wittenberg  berufe- 
nen Rhäticus,  und  ihr  sind  die  Worte  entnommen,  welche  wir  vor- 
her als  Melanchthon's  Programm  für  den  arithmetischen  Universitäts- 
unterricht anführten.  In  Melanchthon's  Werken  ist  noch  eine  dritte 
scheinbar  hierher  gehörige  Declamation  abgedruckt,  aber  mit  Unrecht'^). 
Es  ist  die  Rede,  welche  einst  Regiomoutanus  in  Padua  als  Einleitung 
zu  seinen  Vorlesungen  über  Alfraganus  hielt  (S.  260),  die  sich  hier 
eingeschlichen  hat.  Wir  sagten,  Melanchthon  habe  sich  um  den  Druck 
der  Werke  des  Alfraganus  bemüht.  Der  1537  erschienene  Band  ist 
eröffnet  durch  ein  Widmungsschreiben  Melanchthon's  an  die  städtische 
Obrigkeit  von  Nürnberg,  dem  Druckorte.  Darauf  folgt  die  Rede  des 
Regiomoutanus,  und  dann  die  Werke  Alfragan's.  Offenbar  hat  später 
die   räumliche    Zusammengehörigkeit  des  Briefes  and   der  Rede,  ver- 


^)  Hartfelder,  I.e.  S.  599,  Nr.  346  des  Verzeichnisses.  ')  Mittheilung  von 
H.  Max  Simon.  ^)  Hartfelder  1.  c.  S.  101  mit  Berufung  auf  Camerarius, 
De  Philippi  MelancMlionis  ortu,  totius  vitae  curricido  et  morte  pag.  63  (Leipzig 
1566).  ^)  Corpus  Beformatomm  ed.  C.  G.  Brets  chneider  XI,  531—543. 


410  60.  Kapitel. 

bunden  mit  der  schönen  Form  dieser  letzteren  den  Irrtlium  veranlasst, 
für  beide  einen  Verfasser  zu  vermuthen. 

In  Rostock,  später  in  Köln  lehrte  Jan  Bronkhorst  (1494 — 
1570)  aus  Ximwegen,  der  nach  seiner  Vaterstadt  den  Beinamen  No- 
viomagus  führte.  Im  Jahre  1539  gab  er  in  Köln  eine  Schrift  JDe 
numeris  heraus,  in  welcher  (Buch  I,  Kapitel  15)  eine  geschichtlich 
merkwürdige  Stelle  sich  findet,  die  Schilderung  gewisser  aus  graden 
Strichen  zusammengesetzter  Zahlzeichen,  deren  CJialdaei  et  Astrologi 
sich  bedient  hätten.  Beispielsweise  bedeuten  V,  ~\,  L,  J  der  Reihe 
nach  1,  10,  100,  1000;  K,  N,  K,  /l  der  Reihe  nach  4,  40,  400, 
4000  u.  s.  w.  Wer  die  von  Bronkhorst  gemeinten  Chaldaeer  waren, 
ist  durchaus  ungewiss.  Möglicherweise  ist  an  spätrömische  oder  gar 
an  mittelalterliche  Sterndeuter  zu  denken^). 

Auf  unserer  Rundschau  in  deutschen  Universitäten  gelangen  Avir 
nunmehr  nach  einer  schon  geraume  Zeit  nicht  mehr  zu  Deutschland 
gehörenden  Hochschule,  welche  aber  damals  als  eine  deutsche  zu  be- 
zeichnen ist,  jedenfalls  nicht  leicht  unter  ein  anderes  Reichsgebiet 
gebracht  werden  kann.  Löwen.  Dort  finden  wir  Rainer  Gemma- 
Frisius"),  ursprünglich  van  den  Steen,  geboren  1508  zu  Dockum 
in  Friesland,  woher  ihm  der  Beiname  Frisius  stammt,  Arzt  und  Mathe- 
matiker, seit  den  vierziger  Jahren  auf  Empfehlung  seines  muthmass- 
lichen  Lehrers  Peter  Apianus  Professor  der  Mathematik  in  Löwen, 
eine  Stellung,  welche  er  vor  1553  mit  der  eines  Professors  der  Medicin 
vertauschte.  Als  solcher  starb  Gemma-Frisius  1555.  Seine  Erfindung 
eines  sogenannten  astronomischen  Ringes,  einer  Methode  zur  Bestim- 
mung der  geographischen  Länge  mittels  einer  genau  gehenden  kleinen 
Uhr,  welche  dem  Grundgedanken  nach  sich  bis  auf  den  heutigen  Tag 
erhalten  hat,  ist  hier  nicht  weitläufiger  zu  schildern.  Sein  libellus 
de  locorum  describendorum  ratione  (Antwerpen  1533)  war  von 
grundlegender  Bedeutung.  Hier  finden  sich  die  ersten  Vorschriften 
zu  einer  wahren  Triangulation  veröffentlicht.  Zwei  Orte  von  be- 
kannter gegenseitiger  Entfernung  —  Gemma  wählte  zu  diesem  Zwecke 
Kirehthürme  in  Brüssel  und  Antwerpen  —  werden  als  Grundpunkte 
aufgezeichnet.  Von  jedem  derselben  werden  andere  neue  Punkte  ein- 
visirt  und  die  Sehlinien  gezeichnet.     Die  Durchschnittspunkte  solcher 


^)  Cantor,  Mathem.  Beitr.  z.  Kulturleben  der  Völker  S.  167,  Anmerkung 
337,  Figur  37.  —  Friedlein,  Die  Zahlzeichen  und  das  elementare  Rechnen  der 
Griechen  und  Römer  (Erlangen  1869),  S.  12.  ^  Kästner  I,  129  und  II,  334, 

573,  579.  —  Quetelet  pag.  78.  —  Max.  Curtze  in  Grunert's  Archiv  für  Ma- 
thematik und  Physik  LVI,  313.  —  Allgemeine  deutsche  Biographie  VIII,  555.  — 
"Wauwermans,  Essai  de  Vhistoire  de  cartographie  anversoise  au  seizieme  siede 
im  Bulletin  de  la  societe  royale  de  geographie  d'Anvers.  1893 — 1894. 


Mathematiker  an  deutschen  Universitäten.  411 

Sehlinien  legen  sodann  neue  Punkte  auf  der  Karte  fest  und  gestatten, 
von  ihnen  aus  wieder  weitere  Punkte  einzuschneiden  und  dadurch  die 
Karte  zu  vervollständigen.  Mit  diesen  praktisch  so  wichtigen  Lehren 
trat  Gemma  an  die  Spitze  einer  niederländischen  geographi- 
schen Schule,  von  welcher  im  XIV.  Abschnitte  die  Rede  sein 
wird,  und  deren  bedeutendster  Vertreter,  Mercator,  unmittelbar 
Gemma's  Unterricht  genoss.  Als  arithmetischer  Schriftsteller  trat 
Gemma  1540  mit  einem  lateinisch  verfassten  Lehrbuche  auf,  welches 
zahlreiche  Abdrücke  erlebte.  Einige  Dinge  aus  diesem  Lehrbuche 
sind  erwähnenswerth.  Gemma  spricht  über  Verdoppelung  und  Hal- 
birung;  Manche  bezeichneten  diese  als  von  Multiplication  und  Division 
verschieden;  was  aber  diesen  Dummköpfen  als  Beweggrund  diene, 
wisse  er  nicht  ^).  Gerade  so  gut  müsse  man  Verdreifachung,  Vervier- 
fachung u.  s.  w.  als  besondere  Rechnungsarten  aufführen.  Bei  der 
Ausführung  der  Quadratwurzelausziehung  werden  die  vei'doppelten 
Wurzelziffern,  soweit  sie  bereits  gefunden  sind,  unter  die  gerade  in 
Behandlung  stehende  Abtheilung  des  Radicanden  mit  Einrückung  um 
eine  Stelle  nach  links  geschrieben,  und  in  die  rechts  noch  frei  ge- 
bliebene Stelle  tritt  alsdann  die  durch  Division  neu  ermittelte  Wurzel- 
stelle, so  dass  mit  ihr  alsdann  die  ganze  dastehende  Zahl  behufs  wei- 
terer Theilsubtraction  vom  Radicanden  vervielfacht  werden  kann.    Z.  B.: 


yil90  25  =  345 


290 


256 


3425 

685 

3425 


wobei  wir  nur  darin  von  Gemma  abweichen,  dass  wir  die  Theilreste 
abwärts  zum  Abdrucke  brachten,  während  bei  Gemma  dieselben  noch 
immer  nach  aliem  Brauche  über  dem  Radicanden  unter  Durchstrei- 
chung der  vernichteten  Radicandenziffern  erscheinen.  Endlich  findet 
sich  bei  Gemma  die  Anwendung  der  Regel  des  doppelten 
falschen  Ansatzes  auf  quadratische,  des  einfachen  auch  auf 
kubische  Aufgaben,  worauf  er  sich  nicht  wenig  zu  gute  thut,  da 
ein  gewisssr  Christoph  Rudolff  von  Jauer,  CJiristopJiorum  quendam 
Hiidolplmni  Jannerum  (sie),  die  Möglichkeit  davon  in  Abrede  gestellt 
habe.    Aus  5832  Steinwürfeln  soll  eine  Mauer  errichtet  werden,  deren 


')  Quid  vero  moverit  stupidos  illos  neseio. 


412  60.  Kapitel. 

Länge  um  die  Hälfte  grösser  sein  soll  als  die  Dicke,  und  die  Höhe 
um   die  Hälfte    grösser   als   die  Länge.     Nimmt   man    die  Abmessung 

von  2  Steinen  als  Dicke  an,  so  ist  3  die  Länge,  4—  die  Höhe  und 

es  werden  27  Steine  verbraucht.     5832   durch   27  dividirt  giebt  216 

als  Quotient,  und  weil.y216  =  6,  sind  die  einzelnen  Abmessungen 
zu  versechsfachen,  also  12  auf  18  auf  27  Steine  zu  nehmen.  Zu- 
sammengesetzter ist  die  Anwendung  des  doppelten  falschen  Ansatzes 
auf  quadratische  Aufgaben,  wiewohl  von  Gemma  an  einer  früheren 
Stelle  seines  Buches  gelehrt.  Ein  rechteckiges  Feld  von  200  Quadrat- 
ellen besitzt  eine  Länge,  welche  um  die  Hälfte  grösser  ist  als  die 
Breite;  beide  Abmessungen  werden  gesucht.  Eine  Breite  von  4  Ellen 
bei  einer  Länge  von  6  Ellen  giebt  24  Quadratellen,  also  176  zu  wenig. 
Eine  Breite  von  20  Ellen  bei  einer  Länge  von  30  Ellen  giebt 
600  Quadratellen,  also  400  zu  viel.  Nun  bildet  man  4^  =  16  und 
202  _  400^  go^ig  42 .  400  _f_  20^  •.  176  =  76800  nebst  400  +  176  =  576. 

Der  Quotient     .^      ==  133^  giebt  durch  Quadratwurzelausziehung  die 

Breite  mit  Hr^-     Die  Länge  ist  folglich  17t^-     Die  beiden  Zahlen 

mit  einander  vervielfacht  geben  nahezu  200,  während  die  wahre  Breite 
und  Länge  niemals  in  Zahlen  ausgedrückt  werden  kann  ^).  Wie 
Gemma  zu  dem  Näherungswerthe 


V 


1  v? 


gelangte,  ist  leicht  zu  vermutheu.     Er  wird  wohl 
10000  •  133y  =  1333333 

gesetzt  haben;  als  Quadratwurzel  fand  er  dann  1154  und  nach  Division 

durch  100  jene  im  Texte  genannte  Zahl.    Für  die  Länge  giebt  Gemma 

3 
durch    einen    offenbaren    Druckfehler    17^^-      Das   ganze    Verfahren 

woUen  wir  einmal  an  Buchstaben  prüfen.  Sei  y  =  ax,  p^^  xy  =^  ax^ 
die  in  Gleichungsform  geschriebene  Aufgabe.  Nun  liefern  x  -=  x^ 
und  y  =  y^  =  aXi  das  Product  Pi<p,  sowie  x  =  x.2  und  y  =  ?/2  =  ö^2 
das  Product  2h  >  P7  ^^^  zwar  sei  p  —  p^^  =  cl^ ,  p.^  —  p  =  ch .     Gemma 

rechnet  "|/^i__J_x3_^  =  x   und  das  ist  auch  richtig.     Man  hat 

x'i^^o  "f"  ^2^ dl  =  x-^-p.2  —  x^'p  -\-  x^p  ■ —  x^^py 
=  x^  ■  ax^  —  x^  •  ax^  +  x^  ■  ax^  —  x^^ax{'  =  ax^ix.^  —  x^). 

')  m  duo  nunieri  in  invicem  ducti,  300  fere  constituunt,  neque  iinqiiam  vera 
longitudo  aut  latitudo  numeris  exprimi  potest. 


Mathematiker  an  deutschen  Universitäten.  413 

Ferner 

d^  +  d,  =I>—Pi-\-  Ih  —P  =  P-2  —Pi  =  «^2'  —  «^1'  =  «(^2'  —  ^i'j- 
Der  gebildete  Quotient  beider  Zahlen  ist  folglich  x^  mit  der  Quadrat- 
wurzel X.  Wenn  aber  doch  bei  der  einen  Aufgab.e  die  Kubikwurzel- 
ausziehung, bei  der  anderen  die  Quadratwurzelausziehung  nicht  ver- 
mieden werden  konnte,  warum  der  Umweg  durch  den  falschen  An- 
satz, welcher  nur  noch  mehr  Rechnung  nöthig  machte?  Wir  finden 
als  Antwort  auf  diese  Frage  zwei  Beweggründe,  welche  bei  Gemma 
wirksam  gewesen  sein  werden.  Erstens  wollte  er  die  Coss  nicht 
lehren,  welche  gleichwohl  als  bekannt  vorausgesetzt  zu  werden  scheint, 
da  ihr  Name  wiederholt  im  Texte  auftritt,  und  zweitens  versprach 
er  sich  offenbar  aus  der  Anwendung  des  doppelten  falschen  Ansatzes 
in  einem  Falle,  wo  dieselbe  als  theoretisch  unmöglich  bezeichnet 
worden  war,  hohen  wissenschaftlichen  Ruhm,  der  ihm  auch  in  der 
That  nicht  vorenthalten  blieb.  Hat  man  doch  mit  seinem  Namen 
Gemma  alle  die  Wortspiele  durchgeführt,  zu  welchen  er  Anlass  gab, 
ja  sogar  ihn  als  Edelgestein  verdeutscht,  während  die  Sitte  der 
Zeit  sonst  nur  zur  Umwandlung  deutscher  Namen  in  fremdländische 
führte. 

Erasmus  Oswald  Schreckenfuchs ^)  (1511 — 1579)  lehrte  in 
Tübingen  Hebräisch,  später  in  Basel  neben  Sebastian  Münster^) 
(1489 — 1552),  dem  Hebraisten  und  Kosmographen,  und  von  Basel 
aus  auch  in  Freiburg  Mathematik.  Schreckenfuchs  kam  in  Besitz 
eines  1534  in  Constantinopel  gedruckten  Exemplars  des  Sefer-Ha- 
mispar  von  Elias  Misrachi  (S.  229)  und  gab  154G  gemeinschaftlich 
mit  Münster  einen  Auszug  aus  diesem  Werke  in  hebräischer  Sprache 
mit  lateinischer  Uebersetzung  heraus.  Elias  Misrachi  selbst  (etwa 
1455 — 1526)  war  jüdischer  Oberrabbiner  in  Constantinopel  und  nahm 
als  solcher  eine  sehr  hervoiTagende  und  einflussreiche  Stellung  ein. 
Sein  „Buch  der  Zahlen"  ist  wesentlich  nach  griechischen  und  ara- 
bischen Mustern  gearbeitet,  enthält  aber  auch  noch  manches  Eigene, 
wie  Misrachi  selbst  betont  hat.  Dazu  gehört  weniger  ein  in  Dreiecks- 
gestalt angeordnetes  Einmaleins,  für  welches  wir  (S.  229)  einen  jüdi- 
schen Vorgänger  denken  müssen,  als  die  Entwickelung  der  Summenfor- 
meln für  1-f  2-^ \-n,  für  r^-{-2'--] \-n'  und  für  l^-\-2^-\ [-n\ 

Misrachi    schliesst    so     -^  =  -^ ,    -^—  =  -^ ,  .  =  ^ ,    also 

Z  ti  O  ^  4:  Z 

1     1  -f  2  -j-  ■  ■  •  -f-  «         n  1    1     1     o    I  I  n(n  4-  1) 

auch  — ^ '-—- — ' —  =  --  und  1  4-  2  -^  •  ■  •  -\-  n  =  — ^— -^ — ~  - 


^)  AUgemeiue  Deutsche  Biographie  XXXII,  467 — 468.    Artikel  von  S.  Gün- 
ther.        -)  Ebenda  XXIII,  30 — 33.     Artikel  von  Ludwig  Geiger. 


Ferner    -  =  1,    -^  =  1+-,     ^J-^;^_- =.  1  +  2  • -- 


414  60.  Kapitel. 

T^  1«  .         1-  +  2=  -,      ,     2 

Ferner     -  =  1,     ^-^  =  1  + - 

also     auch     -^  ^Z...  Z ..    =  ^  +  C^^  "  1)  "  T  =  ^^     ^"^^ 

12   _|_   2^   +   .   .   .   + 

Endlich  sagt  er: 


1-+  2  +  .  .  .  +  n     —   ^   -r  V-  V       3 

1)(2^ 
2  •  3 

1'  +  2- 


12  _|_  2:;  -^ ^    ,^2  _  ^(»+1)(2^^+1) 


13   _|_    23    ^     13   _ 

1  +  2    ~T~^' 


18^2^  +  33  13  +  2 


1"  i-  -^"^  o 

1+2+3  1+2  ' 

13  +  23-^ +  w^ 13  +  2^-1 [-  in  —  Vf    _ 

1  +  2  +  .  .  .  +  «  T+  2  +  .  .  .  +  («  -17    —  ** 

13  +   23  +    .    .    .    +   w3 


und     durch    Addition     sämmtlicher    Gleichungen       1191  1 

=  1  +  2-] f-^i,    also   auch    l^-\-2^-\ ^  n^  =  il-\-2-^  ■■■ -\-n)\ 

Allerdings  bedient  sich  Misrachi  bei  diesen  Schlüssen  nur  der  In- 
duction,  aber  deren  Statthaftigkeit  hat  nachträglich  bewiesen  werden 
können  ^). 

Wir  haben  dem  59.  Kapitel  ein  Schlusswort  gar  nicht  beigefügt. 
Was  hätten  wir  auch  über  die  herzlich  unbedeutenden  Leistungen 
sagen  sollen,  die  wir  mit  einziger  Ausnahme  der  Schriften  des  Xonius 
und  höchstens  noch  des  Charles  de  Bouvelles  nur  um  der  Pflicht  der 
Vollständigkeit  nach  Kräften  zu  genügen  überhaupt  erwähnen  mussten? 
Und  Nonius  wiederum  trat  aus  dem  Rahmen  des  Kapitels  so  weit 
hervor,  dass  man  ein  falsches  Bild  bekäme,  wenn  man  ihn,  nachdem 
er  im  Einzelnen  Gegenstand  unseres  Berichtes  war,  noch  einmal  zu- 
sammenfassend als  Vertreter  einer  Mathematik  auf  der  Pyrenäenhalb- 
insel schildern  wollte.  Gleichmässiger  ist  und  gestattet  eher  eine  Zu- 
sammenfassung, was  wir  im  60.  Kapitel  erörtert  haben.  Die  Leistungen 
der  Männer,  welche  an  den  deutschen  Universitäten  Wien,  Leipzig, 
Ingolstadt,  Basel,  Tüiüngen,  Heidelberg,  Wittenberg,  Löwen  die 
Stellung  eines  Professors  einnahmen,  kommen  darauf  hinaus,  dass  das 
Rechnen  sich  entwickelte,  dass  die  veraltete  Verdoppelung  und  Hal- 
birung  mit  immer  bewusster  werdender  Verachtung  entfernt  wurden, 
dass  das  Dividiren  unterwärts  auftauchte,  dass  ein  Rechnen  mit  Deci- 
malbrüchen  sich  anbahnte,  dass  die  sogenannte  wälsche  Praktik  All- 
gemeingut zu  werden  begann.  Algebraische  Aufgaben  konnten  durch 
die  Coss  beantwortet  werden,  neben  welcher  (oder  sollen  wir  sagen 
vor  welcher VJ  auch  die  Regeln  des  einfachen  wie  des  doppelten  falschen 


^)   Die  Arithmetik    des  Elia  Misrachi   von   G.   Wertheim    (Braunschweig 
1896),  S   20—23. 


Deutsche  Rechenmeister  und  Cossisten  ausserhalb  der  Universitäten.    415 

Ansatzes  geübt  wurden.  Geometrie  war  noch  immer  ein  ziemlich 
vernachlässigter  Zweig  der  Wissenschaft,  an  welchem  eigene  neue 
Triebe  sich  nicht  zeigten.  Trigonometrisches  haben  wir  nur  bei 
Apianus  und  bei  Gemma  zu  erwähnen  gehabt,  allerdings  in  einer 
Weise ,  die  beiden  Männern  alle  Ekre  machte. 


61.  Kapitel. 

Deutsche  Rechenmeister  und  Cossisten  ausserhalb   der 
Universitäten. 

Wir  reden  nunmehr  von  solchen  Verfassern  von  Rechenbüchern, 
welche  nicht  an  Universitäten  thätig  waren.  Dass  derartige  Schriften 
in  einer  Anzahl  vorhanden  waren,  welche  fast  eher  die  Anwendung 
des  Wortes  Unzahl  gestattet,  haben  wir  berührt  (S.  408).  Eines  dieser 
Werke,  welches  einen  encyklopädischen  Inhalt  besitzend,  ein  Spiegel- 
bild jeglicher  Schriften  für  wissenschaftlichen  Selbstunterricht  am  Be- 
ginne des  XVL  Jahrhunderts  in  Deutschland  darbietet,  ist  die  Mar- 
garitha  philosophica  des  Karthäuserpriors  Gregor  Reisch^). 
Der  Verfasser  ist  in  Balingen  in  Württemberg  geboren.  Er  studirte 
seit  1487  in  Freiburg  und  erwarb  dort  die  akademischen  Grade  eines 
Baccalaureus  und  eines  Magisters.  Dann  trat  er  dem  Karthäuser- 
orden bei,  in  welchem  er  zu  hohem  Ansehen  gelangte.  Als  Prior  des 
Freiburger  Karthäuserklosters  starb  er  1523.  Die  Margaritha  philo- 
sophica ist  zuerst  1503  gedruckt"),  weitere  Ausgaben  folgten,  wovon 
die  meisten  in  Strassburg  die  Presse  verliessen.  Eine  Ausgabe  wurde 
1523  durch  Orontius  Finaeus  (S.  378)  in  Paris  veranstaltet.  In  Ge- 
stalt eines  Zwiegespräches  zwischen  Lehrer  und  Schüler  sind  die  sieben 
freien  Künste  in  ebensovielen  Büchern  der  Reihe  nach  in  lateinischer 
Sprache  behandelt.  Meistens  stellt  der  Schüler  die  Frage,  welche  der 
Lehrer  ihm  beantwortet,  doch  kommt  auch  das  Gegentheil  vor,  dass 
der  Schüler  fragen  des  Lehrers  zu  beantworten  hat.  Vor  den  meisten 
Büchern  befindet  sich  eine  symbolische  Abbildung  des  zur  Behand- 
lung gelangenden  Gegenstandes,  und  insbesondere  das  Bild,  welches 
die  Rechenkunst  eröffnet,  ist  als  bemerkenswerth  wiederholt  geschildert 
worden.  Die  Rechenkunst  als  Frau  dargestellt,  Typus  arithmeticae, 
nimmt  die  Mitte  des  Bildes   ein  und  streckt  mit  jeder  Hand  ein  ge- 


^)  Allgemeine  deutsche  Biographie  XXVIII,  117,  Ai'tikel  von  Prantl.  — 
Hartfelder  in  der  Zeitschrift  für  Geschichte  des  Oberrheins  Nr.  5,  V.  2,  S.  170 
bis  200.  *)  Die  Unrichtigkeit  der  Behauptung,  es  gäbe  auch  schon  eine  Aus- 
gabe von  1496,  hat  Hartfelder  1.  c.  dargethan. 


416  61.  Kapitel. 

öffnetes  Bucli  aus.  Ihr  Kleid  trägt  vorn  als  VerzieruDg  die  beiden 
naeli  abwärts  gebenden  Progressionen 

1 

3         2 

9         4 

•27  8 

deren  gleiche  Anfangszahl  1  nur  einmal  vorkommt,  wie  unsere  über- 
dies in  der  Form  der  Zahlzeichen  nicht  getreue  Abbildung  es  erkennen 
lässt.  Links  von  der  Arithmetik  sitzt  Pytagoras ,  wie  die  Ueber- 
schrift  ihn  nennt,  der  auf  einem  Rechentische  die  Zahlen  1241  und 
82  mit  Rechenpfennigen  angelegt  hat,  ausserdem  noch  einen  Haufen 
Rechenpfennige  daneben  liegen  hat,  welchem  seine  rechte  Hand  sich 
nähert.  Zur  Rechten  der  Arithmetik  sitzt  an  einem  Tische  JBoeüus, 
gleichwie  sein  Gegen  über  durch  eine  Ueberschrift  gekennzeichnet, 
gleich  ihm  in  der  Tracht  eines  wohlhabenden  Bürgers  des  XVI.  Jahr- 
hunderts. Boethius  rechnet  mit  Ziffern,  doch  ist  den  vor  ihm  befind- 
lichen theilweise  durchstrichenen  Zahlzeichen  ein  richtiger  Sinn  nicht 
abzugewinnen.  Man  darf  getrost  diese  Abbildung  als  das  Interessanteste 
an  dem  ganzen  der  Arithmetik  gewidmeten  Buche  bezeichnen.  Der 
ihr  folgende  Text  bietet  Zahlentheoretisches  nach  Boethius,  die  Ein- 
theilung  der  Zahlen  in  Finger-  und  Gelenkzahlen,  die  sieben  Rech- 
nungsarten: Kumeration,  Addition,  Subtraction,  Multiplication,  Division, 
Wurzelausziehung  und  Progression  mit  ganzen  Zahlen ,  gemeinen 
Brüchen  und  Sexagesimalbrücheu,  das  Linienrechnen  und  die  Regel- 
detri,  ohne  dass  irgendwo  eine  Besonderheit  hervorträte,  welche  unsere 
Aufmerksamkeit  zu  fesseln  verdiente.  Weit  mehr  ist  solches  in  dem 
geometrischen  Buche  des  Werkes  der  Fall,  welches  selbst  wieder  in 
speculative  und  praktische  Geometrie  eingetheilt  ist.  Das  Titelbild 
des  ersten  Tractates  stellt  Frau  Geometrie  dar.  Ihre  rechte  Hand  hält 
einen  Zirkel,  mit  welchem  sie  Längen  an  einem  Fasse  abnehmen  zu 
wollen  scheint,  auf  welchem  ein  eingetheilter  Maassstab  liegt,  ein 
Hinweis  also  auf  die  Visierkunst.  Die  linke  Hand  hält  einen  als 
Wiukelinstrument  zu  benutzenden  Quadranten.  Die  speculative  Geo- 
metrie selbst  ist  ein  unendlich  dürftiger  Auszug  aus  Euklid,  der  Haupt- 
sache nach  blosse  Erklärungen,  daneben  einige  wenige  Sätze,  un- 
bewiesen aber  richtig,  das  ziemlich  getreue  Ebenbild  des  ersten  Buches 
der  Geometrie  des  Boethius,  nur  in  noch  abgemagei-terer  Gestalt.  Den 
zuverlässigsten  Beweis  der  Benutzung  einer  unmittelbar  oder  mittelbar 
römischen  Vorlage    liefert    das  Vorkommen   des    Wortes    corausms^) 

^)  Discipultis:  Basis  quid  esi,?  Magister:  Est  linea  figurae  planae  quae  tota 
jacet  in  fundamento  sive  piano.  Linea  vero  huic  aeqtialiter  superposita  dicitur 
corauscus. 


Deutsclie  Reclienmeister  und  Cossisteu  ausserhalb  der  Universitäten.     417 

für  Sclieitellinie.  Eine  eigenthümliche  Abbildung  versinulicht  die  drei 
räumlichen  Abmessungen  an  einem  unbekleideten  von  drei  Spiessen 
durchbohrten  Menschen  durch  Beisetzung  der  Wörter  oben  und  unten 
(Länge),  rechts  und  links  (Breite),  vorn  und  hinten  (Tiefe)  an  die 
Spiesse  selbst.  Nun  folgt  der  zweite  der  praktischen  Geometrie  vor- 
behaltene Tractat.  An  eine  kurze  Maasstabelle  schliesst  sich  die 
Beschreibung  eines  Winkelinstrumentes  nach  Art  des  Astrolabiums 
und  die  Vorschrift,  wie  man  es  zu  Höhenmessungen  zu  benutzen 
habe,  nämlich  um  ähnliche  Dreiecke  herzustellen,  auf  deren  Berech- 
nung Alles  hinauslaufe.  Als  zweites  wichtiges  Messwerkzeug  wird 
der  Jacobsstab  genannt  und  geschildert.  Nun  kommt  die  eigentliche 
rechnende  Geometrie,    beginnend  mit  Kreismessungen   unter  Anwen 

düng  von    jt  =  3 y  •     Bei   der  Flächenmessung    geradliniger  Figuren 

ist  die  Abhängigkeit  von  Schriften  römischer  Agrimensoren  noch  viel 
deutlicher  wahrnehmbar,  als  an  den  vorher  erwähnten  Merkmalen. 
Der  Durchmesser  des  Innenkreises  eines  rechtwinkligen  Dreiecks  wird 
gefunden  als  Rest  der  um  die  Hypotenuse  verminderten  Summe  der 
beiden  Katheten;  die  Höhe  eines  mittels  seiner  drei  Seiten  gegebenen 
Dreiecks  wird  unter  Beiziehung  des  pythagoräischen  Lehrsatzes  be- 
rechnet, und  auch  der  Abschnitt  auf  der  Grundlinie,  beziehungsweise 
die  Ueberragung,  welche  bei  spitz-  und  stumpfwinkligen  Dreiecken 
durch  Ziehen  der  Höhe  entsteht,  ist  nach  richtigen,  den  Feldmessern 
bekannten  Formeln  erhalten;  ganzzahlige  rechtwinklige  Dreiecke  wer- 
den gebildet;  endlich  gelten  die  Formeln  der  Vieleckszahlen ,  vom 
Dreieck  und  Fünfeck  beginnend  bis  zum  Zehneck  einschliesslich  als 
Flächenmaasse  jener  regelmässigen  Figuren.  Das  sind  untrügliche 
Kennzeichen,  an  welchen  sich  bestätigt,  was  (S.  234)  mit  Bezug  auf 
Widmann  von  uns  behauptet  werden  durfte:  dass  nämlich  um  1500 
die  römische  Feldmesskunst  in  Deutschland  aus  langem  Winterschlafe 
zu  allerdings  nicht  nachhaltigem  Leben  erwachte. 

Schon  vor  dem  Sammelwerke  des  Gregorius  Reisch,  welchem  wir 
nur  als  Sammelwerke,  aus  welchem  einige  wenige  Bücher  unser  Inter- 
esse in  Anspruch  nahmen,  den  Vorrang  liessen,  wurde  1501  eine 
Schrift  gedruckt:  das  Enchiridion  von  Huswirt^).  Der  Verfasser 
heisst  zu  Ende  des  Büchleins  Johannes  Husivirt  Sanensis.  Vielleicht 
weist  dieser  Ortsname  nach  Sayn  im  Westerwalde,  wo  einst  eine 
Prämonstratenserabtei    stand.      Jedenfalls    stimmen    die    in    den   Auf- 


^)  Anleitung  zum  Rechnen  aus  dem  Anfange  des  XVI.  Jahrhunderts  von  Hus- 
wirt,  neu  herausgegeben  mit  historischer  Einleitung  und  Commentar  von  Prof. 
Dr.  Wildermuth.  Programm  des  königl.  Gymnasiums  in  Tübingen  zum  Schlüsse 
des  Schuljahres  1864—1865. 

Cantor  ,  Geschichte  der  Mathem.    U.    2.  Aufl.  27 


418  61.  Kapitel. 

gaben  des  Enchiridion  genannten  Münzsorten  mit  denjenigen  überein, 
deren  man  in  der  Rbeingegend  sich  bediente.  Die  Sprache  ist  die 
lateinische.  Da  Huswirt^)  früher  schrieb  als  Grammateus,  darf  man 
sich  nicht  wundern,  bei  ihm  noch  dem  Verdoppeln  und  Halbiren  als 
besonderen  Rechnungsarten  zu  begegnen.  Die  Reihenfolge,  in  welcher 
diese  Rechnungsarten  erscheinen,  ist  aber  einigermassen  auffallend. 
Wo  zuerst  das  Rechnen  mit  der  Feder  gelehrt  wird,  folgen  sich  Ad- 
dition, Subtraction,  Multiplication,  Verdoppelung,  Division,  Halbi- 
rung^).  Wo  alsdann  das  Linienrechnen  an  die  Reihe  kommt,  ist 
Verdoppelung  und  Halbirung  zwischen  Subtraction  und  Multiplication 
eingeschoben^),  und  ebenso,  wo  wieder  etwas  später  das  Rechnen  mit 
Brüchen  gelehrt  wird*).  Bemerkenswerth  erscheint  auch  das  Vor- 
kommen des  Wortes  cifra  in  doppelter  Bedeutung^)  als  Null  und  als 
Ziffer.  Die  Ausführung  der  einzelnen  Rechnungsarten  mit  der  Er- 
gänzung einer  beim  Subtrahiren  geborgten  Zehn  durch  Erhöhung 
der  nächsten  Subtrahendenstelle  um  die  Einheit,  mit  der  überall  be- 
nutzten Neunerprobe,  mit  dem  Dividiren  überwärts  bietet  nicht  viel 
was  nicht  aus  anderen  Schriften  uns  mehrfach  schon  bekannt  wäre. 
Allenfalls  könnte  auf  die  Regel  zur  Summirung  arithmetischer  Pro- 
gressionen hingewiesen  werden,  welche  in  Verse  gebracht  ist^): 

Si  primus  numerus  cum  postremo  faciat  par, 
Eius  per  medium  loca  singula  multiplicabis, 
Ast  impar  medium  vult  multiplicari  locorum. 

Die  halbe  gerade  Summe  des  ersten  und  letzten  Gliedes  will  sie  mit 
der  Gliederzahl  multij)licirt  haben  oder  die  ganze  ungerade  Summe 
ebenderselben  mit  der  halben  Gliederzahl.  Ferner  dürfen  wir  auf 
das  Vorhandensein  einer  kleinen  Tabelle'')  der  neun  ersten  Kubikzahlen 
aufmerksam  machen.  Ein  letzter  Abschnitt^)  enthält  28  „Regeln", 
d.  h.  natürlich,  wie  schon  bei  Widmann  und  früheren  Schriftstellern 
seit  Leonardo  von  Pisa,  einzelne  Musteraufgaben,  welche  nicht  einmal 
immer  durch  ihren  Inhalt  den  Namen,  welchen  sie  führen,  rechtfer- 
tigen, sondern  mittels  dieses  Namens  nur  an  eine  mitunter  recht  alte 
Vorgeschichte  der  Aufgabe  erinnern.  Die  6.  Regel  vom  fliehenden 
Hasen  ^)   z.  B.  erzählt  uns   kein  Wort  von   einem   durch  einen  Hund 


*)  Anleitung  zum  Rechnen  aus  dem  Anfange  des  XVI.  Jahrhunderts  von  Hus- 
wirt,  neu  herausgegeben  mit  historischer  Einleitung  und  Commentar  von  Prof. 
Dr.  Wildermuth.  Programm  d.  königl.  Gymnasiums  in  Tübingen  zum  Schlüsse 
des   Schuljahres    1864—1865,  S.S.  -)  Ebenda  S.  8—16.  ^   Ebenda  S.  22. 

*)  Ebenda  S.  26.  *)  Ebenda  S.  7:    Decima  vero  theca,  circulus,   cifra  sive 

figura  niliili  appellatur   und  S.  23:     Quoniam  de  integris  tarn  in  cifris  quam  in 
proiectiUbics,  dei  auxilio,  dictum  est.  ^)  Ebenda  S.  17.  '')  Ebenda  S.  20. 

*)  Ebenda  S.  28—38.         «)  Ebenda  S.  31. 


Deutsche  Rechenmeister  und  Cossisten  ausserhalb  der  Universitäten.     419 

verfolgten  Hasen,  sondern  lässt  einen  von  Köbi  gegen  Rom  fliehenden 
Mann  durch  einen  Verfolger  einholen,  welcher  Köln  erst  5  Tage  später 
als  der  Erste  verlässt. 

Theoderich  TzwiveP)  hat  1507  ein  Buch  zum  Drucke  be- 
fördert, dessen  Titelblatt  verspricht,  einen  Algorithmus  zu  lehren  per 
figuranim  (tnore  alemannornni)  (Metionem.  Sich  selbst  nennt  der 
Verfasser  gleichfalls  auf  dem  Titelblatte  einen  mgcniosus  Pythagorista. 
Diese  Bezeichnung  und  jenes  Versprechen  sind,  scheint  es,  das  Be- 
merkenswertheste  an  dem  Buche.  Was  die  alemannische  Gewohnheit 
der  Auswischung  der  Zeichen  war,  sagt  unsere  Vorlage  nicht.  Wir 
vermuthen,  es  sei  das  Ueberwärtsrechnen  gemeint,  welches  fortwäh- 
rendes Auslöschen  noth wendig  machte;  aber  warum  alemannische  Ge- 
wohnheit? Höchst  eigenthümlich  ist  Tzwivel's  Stellung  zur  Verdoppe- 
lung und  Halbirung  gewesen.  Er  hatte  das  Bewusstsein  und  sprach 
es  gradezu  aus,  dass  beide  Rechnungsverfahren  vom  Multipliciren 
und  Dividii-en  nicht  zu  trennen  seien.  Er  war  also  hierin  ein  deutscher 
Vorgänger  des  Grammateus  (S.  396).  Gleichwohl  hat  Tzwivel  beide 
Sonderfälle  in  besonderen  Abschnitten  behandelt^). 

Es  ist  kaum  möglich,  geschweige  denn  nothweudig,  alle  Rechen- 
bücher in  lateinischer  und  deutscher  Sprache  aufzuzählen,  welche  ihrer 
Entstehungszeit  gemäss  hierher  gehören.  Wir  begnügen  uns  mit  der 
Nennung  einiger  wenigen,  welche  durch  irgend  besondere  Gründe  der 
Aufmerksamkeit  empfohlen  sind.  Jacob  Köbel^)  von  Heidelberg 
(1470 — 1533)  studirte  in  Krakau  seit  etwa  1490  und  widmete  sich 
dort  insbesondere  den  mathematischen  Wissenschaften,  nachdem  er 
zuvor  an  seiner  heimathlichen  Universität  das  Baccalaureat  der  Rechts- 
wissenschaft schon  erworben  hatte.  In  Krakau  war  Köbel  Studien- 
genosse des  Kopernikus.  Nach  Süddeutschland  zurückgekehrt  Hess 
Köbel  sich  als  Stadtschreiber  in  Oppenheim  nieder  und  entwickelte 
dort  als  Dichter  eines  gereimten  Lehrgedichtes  über  das  Verhalten 
bei  Tische,  die  „Tischzucht"  genannt,  als  Zeichner  und  Holzschneider, 
als  Buchdrucker  und  Verleger,  als  Verfasser  mathematischer  Schriften 
neben  seinem  amtlichen  Berufe  eine  ungemeine  Rührigkeit.  Ein 
Rechenbuch  auf  der  Linien  von  1514,  ein  solches  mit  der  Feder  von 
1520,  ein  Visirbuch  von  1515,  sämmtlich  wiederholt  aufgelegt,  eine 
Vereinigung  der  drei  Schriften,  die  dabei  wesentlich  vermehrt  er- 
schienen, von  1531,  welche  selbst  wieder  neue  Auflagen  erlebte,  das 
sind  die  Schriften  Köbel's^),  welche  wir  zu  verzeichnen  haben.     Uns 


^)  Kästner  I,  82 — 84.—  Nagl,  Ueber  eine  Algorismusschrift  des  XII.  Jahr- 
hunderts. Zeitschr.  Math.  Phys.  XXXIV,  Hist.-litter.  Abthlg.  S.  145.  ^)  Christ. 
I'riedr.  Müller,  Henricus  Grammateus  S.  18  Note  95.  ^  Allgemeine  deutsche 
Biographie  XVI,  345—349,  Artikel  von  Eisenhart.         *)  Unger  S.  44—46. 

27* 


420  61.  Kapitel. 

lag  dabei  eine  Auflage^)  von  1543  vor,  welche  bei  Christian  Egenolff 
in  Frankfurt  am  Main  gedruckt  ist  und  den  Titel  führt:  „Zwei  rechen- 
büchlin  ujßf  der  Linien  und  Zipher  mit  eym  angehencktem  Visirbüch 
so  versteudtlich  fürgeben  das  jedem  hieraus  on  eifi  lerer  wol  zu  lernen. 
Durch  den  Achtbarn  und  wol  erfarnen  H.  Jacoben  Köbel  Statschreiber 
zu  Oppenherm."  Die  römischen  Zahlzeichen  sind  mindestens  am  An- 
fange vorwiegend  im  Gebrauche  und  werden  als  die  gewenlich 
teutsch  Zal  im  Gegensatz  zu  der  ziffern  zale  benannt^),  eine 
Benennung,  auf  welche  wir  bei  dieser  Gelegenheit  zum  ersten  Male 
aufmerksam  machen,  welche  aber  doch  schon  etwas  älterer  und  häu- 
figerer Uebung  ist.  Man  hat  sie  in  einem  in  Wittenberg  1525  ge- 
druckten „Bökeschen  vor  de  leyen  und  Kinder",  sowie  in  einer  Schrift 
aus  dem  Jahre  1530  von  Joanne m  Kolross  tüdtsch  Leermeystern 
zu  Basel  vorgefunden^).  Köbel  gehörte  noch  der  alten  Schule  an, 
welche  das  Verdoppeln  und  Halbiren  besonders  lehrte.  Er  bediente 
sich  des  Linienrechnens  auch  bei  der  Quadrat wurzelausziehung*),  wo 
]/4356  =  66  sehr  ausführlich  dargestellt  ist.  Verfasser  anderer 
Rechenbücher  in  deutscher  Sprache  sind  Johann  Böschenstein^) 
mit  Ausgaben  von  1514,  1516,  1518,  welchen  den  Beweis  der  grossen 
Verbreitung  dieser  Schrift  liefern,  und  Georg  Reichelstain^)  1532. 
Letzterer  ist  einer  der  Ersten  in  Deutschland,  welcher  Arithmetik  und 
Dichtkunst  zu  vereinigen  bestrebt  war,  und  seine  Subtractionsregel 

So  du  magst  von  der  obern  nit 
Ein  Ziffer  subtrahirn  mit  sitt, 
Von  zehen  sollt  sie  ziehen  ab, 
Der  nechst  under  addir  eins  knab 

ist  vielfach  als  Muster  solcher  Darstellungsweise  angeführt. 

Weitaus  am  bekanntesten  unter  den  deutschen  Rechenmeistern 
ist  Adam  Riese'').  Sein  Name  hat  sich  sprichwörtlich  auch  bei 
Persönlichkeiten,  denen  Riese  selbst  eine  fast  mythische  Figur  ge- 
worden ist,  in  der  Redensart  „nach  Adam  Riese"  erhalten,  welche 
von  jedem  sehr  einfachen  Rechenergebnisse  gebraucht  zu  werden 
pflegt.     Auch  die  kleine  Geschichte  ist  aufbewahrt^),  wie  Riese  einen 


^)  Das  Werk  besteht  aus  144  Blättern,  die  acht  ersten  Blätter  sind  ohne 
Numerirung,  dann  beginnt  eine  solche  sofort  mit  der  Zahl  9  und  geht  blatt- 
weise durch  den  ganzen  Band.  -)  Köbel  fol.  9  verso.  ^)  Unger  S.  9 — 13. 
')  Köbel  fol.  49— 50.  ")  Treutlein,    Das  Rechnen  im  XVI.  Jahrhundert, 

Zeitschr.  Math.  Phys.  XXH,  Supplementheft  S.  13.  — Unger  S.  46.  «)  Treutlein 
1.  c.  S.  37,  45.  —  Unger  S.  56.  ^)  Unger  S.  48 — 53  giebt  die  genaueste  und 
ausführlichste  Auskunft  über  Riese's  Schriften,  theilweise  nach  Beriet,  Ueber 
Adam  Riese  1855  und  Beriet,  Die  Coss  von  Adam  Riese  1860,  aber  mit  zahl- 
reichen Ergänzungen.         ®)  Kästner  I,  111. 


Deutsche  Mathematiker  und  Cossisten  ausserhalb  der  Universitäten.      421 

Feldmesser  demüthigte,  der,  um  sich  als  Meister  des  Zirkels  zu  er- 
kennen zu  geben,  einen  silbernen  Zirkel  auf  dem  Hute  trug,  und  doch 
nicht  wusste,  dass  es  genügt,  einen  Halbkreis  über  einen  Durchmesser 
zu  zeichnen,  um  in  kürzester  Zeit  beliebig  viele  rechte  Winkel  in 
diesem  Halbkreise  zu  erhalten.  Adam  Riese,  auch  Ries,  Rys,  Ryse 
geschrieben,  ist  1492  zu  Staffelstein  bei  Lichtenfels  in  Franken  ge- 
boren. Er  war  1522  Rechenmeister  in  Erfurt,  1525  Rechenmeister 
in  Annaberg.  Ebenda  trat  er  1528  in  öffentliche  Dienste  bei  der 
Buchführung  der  Bergwerke.  Sein  Todesjahr  ist  1559.  Vier  ver- 
schiedene Bücher  von  ihm  sind,  jedes  in  wiederholten  Auflagen,  im 
Drucke  erschienen.  Das  erste  ist  eine  Rechnung  auf  der  Linie  von 
1518,  das  zweite  ein  Rechenbuch  auf  Linie  und  Feder  von  1522  zur 
Zeit  als  Riese  noch  Rechenmeister  in  Erfurt  war.  Das  dritte  und 
häufigste  Buch  führt  den  Titel  „Rechnung  nach  der  Lenge  auff  den 
Linichen  und  Feder.  Darzu  forteil  und  behendigkeit  durch  die  Pro- 
portiones  Pi-actica  genannt  mit  grüntlichem  Unterricht  des  visirens. 
Durch  Adam  Riesen  im  1550  Jar."  Ihm  ist  das  Bildniss  Riese's  mit 
der  Umschrift  „Anno  1550  Adam  Ries  seines  Alters  im  LVHI"  bei- 
gegeben, woraus  das  Geburtsjahr  des  Verfassers  hat  erschlossen  wer- 
den können.  Man  hat  in  diesen  drei  Werken  den  Fortschritt  zu 
erkennen,  welchen  Riese  als  Lehrer  machte,  und  welchen  er  auf  seine 
Schüler  fortpflanzte.  Zu  einem  klaren  Unterrichte  im  volksthüm- 
lichen,  aber  auch  nur  einfachsten  Volksbedürfnissen  genügenden 
Linienrechnen  gesellt  sich  ein  Rechnen  mit  Ziffern,  zu  beiden  als- 
dann ein  Anwenden  aller  der  „forteil  und  behendigkeit",  deren  die 
Zeit  fähig  war,  ohne  dass  die  beiden  ersten  Theile  dadurch  verkürzt 
würden.  Man  darf  nicht  vergessen,  dass  die  Lehre  vom  Unterrichten 
als  solche  damals  erst  im  Entstehen  war,  dass  Männer  wie  unser 
früher  genannter  Melanchthon,  wie  Johannes  Sturm  ^),  der 
Schulvorstand  in  Strassburg,  erst  an  ihrer  Begründung  arbeiteten, 
um  Riese^'s  Stellung  innerhalb  seiner  Zeit  zu  würdigen.  Was  seine 
Bücher,  insbesondere  das  vollständigste  dritte  Rechenbuch  auf  der 
Lenge  lehrten,  erhob  sich  in  keiner  Weise  über  das  übliche  Maass. 
Es  würde  sehr  schwer  fallen,  eigene  Gedanken,  und  beträfen  sie  nur 
geringe  Rechenvortheile,  bei  Adam  Riese  nachzuweisen.  Dagegen  hat 
er  zu  vereinigen  und  zweckdienlich  zu  ordnen  gewusst,  was  vor- 
handen war.  Aus  seiner  Anordnung  konnte  der  Rechenunterricht  die 
methodischen  Vorschriften  sich  bilden , '  welche  heute  als  selbstver- 
ständlich gelten.  Die  Vorschrift  des  Aufsteigens  vom  concreten  Denken 
zum  abstracten  wird  in  jedem  Rechenunterrichte  heute  beachtet;   bei 


')  Hartfelder,  Melanchthon  S.  148—150. 


422  61.  Kapitel. 

Riese  ist  das  Rechnen  mit  Rechenpfennigen  dem  mit  Ziffern  voraus- 
geschickt. Die  zweite  Grundregel  ist  die  des  Ueberganges  vom  Ein- 
facheren zum  Zusammengesetzteren,  und  auch  diese  war  Riese's  Rechen- 
buch auf  der  Lenge  zu  entnehmen.  Die  Rechnungsarten  sind  dort 
zuerst  so  breit  und  umständlich  zur  Ausführung  gebracht,  als  es  in 
ihrer  Natur  liegt,  dann  erst  wird  mehr  und  mehr  auf  eine  gewisse 
Eleganz  des  Verfahrens  Rücksicht  genommen.  Mit  verschiedenen 
Multiplications-  und  Divisiousarten,  mit  dem  Kürzen  bei  Bruchrech- 
nungen, mit  der  welschen  Praktik  als  wesentlich  leichterer  Lösung 
der  Regeldetriaufgaben,  mit  falschem  Ansätze,  mit  unbestimmten  Auf- 
gaben ,  mit  Zauberquadraten  wird  der  Schüler  Riese's  in  umfassendster 
Weise  bekannt  gemacht,  aber  erst  nachdem  er  das  gemeine  Ziflfern- 
rechnen  überwunden  hat.  Endlich  die  dritte  für  das  Rechnen  fast 
mehr  als  für  irgend  einen  Lehrgegenstand  erspriessliche  Vorschrift 
verlangt  stete  Uebung  des  einmal  Erlernten.  Auch  Riese  hat  wohl 
beherzigt,  dass  Uebung  den  Meister  macht.  Es  ist  immer  der  gleiche 
Stoff,  der  in  immer  neuen  Aufgaben,  in  immer  neuer  Form,  so  weit 
als  möglich  in  angenehmem  Gewände,  bis  zu  fünf-  und  sechsmal  wieder- 
holt erscheint.  Ein  gleichzeitiger  Schriftsteller,  der  geistig  unendlich 
hoch  über  Riese  stand,  Michael  Stifel,  nannte  dessen  Aufgaben  „hold- 
selig" und  entnahm  sie  ihm  für  sein  eigenes  Werk^).  Andere  folgten 
diesem  Beispiele  ohne  in  gleicher  Offenheit  ihre  Quelle  zu  nennen, 
und  so  galt  hinfort  für  einen  Meister  der  Rechenkunst,  wer  Adam 
Riese's  Rechnung  nach  der  Lenge  vollständig  durchgearbeitet  hatte ^). 
Ein  viertes  Buch  gab  Adam  Riese  1533  zu  Ehren  des  „Erbarn  Weisen 
Rath  auff  Sanct  Annenbergs"  heraus.  Es  war  „ein  gerechent  Büch- 
lein auff  den  Schäffel,  Eimer  und  Pfundtgewicht",  mithin  eine  Samm- 
lung von  116  Tabellen,  die  zu  Preisberechnungen  dienen^).  Hier 
findet  sich  unter  Anderem  die  berühmte  Annaberger  Brodord- 
nung, welche  das  Gewicht  angiebt,  das  ein  Halbgroschenbrod,  ein 
Pfennigbrod  und  ein  Semmelpaar  haben  müssen,  während  die  Korn- 
preise von  20  bis  zu  84  Geldeinheiten  steigen.  Ausser  den  in  Druck 
gegebenen  Schriften  Riese's  hat  sich  von  ihm  noch  eine  Coss*)  hand- 
schriftlich erhalten.  Wir  entnehmen  ihr,  dass  mancherlei  Anregung 
von  Aquinas  Dacus,  jenem  früher  (S.  238)  erwähnten  Mönche  des 
Predigerordens,  ausging,  welcher  übrigens  nach  der  Sitte  der  Zeit  sein 

1)  Unger  S.  51,  Note  5.       -)  Doppelmayr,  S.  169,  Note  oo.        ^)  Unger 
S.  96.  *)  Beriet,  Die   Coss  von  Adam  Riese  (Annaberg  1860)   enthält  um- 

fangreiche wortgetreue  Auszüge.  Vergl.  ausserdem  T  reut  lein,  Die  deutsche 
Coss.  Zeitschr.  Math.  Phys.  XXIV,  Supplement  S.  12  und  14—15  und  besonders 
Wappler,  Zur  Geschichte  der  deutschen  Algebra  im  XV.  Jahrhunderte  (Zwickau 
1887). 


Deutsche  Rechenmeistei*  und  Cossisten  ausserhalb  der  Universitäten.     423 

Wissen  zu  Kauf  trug  und  sich  beispielsweise  für  die  Mittlieilung  einer 
natürlich  von  ihrer  Auflösung  begleiteten  Aufgabe  von  einem  ge- 
wissen Hans  Conrad,  der  erst  in  Eisleben^  dann  neben  Adam  Riese 
in  Annaberg  lebte,  einen  Gulden  geben  Hess.  Wir  lernen  einen 
Hans  Bernecker  aus  Leipzig  kennen,  der  selbst  Beispiele  anfertigte. 
Wir  erfahren  von  einem  Magister  Andreas  Alexander,  welcher 
ein  ganzes  Buch  über  die  Coss  geschrieben  hat.  Die  wissenschaft- 
liche Wirksamkeit  aller  dieser  Persönlichkeiten  mag  vielleicht  vor 
1500  begonnen  haben,  reicht  aber  gewiss  wenigstens  theilweise  bis 
gegen  Ostern  1524,  als  dem  Zeitpunkte,  in  welchem  Riese's  Coss 
vollendet  worden  ist.  Es  wird  uns  von  ihm  auch  nicht  vorenthalten, 
woher  er  seine  Beispiele  nahm.  Er  nennt  eine  alte  Handschrift  seine 
Quelle,  und  dieses  heute  noch  in  Dresden  vorhandene  Manuscript  ist 
dasjenige^),  welches  wir  die  Dresdner  Algebra  zu  nennen  uns  an- 
gewöhnt haben,  und  welches  einst  im  Besitze  von  Johannes  Widmann 
war.  Aufgaben  des  Jordanus,  Aufgaben  aus  der  lateinischen  Algebra 
von  unbekanntem  Verfasser,  ebenso  die  Randaufgaben  (S.  248)  hat 
Riese  benutzt,  und  nicht  minder  sind  seine  theoretischen  Auseinander- 
setzungen den  dortigen  ähnlich.  Ihm  selbst,  vielleicht  beeinflusst 
durch  die  deutsche  Dresdner  Algebra  mit  ihrem  „Czebreyen",  dürfte 
möglicherweise  das  Missverständniss  zuzuschreiben  sein,  welches  auf 
den  „berumbsten  In  der  Zall  erfarnen  Algebram  den  Arabischen 
meister"-)  Bezug  nimmt  und  welches  noch  auffälliger  wird,  wenn  es 
an  einer  etwas  späteren  Stelle  gar  heisst  ^) :  „Volgenn  hernach  die 
Acht  equaciones  Algebre,  gezogenn  auss  seynem  ersten  Buch  genant 
gebra  vnd  almuchabola".  Die  angekündigten  acht  Equaciones 
lauten  in  unserer  gegenwärtigen  Zeichensprache: 

1.  aic«+i  =  6a;".         2.  ax""-^^  =  'bx'' .         3.  aa:"+3  =  &ä;". 

4.  ax"+^-='bx''      5.  ax"+^-^bx''+^=cx'\     6.  «ic^+^-f-ca;"  =  &ä;"+^ 

7.  ax'^+~  =  5ic"+^  -j-  cx'^.     8.  Irgend  eine  Gleichung  zwischen 

x",  x''+'^,  ä;"+-"'. 

Von  diesen  acht  allgemeinen  Fällen,  die  allerdings  meistens  in  der  be- 
sonderen n  =  0  voraussetzenden  Form  auftreten,  hat  die  Dresdner 
lateinische  Algebra  (S.  245)  die  sieben  ersten.  Woher  Riese  die 
achte  entnahm,  können  wir  nicht  genauer  nachweisen.  Aus  den  acht 
Equaciones  werden  dann  weiter  „24  Regeln"  gebildet.  Die  deutsche 
wie  die  lateinische  Dresdner  Algebra  besitzen  sie  in  von  einander  ab- 
weichender Anordnung,  und  Riese  hat  wieder  eine  dritte  Anordnung 


')  Wappler  hat  1.  c.  diese  Thatsache  ausser  Zweifel  gestellt.      ^)  Beriet 
1.  c.  S.  9.         s)  Ebenda  S.  12. 


424  61.  Kapitel. 

getroffen,   ohne   dass    die  Einzelfälle   selbst    eine  Aendenmg    erfahren 
hätte.     Riese's  Reihenfolge  ist  diese: 


1. 

ax  =  h. 

2. 

ax'^  =  h. 

3. 

ax'^  =  hx. 

4. 

ax'  -\-hx=^c. 

5. 

ax-  +  c  =  lix. 

6. 

ax-  =  hx  -\-  e. 

7. 

ax'  =  lx\ 

8. 

ax'  =  hx. 

9. 

ax'  ==  h. 

10. 

ax'  -^Ix-  =  ex. 

11. 

ax'  -\-  ex  =  hx-. 

12. 

ax'  =-  hx-  -\-  ex 

13. 

ax^  =  hx'. 

14. 

ax^  =  bx^. 

15. 

ax^  =  hx. 

16. 

ax"^  +  hx'  =  cx\ 

17. 

ax^  +  ca;2  =  hx'. 

18. 

ax^  =  hx'  -\-  ex"- 

19. 

ax'-  =  Yhx . 

20. 

ax'=  hY^K 

21. 

ax^  =  h. 

22. 

aa^  -f  hx^  =  c. 

23. 

ax^  -{-  e  =  hx"-. 

24. 

ax^  ::=  hx^  -\-  c. 

War  Riese's  Coss  zunächst  noch  nicht  Allgemeingut,  so  war  da- 
gegen Rudolff's  Coss,  wie  wir  schon  wissen,  seit  1525  im  Drucke 
vorhanden  und  verhältnissmässig  rasch  vergriffen.  Wir  haben  ver- 
sprochenermassen  jetzt  auf  sie  zurückzukommen,  zuvor  aber  auf  eine 
Vorlage,  welche  ihm  gedient  hat.  Wir  haben  früher  (S.  240)  einer 
Wiener  Handschrift  des  XYI.  Jahrhunderts  gedacht,  welche  die  Auf- 
schrift Regulae  Cosae  vel  Algebrae  führt.  Die  Abhandlung  ist 
zuverlässig  vor  1510  entstanden,  denn  ausser  in  der  Wiener  Hand- 
schrift 5277  steht  sie  auch  in  einer  Münchner  Handschrift,  welche 
von  einem  Besitzer  im  Jahre  1510  um  13  Kreuzer  käuflich  erstan- 
den wurde,  wie  es  in  einer  auf  ihr  angebrachten  Notiz  heisst.  Die 
Regulae  Cosae  vel  Algebrae^)  bestehen  aus  33  Blättern.  Zunächst 
sind  Regeln  der  Addition,  Subtraction,  Multiplication  für 
mit  Vorzeichen  versehene  Zahlen  ausgesprochen,  und  ganz  be- 
sonders bemerkenswerth  tritt  der  Umstand  hervor,  dass  in  den  kurz- 
gefassten  Regeln  nur  jene  Vorzeichen  (notae)  -\-  und  —  ohne  bei- 
gefügte Zahlen  erscheinen.     So  heisst  es  für  die  Addition: 

Conditiones  circa  -\-  vel  —  in  additione.     J^  pf  _^  ^^"^  _^  addatur 
non  babendo  respectu  quis    numerus   sit  superior.      Si  fuerit  <(^     ■   T^ 

simpliciter  subtrahatur    brevior  numerus   a  majori  et  residuo   sua   ascri- 
batur  nota. 

Bezüglich  der  Subtraction  sind  die  Regeln  nicht  minder  kurz 
und  dennoch  ausreichend  klar,  sobald  man  eingesehen  hat,  dass  die 
zuerst  genannte  Zahl  immer  als  Minuendus,  die  zweite  als  Subtra- 
hendus  genannt  ist. 


')  Gerhardt    in    den  Monatsberichten    der   Berliner  Akademie    für   1870, 
S.  143—147.  —  Curtze  brieflich. 


Deutsche  Rechenmeister  und  Cossisten  ausserhalb  der  Universitäten.      425 

Conditiones  circa  -\-  et  —  in  subtractione.  Si  fuerit  -|-  et  -|-  vel 
—  et  — ,  existente  numero  superiore  majore,  fiat  subtractio  et  relicto  sua 
ascribatur  nota.     Quodsi  inferior  excesserit  superiorem,   fiat  subtractio  et 

residuo  apponatur  nota  aliena.    Si  fuerit  \^     ,   T])>  addatur  absque  ullo 

respectu  superioris  et  inferioris,  quandum  ad  excessum,  per  dictum  habe- 

bit  <+. 

Von  der  Rechnimg  mit  Monomen  wird  sodann  der  Uebergang 
zum  Rechnen  mit  algebraischen  Summen  gemacht  und  jede  einzehie 
Regel  an  mehrfachen  Beispielen  geübt.  Bruchrechnung  und  Regel- 
detri  schliessen  sich  an  und  an  diese  wieder  die  eigentliche  Lehre 
von  den  Gleichungen.  Als  Beispiele  der  acht  Formen  sind  3x  =  6, 
3a.- =  12,    2ic3  =  16,    4a;^  =  64,    3x'- -{- 4x  =  20,  3x'- -{- 4.  =  8x, 

2^^^x'-  =  2x-{-Ci,    2.^■2  -f-  12  =  l^a;*     behandelt,     denen     allen     der 

Wurzelwerth  x  ^=  2  gemeinschaftlich  ist.  Ausserdem  folgen  aber 
noch  zahlreiche  Beispiele  aller  Formen ,  meistens  in  lateinischer,  andere 
aber  auch  in  deutscher  Sprache.  Dann  folgen  noch  Aufgaben  von 
einer  neunten  und  zehnten  Form  x^  =  hYx,  x^^^h^x^.  Endlich 
auf  dem  vorletzten  Blatte  folgen  unter  der  Ueberschrift  Begule  Cosse 
24  Gleichungsformen,  denen  zu  begegnen  uns  nicht  mehr  in  Erstaunen 
setzen  kann. 

Aus  dieser  Handschrift  also  schöpfte  Christoph  Rudolff,  und 
schon  seine  Zeitgenossen  wussten  es,  wobei  ihr  Urtheil  über  seine 
Handlungsweise  weit  auseinander  ging.  In  der  Vorrede  zur  zweiten 
Auflage  der  Coss,  welche  (S.  398)  Michael  Stifel  besorgte,  sagt  dieser: 
„Was  aber  dieser  Christoff  Rudolff  bey  etzlichen  für  danck  hab  will 
ich  mich  nicht  jrren  lassen.  Ich  höret  auff  ein  zeit  jm  grewlich 
vnd  vnchristlich  fluchen  das  er  die  Coss  hatte  geschrieben  vnd  das 
beste  (wie  der  flucher  sagt)  hatte  verschwigen,  nemlich  die  Demon- 
strationes  seyner  Regeln.  Vnd  hatte  seine  Exempla  (wie  er  saget) 
auss  der  Librey  zu  Wien  gestolen.  Das  sagt  einer  der  sich  treffent- 
lich  gelehrt  wüst  vnd  das  ansehen  haben  wolt,  als  were  jhm  sehr 
ernst  die  künsten  zu  promoviren.  Du  lieber  Gott  was  solt  doch  einer 
sollichen  leuthen  rechts  thun  können?  Ob  denn  gleich  Christoff  Ru- 
dolff sein  Exempla  nicht  alle  selbs  hatte  gedichtet,  sondern  etzlich  in 
der  Librey  zu  Wien  abgeschriben,  vnd  vns  die  selbige  durch  den  truck 
mitgeteylet,  wem  hat  er  damit  schaden  gethan?"  Mit  dem  Abschreiben 
selbst  hat  es  auch  nur  theilweise  seine  Richtigkeit.  Rudolff  band 
sich  keineswegs  knechtisch  an  seine  Vorlage.  Er  Hess  aus  ihr  weg, 
was  ihm  nicht  passte,  er  fügte  da  und  dort  bei,  was  ihm  beifügungs- 
werth  erschien,  er  übernahm   einfach,   was  ihm  gefiel.     Zu  letzteren 


426  61.  Kapitel. 

Dingen  gehören  die  kurzen  Zeiclienregeln  der  Addition^),  der  Sub- 
traction^J  sowie  der  Multiplication^).  Als  Zusatz  sind  die  (S.  399) 
erwähnten  Wurzelzeichen  zu  nennen.  So  heisst  es*)  „zu  mercken 
das  radix  quadrata  in  diesem  Algorithmo  von  kurtz  wegen  vermerckt 
wird  mit  sollichem  Character  ]/.  Als  ]/4  bedeutet  radicem  quadratam 
auss  4.  ist  2."  Weggelassen  sind  die  24  Regeln^):  „Lass  dich  nicht 
jrren,  das  etliche  bisher  vnd  noch  von  24  Regeln  der  Coss  gross 
geschrei  machen,  denn  angesehen  yhre  meynung  vnd  die  Cautel  (deren 
sye  sich  zu  völliger  zal  der  24  regeln  auch  behelffen)  will  ich  auss 
den  8  regeln  nicht  alleyn  24  sondern  etlich  vnd  hundert  machen. 
Ist  ein  verdriesslicher  vberfluss,  von  einer  Kunst  gross  geschwetz 
treyben,  so  mit  einem  wenigeren,  nicht  allein  ordenlicher,  sonder 
auch    verstentlicher  vollkommenlicher  alles   mag  daregeben    werden." 

Die  Cautelen,  gleichfalls  bereits  in  der  wiener  Algebra  ent- 
halten, sind  vier  an  der  Zahl,  mittels  deren  nach  Rudolif's  Ansicht 
die  Regeln  fast  beliebig  vermehrt  werden  können.  Sie  lauten  wie 
folgt '^):  Erstlich  kann,  wenn  auf  beiden  Seiten  der  Gleichung  wie 
wir  heute  sagen  würden,  Grössen  gleicher  Benennung  (Zahlen,  Un- 
bekannte in  erster,  zweiter  n.  s.  w.  Potenz)  vorkommen,  die  kleinere 
mit  entgegengesetztem  Zeichen  hinübergeschaflFt  und  dort  durch  Sub- 
traction  mit  der  grösseren  vereinigt  werden.  Zweitens  kann  eine 
negativ  auftretende  Grösse  als  positiv  hinübergeschafft  werden.  Diese 
beiden  Cautelen  beruhen  ersichtlich  auf  den  Sätzen:  Gleiches  von 
Gleichem  giebt  Gleiches,  Gleiches  zu  Gleichem  giebt  Gleiches.  Die 
dritte  Cautel  schafft  Wurzelzeichen  durch  Potenzirung,  die  vierte 
Brüche  durch  Multiplication  mit  dem  Nenner  fort.  Diese  beiden  be- 
ruhen mithin  auf  den  Sätzen:  Gleiche  Potenzen  von  Gleichem  sind 
gleich,  Gleiches  mit  Gleichem  vervielfacht  giebt  Gleiches. 

Alles,  was  auf  diese  Cautelen  noch  folgt,  sind  Beispiele  für  die 
sämmtlichen  acht  Regeln,  welche  keine  anderen  sind,  als  die  im  Wiener 
Manuscripte  zuerst  behandelten  Fälle,  und  am  Schlüsse  noch  acht 
Aufgaben,  zu  welchen  jene  Regeln  nicht  sofort  ausreichen.  Die 
sechste,  siebente  und  achte  derselben  sind  kubische  Gleichungen'^), 
welche  aufgelöst  werden,  nämlich  a;^(10  —  a;)  =  63  mit  ^  =  3,  ferner 

^-=^'  =  605 

mit  :r  =  11,  endlich  x^  =  lO:^^  _^  20.r  +  48  mit  x  =  12.  Aber  wie 
findet    Rudolff   diese    Wurzel werthe ?     Durch    fein    ausgeklügelte,    in 


1)  Coss  (Ausgabe  von  1553)  fol.  64  verso.  ^)  Ebenda  fol.  66  recto.  ^)  Ebenda 
fol.  69  recto.  *)  Ebenda  fol.  86  recto.  ^)  Ebenda  fol.  139  verso.  «)  Ebenda 
fol.  148  verso  bis  151  recto.  ')  Ebenda  fol.  477  recto  ügg. 


Deutsche  Rechenmeister  und  Cossisten  ausserhalb  der  Universitäten.     427 

jedem  dieser  Einzelfälle  gerade  zutreffende  Knnststückcheu.  Die  letzte 
Gleichung  z.  B.  behandelt  er  folgendermassen.  Zuerst  addirt  er  8 
auf  beiden  Seiten,  dann  dividirt  er  durch  x  -\-  2,  erhält  also  der 
Reihe  nach 

^:3    I    8  =  lO.r-  +  20x  +  56   und  x'  —  2x  -\-  4  =  10a;  +  —^-^  ■ 

X  -f-   - 

Aus   dieser  letzteren  Gleichung  bildet  er   zwei    x^  —  2x  =  lO^r   und 

56  . 

4  =  — ,— - ,  welchen  beiden  x  =  12  genücrt.    Das  ganz  Zufällige  dieser 

Auflösung  leuchtet  ein.  In  der  vorgelegten  Gleichung  stimmt  die 
Zerlegung,  in  anderen  würde  sie  Widersprechendes  zu  Tage  fördern. 
Rudolff  wusste,  muss  man  sagen,  von  der  Aufgabe  der  Zeit,  die  keine 
andere  war  als  die  Auflösung  kubischer  Gleichungen.  Er  kannte  die 
Wurzeln  einiger  solcher  Gleichungen,  vielleicht  weil  er  von  dieser 
Kenntniss  aus  die  Gleichungen  sich  gebildet  hatte,  und  tastete  nach 
allerlei  Kunstgriffen,  welche  diese  Wurzelwerthe  ihn  finden  Hessen, 
aber  dass  er  auch  nur  auf  dem  Wege  zu  einem  methodischen  Auf- 
lösungsverfahren gewesen  sei,  kann  man  nicht  behaupten. 

Trotz  der  freien  Benutzung  der  Zeichen  -|-  und  —  kennt  Rudolff 
doch  nur  positive  Zahlen,  wenigstens  nur  positive  Gleichungswurzeln 
und  berücksichtigt  desshalb  nur  dann  zwei  Wurzeln  einer  quadratischen 
Gleichung,  wenn  diese  die  Form  ax^  -\- h  =  ex  besitzt  und  überdies 
c^  —  4rt&  positiv  ist.  Ja  auch  diese  Zwiespältigkeit,  um  Rudolff's 
Ausdruck  anzuwenden,  bringt  er  erst  nachträglich  zur  Rede. 

Für  die  einzelnen  Potenzen  der  Unbekannten  werden  Symbole 
benutzt,  wie  sie  ähnlich  von  verschiedenen  deutschen  Schriftstellern 
her  uns  bekannt  geworden  sind^).  Sie  führen  den  Namen  Charakter, 
und  sehen  so  aus 

^,    ^,    h    et,    53,    ^,     ict,    S^,    353,     cce. 

Rudolff's  Beispiele  sind,  wie  schon  bemerkt,  vielfach  aus  der 
Handschrift  der  Wiener  Bibliothek  entnommen,  aber  auch  eine  ge- 
druckte Quelle  hat  er  keineswegs  zu  benutzen  verschmäht,  wie  die 
oftmals  bis  in  die  Zahlen  nachgewiesene  Uebereinstimmung  mit  Jo- 
hann Widmann ^)  darthut,  es  sei  denn,  dass  die  Wiener  Handschrift 
auch  jene  Widmann'schen  Aufgaben  enthielte,  worüber  Untersuchungen 
noch  fehlen. 

Auch  Aufgaben  mit  mehreren  Unbekannten  hat  Rudolff  unter 
dem  Namen  Begida  quantitatis  behandelt^),  indem  er  die  eine  Unbe- 
kannte durch  das  Zeichen  Bf,   die   andere   als  Quantität  durch  q  dar- 


*)  Coss  (Ausgabe  von  1553)  fol.  141  recto.  -)  Treutlein,  Die  deutsche 

Coss.  Zeitschr.  Math.  Phys.  XXIV,  Supplement  S.  121.  ^)  Coss  fol.  307  ügg. 

—  Treutlein  1.  c.  S.  84—85. 


428  61.  Kapitel. 

stellt,  und  unter  diesen  Aufgaben  finden  sich  sowohl  bestimmte  als 
unbestimmte.  Bestimmt  ist  z.  B.  Rudolff's  191.  Exemplum^).  Beim 
Pferdekauf  um  34  Gulden  bedarf  von  drei  Gesellen  A  die  Hälfte, 
B  ein  Drittel,  C  ein  Viertel  des  Geldes  der  beiden  Anderen,  um  die 
Bezahlung  zu  ermöglichen.     Hat  A  die  Summe  df  und  B  und  C  zu- 

sammen  q,  so  ist  - — ^ =  34,    q  =  68  —  2Bf,    der  Gesammtbesitz 

von  A,  B,  C  also  68  —  Bf.  Nun  habe  B  allein  die  Summe  q  und 
mithin  A  mit  C  zusammen  6S  —  5f  —  q,  dann  ist 


Besitzt  endlich  C  die  Summe  q,  also  A  mit  B  zusammen  6.'-^  —  Bf  —  q. 


.     68  —  2f  —  q  g  ,  68  +  5f         -r..        t,      -^     ...     i 

so  ist  q  ~\ =  34 ,    q  = ' Die    Besitzstande    sind 


demnach   Bf,    — ~ — ,    -    "^—    mit    der    Summe    68  —  Sf ,    folglich 

Bf  =  10.  Unbestimmt  dagegen  ist  das  188.  Exemplum^),  wo  es  da- 
rauf ankommt  3f  +  14  so  in  zwei  Theile  q  und  Bf  -\-  14  —  q  zu  zer- 
legen, dass  der  erste  um  8  vom  zweiten  vermehrt,  um  2  grösser  als  der 
dreifache  Rest  des  zweiten  sei.    D.  h.  q  -f  8  —  2=  3(af  +  14  —  q  —  8), 

33f  +  12  ^     der    zweite    Tbeil     ist    daher    5f  -f  14  —  ^^  +  ^^ 

Sf  +  44  . 

=  — Wie  gross  man  nun  Bf  wählen  soll,  ist  in  der  Aufgabe 

durch  keine  weitere  Bedingung  vorgeschrieben,  „so  ists  ein  Zejehen, 
das  diss  Exemplum  vil  Verantwortung  leydet,  Vnd  nicht  der  artigen 
Exempeln  eins  ist".  Es  bedarf  kaum  der  Bemerkung,  dass  unsere 
Darstellung  nicht  buchstäblich  Rudolff  entnommen  ist,  der  insbeson- 
dere von  einem  Gleichheitszeichen  noch  nichts  weiss. 

Die  hier  angeführte  unbestimmte  Aufgabe  veranlasst  uns,  wieder- 
holt auf  Rudolff's  Rechenbuch  von  1532  (S.  398)  zurückzugreifen,  um 
von  der  in  dessen  Anhange  abgedruckten  Schimpffrechnung,  d.  i, 
Rechenscherzen  zu  reden  ^).  Unter  diesen  Aufgaben  befindet  sich 
diejenige  Methode,  eine  Zahl  unterhalb  105  zu  errathen,  welche  die 
Chinesen  Ta  yen  genannt  haben,  und  welche  durch  nicht  aufgeklärte 
Uebertragung  um  1200  Leonardo  von  Pisa  (S.  26),  um  1400  Byzan- 
tinern bekannt  gewesen  zu  sein  scheint.  Unter  ihnen  befindet  sich 
aber  auch  eine  andere  unbestimmte  Aufgabe,  von  welcher  wir  eben 
so    gut   bei  Apianus   und   bei   Adam   Riese    hätten    reden    können. 


^)  Coss  fol.  309  verso  bis  310  verso.        ')   Coss  fol.  307  verso  bis  308  recto. 
3)  Unger  S.  53,  100,  106. 


Deutsche  Rechenmeister  und  Cossisten  ausserhalb  der  Universitäten.     429 

wenn  die  Druckwerke  dieser  Schriftsteller  nicht  später  als  Rudolff's 
Rechenbuch  veröffentlicht  worden  wären,  so  dass  es  richtiger  erschien, 
die  Aufgabe  bei  dem  zu  besprechen,  der  sie  zuerst  im  Drucke  bekannt 
machte.  Wir  meinen  die  Aufgabe  von  der  gemeinsamen  Zeche. 
Eine  gegebene  Anzahl  von  Personen,  Männer,  Frauen  und  Jungfrauen, 
haben  zur  Tilgung  einer  gemeinsamen  Schuld  nach  Verhältnisszahlen 
beizutragen,  welche  für  jeden  einzelnen  Mann,  jede  einzelne  Frau,  jede 
einzelne  Jungfrau  so  gegeben  sind,  dass  die  Schuld  genau  getilgt 
wird;  man  will  wissen,  wie  viele  Männer,  wie  viele  Frauen,  wie  viele 
Jungfrauen  unter  der  Gesellschaft  sich  befanden^).  Die  Aufgabe  geht 
unter  verschiedenen  Namen,  regida  virginum,  auch  regula  potatorum, 
am  häufigsten  regula  coeci  durch  zahlreiche  Bücher  bis  tief  in  das 
XVIII.  Jahrhundert  herab,  wo  Euler  noch  sich  des  letzteren  Namens 
als  Ueberschrift  des  2.  Kapitels  des  2.  Abschnittes  des  IL  Bandes 
seiner  Algebra  bediente.  Man  hat  den  Namen  mit  dem  blinden  üm- 
hertasten  nach  einer  Auflösung  in  Verbindung  gebracht.  Weit  an- 
sprechender ist  die  Ableitung  von  Zeclie,  aus  welchem  coeci  ohne 
grossen  sprachlichen  Zwang  entstehen  konnte. 

In  diesem  61.  Kapitel  haben  wir  hauptsächlich  die  aus  der  Zahl 
der  Rechenbücher  entnehmbare  Verbreiterung  derjenigen  Volksschich- 
ten, welche  rechnen  zu  können  als  wünschenswerth,  wenn  nicht  als 
nothwendig  erkannten,  bemerken  können,  und  fast  gleichen  Schritt  mit 
dem  Rechnen  mit  bestimmten  Zahlen  hielt  die  Coss.  Die  wenigsten 
Schriftsteller  unter  denen,  welche  wir  nannten,  sind  von  hervorragen- 
der Bedeutung  gewesen,  wenn  auch  keinem  von  ihnen  eine  gewisse 
provinzielle  Berühmtheit  abging.  Nur  Christoff  Rudolff  und 
Adam  Riese  haben  über  den  engeren  Oi-t  ujid  die  engere  Zeit  ihres 
Lebens  hinaus  eine  Wirksamkeit  sich  bewahrt,  entsprechend  der  Kunst 
ihrer  stylistischen  Darstellung,  entsprechend  auch  eigenen  Gedanken, 
die  wir  wenigstens  nicht  weiter  aufwärts  zu  verfolgen  im  Stande 
waren.  Am  Bedeutsamsten  erscheint  darunter  Rudolff's  Aufräumen 
mit  den  24  Regeln,  dem  Paradepferde  seiner  Vorgänger. 


62.  Kapitel. 

Michael  StifeL 

Der  Herausgeber   der    2.  Auflage  von  Rudolff's   Coss  war,    wie 
(S.  398)   schon  gesagt  worden   ist,   Michael  Stifel,    eine  nach   den 


^)  Treutlein,  Das  Rechnen  im  XVI.  Jahrhundert.     Zeitschr.  Math.  Phys. 
XXn,  Supplementheft  S.  90—92.  —  Unger  S.  100—101. 


430  62.  Kapitel. 

verscliiedensten  Seiten  hochmerkwürdige  Persönlichkeit,  welcher  wir 
ein  besonderes  Kapitel  schuldig  sind. 

Michael  Stifel^)  ist  1486  oder  1487  in  Esslingen  geboren, 
1507  in  Jena  gestorben.  Er  gehöiie  schon  frühe  dem  Aug-ustiner- 
orden  an,  der  mit  Franziscanern  und  Dominicanern  nicht  ohne  Glück 
in  der  allgemeinen  Werthschätzung  wetteiferte,  und  der  namentlich 
in  Deutschland  zahlreiche  Niederlassungen  besass.  Auch  Luther 
war  bekanntlich  Augustiner,  und  dessen  umwälzende  Gedanken  fanden 
im  Esslinger  Kloster  Eingang  und  Anhänger,  unter  welchen  Stifel 
der  eifrigste  war.  Die  schroffe  Vertretung  dieser  Meinungen  zwang 
ihn  1522  zur  Flucht  aus  dem  Kloster,  und  nun  begann  ein  unstetes 
Wanderleben  als  Geistlicher  der  neuen  Richtung.  Im  Mansfeldischen, 
in  Oesterreich,  in  der  Nähe  von  Wittenberg,  in  Preussen  hat  Stifel 
als  Geistlicher  gewirkt.  Während  seines  Aufenthaltes  in  und  bei 
Wittenberg  wandte  Stifel,  der  schon  früher  an  mystischen  Zahlen- 
spielereien Vergnügen  gefunden  und  ihretwegen  arithmetische  Kennt- 
nisse, zum  mindesten  die  der  Dreieckszahlen,  sich  erworben  hatte, 
ein  eifriges  Studium  auf  die  Rudolff'sche  Coss.  Er  „fasset  sie  auf, 
allein  mit  lesen  leichtHch,  ohn  allen  mündtlichen  bericht",  wie  er 
1553  in  der  Wortrechnung  erzählt-),  doch  müssen  wir  annehmen, 
dass  er  damals,  wenn  nicht  früher,  mit  anderen  mathematischen 
Schriften,  welche  er  in  einem  schon  1544  gedruckten  Werke,  der 
Arithmetica  integra,  da  und  dort  erwähnt,  sich  gründlich  be- 
kannt machte.  Dort  ist  das  Rechenbuch  Adam  Riese's  angeführt  ^j; 
dort  Schriften  von  Albrecht  Dürer'*),  dort  die  euklidischen  Elemente 
in  der  Bearbeitung  durch  Campanus'').  Griechisch  verstand  Stifel 
nicht  und  bediente  sich  dafür  des  Rathes  von  Männern  wie  Dio- 
nysius  Roner  von  Esslingen,  Johann  Heinrich  Mayer  von  Bern, 
Adolf  von  Glauburgk  von  Frankfurt^).  Rudolff's  Coss  beschäftigte 
ihn  jedenfalls  am  längsten,  volle  14  Jahre,  und  diente  ihm  als  An- 
knüpfungspunkt für  eigene  wissenschaftliche  Untersuchungen,  welche 
nach  und  nach  im  Drucke  erschienen. 

Zuerst  kam  die  schon  genannte  Arithmetica  integra  von  1544 
heraus,  dann  die  deutsche  Arithmetica  von  1545,  endlich  die  durch 
zahlreiche  Zusätze  und   die  gleichfalls  schon  genannte  nachtragsweise 


*)  Strobel,  Neue  Beiträge  zar  Litteratur  besonders  des  XVI.  Jahrhunderts. 
Ersten  Bandes  erstes  Stück.  Nürnberg  und  Altdorf  1790.  —  Kealencyclopädie 
für  protestantische  Theologie  und  Kirche  (IL  Auflage)  Bd.  XTV,  702 — 706  (Leipzig 
1884).  —  Allgemeine    deutsche    Biographie.  -)  Wortrechnung  fol.  B  1  recto. 

^)  Arithmetica  integra  fol.  226  verso.  *)  Ebenda  fol.  211  recto.  *)  Ebenda 

fol.  104  verso  und  häufiger.         ^)  Ebenda  fol.  143  verso. 


Michael  Stifel.  431 

gedruckte  Wortrechnung  vermehrte  zweite  Auflage  der  Rudolff'schen 
Coss  von  1553.     Von  diesen  Schriften  haben  wir  zu  reden  ^). 

Die  Arithmetica  integra  erschien  bei  dem  damals  berühm- 
testen Buchdrucker  Johannes  Petreius  in  Nürnberg,  mit  welchem 
Stifel,  damals  Pastor  der  kleinen  Gemeinde  Holzdorf  bei  Wittenberg, 
durch  Vermittelung  des  Wittenberger  Professors  Justus  Jonas  in 
Verbindung  getreten  war"),  während  ein  zweiter  Professor  der  gleichen 
Universität,  der  berühmte  Melanchthon,  eine  Vorrede  zu  dem 
Werke  verfasste  (S.  409),  welche  den  hohen  Werth  der  Arithmetik 
in  ein  glänzendes  Licht  zu  stellen  bestimmt  war.  Den  Namen  Arith- 
metica integra  hatte  Milichius  voi'geschlagen ^) ,  welcher  seit  1524 
erst  als  Professor  der  Philosophie,  in  welcher  Eigenschaft  er  auch  die 
ersten  mathematischen  Vorlesungen  in  Wittenberg  hielt^),  dann  der 
Medicin  dieser  Universität  angehörte  und  dem  engeren  Freundeskreise 
Stifel's  beigezählt  werden  muss.  Milichius  war  es  auch,  welcher  Stifel 
mit  guten  Gründen  die  Ueberzeugung  beibrachte,  das  Wort  Algebra 
stamme  von  dem  Astronomen  Geber,  dem  Erfinder  derselben -'j.  In 
das  schon  druckfertige  Manuscript  hat  Stifel  auf  ausdrücklichen  Wunsch 
des  Petreius  noch  die  Regula  falsi  hineingearbeitet *")  und  mancherlei 
Veränderungen  anbringen  müssen,  welche  den  Druck  noch  weiter 
herumzogen,  während  die  Niederschrift  schon  vorher  volle  fünf  Jahre 
fertig  dagelegen  hatte").  Das  Werk  besteht  aus  drei  Büchern,  von 
denen  das  1.  von  den  rationalen,  das  2.  von  den  irrationalen  Zahlen, 
das  3.  von  der  Algebra  handelt. 

Am  meisten  Eigenthümlichkeiten  zeigt  das  1.  Buch,  auf  welches 
auch  mit  Recht  meistens  ziemlich  ausschliesslich  eingegangen  wird, 
wo  es  sich  um  die  Würdigung  Stifel's  handelt.  Aus  diesem  1.  Buche 
sind  es  dann  selbst  wieder  zwei  Stellen,  die  besonders  hervorgehoben 
zu  werden  pflegen.  Die  erste  Stelle,  zu  deren  Ergänzung  allerdings 
Stellen  des  3.  Buches  beigezogen  werden  müssen,  handelt  von  dem 
Nutzen,  den  es  gewähre,  immer  einer  arithmetischen  Progression 
eine  geometrische  entsprechen  zu  lassen^).    Das  ist'  derselbe  Gedanke, 


1)  Ueber  Michael  Stifel  als  Mathematiker  vergl.  Kästner  I,  112—128  und 
163 — 184.  —  Cantor,  Petrus  Ramus,  Michael  Stifel,  Hieronymus  Cardanus. 
Zeitschr.  Math.  Phys.  11,  353—376.  —  Gerhardt,  Math.  Deutschi.  S.  60—74. 
—  Treutlein,  Deutsche  Coss.  Zeitschr.  Math.  Phys.  XXIV,  Supplementheft 
S.  17 — 20  und  häufiger. —  Giesing,  Michael  Stifel's  Arithmetica  integra  I.  Theil 
(Döbeln  1879).   —  Unger  S.  58  und  häufiger.  ^)  Arithmetica  integra  fol.  102 

recto.         ^)  Ebenda  fol.  93  recto.  ')  Poggendorff  11,  150.        ^)  Arithmetica 

integra  fol.  226  verso   zu  vergleichen  mit  30  recto,   55  recto,   231  verso  u.  s.  w. 
^)  Ebenda   fol.  93  recto.  ')  Ebenda    in    dem    angehängten  Druckfehlerver- 

zeichnisse. ^)  Seqicitur  utilis  quaedam  tractatio,  itt  progressioni  Arithmeticae 


432 


62.  Kapitel. 


dem  wir  bei  Nicolas  Chuquet,  dem  wir  bei  deutschen  Cossisten  be- 
gegnet sind,  für  welchen  wir  einen  italienischen  Ursprung  vermuthet 
haben.  Also  ein  Erfinderrecht  auf  den  Gedanken  kann  man  für 
Stifel  unter  keinen  Umständen  in  Anspruch  nehmen.  Ist  es  aber  der 
alte  Gedanke  in  seiner  alten  Form?  Diese  Frage  dürfte  zu  verneinen 
sein.  Stifel  sucht  überall  einen  praktischen  Gewinn  aus  dem  Ge- 
danken zu  ziehen,  wie  er  diesem  Nutzen  auch  in  der  Ueberschrift 
titilis  tractatio  genügende  Bedeutung  beilegte.  Schon  die  Thatsache, 
dass  a,  a  -{-  d,  h,  h  -{-  d  (um  allgemeine  Symbole  zu  gebrauchen) 
dem  Gesetze  (b  -\-  d )  =  l  -{-  (a  -\-  d)  —  a  gehorchen,  lässt  ihn  fol- 
gern^), dass  man  das  4.  Glied  einer  Regeldetri  finden  werde,  wenn 
man  das  Product  des  2.  und  3.  Gliedes  durch  das  1.  dividire,  wäh- 
rend bei  der  sogenannten  umgekehrten  Regeldetri  die  Vorschrift  nur 
dahin  zu  ändern  sei,  dass  man  das  Product  des  1.  und  2.  Gliedes 
durch  das  3.  dividire.  An  späterer  Stelle  ist  die  arithmetische  wie 
die  geometrische  Reihe  als  nach  beiden  Seiten  fortsetzungsfähig  ge- 
kennzeichnet.   Eine  beispielsweise  Versinnlichung  hat  folgende  Gestalt: 


—  3 

-2 

—  1 

0 

1 

2 

3 

4 

5 

6 

Vs         % 

% 

1|2 

4 

8 

16 

32 

64 

und  es  sei  möglich,  sagt  Stifel  hier  ausdrücklich-),  an  dieser  Stelle 
ein  ganz  neues  Buch  von  den  wunderbaren  Eigenschaften  der  Zahlen 
einzuschalten,  eine  Versuchung,  welcher  er  jedoch  sich  entziehen  und 
mit  geschlossenen  Augen  von  dannen  gehen  müsse.  So  sehr  hat 
Stifel  mit  dem  Instincte  des  Genies  die  Fruchtbarkeit  des  Begrifi'es 
empfunden,  welchen  wir  den  des  Logarithmirens  nennen  dürfen. 
Noch  ist  es  nicht  Licht  geworden,  aber  deutlicher  treten  doch  die 
Umrisse  bei  Stifel  als  bei  Chuquet  hervor,  und  mag  Stifel  der  Ge- 
danke von  Anderen  überkommen  sein,  mag  er,  wie  es  uns  mit  Rück- 
sicht auf  die  von  ihm  studirten  Werke  wahrscheinlicher  däucht,  in 
seinem  Geiste  neu  entstanden  sein,  man  sieht,  dass  die  Erfindung  der 
Logarithmen  nun  nicht  gar  lange  mehr  auf  sich  warten  lassen  wird. 
Ein  Kunstausdruck  tritt  insbesondere  hier  bei  Stifel  auf,  der  später 
in  erweitertem  Sinne  allgemeines  Bürgerrecht  erwerben  sollte.  Die 
Glieder  der  arithmetischen  Reihe  heissen  Exponenten  der  zu- 
gehörigen Glieder  der  geometrischen  Reihe. 


respondeat  Geometrica  iwogressio.    Arithmetica  integra  fol.  35  recto  zu  vergleichen 
mit  fol.  235  verso  und  besonders  249  verso. 

^)  Arithmetica  integra  fol.  36  recto.  -)    Ebenda  fol.  249   verso:    Posset 

fere  hie  novus  Über  integer  scribi  de  mirabilibus  numerormn,  sed  oportet  iit  me  hie 
subditcam,  et  clausis  ocidis  abeam. 


Michael  Stifel.  433 

Wesentlich  vollkommener  sind  die  Anschauungen,  welchen  Stifel 
an  der  zweiten  stets  hervorgehobenen  Stelle  Ausdruck  verleiht^).  Die 
Zahlen,  von  denen  er  dort  sagt,  dass  sie  zu  ihren  besonderen  Wurzel- 
ausziehungen gehören,  sind  nichts  anderes  als  die  Binomialcoeffi- 
cienten.  Es  erscheint  uns  als  sehr  müssige  Spitzfindelei,  zweifeln 
zu  wollen,  ob  Stifel  wirklich  das  Bewusstsein  gehabt  habe,  dass  diese 
Zahlen  zur  Ausrechnung  von  (a  +  &)"  Dienste  leisten,  weil  er  nur 
deren  Anwendung  auf  die  Ausziehung  )?ter  Wurzeln  lehre.  Gewiss  ist 
diese  Behauptung  unbestreitbar  wahr,  aber  welcher  deus  ex  machina 
konnte  Stifel  mit  den  bei  den  Wurzelausziehungen  unentbehrlichen 
Biuomialcoefficienten  bekannt  gemacht  haben,  wenn  er  dieselben  nicht 
durch  Potenzerhebungen  sich  bildete?  Fragt  man  aber,  warum  Stifel 
in  den  Namen,  den  er  den  Binomialcoefficienten  beilegt,  von  der 
Potenzerhebung  schweigt,  so  liegt  die  Antwort  darauf  auf  der  Hand. 
Dass  etwa  12*  ==  20736,  konnte  nach  der  Formel 

(10  +  2)*  =  10*  +  4  •  103  •  2  +  6  •  102 .  22  +  4  .  10  •  2=^  +  2* 
ausgerechnet  werden,  aber  bequemer  war  das  Verfahren  allmäliger 
Multiplication,  und  so  konnte  eigentlich  nicht  behauptet  werden,  die 
Zahlen  4,  6  seien  der  Potenzerhebung  eigenthümlich.  Umgekehrt 
konnte  }/20736  =  12  nur  von  jener  Entwickelung  aus  ermittelt 
werden,  der  Wurzelausziehung  waren  mithin  die  Zahlen  4,  6  wirklich 
eigenthümlich.  Stifel  wusste,  dass  er  hier  eine  Erfindung  gemacht 
habe,  eine  Erfindung,  deren  Bedeutung  er  zu  betonen  wusste.  Die 
Vorrede  zum  2.  Buche  war  es,  in  welcher  er  folgendermassen  sich 
aussprach  2).  Er  habe  die  Regeln  der  Wurzelausziehung  erheblich 
vermehrt,  weit  über  das  hinaus,  was  Apiauus  vielleicht  wusste,  aber 
jedenfalls  nicht  lehrte,  denn  dessen  Vorschriften  erstreckten  sich  nicht 
weiter  als  darauf,  wie  mau  bei  der  Ausziehung  5.  und  7.  Wurzeln 
Gruppen  von  je  5  und  7  Ziffern  zu  bilden  habe.  „Ich  werde,  sagt 
Stifel  an  der  ersten  Stelle,  wo  die  Binomialcoefficienten  auftreten^), 
die  Erfindung  durch  folgende  Tabelle  mittheilen,  deren  Fortsetzung 
ins  Unendliche  jeder  leicht  einsieht,  wenn  er  erst  die  Art  sie  her- 
zustellen erkannt  hat."  Dann  folgt  die  Tabelle  bis  zu  den  Binomial- 
coefficienten der  17.  Potenz.     (Siehe  S.  434.) 

Das  Gesetz,  nach  welchem  die  Zahlen  gebildet  sind,  wird  aus- 
führlich erörtert.  Wir  können  es  mit  Hilfe  jetzt  gebräuchlicher 
Zeichen  kurz  dahin  aussprechen,  dass  Stifel  von  dem  Satze 


(:)+c;>)-'"^' 


r  +  h 


^)  Arithmetica  integra  fol.  44  verso:   De  inventione  numerorum,   qui  pecti- 
liariter  pertinerent   ad   suas   species   extractionum.  ^)  Ebenda  fol.  102  recto. 

^)  Ebenda  fol.  44  verso. 

Cantob,  Geschichte  der  Mathem.    11.    2.  Aufl.  28 


434 


62.  Kapitel. 


seinen  Ausgangspunkt  nahm.  Beim  Gebrauch  zur  Wurzelausziehung 
ist  jede  Horizontalzeile  zu  vervollständigen,  indem  man  ihre  Zahlen 
rückläufig,  retrograde,  wiederholt,  mit  Ausnahme  der  letztgeschriebeneu 
Zahl,  welche  sich  nicht  wiederholt.  Bei  grader  Anfangszahl  giebt 
das  eine  ungrade,  bei  ungrader  eine  grade  Anzahl  von  Gliedern^). 
1 


10 

10 

15 

20 

21 

35 

35 

28 

56 

70 

36 

84 

126 

126 

45 

120 

210 

252 

55 

165 

330 

462 

462 

66 

220 

495 

792 

924 

78 

286 

715 

1287 

1716 

1716 

91 

364 

1001 

2002 

3003 

3432 

105 

455 

1365 

3003 

5005 

6435 

120 

560 

1820 

4368 

8008 

11440 

136 

680 

2380 

6188 

12376 

19448 

6435 
12870 
24310 


Sind  diese  beiden  Stellen  des  1.  Buches  der  Arithmetica  integra, 
und  besonders  die  zweite,  diejenigen,  welche  als  die  folgewichtigsten 
sich  erwiesen  haben,  so  fehlt  es  keineswegs  an  anderen  gleichfalls 
recht  bemerkenswerthen  Dingen,  auf  deren  einige  noch  aufmerksam 
gemacht  werden  mag.  Schon  Leonardo  von  Pisa  hat  (S.  11) 
Theilbarkeitsmerkmale  für  die  Theilung  durch  2,  3,  5,  9  aufgestellt. 
In  Deutschland  hat  vermuthlich  Christoph  Rudolff  in  seinem 
Rechenbuche  von  1526  die  gleichen  Regeln^)  zuerst  mitgetheilt.  Stifel 
ging  darüber  hinaus,  indem  er^)  Theilbarkeitsregelu  für  jeden 
der  Theiler  1  bis  10  angab.  Die  Regel  für  7  dürfte  ihm  an- 
gehören. Sie  ist  richtig,  wenn  auch  zu  eng,  Sie  behauptet  nur, 
7  theile  jede  Zahl,  welche  die  Summe  von  3,  6,  9,  12  Gliedern  einer 
geometrischen  Progression  vom  Gliederquotienten  2,  4  oder  16  sei. 
—  Bei  Besprechung  vollkommener  Zahlen  schreibt  Stifel  vor^), 
man  solle  die  geometrische  Reihe 


4  .  8 


16  .  32 


64  .  128 


256  .  512 


etc. 


^)  Arithmetica  integra  fol.  46  recto.     *)  ünger  S.  84.     ^)  Arithmetica  integra 
fol.  8  verso.         *)  Ebenda  fol.  10  verso. 


Michael  Stifel.  435 

bilden  und  wie  in  dem  Schema,  welches  wir  ihm  entnehmen,  je  zwei 
Glieder  derselben  von  4  und  8  beginnend  zu  einer  Gruppe  vereinigen; 
das  Product  der  kleineren  Zahl  in  die  um  1  verringerte  grössere 
Zahl  sei  alsdann  stets  eine  vollkommene  Zahl.  Wir  heben  diese 
Behauptung  hervor,  weil  sie  einen  Irrthum  enthält.  Euklid  IX,  36 
wusste  ganz  gut,  dass  diese  Regel  nur  insofern  Bestand  hat,  als  jene 
um  1  verringerte  grössere  Zahl  eine  Primzahl  ist,  und  wenn  Stifel 
diese  einschränkende  Bedingung  wegliess,  so  glaubte  er  offenbar 
22«+i  —  1  sei  immer  Primzahl,  ein  Irrthum,  von  welchem  er  sich 
schon  bei  dem  letzten  Zahlenpaare  seines  Schemas  hätte  überzeugen 
können,  da  511  =  7-73  und  demzufolge  256  •  511  =  130816  keine 
vollkommene  Zahl  ist.  Der  Begriff  der  vollkommenen  Zahl  führt 
dann  -v^eiter  dazu,  die  Theiler  einer  Zahl  aufzusuchen  und  ihre  An- 
zahl zu  ermitteln,  was  allerdings  zunächst^)  nur  durch  gewisse  Ver- 
suche in  Erfahrung  gebracht  wird.  An  einer  späteren  Stelle^)  ist 
die  Anzahl  der  Theiler  eines  Productes  von  n  Primzahlen  zu 

l-\-2-\-2--\ 1-2"~^  angegeben,  wobei  zwar  die  1,  aber  nicht  die 

Zahl  selbst  als  Theiler  mit  eingerechnet  ist.  Das  Interessante  bei  diesem 
letzten  Satze  besteht  nicht  bloss  darin,  dass  Stifel  ihn  überhaupt 
kennt,  sondern  dass  er  ihn  als  Satz  des  Cardanus  bezeichnet  und 
dadurch  zeigt,  dass  er  eine  Schrift  dieses  letzteren  italienischen  Ma- 
thematikei's  bereits  gesehen  hatte,  welche  gleichzeitig  mit  der  Arith- 
metica  integra  bei  Petreius  im  Drucke  befindlich  war.  Diametral- 
zahlen nennt  Stifel ^)  das  Product  zweier  Zahlen,  deren  Quadrat- 
summe ein  rationales  Quadrat  ist.  Anders  ausgedrückt  kann  man 
sagen,  eine  Stifel'sche  Diametralzahl  sei  der  doppelte  Flächeninhalt 
eines  pythagoräischen  Dreiecks,  und  da  jedes  Sehnendreieck,  dessen 
eine  Seite  Kreisdurchmesser  ist,  ein  rechtwinkliges  Dreieck  sein  muss, 
so  giebt  es  viele  rechtwinklige  Dreiecke  zu  derselben  Hypotenuse 
und  mehr  als  eine  Diametralzahl  mit  gleicher  Quadratsumme  ihrer 
beiden  Factoren.  Es  ist  z.  B.  65^  =  25^  -j-  60^  =  39^  +  52^,  also 
sind  25  •  60  =  1500  und  39  •  52  =  2028  Diametralzahlen  von  gleichem 
Diameter*).  Es  bedarf  wohl  kaum  der  Erinnerung,  dass  Stifel's  nu- 
merus diametralis  etwas  ganz  anderes  ist,  als  der  öidiistQog  Theon's 
von  Smyrua  (Bd.  I,  S.  407),  der  einen  Näherungswerth  der  irratio- 
nalen   Diagonale    eines    Quadrates    darstellt,    während    bei    Stifel    die 


^)  Ärithnietica  integra  fol.  11  verso  bis  12  verso.      ^)  Ebenda  fol.  101  recto. 
^)  Ebenda  fol.  14  verso  figg.  *)   Ebenda  fol.  15  verso :    Possibile  autem  est, 

unam  diametrum  esse  plurium  diametralium  numerorum  diametrum ,  ut  satis 
ostenditur  hac  flgiira  sequenti,  worauf  ein  Kreis  mit  dem  Durchmesser  65  und 
den  beiden  Rechtecken  folgt,  deren  Diagonale  der  Durchmesser  ist,  während  die 
Seiten  25  und  60,  beziehungsweise  39  und  52  sind. 

28* 


436  62.  Kapitel. 

rationale  Diagonale  eines  Reclitecks  den  Ausgangspunkt  liefert.  Um 
so  mehr  ist  zu  vermuthen,  dass  Stifel  aus  sich  selbst  auf  diese  Unter- 
suchung kam,  die  er  so  weit  führt,  dass  er  behauptet,  ein  Product 
ab  sei  dann  und  nur  dann  Diametralzahl,  wenn 

a  :  &  =  {2n-  +  2n)  :  (2n  +  1) 
oder 


a 


h  =  (4;?-  +  8«  +  3)  :  (4«  +  4). 


Natürlich  sagt  er  solches  nicht  in  den  hier  gebrauchten  allgemeinen 
Symbolen,    sondern    so,    dass    er    die  Yerhältnisszahlen    in    einer  der 

Formen    1—,  24-,  3—  •  •  •    oder     1—,  2—,  3—  •  •  •    sucht.     In    der 

That  ist 

{2)1-  +  2n)-  +  (2m  +  If  =  (2n-  +  2»  -f  l)"^ 
und 

(4;r  -\-8n-\-  3j-  +  (4«  +  4)-=  (4w-  +  Sn  +  bf. 

Wieder  eine  Stifel  eigen thümliche  Aufgabe  ist  die  von  der  circu- 
lären  Bezifferung^),  de  numeratione  circulari.  Ihr  Wesen  besteht 
darin,  dass  die  An  —  4  Randfelder  eines  aus  n^  kleinen  Quadraten 
bestehenden  grösseren  Quadrates  mit  Ordnungsziifern  versehen  werden 
sollen,  indem  man  an  irgend  einem  Randfelde  beginnend  nach  Ab- 
zahlung einer  jeweils  bestimmten  Felderzahl  in  bestimmter  Richtung 
eine  Ordnungsziffer  einsetzt,  bis  sämmtliche  Felder  mit  Ausnahme 
dessen,  bei  welchem  das  Abzählen  angefangen  hat,  beziffert  sind; 
man  fragt,  wie  viele  Felder  jedesmal  abzuzählen  sind,  damit  die  Auf- 
gabe erfüllt  werde,  welche  also  eine  Art  von  Schliessungsproblem 
ist.  Weiter  bemühte  sich  Stifel")  um  die  Herstellung  von  Zauber- 
quadraten. Nachdem  Inder,  Chinesen,  Araber  und  Byzantiner 
(Bd.  I,  S.  594,  633,  697,  480)  mit  dieser  Zahlenspielerei  sich  beschäf- 
tigt hatten,  fand  sie  im  XV.  Jahrhunderte,  wie  es  scheint,  Eingang 
in  Deutschland.  Aus  jener  Zeit  stammt  ein  Quadrat  der  ersten  25 
Zahlen^).  Albrecht  Dürer  benutzte  im  Jahre  1514  in  seinem 
„Melancholie"  genannten  Holzschnitte  das  Quadrat  der  ersten  IG  Zahlen 
in  der  Form: 


^)  Arithmetica  integm  fol.  16  verso.  Vergl.  G  i  e  s  i  n  g  1.  c.  S.  45 — 50. 
-)  Ebenda  fol.  24  verso  bis  30  recto.  Vergl.  Günther,  Vermischte  Unter- 
suchungen zur  Geschichte  der  mathematischen  Wissenschaften  (Leipzig  1876), 
Kap.  IV  Historische  Studien  über  die  magischen  Quadrate  (besonders  S.  220 — 228) 
und  Giesing  I.e.  S.  56— 61,  endlich  Fontes,  Sur  Us  carres  ä  horäure  de  Stifel 
in  den  Veröffentlichungen  der  Association  Fran9aise  pour  l'avancement  des 
sciences  (Congres  de  Bordeaux  1895).  ^)  Curtze  brieflich. 


Michael  Stifel. 


437 


1 

14 

15 

4 

12 

' 

6 

9 

8 

11 

10 

5 

13 

2    '    3    1  16 

Agrippa  von  Nettesheim  (1487 — 1535)  hat  alsdann  in  seinem 
Werke  JDe  oceidta  philosophia  (1533)  eine  ganze  Anzahl  von  Zauber- 
quadraten sowohl  mit  grader  als  ungrader  Seitenzahl  beschrieben. 
Jedem  Planeten  ist  ein  bestimmtes  Zauberquadrat  eigen  und  hat  ent- 
sprechende geheimnissYolle  Eigenschaften.  Der  erste  Mathematiker, 
welcher  in  Deutschland  mit  Zauberquadraten  sich  beschäftigte,  war 
Adam  Riese  (S.  422).  Er  that  dieses  am  Ausführlichsten  in  seiner 
Rechnung  nach  der  Lenge  von  1550,  welche  mithin  späteren  Datums 
als  die  Arithmetica  integra  ist^  womit  unsere  Bezeichnung  Riese's  als 
erster  deutscher  Mathematiker,  welcher  die  Frage  in  Angriff  nahm, 
hinfällig  würde,  aber  Riese  beruft  sich  in  diesem  späteren  Werke 
ausdrücklich  auf  das  Rechenbuch  von  1522,  in  welchem  er  gleichfalls 
schon  eine  Vorschrift  zur  Bildung  von  Zauberquadraten  gegeben  habe. 
Wir  haben  nichts  weniger  als  die  Absicht,  auf  den  für  die  Gesammt- 
entwickelung  der  Mathematik  sehr  nebensächlichen  Gegenstand  näher 
einzugehen,  aber  bemerken  müssen  wir  doch,  dass  Riese's  Regel  und 
die  nach  ihr  gebildeten  Quadrate  von  denen  Stifel's  verschieden  sind 
und  die  Selbständigkeit  beider  Schriftsteller  von  einander  verbürgen. 
Damit  ist  auch  für  Riese  eine  gewisse  zahlentheoretische  Begabung 
festgestellt,  wenn  auch  nicht  in  dem  hohen  Grade  wie  für  Stifel, 
dessen  dahin  sich  neigende  Geistesrichtung  durch  alle  Einzelheiten, 
welche  wir  angaben,  bezeugt  wird.  Wir  können  uns  dafür  auch  auf 
ein  Kunststückchen  Stifel's  berufen^),  welchem  wir  nirgend  anderswo 
begegnet  zu  sein  uns  erinnern  können.  Man  lasse  eine  n-  z.  B- 
zweiziffrige  Zahl  x  denken,  und  merke  sich  eine  Zahl  a  von  der  Be- 
schaffenheit, dass  a{a  -{- 1)  eine  n  -\-  1-ziffrige  Zahl  werde,  z.  B.  a  =  10, 
a{a-\-  1)  =  110.    Dann  lasse  man  sich  die  Reste  r^,  rg  sagen,  welche 

die   Divisionen  — ,  — r^r  übrig  lassen.     Bildet  man  alsdann  für  sich 

a  '    «  -f-  1  "^ 

r^fa-f"  1)  +  ^\(f'^'^)  =  S,  so  ist  nach  Stifel's  Behauptung  x  immer  der 

S 
Rest,  welcher  bei  der  Division  übrig  bleibt.    Die  Richtigkeit 

seiner  Vorschrift   ist  unter  Anwendung   des  Symbols    E  (  — )  zur  Be- 


^)  AritJimetica  integra  fol.  38  verso. 


438  62.  Kapitel. 

Zeichnung  der  grössten  in  ~  steckenden  ganzen  Zahl  leicht  zu  er- 
weisen.    Offenbar  lassen  sich  die  Reste  t\,  r.,  als 

r,  =  ^-a-E{^),     ,,  =  .  -  («  +  1)-EC-+^) 
schreiben  j  und  alsdann  folgt 

S=  (»  +  l)a:-a{a  +  1)e[^)  +  a'x  -  aHa  +  r)B[--^^ 

=  .  +  «.(«+ l)[.-£(i)-a£(-^^)] 

und  damit  ist  Stifel's  Regel  schon  gerechtfertigt^),  sofern  der  in 
eckigen  Klammern  stehende  Ausdruck  nicht  negativ  ausfallen  kann. 
Das  ist  aber  unmöglich,  denn  a(a  -\-  1)  >  a;  und  S  ist  seiner  Ent- 
stehung nach  positiv.     Wäre  also  das  ganzzahlige 


^(f) 


aE\ 


\,a  -\-  1/ 

negativ,  so  würde  es  mit  a(a  -\-  1)  vervielfacht  absolut  genommen 
grösser  als  x  sein,  mithin  ein  negatives  ;S^  hervorbringen.  Ob  freilich 
Stifel  bereits  eine  derartige  Ueberlegung  anstellte,  dafür  sind  wir 
ohne  jeglichen  Anhaltspunkt. 

Das  2.  Buch  ist,  wie  wir  schon  ankündigten,  den  Irrationalen 
gewidmet.  Gleich  zu  Anfang  steht  der  wichtige  Satz:  Impossible 
est  ut  ex  muUijüicatione  fracfi  in  se  fiat  numerus  integer"),  aus  der 
Multiplication  eines  Bruches  mit  sich  selbst  könne  niemals  eine  ganze 
Zahl  entstehen.  Gehe  nämlich  schon  der  Nenner  des  Bruches  nicht 
in  dessen  Zähler  auf,  so  könne  noch  weniger  das  Quadrat,  der 
Kubus  u.  s.  w.  des  Nenners  in  dem  Quadrate,  dem  Kubus  u.  s.  w. 
des  Zählers  aufgehen.  Kein  Irrationales  könne  demnach  einem  Ra- 
tionalen gleich  sein,  wenn  es  auch  zwischen  zwei  rationale  Zahlen 
falle.  Euklid  leugne  deshalb  die  Zahleneigenschaft  des  Irrationalen 
und  handle  in  seinem  ganzen  X.  Buche  nur  von  irrationalen  Strecken. 
Stifel  schliesst  sich  soweit  an,  dass  sein  ganzes  zweites  Buch  der 
Arithmetica  integra  als  Erläuterung  zu  jenem  schwierigen  euklidischen 
Buche  aufgefasst  werden  kann.  Eine  Frage,  mit  welcher  Stifel  sich 
sehr    eingehend    beschäftigt    hat,    ist    die    nach   den    Gründen    der 


*)  Die  gleichzeitig  zu  erfüllenden  Congruenzen  x  ^^  r^  (mod  a)  und 
X  ^  »j  (mod  a  +  1)  erfordern  x  ^  {a  -\-  l)ri  —  ar^  (mod  aia  -f-  1)).  Addirt 
man,  um  das  mögliche  Auftreten  einer  negativen  Zahl  zu  vermeiden,  rechts 
noch  a(a  -\-  1))\,  so  erscheint: 

x^  {a  -{-  1)  j-j  -f  rt*r,  (mod  aia  -}-  1)). 
Aber  solcher  Schlüsse  war  Stifel  ge-\v-iss  nicht  fähig.  -)  Arithmetica  integra 

fol.  103  verso. 


Michael  Stifel.  439 

Verschiedenheit  der  Euklidübersetzung  des  Campanus  von 
derjenigen,  welcher  unmittelbar  die  Theon'sche  Ausgabe 
zu  Grunde  lag^).  Es  sei  schon  möglich,  dass  erstere  mitunter  die 
richtigere  Reihenfolge  der  Sätze  darbiete  als  Theon,  in  dessen  Hände 
die  euklidischen  Elemente  doch  erst  nach  mehreren  Jahrhunderten 
gelangt  seien,  und  euklidische  Sätze  seien  doch  kein  Evangelium,  ein 
freieres  Urtheil  sei  daher  statthaft.  Die  Beweise  vollends  hielt  Stifel 
auf  die  Aussage  seiner  des  Griechischen  kundigen  Freunde  hin^)  für 
Theonisches  Beiwerk. 

Bei  diesen  im  2.  Buche  gegebenen  Erläuterungen  —  oder  sollen 
wir  sie  eine  algebraische  Uebersetzung  des  geometrischen  Textes 
nennen?  —  sind  verschiedene  Zeichen  in  Anwendung.  Vor  allem 
erscheinen  hier  die  Zeichen  -|-  und  — ,  dann  aber  auch  Wurzel- 
zeichen von  verschiedenen  Wurzelexponenten,  sämmtlich  durch  y 
dargestellt,  welchem  alsdann  ein  die  Art  der  Wurzel  näher  bezeich- 
nender Buchstabe  folgt  ^).  Die  Wurzeln  von  der  zweiten  bis  zur 
dreizehnten  sehen  demnach  so  aus: 

Vh  yce,  yu,  y^,  yh^>  VH,  Vm,  V^^^e,  Vh^,  yc§,  Vu^t,  Vd^- 

Bezieht  sich  ein  Wurzelzeichen  auf  additiv  oder  subtractiv  vereinigte 
Grössen,  so  hat  es  einen  Punkt  hinter  sich  z.  B. 


ys  •  VS  20  -  4  —  |/f^8  =]/]/2Ö  -  4  -  >/8. 

Beim  Rechnen  mit  den  Zeichen  -\-  und  —  wird  die  Regel  auf- 
gestellt^): Ä  ponit  M  et  S  ponit  S.  Das  ist  eine  von  den  Gedächt- 
nisshilfen, an  welchen  die  Zeit  reich  war,  und  von  welchen  zahlreiche 
Beispiele  anzuführen  nicht  schwer  hielte.  Der  Sinn  der  Regel  ist 
der,  dass  bei  der  Addition  ungleichbezeichneter  Zahlen  Major,  die 
grössere  Zahl,  den  Ausschlag  gebe,  bei  der  Subtraction  solcher  Zahlen 
dagegen  immer  das  Vorzeichen  des  Superior,  der  oben  stehenden 
Zahl,  zu  nehmen  sei. 

Uebrigens  giebt  das  2.  Buch  auch  Veranlassung  zu  Aeusserungen 
Stifel's  über  geometrische  Dinge.  Er  verweist  für  die  Netze  von 
Vielflächnern  auf  Albrecht  Dürer ^)  und  bringt  in  dem  Druckfehler- 
verzeichnisse am  Ende  des  ganzen  Bandes  diese  Netze  selbst.  Er  ver- 
weist ausserdem  einmal^)  auf -eine  Geometrie,  welche  er  selbst  zu 
schreiben  beabsichtigte.'  Von  einer  Ausführung  dieser  Absicht  ist 
nichts  bekannt,   wir  haben  indessen  keinen  Grund,   das  Unterbleiben 


')  Arithmetica  integra  fol.  158  verso.      *)  Ebenda  fol.  143  verso.      ^)  Ebenda 
fol.  109  recto  und  häufiger.  *)  Ebenda  fol.  124  recto.  ^)  Ebenda  fol.  211 

recto.  '')  Ebenda  fol.  226  recto:    Sed  de  his  Omnibus  suo  loco  in  Geometria 

rnea  dicam  latius. 


440 


62.  Kapitel. 


besonders  zu  beklagen,  wenn  wir  die  einzige  Stelle  beachten,  an 
welcher  Stifel  als  eigentlicher  Geometer  sich  kundgiebt^).  Zwischen 
(Figur  80)  AB  und  dem  doppelt  so  grossen  AC ,  welches  zu  AB 
senkrecht  gezeichnet  ist,  sollen  zwei  mittlere 
Proportionalen  eingeschaltet  werden.  Stifel 
halbirt  AC  in  D,  AD  in  E,  AE  in  F, 
EF  in  I  und  beschreibt  um  /  als  Mittel- 
punkt mit  IG  als  Halbmesser  den  Halb- 
kreis CLSK.  Dann  wird  um  31,  Halbi- 
rungspunkt  der  BL,  als  Mittelpunkt  mit 
ML  als  Halbmesser  der  Halbkreis  LGB 
beschrieben  und  behauptet,  es  sei 
AB:AK=AK:AL=AL:AG. 
Der  Irrthum  besteht,  wie  leicht  ersichtlich,  darin,  dass  angenom- 
men wird,  der  zweite  Halbkreis  gehe  gleichfalls  durch  den  Punkt  K, 
was  nicht  der  Fall  ist.     Ist  nämlich  AB  =  a,  AC  ==  2a,  so  ist 


CI=^a 


AK=^a,     AL  =]/2a  ■  ~a  =  ciY 


Schneidet  nun  der  Halbkreis  LGB  die  verlängerte  CA  in  K',  so  ist 

i  , — 
AK'  ='\/ AB  •  AE=  ay  ~   und    sollte  K'  mit  K   zusammenfallen, 


so  müsste  -^  et  =  «1/4-  sein  oder  —  =  )/2 .  Nicht  viel  vertrauen- 
erweckender ist  ein  Anhang  zum  zweiten  Buche  über  die  Quadratur 
des  Kreises^),  in  welchem  der  mathematische  Kreis  von  dem  physischen 
unterschieden  und  diesem  die  Quadrirbarkeit  zugeschrieben,  jenem 
aber  desshalb  abgesprochen  wird,  weil  der  Kreis  ein  Unendlichvieleck 
sei,  die  unendliche  Zahl  aber  nicht  angegeben  werden  könne. 

Im  3.  Buche  der  Arithmetica  integra  ist  die  Algebra  ent- 
halten. Man  habe  Regeln  in  Fülle  aufgestellt  und  ihnen  lächerliche 
Namen  beigelegt^).  Da  gab  es  Begulae  aequalitatis,  separationis, 
transversionis ,  commixtionis ,  positionis ,  legis,  augmenti,  decrementi, 
pluris,  residui,  collectionis,  man  könne  sie  alle  zusammen  als  Menschen- 
quälerei, vexationes  poptdi,  bezeichnen.  Statt  dessen  genüge  die  ein- 
zige Regel  des  Algebras,  welche  so  lautet  '^) :  „Ist  eine  unbekannte 
Zahl  zu  finden,  so  setze  man  statt  ihrer  1  Coss  (wir  schreiben  dafür 
1  5f),  und  ist  alsdann  eine  Gleichung  hergestellt,  so  bringe  man  sie 
auf  eine  wo   möglich   einfachere  Form.     Dann   theile  man  durch  die 


^)  Arithmetica  integra  fol.  119  verso  flgg.    Vergl.  Treutlein,  Die  deutsche 
Coss.     Zeitschr.  Math.  Phys.  XXIV,  Supplementheft  S.  53.  «)  Ebenda  fol.  224 

recto  bis  226  recto.         ^)  Ebenda  fol.  227  recto.         *)  Ebenda  fol.  227  verso. 


Michael  Stifel.  441 

mit  der  höchsten  cossischen  Grösse  verbundene  Zahl  das  ihr  Gleich- 
gesetzte mit  seiner  Benennung.  So  erscheint  immer  die  unbekannte 
Zahl  entweder  als  der  Quotient  oder  als  eine  Wurzel  desselben.  Ist 
aber  eine  Wurzel  auszuziehen,  so  giebt  das  diejenige  cossische  Grösse, 
von  welcher  der  Divisor  hergenommen  wurde,  durch  ihr  cossisches 
Zeichen  schon  zu  erkennen." 

Wir  werden  uns  später  überzeugen,  dass  Stifel  hier  in  einiger 
Abhängigkeit  von  Cardanus  sich  befindet.  Im  Uebrigen  muss  an 
das  Zeichen  Bf  eine  Bemerkung  geknüpft  werden.  Dass  es  aller 
Wahrscheinlichkeit  nach  als  der  Buchstabe  r  zu  deuten  ist,  haben 
wir  gesagt,  als  es  zum  ersten  Male  vorkam,  aber  warum  r?  Die 
nächstliegende  Yermuthung,  unterstützt  durch  die  Worte  1  Coss  {nos 
autem  ponimus  1  Sf),  wird  die  sein  an  res  als  Uebersetzung  von  Coss, 
cosa  zu  denken,  dessen  Anfangsbuchstabe  gewählt  wurde;  aber  nichts 
wäre  irriger.  Viele  Stellen,  an  welchen  neben  Bf  das  Wort  radix 
abgedruckt  ist,  beweisen  dass  jenes  Zeichen  so  zu  deuten  ist,  und 
ganz  unwiderlegbar  ist  in  dieser  Beziehung  eine  Stelle,  wo  es  heisst 
quaerenda  erit  1  Bf  de  quotiente^),  man  suche  die  Wurzel  des  Quotien- 
ten, wo  also  Bf  überhaupt  kein  Symbol  der  Unbekannten,  sondern 
einfach  eine  Abkürzung  für  radix  ist. 

Die  eine  Regel,  deren  Wortlaut  wir  angegeben  haben,  ersetze, 
sagt  StifeP),  die  8  Regeln,  welche  Rudolff,  sowie  die  24,  welche 
Andere  aufzustellen  für  nöthig  fanden,  und  sie  ist  unschuldig  daran, 
wenn  man  eine  durch  sie  geforderte  Operation  nicht  auszuführen  im 
Stande  ist,  wie  z.  B.  wenn  man  aus  x^  ==  bx^  -f-  192  nicht  weiss 
X  =  8  abzuleiten.  Zweite  Wurzeln,  radices  secundae,  werden  weitere 
in  der  Gleichung  vorkommende  Unbekannte  genannt^).  Als  Zeichen 
für  sie  sind  neben  Bf  die  Initialen  Ä,  B,  C,  D  .  .  .  in  Gebrauch,  aber 
man  soll  sie  nur  dann  anwenden,  wenn  es  nicht  möglich  ist  mit 
einer  Unbekannten  auszukommen^).  Die  höheren  Potenzen  der  zweiten 
Wurzeln  heissen  J.5,  Äcf,  Ä^  u.  s.  w.  Die  so  zu  sagen  regelrechte 
Anordnung  der  aequatio  reduda  ist  nach  Stifel's  allgemeiner  Vor- 
schrift die,  bei  welcher  die  höchste  Potenz  der  Unbekannten  mit 
positivem  i^ahlencoefficienten  auf  der  einen,  alles  Uebrige  auf  der  andern 
Seite  steht.  Stifel  benutzt  aber  auch  jede  andere  Anordnung,  ja  in 
einem  Falle  bringt  er  die  Gleichung  auf  NulP), 

116  +  ]/5  41472  —  18  Sf  —  yj  648  5  aequantur  0, 

^)  Ärithmetiea  integra  fol.  2.33  verso.  Man  vergleiche  ferner  235  verso,  267 
verso  u.  s.  w.  «)  Ebenda  fol.  2.50  verso.  ^)  Ebenda  fol.  251  verso.  •*)  Ebenda 
fol.  252  verso:  Persuade  tibi  peecatum  esse,  si  per  plura  fluni  qiiae  possunt  fieri 
per  pauciora.        ^)  Ebenda  fol.  283  recto. 


442  62.  Kapitel. 

wahrscheinlich  das  erste  solche  Vorkommen  und  damit  ein  allerdings 
durchaus  unbewusstes  Muster  für  die  Zukunft. 

Wenn  wir  sagten,  Stifel  habe  jede  Anordnung  der  Gleichung 
benutzt,  so  müssen  wir  nachträglich  eine  einzige  Anordnung  davon 
ausnehmen.  Es  kommt  nie  vor,  dass  lauter  Glieder  mit  positiven 
Vorzeichen  solchen  mit  ausschliesslich  negativen  Vorzeichen  gleich 
gesetzt  werden,  weil  solche  Gleichungen  durch  positive  Wurzelwerthe 
nicht  erfüllt  werden  können,  für  Stifel  aber  nur  positive  Gleichungs- 
wurzeln einen  Sinn  haben.  Auch  bei  den  quadratischen  Gleichungen 
hat    in  seiner  Behandlung  nur  die  Form    ax^  =  hx  —  c    die    beiden 

Wurzeln  ^  =  -^  :jz^>~y^^  —  4ac,  weil  beide  positiv  werden;  dass 
4ac>&^  sein  könnte,  wird  gar  nicht  in  Betracht  gezogen.  Doch 
bedurfte  dieses  kaum  der  Hervorhebung,  denn  diese  Beschränkung 
des  Wurzelbegriffes  ist  allen  deutschen  Cossisten  gemein,  wenn  wir 
auch  nicht  für  nothwendig  hielten,  bei  jedem  einzelnen  Schriftsteller 
besonders  darauf  hinzuweisen. 

Was  Stifel  auszeichnet,  oder  womit  er  wenigstens  aus  dem  Kreise 
der  deutschen  Cossisten  heraustrat,  das  ist  die  Erklärung  der 
negativen  Zahl  als  kleiner  als  Null,  welche  mit  ihm  ihren  Ein- 
zug in  die  Mathematik  hielt,  um  Jahrhunderte  lang  nicht  mehr  aus 
ihr  zu  verschwinden.  Finguntiir  numeri  minores  niJiilo  ut  sunt  0  —  3, 
0  —  8  etc.  sagt  Stifel  schon  in  seinem  1.  Buche ^),  und  im  3.  Buche 
häufen  sich  die  Stellen^),  wo  die  negativen  oder  mit  Stifel  zu  reden 
die  absurden  Zahlen  für  kleiner  als  Null  erklärt  werden.  Da  heisst 
es:  0  i.  e.  nihil  (quod  mcdiat  inter  numeros  veros  et  numcros  ahsurdos). 
Da  wird  darauf  hingewiesen,  dass  bei  absurden  Zahlen  Alles  absurd 
oder  verkehrt,  absurde  sive  inverse,  geschehe;  bei  wirklichen  Zahlen, 
in  veris  numeris,  bringe  die  Subtraction  Verminderung  hervor,  bei 
absurden  dagegen  Vermehrung.  Ob  bei  dieser  Auffassung  an  eine 
Abhängigkeit  von  Paciuolo  (S.  319)  zu  denken  ist,  scheint  sehr 
zweifelhaft. 

Zum  Schlüsse  des  3.  Buches  ist  eine  ganze  Anzahl  von  schwieri- 
geren algebraischen  Aufgaben  des  Cardanus  behandelt.  Bald  sind 
es  solche,  die  auf  Gleichungen  4.  und  3.  Grades  führen,  bald  solche, 
die  nur  2.  Grades  sich  dadurch  auszeichnen,  dass  es  auf  geschickte 
Wahl  der  Unbekannten  ankommt.  Die  Gleichungen  4.  Grades  werden 
so  gelöst,  dass  beide  Seiten  der  Gleichung  zu  vollständigen  Quadraten 
ergänzt  werden,  um  dann  durch  beiderseitige  Wurzelausziehung  eine 
nur    noch    quadratische    Gleichung   zu   liefern.     Bei    den    Gleichungen 

^)  Arithmetica  integra  fol.  48  recto.     *)  Ebenda  fol.  248  verso  bis  250  verso. 


Michael  Stifel.  443 

3.  Grades  findet  die  Zurückführung  auf  einen  niedrigeren  Grad  da- 
durcli  statt,  dass  wieder  beiderseitige  Ergänzungen  vorgenommen 
werden,  welche  diesmal  keine  Wurzelausziehung,  aber  die  Division 
durch  einen  beiden  Seiten  gemeinsamen  Factor  gestatten.  Zurück- 
führung von  einem  höheren  auf  einen  niedrigeren  Grad  ist  also  der 
Zweck,  aber  ein  einheitliches  Verfahren  zur  Erreichung  des  Zweckes 
ist  nicht  vorhanden,  sondern  immer  neue  besondere  KunstgrifiFe  müssen 
geübt  werden. 

Nur  ein  Jahr  später  als  die  Arithmetica  integra  erschien  1545 
bei  dem  gleichen  Drucker  Johann  Petreius  in  Nürnberg  die  „Deutsche 
Arithmetica  inhaltend  die  Haussrechnung,  deutsche  Coss, 
Kirchrechnung".  Das  Titelblatt  enthält  noch  eine  Lobpreisung 
des  Inhaltes  in  folgender  Fassung:  „Mein  lieber  Leser,  Nach  dem  die 
Coss  (welche  ist  ein  Kuustrechnung  der  gantzen  Arithmetick)  bissher 
den  Deutschen  mit  vil  frembden  worden,  vermangt  und  verblend, 
schwer  ist  gewesen,  So  weit  sie  hie  mit  new  erfundenen  vortheil 
vnnd  Regeln,  sehr  leicht  vnd  kurtz  herfur  bracht  vnd  gelehrt  vnd 
mit  guten  Deutschen  bekantlichen  Worten  vnd  Exempeln  erweyset. 
Das  ander  so  hierin  gelert  wird  von  der  Haussrechnung  vnd  Kirch- 
rechnung bringt  seinen  bericht  genugsam  mit  sich.  Alles  durch  Herr 
Michael  Stifel,  auff  eine  besondere  newe  vnd  leichte  weis  gestellet." 
Ist  schon  diese  Empfehlung  des  Buches  und  die  deutsche  Sprache,  in 
welcher  es  verfasst  ist,  dazu  angethan,  einen  anderen  Leserkreis  als 
denjenigen,  für  welchen  Stifel  seine  Arithmetica  integra  geschrieben 
hatte,  vermuthen  zu  lassen,  so  wird  die  Vermuthung  zur  Gewissheit 
durch  den  Ausspruch^)  „sollichen  geübten  leuthen  schreibe  ich  hie  in 
diesem  büchlin  gar  nichts,  wie  ich  mich  des  bedingt  hab  bey  dem 
anfang".  Dem  weniger  wissenschaftlichen  Zwecke  entsprechend  be- 
schränkt sich  Stifel  wesentlich  auf  das  Rechnen  auf  den  Linien. 
Dieses  freilich  lehrt  er  in  seinem  ganzen  Umfange,  und  er  zeigt  eben 
so  gut,  wie  man  das  Halbiren  mit  Rechenpfennigen  vollzieht^),  als 
deren  Gebrauch  zum  Wurzelausziehen  ^).  Dass  das  Halbiren  sich 
noch  erhielt,  während  das  Verdoppeln  abhanden  gekommen  ist,  mag 
dadurch  entschuldigt  sein,  dass  es  in  der  That  bei  Anwendung  von 
Rechenpfennigen  besonders  leicht  auszuüben  war.  Lagen  Rechen- 
pfennige in  grader  Anzahl  auf  einer  Linie,  so  nahm  man  die  Hälfte 
derselben  fort,  ein  überschiessender  einzelner  Rechenpfennig  wurde 
auf  das  darunter  befindliche  Spacium  geschoben*).  Die  Wurzelaus- 
ziehung  auf   den  Linien    hatte  Köbel    gelehrt  (S.  420),    aber    Stifel 

')  Haussrechnung  fol.  5  recto.  *)  Ebenda  fol.  6  recto.  Von  dem  halbiren 
und  vom  greyffen  der  Linien.  ^  Ebenda  fol.  43  verso  bis  48  verso.  *)  Ebenda 
fol.  1  verso:  Spacium  ist  ein  feld  zwischen  zweien  Linien. 


444  62.  Kapitel. 


geht  über  ihn  hinaus.  Er  zeigt  nicht  bloss  an  |/82573569  =  9087 
die  Quadratwurzelausziehimg,  er  lehrt  auch  die  Kubikwurzelausziehung 
i/644972544  =  864  mittels  Rechenpfennigen  und  versteigt  sich  sogar 


bis  zu  y614656  ==  28.     Letzteres  Ergebniss    wird    allerdings    in  der 

Gestalt  y"|/6l4656  =  VlSi  =  28  durch  doppelte  Quadratwurzelaus- 
ziehung gefunden,  trotzdem  an  anderer  Stelle  der  Haussrechnung  ^) 
die  Binomialcoefficienten  bis  zur  16.  Zeile,  also  nur  um  eine  Zeile 
gegen  die  Arithmetica  integra  verkürzt,  abgedruckt  sind.  Man  könne, 
sagt  er  dabei,  die  Anwendung  der  Tabelle  wie  die  Bildung  ihrer 
Zahlen  aus  einander  leicht  verstehen,  „wer  sich  aber  selbs  nich  kan 
drauss  verrichten,  mag  jm  solliche  zeygen  lassen". 

Die  Wurzelzeichen  sind  von  denen  der  Arithmetica  integra  ver- 
schieden. Statt  ys,  yct,  "j/fiff  ist  hier  z/,  2,,  |,  angegeben^).  Die 
Zeichen  der  Addition  und  Subtraction  sind  geblieben.  Für  Multi- 
plication  und  Division  sind  neue  Zeichen  hinzugekommen^):  „wie 
mau  addiret  durch  das  zeichen  -f-  also  multipliciret  ich  durch  das 
zeichen  211  und  dividiret  durch  das  Zeichen  V",  wobei  es  auffallen 
mag,  dass  diese  letzten  dem  Wortlaute  nach  von  Stifel  selbst  er- 
fundenen Zeichen  ausser  hier,  wo  sie  dem  Leser  vorgestellt  werden, 
in  der  ganzen  Haussrechnung  nicht  ein  einziges  Mal  vorkommen. 

Ausser  dem  gemeinen  Rechnen,  welches  „jederman  seine  Kinder, 
wenigstens  die  Knaben,  lernen  lassen  sollte"^),  wird  in  einem  zweiten 
Theile  auch  die  deutsche  Coss  gelehrt,  worunter  verstanden  ist, 
dass  bei  der  Auseinandersetzung  deutsche  Ausdrücke  und  nicht  Fremd 
Wörter  benutzt  werden  sollen,  von  welchen  Rudolff's  Coss.  wimmle^). 
So  heisst  z.  B.  die  unbekannte  Zahl  nicht  cosa,  sondern  Suui.  und 
beim  Multipliciren  wird  diese  Silbe  nur  mehrmals  wiederholt,  ähnlich 
wie  man  es  mit  Zahlen  mache,  welche  Nullen  als  Randziffern  be- 
sitzen^). Die  Multiplication  von  20000  mit  3000  giebt  2  mal  3  oder 
6  mit  4  und  3  oder  7  Nullen;  die  Multiplication  von  6  sum  sum  sum 
mit  12  sum  sum  sum  giebt  6 mal  12  oder  72  sum  sum  sum  sum  sum 
sum.  Sollen  mehrere  ungere ebnete  d.  h.  unbekannte  Zahlen  unter- 
schieden werden,  so  nenne  man  sie  Sum  A,  Sum  B  u.  s.  w.'').  Dann 
wird  auf  derselben  Blattseite  fortfahrend  die  Regel  der  Coss  gegeben, 
welche  natürlich  dem  Sinne  nach  mit  jener  übereinstimmt,  die  wir 
der  Arithmetica  integra  entnahmen.  Die  behandelten  Aufgaben  führen 
bis  zu  gemischten  quadratischen  Gleichungen^). 

Endlich  schliesst  sich  an  die  deutsche  Coss  noch  der  dritte  Theil 


^)  Haussrechnung  fol.  71  verso.     ')  Ebenda  fol.  61  verso.     ^)  Ebenda  fol.  74 
recto.  \)  Ebenda,  Vorrede.     -    ®)  Ebenda  fol.  17  verso.  ®)  Ebenda  fol.  20 

verso.         ')  Ebenda  fol.  22  recto.         ®)  Ebenda  fol.  50  recto  flgg. 


Michael  Stifel. 


445 


von  der  Kirchenrechnung^),  „die  man  nennet  Computum  Eccle- 
siasticum".  Wir  heben  aus  diesem  dritten  Theile  nur  einen  deutschen 
Cisojanus^)  hervor,  d.  h.  Reimverse,  vrelche  für  jeden  Monat  aus 
so  vielen  Silben  bestehen,  als  der  Monat  Tage  hat,  und  in  welchen 
die  Hauptfeiertage  genannt  sind,  so  dass  wieder  ihre  Anfangssilben 
mit  dem  Datum  der  betreffenden  Tage  zusammenfallen.  Für  Juni, 
oder  mit  dem  von  Stifel  gebrauchten  deutschen  Namen  für  den 
Brachmonat  ist  z.  B.  folgende  Strophe  vorhanden: 

Alweg  bald  nach  Pfingsten 

Haben  wir  den  tag  am  lingsten. 

Veyt  macht  ein  kurtzes  Metrum 

Wie  Sant  Johannes  suche  Petrum. 

Von  den  30  Silben  dieser  Strophe  ist  die  15.  Veyt,  die  24.  Sant,  die 
29.  Pet  und  damit  soll  gesagt  sein  Juni  habe  30  Tage  und  am  15.  Juni 
sei  Veit,  am  24.  Johanni,  am  29.  Peter  und  Paul.  Ueberdies  sollen 
die  beiden  ersten  Zeilen  dem  Gedächtnisse  einprägen,  dass  Pfingsten 
und  auch  der  längste  Tag  in  den  Monat  fallen. 

Wir  kommen  zur  dritten  von  uns  zu  besprechenden  Veröffent- 
lichung Stifel's,  zu  der  Ausgabe  der  Rudolff'schen  Coss  von 
1553.  Wir  haben  erwähnt,  dass  zahlreiche  Zusätze  zu  dem  vorhan- 
denen Texte  von  Stifel  herrühren,  und  in  diesen  Zusätzen  begegnen  wir 
Manchem  wieder,  was  in  der  Arithmetica  integra  bemerkenswerth 
erschien.  Da  finden  wir  die  Theilbarkeitsregeln  der  Zahlen^),  da  die 
Tafel  der  Binomialcoefficienten^),  allerdings  dahin  abgeändert,  dass 
sie  nur  bis  zur  7.  Potenz  reicht,  dafür  aber  sämmtliche  Coefficienten 
enthält,  ohne  dass  an  den  Benutzer  die  Anforderung  gestellt  würde, 
das  nur  zur  Hälfte  Angegebene  rückwärtsgehend  zu  ergänzen.  Die 
Tafel  sieht  nämlich  hier  so  aus : 


U- 

2 

1 

1 

1 

ict. 

3 

3 

lää- 

4 

6 

4 

iB- 

5 

10 

10 

5 

1 

Hct. 

6 

15 

20 

15 

6 

1 

im 

' 

21 

35 

35 

21 

7 

1 

^)  Haussrechnung  fol.  75  recto  flgg.  *)  Ebenda  fol.  76  verso  flgg.  Ueber 
den  Cisojanus  vergl.  K.  Pickel,  I>as  heilige  Namenbuch  (Strassburg  1878)  S.  19. 
3)  Coss  fol.  23  verso.         *)  Ebenda  fol.  168  recto. 


446  62.  Kapitel. 

und  uuter  der  Tafel  steht:  „So  weyt  ist  yetzt  genug."  In  einem  Zu- 
sätze finden  wir  auch  wieder  die  Eegel  der  Coss^),  welche  alle  24 
alten  Regeln  in  sich  schliessen  soll  und  unmittelbar  an  dieselbe  an- 
knüpfend „die  vorige  Regel  mit  wenigem  Worten.  Für  das  facit 
deiner  auffgab  setz  1  Sf.  Handle  da  mit  nach  der  auifgab  bis  du 
kommest  auff  ein  equatz.  Die  selbige  reducir  so  lang  bis  du  sihest 
das  1  Sf  resoluirt  ist."  In  den  Zusätzen  lehnt  sich  Stifel  so  weit  an 
die  Rudolff'sche  Bezeichnung  der  Wurzelgrössen  (S.  399)  an,  dass  er 
bei  der  Quadratwurzel  den  kennzeichnenden  Wurzelexponenten  3  weg- 
lässt  und  damit  ist  dem  Zeichen  y"  die  Bedeutung  als  Quadrat- 
wurzel errungen,  welche  es  hinfort  behielt. 

Ein  Zusatz^)  lehrt  die  Kubikwurzelausziehung  aus  45 -f-]/ 1682. 
Man  bilde  45^ —  1682  =  343;  man  nehme  y  343=  7-,  man  suche  die 
Ergänzung  von  7  zu  einer  Quadratzahl,  etwa  2  weil  1  -\-  2  =  3^,  und 
sehe  zu,  ob  der  Radicaud  1682  durch  sie  getheilt  einen  quadratischen 

Quotienten  giebt;  ist  dieses,  wie  hier,  der  Fall,  indem  --^  =  29'   ist, 

so  bleibe  man  bei  der  gewählten  Ergänzung  stehen  und  hat  3-|-l/2 
als  die  gewünschte  Kubikwurzel.  Einen  Beweis  des  Verfahrens  giebt 
Stifel  nicht.     Um  dasselbe  zu  verstehen,  setzen  wir 


ya-j-yb  =  a-\-  Yß 

und  erheben  auf  die  dritte  Potenz.     Gleichsetzung  der   beiderseitigen 
rationalen  und  irrationalen  Bestandtheile  gieht 

a  =  a''-\-  3a/3,     b  =  /3(3a-  +  ßf  =  9a^/3  +  6a' ß-  -{-  ß\ 

a-  —  &  =  «6  _  3^4^  _|_  3^2 ^2  _  ^3  _  (^^2  _  ^^3 


a-  —  ß  =  ya^  —  b 

und  das  ist  die  in  dem  Beispiele  enthaltene  Zahl  7.    Diese  muss  durch 
die  Zahl  ß  zum  Quadrate  «^  ergänzt  werden,  zugleich  muss  aber  auch 

—  =  (ßa^  -\-  ßf    ein  Quadrat  sein.      Der  einzige  Maugel    an   Stifel's 
Verfahren  besteht  also  darin,   dass  er  sich  damit  begnügt  zu  wissen, 
^.—  =  29^  sei  Quadrat,  ohne  sich  zu  vergewissern ,  ob 
29  =  3«^  _|_  ^  =  3  .  32  _j_  2    ist. 

Unter  dem  Titel  Beschlussexempeln,  und  zwar  als  deren  erstes 
sind  die  befreundeten  Zahlen  220  und  284  angegeben  ^J,  wenn  auch 
dieser  Name  fehlt. 

Ein  anderer  unmittelbar  vorhergehender  Zusatz  endlich"*)  enthält 


^)  Coss  fol.  147  verso.        *)  Ebenda  ibl.  481  recto  und  verso.         ^)  Ebenda 
fol.  486  verso.         *)  Ebenda  fol.  483  verso  bis  486  recto. 


Michael  Stifel.  447 

die  Regel  des  Scipioue  Del  Ferro  zur  Auf lösung  kubischer  Glei- 
chungen und  Beispiele  dazu,  welche  Stifel  aus  den  Schriften  des  Car- 
danus kennen  gelernt  hatte.  Wir  müssen  uns  hier  mit  dieser  dürf- 
tigen Angabe  begnügen,  da  wir  die  Regel  selbst  und  die  Geschichte 
ihrer  Erfindung  und  Veröffentlichung  erst  dann  zu  behandeln  haben, 
wenn  wir  mit  den  italienischen  Mathematikern  des  XVI.  Jahrhunderts 
uns  beschäftigen  werden. 

Als  Anhang  zu  seiner  Ausgabe  der  Rudolff'schen  Coss  hat  Stifel 
auch  seine  Wortrechnung  abdrucken  lassen.  Sie  setzt  die  Pagi- 
nirung  der  Coss  nicht  einfach  fort,  sondern  ist  nur  nach  Buchstaben 
bezeichnet.  Die  Sache  verhält  sich  folgendermassen:  Stifel  war,  als 
er  die  Coss  sammt  der  Wortrechnung  dem  Drucker  in  Königsberg 
überlieferte,  noch  Geistlicher  in  Haberstrom  bei  Königsberg,  hatte 
aber  die  Aussicht  oder  wenigstens  die  Hoffnung,  demnächst  wieder 
in  die  Nähe  von  Wittenberg  zurückkehren  zu  können.  Da  bat  er 
denn,  man  möge  die  Wortrechnung  zuerst  in  Angriff  nehmen,  so 
lange  er  noch  selbst  den  Druck  überwachen  könne,  weil  hierbei  der 
unbedeutendste  Fehler  von  ungemeiner  Tragweite  sei,  und  diesen 
Wunsch  wird  der  Drucker  wohl  erfüllt  haben.  Die  an  sich  gering- 
fügige Thatsache  ist  geradezu  kennzeichnend  für  Stifel  und  für  die 
Wichtigkeit,  die  er  seiner  Wortrechnung  beilegte.  Ebendasselbe  lässt 
sich  aus  der  Ausführlichkeit  erkennen,  mit  welcher  er  über  die  Ent- 
stehung der  Wortrechnung  berichtet  ^).  Er  war  noch  Augustiner- 
mönch in  Esslingen,  aber  innerlich  dem  Mönchsthum  seit  1520  ent- 
fremdet, als  er  die  ersten  Deutungsversuche  an  den  geheimnissvollen 
Zahlen  der  Apokalypse  anstellte.  Dass  die  Zahl  666  nur  auf  Leo  X., 
der  von  1513  bis  1521  den  päpstlichen  Thron  innehatte,  gehen  könne, 
war  ihm  klar,  nur  bildeten  die  in  Leo  DeCIMVs  enthaltenen  Zahlen- 
buchstaben MDCLVI  =  1656  eine  Zahl,  welche  um  1000  zu  gross, 
um  10  zu  klein  war.  Daran  erkannte  er  die  Nothwendigkeit,  dem 
Worte  decimus  noch  das  Zahlzeichen  X  folgen  zu  lassen,  und  las  man 
nun  M  nicht  als  1000,  sondern  als  Mysterium,  so  war  die  Sache  im 
Reinen.  Der  erste  Erfolg  spornte  Stifel  an.  Weiteres  zu  suchen. 
Als  Hofprediger  zu  Mansfeld  kam  er  auf  den  Gedanken,  nicht  bloss 
einzelne  Buchstaben  einer  Wortverbindung  mit  Zahlenbedeutung  zu 
versehen,  sondern  alle  Buchstaben.  Ganz  neu  war  das  nicht,  denn 
abgesehen  von  der  jüdischen  Gematria  (Bd.  I,  S.  96)  hatte  auch 
Rudolff  seiner  Coss  eine  Wortrechnung  einverleibt-),  der  zufolge  die 
Buchstaben  A  bis  Z    der  Reihe  nach  die  natürlichen  Zahlenwerthe  1 


*)  Die  acht  ersten  Seiten  der  Wortrechnung  (der  ganze  Buchstabe  A)  han- 
deln davon.         ^)  Coss  fol.  488. 


448  62.  Kapitel. 

bis  24  erhalten  sollten.  Den  Anfangsbuchstaben  eines  Geheimwortes 
solle  man  durch  Bf ,  die  folgenden,  je  nachdem  sie  im  Alphabete  früher 
oder  später  erscheinen,  durch  Bf  verbunden  mit  angegebenen  abzüg- 
lichen oder  hinzuzufügenden  Zahlen  darstellen,  endlich  solle  man  Bf 
als  Wurzel  einer  Gleichung  benutzen,  welche  dem  Kundigen  den 
Zahlen-  beziehungsweise  Buchstabenwerth  von  Bf  und  damit  schliess- 
lich das  Geheimwort  selbst  enthüllen  werde.  Aber  Stifel's  Entdeckung 
war  anders  geartet.    Er  gab  den  Buchstaben  A,  B,  C  bis  Z  den  Werth 

der  auf  einander  folgenden  Dreieckszahlen ^)  1,  3,  G bis  27G  und 

suchte  nun  Wörter  auf,  deren  Buchstabensumme  die  räthselhaften 
Zahlen  der  Apokalypse  und  des  Buches  Daniel  waren.  Diese  Rech- 
nung zeigte  er  Luther,  welcher  aber  meinte,  es  wäre  nichts  gewisses 
daran,  und  so  „Hess  ichs  gar  fallen  bis  auff  das  Jahr  1532".  Im  ge- 
nannten Jahre  gab  Stifel,  ohne  seinen  Namen  zu  nennen,  ein  Büchelcheu 
heraus,  in  welchem  „die  Zahlen  Danielis  misbrauchet"  waren,  so  dass 
„ungeschickt  und  ungereimt  gerechnet  ist",  und  der  Weltuntergang 
auf  eine  bestimmte  Stunde  eines  bestimmten  Tages  vorhergesagt 
wurde,  aber  nicht  eintraf.  Volle  14  Jakre  unterbrach  Stifel  seine 
W^ortrechnungen,  bis  er  im  Bade  sitzend  erkannte,  dass  die  Buch- 
staben des  Satzes  vae  tibi  Fapa  vae  tibi  als  Dreieckszahlen  addirt  die 
Summe  1260  gaben,  welche  Zahl  in  der  Apokalypse  XI,  3  und  XII,  (3 
vorkommt.  Von  da  an  war  ihm  kein  Zweifel  mehr  möglich,  und  er 
entdeckte  nicht  nur  eine  Wortverbindung,  sondern  ganze  Blätter  voll 
von  mehr  oder  weniger  zusammenhängenden  Sätzen,  so  dass  jeder 
Satz  die  gleiche  Bachstabensumme  bildet,  welche  jedesmal  eine  der 
Zahlen  ist,  in  welche  die  genannten  Bücher  der  Heiligen  Schrift  die 
tiefsten  Geheimnisse  versiegelt  sein  lassen  wollen.  Es  kann  natürlich 
hier  auf  die  immerhin  grossen  Scharfsinn  beanspruchende  Spielerei 
nicht  weiter  eingegangen  werden.  Was  wir  darüber  erzählt  haben, 
war  fast  schon  zu  viel,  wenn  es  nicht  aus  mehreren  Gründen  noth- 
wendig  gewesen  wäre.  Erstens  erfahren  wir  dadurch,  dass,  wie  wir 
bei  den  biographischen  Angaben  schon  sagten,  Stifel  mindestens  mit 
den  Dreieckszahlen  schon  bekannt  war,  bevor  er  die  liudolfif'sche  Coss 
studirte.  Zweitens  bewährt  sich  in  der  Wortrechnung  der  gleiche 
auf  das  innere  Wesen  der  Zahl  gerichtete  Geist,  von  welchem  wir 
in  der  Arithmetica  integra,  als  dem  wissenschaftlichen  Hauptwerke 
Stifel's,  anderweitige  Spuren  deutlich  erkennen  durften. 

Wir    sind  damit  in  den   Stand   gesetzt,    ein    endgiltiges  Urtheil 


')  Unter  Dreieckszahlen   versteht   mau    bekanntlich    (Bd.  I.  R.  149)    Zahlen 

.      „         nCn  4-  1) 
von  der  Form    -^      ' — -  ■ 


Deutsclie  Geometer.     Englische  Mathematiker.  449 

über  Stifel  dahin  zusammenzufassen,  dass  wir  in  ihm  einen  nicht 
bloss  Fremdes  wiedergebenden  und  allenfalls  in  Einzelheiten  verbes- 
sernden, sondern  geradezu  einen,  wenn  auch  leider  von  Verschroben- 
heiten nicht  freien,  schöpferischen  mathematischen  Geist  zu  bewun- 
dern haben,  den  ersten  grossen  deutschen  Zahlentheoretiker  der  Zeit 
nach,  einen  der  Ersten  für  alle  Zeiten,  sofern  man  erwägt,  dass  er  so 
gut  wie  ganz  unberührte  Aufgaben  sich  gestellt  hat.  Dadurch  tritt  er 
gewaltig  aus  der  Schaar  der  deutschen  Rechenmeister  und  Cossisten 
der  ersten  Hälfte  des  XVI.  Jahrhunderts  hervor  und  bezeichnet  einen 
Höhepunkt,  der  vorher  nie  erreicht  war,  von  dem  es  nach  Stifel's 
Tode  für  eine  ziemliche  Zeit  nur  ein  Herabsteigen  gab. 


63.  Kapitel. 
Deutsclie  Geometer.     Engliselie  Matliematikei'. 

Wir  gelangen  nun  zu  den  deutschen  Geometer n.  An  einen 
dürftigen  Zustand  des  geometrischen  Denkens  und  Wissens  in  der 
grossen  Menge  der  Gebildeten  haben  uns  einige  Schriftsteller  ge- 
wöhnt, welche  wir  nebenbei  auf  ihre  Thätigkeit  auf  diesem  Gebiete 
zu  prüfen  hatten.  Zwar  haben  wir  Apianus  (S.  404)  als  einen  sinn- 
reichen Erfinder  von  trigonometrisch  anwendbaren  Vorrichtungen, 
Gemma  Frisius  (S.  410)  als  einen  bahnbrechenden  Feldmesser 
kennen  gelernt,  aber  dürftig  war  das  Wissen  Vögelin's,  Köbel's, 
dürftiger  was  wir  in  der  Magaritha  philosophica  fanden,  sogar 
die  Genialität  eines  Stifel  litt  in  der  geometrischen  Frage  der  Würfel- 
verdoppelung kläglich  Schiffbruch  (S.  440).  Keinen  besseren  Ein- 
druck machen  die  Auszüge  aus  einigen  geometrischen  Schriften, 
welche  aufbewahrt  sind.  Die  Geometrie  des  Wolffgang  Schmid^), 
Rechenmeister  zu  Bamberg  von  1535,  die  Visirkunst  des  Burchard 
Mithobius^),  welche  er  1544  unter  dem  Titel  Stereometrie  heraus- 
gab, die  Perspective  des  Hieronymus  Rodler^)  von  1546,  welche 
nur  von  niedrigerem  Standpunkte  wiederholte,  was  wir  noch  in  diesem 
Kapitel  besser  aus  der  Feder  Dürer 's  kennen  lernen  werden,  die 
ganz  ähnliche  Zwecke  verfolgende  Anweisung  in  die  Geometrie  des 
Augustin  HirschvogeP)  scheinen  ein  längeres  Verweilen  bei  ihnen 
nicht  zu  rechtfertigen.  Und  doch  würden  wir  der  deutschen  Geometrie 
das  grösste  Unrecht  zufügen,  wenn  wir  sie  ausschliesslich  nach  diesen 
Persönlichkeiten  beurtheilen  wollten.  Es  gab  denn  doch  auch  Schriften 
und  Schriftsteller,  welche  mit  Ehren  als  Geometer  zu  nennen  sind. 

1)  Kästner  I,  681—683.  -)  Ebenda  I,  678—679.  =')  Ebenda  IT,  9—13. 
*)  Ebenda  11,  13—17. 

Cantor,  Geschichte  der  Mathem.    IL     2.  Aufl.  29 


450 


G3.  Kapitel. 


An  die  Spitze  unserer  Darstellung  setzen  wir  gleichsam  als  Ueber- 
gang  vom  Schlechten  zum  Guten  die  Geometria  deutsch  eines 
unbekannten  Verfassers  aus  unbekannter  Zeit,  welche  in  einem  alten 
Sammelbaude  der  Nürnberger  Stadtbibliothek  aufgefunden  und  neu 
veröffentlicht  worden  ist^).  Mancherlei  Umstände  könnten  zwar  ver- 
anlassen, den  Druck  des  aus  sechs  Blättern  in  Quart  bestehenden 
Schriftchens  als  einer  älteren  Zeit  angehörend  zu  vermuthen,  und 
Fachmänner  haben  das  Jahr  1487  als  obere  Grenze  der  Zeit  angege- 
ben, zu  welcher  die  Geometria  deutsch  erschienen  sein  kann.  Wir  er- 
laubten uns,  bei  der  immerhin  vorhandenen  Ungewissheit,  ob  sie  der 
Zeit  unseres  XII.  oder  unseres  XIII.  Abschnittes  angehört,  sie  erst 
hier  in  Erwähnung  zu  bringen,  wo  ein  innerer  Zusammenhang  mit 
dem  Werke  eines  berühmten  Nürnbergers  unsere  Aufmerksamkeit  um 
so  mehr  zu  fesseln  im  Stande  sein  wird,  je  näher  räumlich  die  Schil- 
derungen beider  Schriften  gerückt  sind.  Die  Geometria  deutsch  lehrt 
neun  geometrische  Aufgaben  lösen,  ohne  bei  irgend  einer  Auflösung 
einen  Beweis  auch  nur  anzudeuten.  Die  erste  Aufgabe  verlangt  die 
Herstellung  eines  rechten  Winkels  (Figur  81).  Zwei  einander  in  a 
schneidende  beliebige  gerade  Linien  hc  und  de  werden  gezogen;  von 
a  aus  wird  die  gleiche  Länge  ah  =  ac  =  ad  auf  der  einen  Geraden 
nach  beiden  Seiten,  auf  der  anderen  einmal  aufgetragen;  Verbindung 


Fig.  81. 


der  Punkte  bd  und  cd  giebt  den  rechten  Winkel.  Die  zweite  Auf- 
gabe lehrt  ein  regelmässiges  Fünfeck  „mit  unverrücktem  Zirkel" 
zeichnen  (Figur  82).  Um  die  Endpunkte  a  "und  b  einer  Strecke 
werden  mit  dieser  Strecke  als  Halbmesser  Kreise  beschrieben,  ein 
dritter  Kreis  um  den  Durchschnittspunkt  d  der  beiden  ersten  Kreise 


')  S.  Günther  hat  diese  Veröffentlichung  in  der  Zeitschr.  Math.  Phys.  XX, 
Hist.-litter.  Abthl.  S.  5 — 7  vollzogen.  Vergl.  dazu  ebenda  M.  Curtze  S.  57  flgg. 
und  Günther  S.  11.3  ügg.     Ferner  Günther,  Unterricht  Mittela.  S.  347 — 354, 


Deutsche  Geometer.     Englische  Mathematiker.  451 

als  Mittelpunkt.  So  bestimmen  sicL,  wenn  auch  noch  die  gemeinsame 
Sehne  cd  der  beiden  ersten  Kreise  gezogen  wurde,  die  Punkte  c,  /",  g, 
welche  dazu  dienen,  mittels  feh,  geh  die  Punkte  /<;  und  li  zu  erhalten. 
Bögen  von  li  und  h  aus  bestimmen  endlich  i ,  und  ahhili  ist  das  ver- 
langte Fünfeck.  Die  dritte  Aufgabe  zeichnet  ein  regelmässiges  Sieben- 
eck „behend"  in  einen  Kreis,  wenn  als  Seite  desselben  eine  Strecke 
gewählt  wird,  welche  mit  der  Hälfte  der  Seite  des  gleichseitigen 
Sehnendreiecks  übereinstimmt.  Die  vierte  Aufgabe  giebt  den  Ueber- 
gang  von  einem  Quadrate  zu  einem  regelmässigen  Achtecke  durch 
Ki-eisbögen,  welche  von  den  vier  Ecken  als  Mittelpunkten  mit  der 
halben  Diagonale  des  Quadrates  als  Halbmesser  beschrieben  werden, 
und  welche  die  Quadratseiten  in  den  Eckpunkten  der  verlangten 
Figur  schneiden.  Die  fünfte  Aufgabe  liefert  die  Länge  einer  Kreis- 
linie  als  S^mal  dem  Durchmesser.     Die   sechste  Aufgabe  lehrt   den 

verlorenen  Mittelpunkt  eines  Kreisbogens  finden  (Figur  83).  Von 
beliebigen  Punkten  c  und  h  auf  dem  Bogen  ah  als  Mittelpunkten 
werden  mit  einem  und  demselben 
Halbmesser  Bögen  geschlagen,  welche 
den  Bogen  ah  in  d  und  g  schnei- 
den, von  d  und  g  aus  noch  zwei 
mit  dem  unveränderten  Halbmesser; 
so  findet  man  die  Punkte  e,  f,  i,  /.-, 
und  die  Yerbindungsgeraden  ef,  ik 
schneiden  einander  in  dem  gesuch- 
ten Punkte  l.  Die  siebente  Aufgabe 
verwandelt  ein  gleichseitiges  Dreieck  in  ein  flächengleiches  Quadrat, 
indem  %  der  Dreiecksseite  als  Quadratseite  gelten.  Die  achte  und  die 
neunte  Aufgabe  verlangen  die  Zeichnung  eines  Stechhelms  und  eines 
Schildes  als  geometrische  Figuren. 

Diese  beiden  letzten  Aufgaben  bieten  zur  Besprechung  keinen 
Anlass.  Kaum  mehr  thun  es  die  1.,  4.,  5.,  6.  Aufgabe,  welche  an 
Euklid,  Heron,  Archimed  und  wieder  Euklid  anschliessen;  höchstens 
wäre  bei  der  1.  Aufgabe  darauf  zu  verweisen,  dass  ihre  Auflösung 
noch  zur  Zeit  Adam  Riese's  nicht  allgemein  bekannt  war  (S.  421). 
Die  3.  Aufgabe  löste  Lionardo  da  Vinci  (S.  298)  genau  so  wie  die 
Geometria  deutsch,  und  wir  haben,  als  wir  es  mit  jenem  Schrift- 
steller zu  thun  hatten,  auf  noch  früheres  Vorkommen  hingewiesen. 
Die  2.  und  7.  Aufgabe  veranlassen  einige  Bemerkungen.  Die  Fünf- 
eckszeichnung der  2.  Aufgabe,  welche  uns  vor  der  Geometria  deutsch 
nirgend  vorgekommen  ist,  wurde  von  einem  Mathematiker,  der 
um    IGOO   schrieb,    von   Christoph    Clavius    der    Rechnung   uuter- 

29* 


452  G3.  Kapitel. 

Würfen  ^).  Er  fand  die  Grösse  der  Winkel  des  entstandenen  aller- 
dings gleichseitigen  Fünfecks  nicht  sämmtlich  zu  108^,  sondern 

a  =  &  =  108"  22;      h==k=  1070  2;      i  =  1090  12'. 
Eine  in  neuerer  Zeit  wiederholte  Rechnung^)  hat  ergeben,   dass  Cla- 
vius  die  Winkel  h  und  Je  um  je  20"  zu  nieder,  den  Winkel  i  um  40" 

zu  hoch  angegeben  hat.  Die  7.  Aufgabe  setzt  (-|^j  als  Fläche  des 
gleichseitigen  Dreiecks  von  der  Seite  a,  welche  eigentlich  ^]/3  be- 
trägt. Demnach  bedeutet  die  Construction,  dass  3  oj  (-Y  angenommen 

ist.  Es  ist  hier  auf  den  ungemein  eigenthümlichen  Zufall,  wenn 
wirklich  nur  Zufall,   aufmerksam    gemacht    worden^),    dass  von   den 

beiden  als  gleichwerthig  angenommenen  Zahlen  die  eine  (— -]    bei  den 

Aegypteru  (Bd.  I,  S.  57),  die  andere  3  bei  nahezu  allen  Völkern  des 
Alterthums  als  die  Verhältnisszahl  des  Kreisumfangs  zu  seinem  Durch- 
messer galt. 

Wir  verlassen  hiermit  die  kleine  Schrift,  welche  bei  dem  vielfach 
Bemerkenswerthen,  welches  dort  auf  so  engem  Räume  erscheint,  bei 
den  Spuren  weit  entlegenen  Wissens,  die  sich  in  ihr  vereinigen,  doch 
ihrer  Form  nach  nicht  wohl  als  von  einem  Mathematiker  für  an- 
gehende Mathematiker  verfasst  betrachtet  werden  kann.  Sie  mag 
vielleicht  für  Zunftangehörige  irgend  eines  Kimstgewerbes  bestimmt 
gewesen  sein  und  würde  dadurch  jenen  Bauvorschriften  näher 
rücken,  welche  seit  dem  XV.  Jahrhunderte  schon  auftraten'*),  aber  so 
wenig  eigentlich  Mathematisches  enthalten,  dass  wir  glaubten  sie 
übergehen  zu  sollen. 

Wir  kommen  zu  einer  bestimmten  Persönlichkeit,  zu  Johannes 
Werner^).  Er  ist  am  14.  Februar  1468  in  Nürnberg  geboren,  wid- 
mete sich  der  Theologie  und  wurde  auch  wirklich  nach  Rückkehr 
von  einem  fünfjährigen  (1493 — 1498)  Aufenthalte  in  Rom  Pfarrer  zu 
St.  Johann  in  seiner  Vaterstadt.  In  diesem  Amte  blieb  er  bis  zu 
seinem  Tode  1528.  Neben  der  Theologie  studirte  Werner  aufs  eifrigste 
Mathematik,    und   ihr    sowie    der   Geographie    gehören    seine    schrift- 


^)  Clavius,  Geometria  practica  Lib.  VIII  prop.  29.  In  der  fünfbändigen 
Folioausgabe  seiner  Werke  (Mainz  1611)  findet  sich  die  Stelle  II,  210.  -)  Günther, 
Die  geometrischen  Näherungsconstructionen  Albrecht  Dürers  (Ansbach  1886) 
S.  6—7.  3)  Günther,  ünten-icht  Mittela.   S.  352  Note.  ^)  Ebenda  S.  335 

bis  346.  —  Oben  rauch,  Geschichte  der  darstellenden  und  projectiven  Geome- 
trie (Brunn  1897)  S.  167—192.  ^)  Doppelmayr,  S.  31—35.  —  Kästner  II, 
52—64.  —  Chasles,  Apergu  hist.  120,  532—533  (deutsch  117,  628—629).  — 
Gerhardt,  Math.  Deutschi.   S.  23— 25.  —  Günther,  ünten-icht  Mittela.  S.  330. 


Deutsche  Geometer.     Englisclie  Mathematiker.  453 

stellerischen  Leistungen  an.  Was  er  1514  an  geographischen  Schriften 
herausgab^),  bleibe  unerörtert  so  weit  es  auf  Kartenzeichnung  sich 
bezieht,  wie  wir  auch  bei  Peter  Apianus,  der  hierin  als  Schüler 
Werner's  betrachtet  werden  muss,  die  gleiche  Enthaltsamkeit  übten. 
Tragen  wir  doch  die  schwersten  Bedenken,  die  ohnedies  so  weit- 
schichtige Geschichte  der  Mathematik  noch  mit  anderen  Zuthaten  zu 
belasten.  Dagegen  müssen  einige  rein  mathematische  Dinge  berührt 
werden,  welche  in  dem  Anhange  zu  einer  Abhandlung  eines  griechi- 
schen Schriftstellers  sich  finden.  Georg  Amirucio  war  in  Trape- 
zunt  geboren  und  ging,  als  seine  Heimath  1461  unter  türkische  Herr- 
schaft gerieth,  selbst  zum  Islam  über,  worauf  er  in  Konstautinopel 
eine  «angesehene  Stellung  einnahm^).  Eine  in  griechischer  Sprache 
von  ihm  verfasste  Abhandlung  über  zur  Geographie  nothwendige 
Vorkenntnisse  kam  handschriftlich  nach  Wien,  wo  sie  von  Stabius 
eingesehen  wurde.  Nun  war  aber  Stabius  mit  Johannes  Werner  näher 
befreundet  und  hat  auf  dessen  Verwendung  hin  jene  Sonnenuhr  in 
der  Lorenzkirche  zu  Nürnberg  angefertigt,  von  der  die  Rede  war,  als 
wir  Stabius  zuerst  nannten.  Er  schlug  seinem  Freunde,  dessen  wissen- 
schaftliche Neigungen  und  Fähigkeiten  ihm  bekannt  waren,  vor,  die 
griechische  Abhandlung  zu  übersetzen,  und  diese  Uebersetzung  er- 
schien eben  1514  unter  dem  Titel  De  Ms  qiiae  geographiae  adesse 
debent  Georgi  Amirucii  opuscidum.  Vorher  war  die  Schrift  so  gut 
wie  nicht  vorhanden,  und  das  ist  der  Grund,  warum  wir  auch  mit  ihr 
in  diesem  Kapitel  uns  beschäftigen,  statt  in  demjenigen,  welches  das 
Ende  des  XV.  Jahrhunderts  als  die  Entstehungszeit  behandelt;  wäre 
doch  ohnehin  in  jenem  Abschnitte  die  Schrift  eines  Byzantiners 
schwer  unterzubringen  gewesen.  Was  wir  ihr  zu  entnehmen  haben, 
ist  die  Auflösung  einer  Aufgabe  der  sphärischen  Trigonometrie^): 
Die  Entfernung  zweier  durch  ihre  Länge  und  Breite  gegebenen  Punkte 
einer  Kugel  in  Graden  des  die  Punkte  verbindenden  Bogens  eines 
Grösstenkreises  zu  bestimmen.  Die  Lösung  schlägt  folgenden  Gang 
ein,  bei  welchem  ausschliesslich  Kenntnisse  der  ebenen  Trigonometrie 
zur  Anwendung  kommen  (Figur  84).  Die  Meridiane  der  beiden  Punkte 
c,  d,  um  die  es  sich  handelt,  werden  bis  zum  Pole  a  verlängert 
und    ae  =  ad,    ah  =  ac    gemacht.     Weil   beide   Punkte   durch   ihre 


')  S.  Günther,  Studien  zur  Geschichte  der  mathematischen  und  physi- 
kalischen Geographie  (Halle  1877—1879)  V.  Heft,  S.  277—332  (Johann  Werner 
aus  Nürnberg  und  seine  Beziehungen  zur  mathematischen  und  physischen  Erd- 
kunde) giebt  über  alle  geogra^ihischen  Schriften  Werner's  ausführliche  Auskunft. 
Werner's  Schriften  selbst,  von  denen  darin  die  Rede  ist,  lagen  uns  in  einem 
Bande    der   Münchener   Bibliothek   vor.  *)   Doppelmayr   S.  33,  Note  y. 

3)  Günther,  Studien  u.  s.  w.  S.  306— 308. 


454  63.  Kapitel. 

Länge  und  Breite  bekannt  sind,  kennt  mau  auch  die  Bögen  de,  hc 
von  Parallelkreisen  und  deren  Halbmesser.  Folglich,  sind  auch  die 
Strecken  de,  hc  als  Sehnen  jener  Bögen  bekannt 

und  !)(=—{})€—  de).  Ueberdies  ist  der  Meri- 
dianbogen hd  und  durch  ihn  seine  Sehne  Ijd  be- 
kannt.    Ferner  berechnet  sich  jetzt 


df  =  ybd^  —  hf,  c  d  =  ydf  +  fc^ 
und  endlich  zu  cd  der  entsprechende  Bogen  des 
Grösstenkreises.  Werner  hat  der  Uebersetzung 
einen  aus  11  Sätzen  bestehen  Anhang  In  Georgii  Amirucii  Constan- 
tinopolitani  opusctdum  loannis  Verneri  Norimhergensis  appendices  nach- 
folgen lassen.  Er  zeigt  sich  in  demselben  als  mit  stereometrischen 
Sätzen,  insbesondere  mit  der  Lehre  vom  Dreikaut  wohl  vertraut. 

Den  VeröfFentlichungen  von  1514  ist  ein  kaiserliches  Privilegium 
vorgedruckt  ^) ,  welches  noch  eine  Reihe  anderer  Schriften  nennt,  die 
Werner  im  Drucke  herauszugeben  beabsichtigte.  Leider  fand  er  dafür 
keinen  Verleger,  und  die  nachweislich  schon  vollendeten  Schriften 
gingen  verloren.  Darunter  befand  sich  eine  offenbar  recht  vollständige 
sphärische  Trigonometrie  in  fünf  Büchern  De  triangidis  per 
maximonim  circulorum  segmenta  constructis  lihri  V,  welche  nach  Wer 
ner's  Tode  an  einen  Nürnbergischen  Mechaniker  Georg  Hartmann, 
von  diesem  1542  an  einen  Mathematiker,  von  welchem  weiter  unten 
die  Rede  sein  wird,  Rhäticus,  gelangte^).  Von  da  an  ist  die  Hand- 
schrift verschollen,  und  es  ist  nur  eine  allerdings  an  und  für  sich 
nicht  unwahrscheinliche  Vermuthung,  dass  Rhäticus  den  Inhalt  der- 
selben seinen  eigenen  Arbeiten  einverleibt  haben  werde.  Mehr  als 
Vermuthung  ist  es  aber,  wenn  ein  anderer  Schriftsteller^)  behauptet, 
in  diesen  Büchern  über  die  Dreiecke  sei  die  Erfindung  der  Prostha- 
phaeresis  enthalten  gewesen.  Der  sprachlich  recht  unglücklich  aus 
TCQÖsd-Bßis ,  Hinzusetzung,  und  acpaL^Eöig ,  Wegnahme,  zusammen- 
gesetzte Ausdruck  lässt  sich  etwa  als  Additions-  und  Subtractions- 
methode  übersetzen  und  bezeichnet  ein  eigenthümliches,  vor  Erfindung 
der  Logarithmen  sehr  brauchbares  Verfahren,  Multiplicationen  durch 
Additionen  oder  Subtractionen  zu  ersetzen.    Grundlage  ist  die  Formel: 

2sin«  •  sin/3  =  cos(a  —  ß)  —  cos(a  -\-  ß). 
Waren  also  beliebige  Zahlen  mit  einander  zu  vervielfachen,  so  konnte 


^)  Ueber  das  Privilegium  vergl.  auch  Doppclmayr  S.  33 — 34  nebst  Note  q 
(S.  32)  und  Note  aa  (S.  33).  ^)  Ebenda  S.  33,  Note  bb   und  S.  34,  Note  cc. 

ä)  Montucla    I,   584  und  617—619.    —    A.   v.   Braunmühl    in    der    BibliotJi. 
mathem.  1896  S.  105—108. 


Deutsche  Geometer.     Englische  Mathematiker.  455 

jede  derselben  nach  vorhergegangener  Division  oder  Mnltiplication 
mittels  einer  mit  Nnllen  versehenen  Einheit  als  Sinus  eines  Winkels 
a  (ß)  iu  einer  mit  genügender  Genauigkeit  berechneten  Sinnstafel 
nachgewiesen  werden.  Dann  waren  aber  aus  der  Tafel  auch  die  zu 
(a  —  ß)  und  zu  (a  -\-  ß)  gehörenden  Cosinusse  zu  entnehmen,  und 
nach  vollzogener  Subtraction  war  nur  noch  die  zum  Beginne  ein- 
geführte Veränderung  der  Zahlen  um  Einheiten  verschiedener  Ord- 
nung und  eine  Halbirung  zu  vollziehen,  um  das  Product  zu  erhalten, 
welches  man  suchte.  Sollte  addirt  werden  und  nicht  subtrahirt,  so 
wählte  man  als  Ausgangspunkt 

2cosa  •  eos/3  =  cos(c<;  —  ß)  -f-  cos(c/  -f-  ß). 

Unter  den  verloren  gegangenen  Schriften  Werner's  war  ferner 
ein  Tradatus  rcsohdorius  qui  prope  pediseqiius  existit  lihris  datorum 
Euclidis  und  ein  Libellns  arifhmeticus  qui  compleditur  quaedam  com- 
nienta  arithnietica.  Die  erstere  Abhandlung  kennzeichnet  sich  selbst 
als  einen  offenbar  fortlaufenden  Commentar  zu  den  euklidischen  Daten, 
während  für  den  Inhalt  der  zweiten  Abhandlung  nicht  der  geringste 
Anhaltspunkt  gegeben  ist,  denn  der  Titel  arithmetischer  Erörterungen 
kann  alles  Mögliche  unter  sich  fassen. 

Endlich  ist  der  Verlust  noch  eines  Werner'schen  Werkes  zu  be- 
dauern. Zu  den  durch  Wohlstand  wie  durch  feine  Geistesbildung 
sich  auszeichnenden  Patriziern  der  Zeit  gehörte  Bilibald  Pirckhei- 
mer^),  welcher  aus  Eichstädt  stammend,  in  Nürnberg  eine  zweite 
Heimath  gefunden  hatte.  In  seinem  Hause  verkehrten  Venatorius, 
Camerarius,  Oslander,  Dürer,  Werner,  kurzum  wer  nur  auf 
humanistische  und  besonders  auf  humanistisch -mathematische  Gelehr- 
samkeit Anspruch  machen  konnte.  In  seiner  den  Freunden  stets  zu- 
gäjaglichen  Büchersammlung  hatte  Pirckheimer  vereinigt,  was  er  nur 
an  alten,  namentlich  an  griechischen  Handschriften  auftreiben  konnte, 
einen  griechischen  Euklid,  einen  griechischen  Archimed,  welchen  Vena- 
torius (S.  406)  herausgeben  durfte  u.  s.  w.  Er  besass  auch  von  Wal- 
ther's  Erben  erhandelt  Regiomontan's  Bücher  De  Trianguhs  und 
Anderes  mehr.  Durch  Pirckheimer's  Vermitteluug  trat  Werner  in 
Beziehung  zu  Sebald  Beheim,  einem  geschickten  Stückgiesser,  dessen 
Sohne  Werner  er  mathematischen  Unterricht  ertheilte.  Er  legte  dem- 
selben eine  eigens  dazu  angefertigte  deutsche  Uebersetzung  der  eukli- 
dischen Elemente  mit  jedem  Satze  beigefügten  Erläuterungen  zu 
Grunde,  für    welche    er  von   Beheim    100  Thaler,    eine    damals    sehr 


^)  Allgemeine  deutsche  Biographie  XXVI,  810 — 817,  Artikel  von  L.  Geigei 
leider  ohne  Benutzung  von  Dopj^elmayr  S.  36 — 44  bearbeitet. 


456  63.  Kapitel. 

grosse  Summe,  erliielt,  welche  Uebersetzung  aber  schon  um  das  Jahr 
1550  trotz  emsigen  Suchens  darnach  nicht  mehr  aufzufinden  war^). 

Wieviel  die  mathematischen  Wissenschaften  durch  das  Verloren- 
gehen aller  dieser  Schriften  einbüssten,  kann  man  etwa  aus  dem  durch 
einen  Druck  von  1522  vor  dem  Untergange  Bewahrten  ermessen. 
Damals  verlegte  der  berühmte  Wiener  Buchhändler  Lucas  Alantsee 
einen  Sammelband  Werner'scher  Schriften,  welcher  unter  den  Augen 
des  Verfassers  in  Nürnberg  gedruckt  wurde.  In  dem  einleitenden 
Briefe  Werner's  an  Alantsee  wird  erzählt^),  dass  dieser  vorher  selbst 
in  Nürnberg  gewesen  war  und  von  Werner's  Arbeiten  in  Begleitung 
eines  Freundes  Einsicht  genommen  hatte.  Der  Begleiter  war  Johan- 
nes Tscher tte,  der  einst  Grammateus  zur  Herausgabe  seines 
Rechenbuchs  (S.  395)  veranlasste.  Werner  rühmt  ihn  hier  als  be- 
sonders geschickt  in  der  Perspective.  Der  Werner  sehe  Sammelband 
gehörte  bald  zu  den  Seltenheiten  des  Buchhandels.  Schon  am  Ende 
des  XVI.  Jahrhunderts  liess  ihn  Tycho  Brahe  vergeblich  in  ganz 
Deutschland  suchen  und  stöberte  ihn  endlich  in  Italien  auf^).  Die 
erste  darin  enthaltene  Schrift  ist  ein  34  Seiten  füllender  Lihellus 
super  viginti  duohus  elementis  conicis.  Werner  versteht  darunter 
22  Sätze  von  den  Kegelschnitten.  Kegel  nennt  er,  gleichwie  Apollo- 
nius  es  schon  that,  diejenige  Oberfläche,  welche  eine  Gerade  erzeugt, 
die  durch  einen  festen  Punkt  gehend  um  den  Umfang  eines  Kreises 
heramgeführt  wird,  ausserhalb  dessen  Ebene  der  betreffende  Punkt 
liegt.  Dagegen  weichen  Werner's  Beweisführungen  wesentlich  von 
denen  des  Apollonius  ab.  Dieser  untersuchte  den  einmal  hervor- 
gebrachten Kegelschnitt  als  ebene  Curve,  und  in  seinen  Figuren  ist 
der  Kegel  nirgend  mit  gezeichnet.  Für  Werner  bleibt  umgekehrt  die 
Parabel  und  die  Hyperbel  (mit  der  Ellipse  beschäftigt  er  sich  nicht) 
immer  Kegelschnitt,  und  an  dem  Kegel,  der  in  nahezu  allen  Figuren 
auftritt,  sind  die  Beweise  geführt,  welche  in  Folge  dieser  Werner  an- 
gehörenden Auffassung  wesentlich  als  sein  Eigenthum  bezeichnet 
werden  müssen.  Der  letzte  von  ihm  bewiesene  Satz  ist  der  von  dem 
Constanten  Rechtecke  der  Strecken,  welche  aus  einem  Hyperbelpunkte 
parallel  zu  den  beiden  Asymptoten  und  jeweil  bis  zum  Durchschnitte 
mit  der  anderen  Asymptote  gezogen  werden,  der  Satz  also,  den  die 
Coordinatengeometrie  in  die  Worte  kleidet,  die  Gleichung  der  auf 
ihre  Asymptoten  als  Coordinatenaxen  bezogenen  Hyperbel  sei  xy  =  h^. 
Die  Asymptoten  heissen  bei  Werner  non  coincidentes.  Die  zunächst 
ungemein    auffallende   Erscheinung,    dass    eine  Abhandlung    von    den 


*)    Doppelmayr    S.  35    und    ebenda    Note    oo.  -)    Kästner  ü,  54. 

"O  Ebenda  11,  52. 


Deutsche  Geometer.     Englische  Mathematiker.  457 

Kegelschuitten  nur  zwei  von  den  drei  überhaupt  vorhandenen  in  Be- 
tracht zieht,  erklärt  sich  durch  den  Zweck  der  Abhandlung.  Werner 
schrieb  sie,  wie  er  selbst  am  Anfange  der  zweiten  in  seiner  Samm- 
lung gedrackten  Schrift  ausspricht,  nur  als  Einleitung  in  diese,  also 
in  den  Conimenfarius  seu  parapJirasfica  enarratio  in  undecini  modos 
couficiendi  eins  proUematis  quod  ciihi  dupUcatio  dicitur.  Georg  Valla 
(S.  345)  war  Besitzer  einer  sehr  alten  Handschrift  des  Archimed^) 
mit  Einschluss  der  Erläuterungen  des  Eutokius  zu  den  Büchern  über 
Kugel  und  Cylinder.  Aus  ihr  übersetzte  er  die  von  Eutokius  auf- 
bewahrten Würfelverdoppelungen  ins  Lateinische,  aber,  meint  Werner 
in  dem  oben  erwähnten  Einleitungsbriefe  an  seinen  Verleger,  Yalla 
versah  diese  Würfelverdoppelungen  mit  einer  harten  und  schäbigen 
Uebersetzung,  dura  scabraque  admodum  traductione,  und  diese  wollte 
Werner  durch  eine  andere  ersetzen,  bei  welcher  er  auch  die  Reihen- 
folge der  mitgetheilten  Würfelverdoppelungen  abgeändert  zu  haben 
scheint.  Eratosthenes,  der  bei  Eutokius  als  vorletzter  erseheint,  wird 
erster,  Plato,  der  erste  bei  Eutokius,  wird  siebenter,  und  auch  andere 
Umstellungen  sind  noch  vorhanden.  Am  auffallendsten  erscheint, 
dass  das  als  zweite  Würfelverdoppelung  mitgetheilte  Verfahren  des 
Philon  von  Byzanz  zugleich  auch  dem  Phyloponus  (sie)  zugeschrieben 
wird,  einem  Schriftsteller  also,  der  später  als  Eutokius  lebte,  und 
dessen  Name  somit  keinenfalls  diesem  entnommen  sein  kann.  In 
allen  diesen  Würfelverdoppelungen  kommen,  so  weit  Kegelschnitte 
angewandt  werden,  nur  Parabel  und  Hyperbel  vor,  und  desshalb 
dürfte  Werner  auf  Untersuchungen  über  die  Ellipse  in  der  einleiten- 
den Abhandlung  verzichtet  haben.  Den  Würfelverdoppeluugen  sind 
12  Zusätze  beigegeben:  einen  Würfel  zu  finden,  der  zu  einem  gege- 
benen Würfel  in  gegebenem  Verhältnisse  stehe,  eben  einen  solchen 
gleich  einem  gegebenen  Parallelopipedon ;  ein  Parallelopipedon  mit 
gegebener  Höhe  einem  gegebenen  Würfel  und  einem  gegebenen 
Parallelopipedon  gleich  herzustellen,  letztere  Aufgabe  auch  unter  der 
Bedingung,  dass  statt  der  Höhe  die  Grundfläche  des  herzustellenden 
Parallelopipedons  gegeben  sei-,  einen  Cylinder  zu  finden  einem  gege- 
benen Cylinder  ähnlich  und  zu  demselben  in  gegebenem  Raumver- 
hältnisse stehend.  Der  siebente  Zusatz  zeigt,  dass  die  Flächen  eines 
Quadrates  und  des  eingeschriebenen  Kreises  sich  wie  14 :  11  ver- 
halten, und  von  diesem  Verhältnisse  machen  drei  weitere  Zusätze  Ge- 
brauch zur  Verwandlung  eines  Parallelopipedons  in  einen  Cylinder 
von  gleicher  Höhe,  eines  Cy linders  in  einen  Würfel.     Der  11.  Zusatz 


^)  Die  Beschreibung  des  Valla'schen  Codex  —  jetzt  Florentiner  Codex  A 
vergl.  Heiberg's  Archimed -Ausgabe  III,  Prolegomena  pag.  VIII. 


458  63.  Kaiiitel. 

behauptet;  die  Sonneustrahlen  kämen  scheinbar  parallel  auf  der  Erde 

an  und  beweist  diese  Behauptung  wie  folgt  (Figur  85).    Werden  von 

dem  Sonneupunkte  a  aus  auf  zwei  Strahlen  lauter  gleiche 

Strecken    ad  ==  ai  =  de  =  ih  u.  s.  w.    aufgetragen,    so 

^  ,       verhalten   sich    die   Verbindungsgeraden    der  bemerkten 

^  \  Pvmkte    di :  eh  :  fg  :hc  u.  s.  w.    wie    1:2:3:4   u.  s.  w. 

hl ^e       In    grosser  Entfernung   von    der   Sonne    verhalten    sich 

/  \       also   zwei  solche  parallele  Verbindungsgerade   zwischen 

^j      3      f    zwei  Strahlen  wie  zwei  grosse   in   der  Zahlenreihe  uu- 

/ ^     mittelbar  auf  einander  folgende  Zahlen,  d.  h.  sie  zeigen 

"^  nur    einen    unmerkbaren    und    fast    nicht    vorhandenen 

Fig.  85. 

Längenunterschied  ^)  und  lassen  die  Strahlen  dadurch 
parallel  erscheinen.  Zu  derselben  Ueberzeugung  könne  mau  erfah- 
rungsmässig  gelangen,  indem  man  von  zwei  nicht  allzuweit  von  ein- 
ander entfernten  Erdpunkten  auf  dem  gleichen  Meridian  gleichzeitig 
die  Sonnenhöhe  messe  und  genau  zu  demselben  Winkel  gelange.  Bei 
grösserer  Entfernung  von  etwa  5000  Schritten  zwischen  den  Beob- 
tungspunkten  finde  man  allerdings  verschiedene  Winkel.  Der  Zweck 
dieses  11.  Zusatzes  wird  im  12.  und  letzten  klar,  wo  hervorgehoben 
ist,  ein  parabolischer  Spiegel  vereinige  die  parallel  auf  ihn  fallenden 
Sonneustrahlen  in  einem  Punkte,  der  sphärische  Spiegel  thue  das 
nicht,  ersterer  zünde  daher  leichter  als  letzterer^).  Nun  folgt  eine 
Abhandlung  über  den  archimedischen  Kugelschuitt  (Bd.  I,  S.  294), 
d.  h.  die  Aufgabe,  die  Kugel  durch  eine  Ebene  derart  zu  schneiden, 
dass  die  Rauminhalte  der  beiden  Kugelabschnitte  in  gegebenem  Ver- 
hältnisse stehen.  Diokles  hat  diese  Aufgabe  mit  Hilfe  von  Hyperbel 
und  Ellipse  (Bd.  I,  S.  338),  Dionysodorus  mit  Hilfe  von  Hyperbel 
und  Parabel  gelöst  (Bd.  I,  S.  383),  beide  Auflösungen  hat  Eutokius 
in  seinen  Erläuterungen  zu  Archimed's  Bücher  über  Kugel  und  Cylin- 
der  aufbewahrt^),  und  diese  standen,  wie  wir  schon  wissen,  Werner 
zu  Gebote.  Die  Auflösung  des  Dionysodorus  giebt  er  aus  dieser 
seiner  Quelle  ausführlich  wieder.  Bezüglich  der  Auflösung  des  Diokles 
begnügt  er  sich  damit,  die  dort  angewandte  Fragestellung  anzuführen, 
ohne  die  eigentlichen  Vorschriften  zur  Anfertigung  der  Zeichnung  zu 
erörtern.  Er  fühlte  sich  hier  oifenbar  dadurch  beengt,  dass  er  in  der 
Kegelschnittabhandlung  die  Behandlung  der  Ellipse  übergangen  hatte. 
Zum  Schlüsse  fügte  er  eine  ihm  eigene  Auflösung  mittels  Hyperbel 
und  Parabel  bei.  Die  beiden  noch  übrigen  Schriften  des  Werner- 
schen  Bandes  sind  astronomischen  Inhaltes. 


')  insensibiliter  ac  petie  nihil  differe  magnitudine  videbuntur.  -)  Ergo 

speculwn    concavum    concavitate    paraholica    fortius '  celeriusque  incendit  speculo 
sphaerico.         ^)  Archimed  (ed.  Heiberg)  III,  180—206. 


Deiitsche  Gcometer.     Englische  Mathematiker.  459 

Was  wir  au  geometrischen  Ergebnissen  aus  Johannes  Werner's 
Schriften  kennen  gelernt  haben,  zeigt,  mag  es  auch  der  Menge  nach 
nicht  sehr  viel  sein ,  diesen  Mathematiker  jedenfalls  in  zwei  Be- 
ziehungen weit  über  die  Zeitgenossen  sich  erhebend:  einmal  dadurch, 
dass  er  bei  gründlicher  Bekanntschaft  mit  der  griechischen  Kegel- 
schnittlehre der  Nothweudigkeit  strenger  geometrischer  Beweisführung 
sich  bewusst  war,  zweitens  dadurch,  dass  er  bei  solcher  Beweisführung 
seine  eigenen  Wege  ging. 

Zu  dem  Pirckheimer'schen  Kreise  (S.  455)  gehörte  auch  Albrecht 
Dürer ^),  ""geboren  in  Nürnberg  1471,  gestorben  ebenda  1528,  in 
weitesten  Kreisen  berühmt  als  der  hervorragendste  deutsche  Künstler 
des  XVI.  Jahrhunderts,  aber  kaum  minder  bedeutend  in  seiner  Eigen- 
schaft als  Schriftsteller,  welche  er  in  drei  Veröffentlichungen  aus  den 
Jahi-eu  1525,  1527,  1528  (die  letztere  erst  nach  dem  Tode  des  Ver- 
fassers ausgegeben)  bewährte.  Die  erste  Schrift  von  1525  führt  den 
Titel  „Underweysung  der  messung  mit  dem  zirckel  und 
richtscheyt  in  Linien  ebnen  vnnd  gantzen  corporen  durch  Albrecht 
Dürer  zusamen  getzogen  vnd  zu  nutz  allen  kunstliobhabenden  mit 
zugehörigen  figuren  in  truck  gebracht"  und  ist  Pirckheimer  zugeeignet. 
In  der  Widmung  meint  Dürer,  es  gebe  recht  viele  im  Uebrigeu  ganz 
geschickte  Maler  in  Deutschland,  welche  Mancherlei  ganz  falsch  zeich- 
neten, auch  ihre  Schüler  es  so  machen  lehrten,  als  wenn  sie  Wohl- 
gefallen an  ihrem  Irrthume  hätten,  während  doch  die  alleinige  Ur- 
sache sei,  dass  sie  die  Kunst  der  Messung  nicht  gelernt  haben,  ohne 
die  kein  rechter  Werkmann  werden  oder  sein  könne.  Dem  Zwecke, 
welcher  Dürer  darnach  vorschwebte,  den  Maler  in  den  Stand  zu  setzen, 
gewisse  Constructionen  nicht  aus  freier  Hand  ohne  Gewähr  der  Rich- 
tigkeit, sondern  nach  geometrischen  wenn  auch  unbewiesenen  Vor- 
schriften auszuführen,  sind  im  Ganzen  89  Seiten  eines  kleinen  Folio- 
formates gewidmet,  deren  Inhalt  nach  vier  Büchern  sich  gliedert. 
Dürer's  Sprache  vermeidet  die  Fremdwörter  und  giebt  höchst  wahr- 
scheinlich selbstgebildete  deutsche  Ausdrücke  für  geometrische  Be- 
griffe. So  nennt  er  die  Kreisfläche  „eyn  runde  Ebne",  das  Quadrat 
„gefierte  Ebne",  aber  auch  die  Kugel,  die  Cylinderfläche  „eyn 
kugelete   Ebne"    und  „eyn  bogen  Ebne".     Der  Funkt    ist    ihm  „eyn 


^)  Ueber  das  Leben  Dürer's  vergl.  M.  Thausing,  Dürer,  Geschichte  seines 
Lebens  und  seiner  Kunst  (Leipzig  1876).  Ueber  Dürer  als  Schriftsteller: 
Kästner  1,684.  —  Chasles,  Apergu  hist.  529— 530  (deutsch  623—625).  — 
Gerhardt,  Math.  Deutschi.  S.  26—27.  —  S.  Günther,  Die  geometrischen 
Näherungsconstructionen  Albrecht  Dürer's  (Ansbach  1886).  —  Derselbe,  Unter- 
richt Mittela.  S.  3.54—370.  —  H.  Staigmüller,  Dürer  als  Mathematiker  (Stutt- 
gart 1891). 


460  63.  Kapitel. 

tupff",  Parallelen  „die  alweg  gleich  weit  von  einander  lauffen"  oder 
auch  „eyn  barlini^'.  Man  sieht  daraus,  wie  sein  Bestreben  das  der 
Deutlichkeit  war,  und  wie  er  das  Werk  gerade  für  junge  Künstler- 
kreise verfasste,  welche  fremder  Sprachen  nicht  mächtig  zu  sein 
pflegten.  Für  sie  giebt  er  gleich  im  ersten  Buche  die  Entstehung 
des  Würfels  durch  eine  Parallelbewegung  einer  quadratischen  Grund- 
fläche, einer  Kugel  durch  Umdrehung  eines  Kreises  um  einen  als  Axe 
benutzten  Durchmesser,  für  sie  die  Vorschriften  zur  Zeichnung  man- 
cherlei krummer  Linien.  Allerdings  sind  diese  Vorschriften,  wie  die 
krummen  Linien  selbst,  sehr  verschiedener  Natur.  Schnecken- 
linien verschiedener  Art,  worunter  Dürer  theils  Spiralen,  theils  die 
perspectivische  Zeichnung  von  Raumschneckenlinien  versteht,  ferner 
Eigestalten  werden  construirt,  aber  nicht  etwa  so,  dass  die  geo- 
metrisch richtige  Figur  entsteht,  sondern  nur  eine  künstlerisch  ge- 
sprochen ähnliche  Gestaltung,  zusammengesetzt  aus  lauter  Kreisbögen 
von  wechselndem  Mittelpunkte  und  Halbmesser.  Bedeutsam  ist  dabei 
freilich  der  Gedanke,  einer  perspectivischen  Zeichnung  eine 
mathematische  Vorschrift  zu  Grunde  zu  legen,  und  dass 
Dürer  für  Deutschland  der  Begründer  einer  ganzen  perspectivischen 
Literatur  wurde,  ist  gewiss  wahr,  wenn  wir  auch  nicht  so  weit  gehen, 
für  ihn  einen  Platz  unter  den  Begründern  der  descriptiven  Geometrie 
beanspruchen  zu  wollen.  Die  Halbmesser  der  Kreisbögen,  aus  welchen 
jene  krummen  Linien  sich  zusammensetzen,  sind  durch  Zahlenverhält- 
nisse unter  einander  verbunden,  welche  theils  genau,  theils  nicht  genau 
erfüllt  werden,  und  im  letzteren  Falle,  der  allerdings  einer  Gesetz- 
mässigkeit darum  nicht  entbehrt,  sollen  ganz  besonders  schöne  Curven 
hervorgebracht  werden.  Die  getheilte  Strecke,  welche  die  Halbmesser 
zu  liefern  hat,  ist  nämlich  (Figur  86)  die  Berührungslinie  an  einen 
in  genau  gleiche  Theile  getheilten  Kreisbogen, 
und  die  allmälig  sich  weiter  von  einander  ent- 
fernenden Theilpuukte  der  Strecke  sind  durch 
Verlängerung  der  Halbmesser  nach  den  Bogen- 
theilpunkten  eingeschnitten.  Dürer  zeichnet 
sodann  die  drei  Kegelschnitte.  Deutsche  Na- 
men für  dieselben  kenne  er  nicht,  wolle  aber 
solche  bilden.  Die  Ellipse,  die  einem  Ei  fast 
ähnele,  wolle  er  Eierlinie  nennen,  die  Para- 
bel Brennlinie,  weil  aus  ihr  Spiegel  gebildet 
werden,  durch  die  man  zünden  könne,  die  Hyperbel  Gabellinie, 
ein  Name,  den  er  nicht  weiter  begründet.  Die  Kegelschnitte  zeichnet 
er  punktweise,  indem  er  auf  einer  Grundlinie  in  gleichen  Abständen 
Senkrechte   errichtet,    deren  Längen    aus    gewissen    Verhältnisszahlen 


Deutsche  Geometer.     Englische  Mathematiker. 


4G1 


sich  ergeben.  Auffallenderweise  scheint  Dürer  zu  glauben,  die  Ellipse 
besitze  nur  die  grosse  Axe  als  Sjmmetrieaxe  ^).  Wieder  eine  andere 
Linie,  deren  Entstehung  nach  einem  geo- 
metrischen Gesetze  sich  ausspricht,  ist  die 
Muschellinie,  wohl  zu  unterscheiden 
von  der  Conchoide  der  Alten  (Bd.  I, 
S.  334)  (Fig.  87).  Auf  einer  Geraden 
AB  steht  eine  zweite  CD  senkrecht. 
Wird  ÄK=  CL  auf  den  beiden  Ge- 
raden aufgetragen,  KL  gezogen  und  KM 
auf  ihr  gleich  AB  genommen,  so  ge- 
hört 31  der  Muschellinie  an,  welche, 
wenn  man  AB  und  CD  als  Coordinaten- 
axen  betrachtet,  einer  Gleichung  4.  Grades  entspricht-).  Die  Spinnen- 
linie entsteht  folgendermassen :  eine  Strecke  AB  dient  als  Halb- 
messer eines  Kreises  um  ^;  aus  jeder  Lage  des  Punktes  B  als  Mittel- 
punkt ist  wieder  ein  Kreis  mit  anderem  Halbmesser  beschrieben  und 
auf  diesem  Kreise  ein  Punkt  C  dadurch  bestimmt,  dass  BC  eine 
ganze  Umdrehung  vollzieht,  während  das  Gleiche  von  der  AB  gilt. 
Mit  anderen  Worten:  Dürer  hat  in  seiner  Spinnenlinie  die  EpicpJdoide 
erfunden.  Er  geht  sogar  noch  weiter  und  vereinigt  mehr  als  nur  zwei 
Zirkelstangeu  mit  einander  in  Gelenken ,  welche  verhältnissmässig 
selbständige  Einzelbewegungen  zulassen,  so  dass  durch  oi-ganische  Be- 
wegung Curven  erzeugt  werden  können,  welche  sehr  zusammengesetz- 
ter Entstehung  sind. 

Das  2.  Buch  kann  als  Buch  der  vorzugsweise  geradlinigen  Con- 
structioueu  den  Curvenzeichnungen  des  1.  Buches  gegenübergestellt 
werden.     In  ihm  finden  wir  geschichtlich  Bekanntes,  aber  iu  wesent- 


gezeichnet  wie  in  der  1.  Aufgabe  der  Geometria  deutsch,  das  regel- 
mässige Fünfeck  und  Siebeneck  wie  in  der  2,  und  3.  Aufgabe  jener 
Schrift.  Deren  6.  Aufgabe  ist  schon  im  ersten  Dürer'schen  Buche 
mit  der  gleichen  Figur  gelöst^).  Die  7.  Aufgabe  kommt  wieder  im 
2.  Buche  vor^).  Darf  man  daraus  den  Schluss  ziehen,  Dürer  habe 
die  Geometria  deutsch,  welche  zu  seinen  Lebzeiten  sehr  wohl  in  Nürn- 
berg vorhanden  sein  konnte,  in  Händen  gehabt  und  benutzt?  Wir 
glauben  kaum,  dass  dieser  Schluss  gerechtfertigt  wäre.  Die  in  der 
4.  Aufgabe  gelehi-te  Achteckzeichnung   hat  nämlich  bei  Dürer  keinen 


1)  Staigmüller  1.  c.  S.  16.  -)  Ebenda  S.  17,  Note  1.  ^)  Figur  23  bei 
Dürer^  welcher  die  einzelnen  Figuren  in  jedem  Buche  mit  besonderen  Num- 
mern versehen  hat.         ^)  Buch  II,  Figur  28. 


462 


63.  Kapitel. 


Eingang  gefunden^),  während  diese  so  einfach  und  sinnreich  ist,  dass 
wir  es  für  unmöglich  halten,  Dürer  habe  sie  vernachlässigt,  wenn  er 
sie  kannte.  Statt  ihrer  ist  bei  Dürer  das  Achteck  zwar  auch  aus  dem 
Quadrate  abgeleitet,  aber  durch  die  Halbirungssenkrechten  vom  Mittel- 
punkte des  Umki-eises  auf  die  Quadratseiten,  welche  den  Umkreis 
selbst  in  den  vier  noch  unbekannten  Eckpunkten  des  Achtecks  treffen, 
und  nach  demselben  Grundgedanken  ist  aus  dem  Achteck  das  Secli- 
zehneck,  aus  dem  Siebeneck  das  Vierzehneck  abgeleitet^).  Für  das 
Fünfeck  ist  ausser  der  Zeichnung  mit  unveränderter  Zirkelöffnung 
auch  eine  genaue  Zeichnung  gelehrt^),  welche  bereits  im  9.  Kapitel 
des  1.  Buches  des  Almagestes  vorkommt 
(Figur  88).  Zwei  zu  einander  senkrechte 
Durchmesser  werden  gezeichnet.  Auf  dem 
einen  hc  wii-d  ac  in  e  halbirt  und  von  e 
als  Mittelpunkt  aus  die  Entfernung  bis  zum 
Endpunkte  d  des  anderen  Durchmessers  in 
den  Zirkel  genommen  und  ein  Bogen  ge- 
schlagen, der  den  ersten  Durchmesser  wieder 
in  /■  schneidet.  Alsdann  ist  df  die  Fünf- 
ecksseite, af  die  Zehnecksseite  des  gege- 
benen Kreises,  was  durch  beigesetzte  Zahlen 
in  der  Figur  angedeutet  wird.  Geht  von  einem  und  demselben 
Peripheriepuukte   eine  Dreiecksseite    und    eine  Fünfecksseite   aus,    so 

112 

stehen  deren  Endpunkte  um  — .  =  ^  Umkreis  von  einander  ab. 

Die  Halbirung  dieses  Bogens  bringt  daher  die  Fünfzehnecksseite  als 
Sehne  hervor,  und  so  verfährt  Dürer  wirklich'^).  Höchst  eigenthüm- 
lich  ist  Dürers  Neuneckszeichnung ^).  Unter  Fischblasen  verstand 
die  Oruamentzeichnung  ein  Zweieck  von  Kreis- 
bögen, welche  mit  gleichem  Halbmesser  be- 
schrieben wurden.  Werden  nun  (Fig.  89)  in 
einen  Kreis  mit  dem  Halbmesser  des  Kreises 
selbst  drei  Fischblasen  ab,  ac,  ad  gezeichnet, 
welche  aus  Theilen  von  drei  Kreisen  sich  zu- 
sammensetzen, wird  der  Durchmesser  ah  der 
einen  Fischblase  in  den  Punkten  1  und  2  ge- 
drittheilt, mit  dem  Halbmesser  «2  ein  kleiner 
Kreis  um  a  beschrieben,  und  werden  dessen 
Durchschnittspunkte  c  und  f  mit  der  Fischblase  geradlinig  verbunden, 


')  Auf  Buch  n,  Figur  27  dafür  Linzuweisen  scheint  uns  unstatthaft. 
^)  Buch  II,  Figur  12  das  Vierzehneclc,  Figur  14  das  Achteck  und  Sechzehneck. 
3)  Buch  II,  Figur  1',.         ")  Buch  II,  Figur  17.         ^)  Buch  II,  Figur  18. 


Deutsche  Geometer.     Englische  Mathematiker.  463 

SO  soll  ef  die  Neunecksseite  des  kleinen  Kreises  sein.  Bogen  ef 
müsste  demnach  40*^  sein  und  weicht  etwa  um   .;     davon  ab  ^).     Diese 

Construction  ist  noch  nirgend  sonst  als  bei  Dürer  aufgefunden,  und 
sie  ist  insbesondere  durchaus  verschieden  von  derjenigen  des  Lio- 
uardo  da  Vinci,  sowie  von  derjenigen,  welche  aus  dessen  Achtzehn- 
eckconstruction  (S.  300)   sich  herleiten  liesse.     Wenn  Dürer  des  wei- 

9  1 

teren  —  des  Kreisdurchmessers  als  Elfecksseite,  —  desselben  als  Drei- 

zehnecksseite  benutzt  ^),  so  ist  die  erstere  Vorschrift  eine  sehr  genaue, 
da   der   so   gewonnene   Kreisbogen  nur  um  3'  '2^"  zu   klein   ist.     Bei 

dem  Dreizehneck  dagegen  wird  der  Bogen  um  mehr  als  1-    zu  gross. 

Unmittelbar  an  die  letzterwähnten  Figuren  schliesst  sich  eine  Drei- 
theilung  eines  beliebigen  Kreisbogens,  Dürer  sagt:  „ytlich  trum  eines 
zirckels",  welche  rechnungsmässig  geprüft^)  bei  nicht  allzugrossen 
Bögen  eine  sehr  brauchbare 
Regel  giebt  (Figur  90).  Man 
theilt  die  Sehne  ah  in  drei 
gleiche  Theile  ac  =  cd  ^=  iV) 
und  errichtet  in  c  und  (7  die 
Senkrechten  cg,  dh.  Dann  be- 
schreibt man  aus  den  Mittelpunkten  a  und  h  die  Kreisbögen  ce,  gi 
und  df,  lih.  Dann  ist,  behauptet  Dürer,  ryg.  ae  =  hf  =  gJij  und  nur 
die  Bogenstückchen  eg,  fh  sind  von  der  Theilung  noch  ausgeschlossen. 
Man  begreift  sie  ein,  indem  man  ci  und  dJc  drittheilt  und  vom  zweiten 
Theilpunkte  von  c  und  d  aus  gezählt  neue  Kreisbögen  wieder  um  a 
und  h  als  Mittelpunkte  schlägt,  welche  in  l  und  m  eintreffen,  alsdann 
sei  arc.  al  ^=  Im  =  mh.  Von  den  Theilungen  des  ganzen  Kreisum- 
fanges,  welche  bei  der  Herstellung  der  regelmässigen  Vielecke  nöthig 
waren,  von  der  Dreitheilung  eines  Kreisbogens  wendet  sich  Dürer 
zur  Anfertigung  von  anmuthigen  Mustern  von  Mosaikböden,  gebildet 
aus  regelmässigen  Vielecken  und  aus  Kreisbögen.  Er  weist  dabei 
darauf  hin,  dass  regelmässige  Dreiecke,  Vierecke,  Sechsecke,  aber  auch 
die  Zusammensetzung  zweier  regelmässiger  Dreiecke  zu  Rauten  aus- 
reichen, die  Ebene  zu  erfüllen,  während  andere  Gestalten  dazu  nöthigen, 
zur  Erfüllung  der  Ebene  Figuren  mehrerer  Gattungen  gleichzeitig 
anzuwenden.  Am  Schlüsse  des  zweiten  Buches  erörtert  er  noch 
die  Umwandlung  eines   gleichseitigen  Dreiecks   in    ein  flächengleiches 


^)    Günther,     Näherungsconstructionen     Dürer's     S.  10 — 11,    berechnet 
arc.  ef=  39»  39'  5^".  ^)  Buch  II,  Figur  19.    —    Günther  1.  c.    S.  12—13. 

")  Kästner,    Geometrische   Abhandhmgen.     Erste    Sammhmg    (Göttingen  1790) 
S,  241—248.    —   Günther  1.  c.  S.  13—18.  —   Staigmüller  1.  c.  S.  26,  Note  1. 


464  63.  Kapitel. 

Quadrat,  eines  beliebigen  Dreiecks  in  ein  flächengleiches  Rechteck, 
eines  Quadrates  in  einen  flächengleichen  Kreis  ^).  Jede  dieser  Auf- 
gaben giebt  uns  zu  einer  Bemerkung  Anlass.  Die  erste  Umwand- 
lung ist  die  der  7.  Aufgabe  der  Geometria  deutsch  und  vorhin  bereits 
erwähnt  worden.  Wo  zweitens  ein  beliebiges  Dreieck  in  ein  Recht- 
eck verwandelt  werden  soll  (Figur  91),  zieht  Dürer  eine  Höhe  des 
Dreiecks,  welche  immer  der  Ai-t  gewählt  wird, 
dass  sie  in  das  Innere  des  Dreiecks  fällt,  und 
bildet  aus  ihrer  Hälfte  und  der  Grundlinie  das 
gesuchte  Rechteck,  indem  die  oberen  dreieckigen 
Stückchen,  welche  nach  Ziehung  einer  Parallelen 
Fig.  91.  zur  Grundlinie  durch  die  Mitte  der  Höhe  her- 

vortreten, nach  unten  umgeklappt  werden.  Die 
gleiche  Zeichnung  tritt  bei  indischen  Geometern  auf  (Bd.  I,  S.  G14), 
ohne  dass  wir  durch  diesen  Hinweis  die  Yermuthung  einer  Ueber- 
tragung  hervorzunifen  beabsichtigen.  Gerade  diese  Construction  liegt 
so  nahe,  dass  sie  leicht  mehrfach  hat  erfunden  werden  können. 
Weit  näher  scheint  uns  ein  anderer  Zusammenhang  zu  liegen.  Jener 
Wiener  Rathsherr  Johannes  Tscher tte,  der  Freund  des  Gram- 
mateus,  der  Besucher  Werner's  in  Nürnberg,  war  auch  zu  Dürer  in 
freundschaftliche  Beziehungen  getreten  und  ein  Brief  von  Tschertte 
an  Dürer  wird  im  Britischen  Museum  aufbewahrt").  In  diesem  Briefe 
ist  ein  ungleichseitiges  Dreieck  durch  eine  Figur  in  ein  Rechteck 
gleichen  Flächeninhaltes  umgewandelt,  und  wenn  auch  der  Veröif ent- 
licher die  Figur  mitzutheilen  unterlassen  hat,  so  liegt  die  Muthmassung 
doch  nahe,  es  sei  vielleicht  die  in  Düi-er's  zweitem  Buche  benutzte 
gewesen,  oder  Dürer,  welcher  Tschertte  die  in  dem  Briefe  besprochene 
Aufgabe  gestellt  hatte,  habe  gerade  damals  zu  seinem  zweiten  Buche 
das  Material  vorbereitet.  Drittens,  die  Circulatur  des  Quadrates  be- 
ruht auf  der  Annahme  :t  =  3— ,  von  welcher  Vitruvius  ^)  (Bd.  I, 
S.  508),  von  welcher  Inder  (Bd.  I,  S.  602)  Gebrauch  machten.  So 
bewährt  sich  unser  Ausspruch,  dass  im  zweiten  Buche  geschichtlich 
Bekanntes  auftrete,  in  ziemlich  grossem  Maasse.  Aber  wir  setzten 
hinzu,  das  geschichtlich  Bekannte  erscheine  hier  in  wesentlich  neuer 
Auffassung.  Wie  ist  das  gemeint?  Nirgend,  wo  uns  auch  Näherungs- 
constructionen  schwieriger  Figuren  früher  begegneten,  war  mit  einem 
Worte  darauf  aufmerksam  gemacht,  dass  eine  geometrische  Genauig- 
keit nicht  erreicht  werde.    Offenbar  wähnte  man  richtige  Vorschriften 

1)  Buch  n,  Fig.  28,  32,  34.  -)  Staigmüller  1.  c.  S.  51,  Note  2  mit  Be- 
rufung auf  Jahrbücher  für  Kunstwissenschaft  I,  21.  ^  Ebenda  1.  c.  S.  29, 
Note  1  hält  die  Stelle  bei  Vitru%-ius  für  fehlerhaft.    Dieser  habe  ;r  =  3  gerechnet. 


Deutsche  Geoineter.     Englische  Mathematiker.  465 

zu  besitzen.  Lionardo  da  Vinci  sagte  es  sogar  ausdrücklich  bei  der 
Siebenecksconstruction.  Albrecht  Dürer  ist  der  erste,  welcher 
die  Näheruugsconstructiouen  mit  vollem  Bewusstsein  aus- 
geführt hat.  Beim  Siebeneck  spricht  er  von  einem  „geraeinen 
weg  den  man  von  behendigkeyt  wegen  in  der  arbeyt  braucht".  Beim 
Elfeck  heisst  es  „also  das  es  sich  Mechanice  aber  nit  demonstrative 
findet",  beim  Dreizehneck  „ist  aber  auch  mechanice  und  nit  demon- 
strative". Bei  der  Bogendreitheilung  lautet  Dürer's  Ausspruch:  „wer 
es  will  genauer  haben,  der  such  es  demonstrative".  Die  Verwandlung 
des  gleichseitigen  Dreiecks  in  ein  Quadrat  schränkt  er  ein  durch  die 
Worte:  „Man  mag  auch  ein  Dryangel  vnd  ein  quadrat  von  der  be- 
hendigkeit  wegen  also  gegen  eynander  vergleychen".  Bei  der  Cir- 
culatur  des  Quadrates  endlich  ist  vollends  der  Satz  vorausgeschickt: 
„Solches  ist  noch  nit  von  den  gelerten  demonstrirt.  Mechanice  aber 
das  ist  beyleyfig  also  das  es  im  werck  nit  oder  gar  ein  kleyns  feit 
mag  dise  vergleychnüss  also  gemacht  werden".  Beim  Fünfeck,  her- 
gestellt unter  Anwendung  einer  einzigen  Zirkelöifnung,  und  beim 
Neuneck  fehlen  ähnliche  Bemerkungen.  Ob  Dürer  diese  beiden  Con- 
structionen  für  genau  hielt?  Mag  er  in  diesen  Irrthum  verfallen 
sein,  den  wir  für  möglich,  aber  keinenfalls  für  erwiesen  halten,  wie 
vielen  Gelehrten  ist  nicht  das  Gleiche  begegnet,  dass  sie  gerade  inner- 
halb ihres  eigenen  Gebietes  einen  Fehlschritt  thaten!  Dass  er  in 
anderen  Fällen  so  deutlich  zwischen  Richtigem  und  nur  in  der  Aus- 
übung Nützlichem  unterschied,  stellt  ihn  auf  eine  wissenschaftliche 
Höhe,  welche  kaum  ein  zweiter  Geometer  des  XVI.  Jahrhunderts  er- 
reicht hat.  Dieses  Urtheil  wird,  meinen  wir,  noch  dadurch  bestärkt, 
dass  Dürer  bei  vielen  Constructionen  Althergebrachtem  sich  gegen- 
über befand,  bei  welchem  einen  wissenschaftlichen  Zweifel  zu  hegen 
weitaus  nicht  so  nahe  lag,  als  bei  Selbsterdachtem  oder  durch  Ver- 
suche Ermitteltem.  Wir  haben  weiter  oben  von  der  Hand  gewiesen, 
dass  Dürer  der  Geometria  deutsch  sich  bedient  haben  könne.  Unsere 
damalige  Begründung  erscheint  uns  auch  jetzt  vollständig  zutreffend, 
aber  die  Uebereinstimmung  mehrerer  Verfahren  ist  doch  nicht  zu 
verkennen.  Da  sind  wir  wohl  genöthigt  für  beide,  für  Dürer  wie 
für  den  Verfasser  der  Geometria  deutsch,  eine  und  dieselbe  Quelle 
anzunehmen,  anzunehmen  (S.  452)  dass  hier  Vorschriften  vorliegen, 
welche  im  Baugewerbe  üblich  waren,  und  deren  Ursprung  nachzu- 
forschen um  so  schwieriger  ist,  als  gerade  die  sogenannte  Bauhütte 
es  immer  geliebt  hat,  sich  recht  geheimnissvoll  zu  gebahren.  Sogar 
das  Werk  des  Vitruvius,  wenn  es  auch  bewusst  oder  unbewusst 
noch  immer  den  grössten  Einfluss  in  der  Baukunst  übte,  gelangte  erst 
mehr    als    zwanzig    Jahre    später    als    Dürer's    Unterweysung    in    die 

Cantor,  Geschichte  der  Matheni.    II.    2.  Aufl.  ÜO 


466  63-  Kapitel. 

OefiPentliclikeit  der  des  Lateinischen  unkundigen  deutsehen  Baumeister. 
Wieder  ein  Nürnberger  war  es:  Walter  Rivius^),  Arzt  und  Mathe- 
matiker, der  1548  Vitruv  in  deutscher  Sprache  herausgab. 

Das  3.  Buch  bietet  geringen  Aiilass  dabei  zu  verweilen.  Es 
handelt  von  mancherlei  Körpern,  von  aus  Vielflächnern  zusammen- 
gesetzten Denkmälern,  von  Höhenmessungen  mit  Hilfe  eines  recht- 
winkligen Dreiecks  mit  in  einem  Gelenke  beweglicher  Hypotenuse^), 
von  der  Herstellung  von  Sonnenuhren,  endlich  von  der  Anfertigung 
eines  Alphabetes  aus  lauter  geometrischen  Bestandtheilen.  Eine  solche 
geometrische  Schönschrift,  wie  man  die  Sache  ganz  kennzeichnend 
genannt  hat,  ist  uns  schon  (S.  344)  bei  Paciuolo  begegnet. 

Das  4.  Buch  beginnt  mit  einem,  so  viel  wir  wissen,  ganz  neuen 
Gegenstande,  für  welchen  Dürer  hiernach  das  Erfinderrecht  zukommt. 
Regelmässige  und  halbregelmässige  Vielflächner  im  Modelle  herzustellen 
war  bekannt;  aber  war  es  möglich  ein  zusammenhängendes 
Netz  für  solche  Körper  zu  zeichnen,  welches  zusammengesetzt 
dieselben  entstehen  Hess?  Dürer  beantwortete  die  Frage  durch  die 
That.  Er  zeichnete  in  dem  4.  Buche  die  Netze  der  fünf  regelmässigen 
Vielflächner,  sodann  diejenigen  solcher  Körper,  deren  Grenzflächen 
folgende  sind:  1)  4  Sechsecke,  4  Dreiecke-,  2)  6  Achtecke,  8  Drei- 
ecke; 3)  6  Viereke,  8  Dreiecke;  4)  8  Sechsecke,  6  Vierecke;  5)  18  Vier- 
ecke, 8  Dreiecke;  6)  6  Vierecke,  32  Dreiecke;  7)  6  Achtecke,  8  Sechs- 
ecke, 12  Vierecke;  8)  6  Zwölfecke,  32  Dreiecke;  9)  6  Vierecke, 
12  Dreiecke.  Ueberall  sind  die  Grenzflächen  regelmässig  gedacht, 
nur  beim  8)  Körper  sind  24  unter  den  32  Dreiecken  nicht  gleich- 
seitig sondern  nur  gleichschenklig,  oder  wie  Dürer  es  ausspricht,  „sie 
haben  aber  nit  all  gleych  seyten".  Nun  folgt  die  Würfelverdoppelung 
oder  allgemeiner  Würfelvervielfachung,  indem  Dürer  ausdrücklich 
hervorhebt,  auch  bei  letzterer  komme  es  nur  auf  das  Einschalten 
zweier  geometrischer  Mittel  an.  Dürer  lehrt  zwei  Auflösungen,  die 
Platonische  und  die  Heronische  (Bd.  I,  S.  214  und  350),  ohne  freilich 
deren  Erfinder  zu  nennen.  Woher  er  die  Methoden  hatte,  ist  nicht 
schwierig  zu  errathen:  Werner  wird  sie  ihm  mitgetheilt  haben.  Ge- 
lesen hat  aber  Dürer  Werner's  Buch  nicht,  da  ihm  die  Kenntniss 
der  lateinischen  Sprache  abging.  Wieder  ein  anderer  Gegenstand 
folgt,  die  auf  einen  Würfel  angewandte  Lehre  von  der  Beleuch- 
tung und  vom  Schatten  werfen  durch  mehrfache  Zeichnungen 
erläutert,  bei  welchen  der  Stand  der  Sonne  stets  so  gewählt  ist,  dass 
sie  mit  dem  sehenden  Auge  auf  der  gleichen  Seite  des  Würfels  sich 


*)  D  op  pe  Im  ay  r    an    verschiedenen  Stellen.  -)  Buch  HI,  Figur  19. 

Der  erklärende  Text  findet  sich  erst  drei  Seiten  später  gegenüber  von  Figur  21. 


Deutsche  Geometer.     Englische  Mathematiker.  467 

befindet.     Dazwischen    ist   kurz    ausgesprochen   und   an  einer  schema- 
tischen Zeichnung^)  (Figur  92)   zur  Anschauung  gebracht,   dass  dem 


Fig.  92. 


Auge  in  einer  Grösse  erscheine,  was  zwischen  denselben 
Grenzstrahlen  enthalten  sei,  „es  sey  nahent  oder  fern,  aufrecht 
vber  ort  oder  krum". 

Am  Schlüsse  des  Werkes  erscheinen  zwei  Holzschnitte  von  geo- 
metrisch-künstlerischer Bedeutung.  Alberti  hatte  (S.  293)  eines 
Schleiers  zur  Anfertigung  perspectivisch  richtiger  Abbildungen  sich 
bedient.  Dürer  veränderte  Alberti's  Erfindung  einigermassen ,  und 
seine  Vorrichtungen  sind  in  den  beiden  Holzschnitten  zur  Anschauung 
gebracht.  Ein  Rahmen  ist  mit  einer  nach  aussen  sich  öffnenden  in- 
wendig papierüberzogenen  Thüre  verschlossen.  An  den  vier  Seiten 
des  Rahmens  und  mit  denselben  gleichlaufend  befinden  sich  Stäbchen, 
längs  deren  ein  oben  und  unten  befestigter  Verticalfaden  und  ein 
rechts  und  links  befindlicher  Horizontalfaden  verschiebbar  sind.  Der 
Zeichner  sitzt  hinter  dem  Rahmen,  und  hinter  dem  Zeichner  ist  an 
einem  Wandhaken  ein  langer  Faden  befestigt.  Bei  geöffneter  Appa- 
ratthüre  wird  jener  Faden  bis  zu  einem  abzubildenden  Punkte  ge- 
spannt und  der  Ort,  wo  der  Faden  durch  den  Rahmen  geht,  durch 
Kreuzung  der  beiden  verschiebbaren  Fäden  bemerklich  gemacht.  Nun 
wird  der  lange  Faden  wieder  zurückgezogen,  der  Apparat  geschlossen 
und  ein  Punkt  auf  das  Thürinnere  bei  der  soeben  bewerkstelligten 
Fadenkreuzung  gemalt.  Beliebig  viele  Punkte  des  abzubildenden 
Gegenstandes  können  so  nach  einander  erhalten  werden  und  geben 
jedenfalls  ein  richtiges  Bild,  dessen  Augenpunkt  der  Wandhaken  ist, 
von  welchem  der  lange  Faden  ausgeht.  Ein  zweiter  Vorschlag  Dürer's, 
der  in  dem  zweiten  Holzschnitte  verdeutlicht  ist,  benutzt  statt  des 
Rahmens  eine  Glastafel,  auf  welcher  mit  einem  Stifte  die  Umrisse 
des  abzubildenden  Gegenstandes  festgehalten  werden.  Wir  haben 
behauptet,  Dürer  habe  damit  nur  Alberti's  Erfindung  abgeändert^  und 
darin  liegt  zugleich  die  weitere  Behauptung,  er  habe  sie  gekannt. 
Daran  kann  in  der  That  nicht  gezweifelt  werden.  Dürer  war  in  den 
Jahren  1505  bis  1507  in  Venedig,  um  den  staatlichen  Schutz  seines 
Monogramms,  d.  h.   Schutz  gegen  Nachdruck  seiner  Holzschnitte   zu 


1)  Buch  IV,  Figur  55. 


468  63.  Kapitel. 

erwirken.  In  einem  Briefe  aus  Venedig  hat  nun  Dürer  von  einem 
Abstecher  erzählt,  welchen  er  Ende  1506  nach  Bologna  machte,  um 
daselbst  Unterricht  in  der  Perspective  zu  nehmen.  Der  Lehrer  war 
natürlich  ein  Italiener,  und  dass  ein  italienischer  Lehrer  seinen  Schüler 
mit  dem  seit  70  Jahren  in  Uebung  befindlichen  Verfahren  Alberti's 
bekannt  gemacht  haben  wird,  ist  gleichfalls  nicht  mehr  als  natürlich. 
Ungewissheit  herrscht  nur  über  einen  Punkt:  wer  wohl  Dürer's  Lehrer 
gewesen  sein  mag?  Man  hat  an  Lucas  Paciuolo  gedacht,  aber  dieser 
lebte  schon  seit  1503  in  Florenz  und  nicht  mehr  in  Bologna^). 
Scipio  Ferreus  dagegen  lehrte  von  1496  bis  1526  ununterbrochen 
in  Bologna.  Haben  wir  anzunehmen,  dass  Dürer  seinen  Unterricht 
genoss,  dass  er  vielleicht  auch  von  ihm  in  die  Kunst  Constructionen 
mit  nur  einer  Zirkelöffnung  auszuführen  eingeweiht  wurde?  Es  ist 
fruchtlos  solchen  Vermuthungen  nachzujagen,  die  man  weder  beweisen 
noch  widerlegen  kann. 

Dürer's  zweite  Schrift  von  1527  heisst  Etliche  vnderricht  zu 
befestigung  der  Stett,  Schloss  und  Flecken.  Sie  ist  gradezu 
bahnbrechend  in  der  Geschichte  des  Festungskriegs  geworden,  indem 
in  ihr  zum  ersten  Male  die  grossen  Grundgedanken  ausgesprochen 
sind,  welche  als  unerlässlieh  bei  der  Anlage  und  Vertheidigung  eines 
befestigten  Platzes  in  Geltung  blieben,  so  vielfältige  Abänderungen 
im  Einzelnen  die  Fortschritte  der  Bewaffnung  hervorbrachten.  Die 
Geschichte  der  Mathematik  hat  mit  dem  Werke  nichts  zu  thun. 

Nicht  viel  länger  verweilt  dieselbe  bei  Dürer's  vier  Büchern  Von 
menschlicher  Proportion  von  1528.  Dürer  überwachte  nur  den 
Druck  des  1.  Buches,  die  drei  folgenden  lagen  zwar  bei  seinem  Tode 
handschriftlich  vor,  allein  man  hat  immerhin  damit  zu  rechnen,  dass 
der  Verfasser  selbst  während  des  Druckes  starb.  Dieses  Werk^)  ent- 
spricht gleichfalls  einer  Vorarbeit  Alberti's,  wie  wir  es  für  die  per- 
spectivischen  Vorrichtungen  behauptet  haben,  und  die  Wahrschein- 
lichkeit ist  nicht  von  der  Hand  zu  weisen,  dass  Dürer,  nachdem  er 
Alberti  einmal  als  zuverlässigen  Führer  erkannt  hatte,  auch  ein  zweites 
Mal  sich  gern  seiner  Leitung  anvertraute.  Die  Anlehnung  ist  be- 
sonders darin  ersichtlich,  dass  Dürer  gleich  Alberti  die  ganze  Körper- 
länge des  Menschen  in  600  Theile  zerlegt  hat,  von  welchen  eine  ge- 
wisse Anzahl  auf  jeden  Körperabschnitt  kommt.  Daneben  kennt  er 
allerdings  auch  andere  Verhältnisszahlen,  z.  B.  dass  der  Mensch  7 
Kopflängen  gross  sei  u.  s.  w. 

Waren  Werner  und  Dürer  unbedingt  die  für  unsere  Betrachtung 


^)  Staigmüller,  Lucas  Paciuolo  in  Zeitschr.  Math.  Phys.  XXXIV,  Histor.- 
literar.  Abthlg.  S.  94  Note  5.         -)  Kästner  I,  694—697. 


Deutsche  Geometer.     Eii.:^lische  Mathematiker.  469 

hervorragendsten  Persönlichkeiten  des  Pirckheimer'schen  Kreises,  so 
sind  doch  zwei  andere  Männer  noch  in  aller  Kürze  zu  erwähnen: 
Johannes  Schöner  und  Andreas  Oslander.  Ersterer,  auch 
Schoner^)  genannt,  ist  1477  in  Karlstadt  in  Franken  geboren,  1547 
in  Nürnberg  gestorben.  Er  war  Priester  an  der  St.  Jacobskirche  in 
Bamberg,  als  er  1526  zur  Stelle  des  Professors  der  Mathematik  an 
dem  damals  unter  Mitwirkung  von  Melanchthon  gegründeten  Gym- 
nasium in  Nürnberg  berufen  wurde.  Geographische  und  namentlich 
astrologische  Schriften  machten  ihn  so  berühmt,  dass  etwa  20  Jahre 
nach  seinem  Tode  ein  dichterischer  Lobredner  des  gleichfalls  vor 
Kurzem  verstorbenen  Simon  Jacob  die  drei  berühmten  Franken 
Regiomontan,  Schoner,  Jacob  in  Vergleich  bringen  durfte^),  welche 
ihren  Heimathsorten  Königsberg,  Karlstadt,  Coburg  zu  gleichem  Ruhme 
gereichten.  Von  diesen  Uebertreibungen  haben  wir  uns  selbstver- 
ständlich fern  zu  halten,  doch  erkennt  die  Geschichte  der  Mathematik 
es  dankbar  an,  dass  Schöner  mehrere  Schriften  aus  Regiomontan's 
Nachlasse,  welche  ihm  zu  diesem  Zwecke  übergeben  wurden,  zum 
Druck  beförderte,  insbesondere  das  Werk  De  triangulis  sammt  der 
beigefügten  Gegenschrift  gegen  die  Kreisquadraturen  des  Nicolaus 
von  Cusa.  Auch  Regiomontan's  Schrift  über  die  Kometen,  dessen 
Siuustafeln,  dessen  Erläuterungen  zum  Abnagest  hat  Schöner  heraus- 
gegeben, dessgleichen  Peurbach's  Büchlein  De  quadrato  geometrico 
und  nicht  minder  den  Algorithmus  demonstratus ,  der  sich  in  Regio- 
montan's Nachlasse  vorfand,  da  jener  ihn  aus  einer  Wiener  Hand- 
schrift abgeschrieben  hatte.  Das  Lob  dürfen  wir  also  Schöner  un- 
bedingt zuerkennen,  dass  er  in  der  Wahl  der  Schriften,  welche  er 
der  Oeffentlichkeit  übergab,  sehr  glücklich  war.  An  der  Drucklegung 
eines  letzten  Werkes  betheiligte  er  sich  gemeinschaftlich  mit  Andreas 
Oslander^)  (1498 — 1552).  Dieser  streitbare  Prediger  der  neuen 
Glaubenslehre  ist  vorzugsweise  Reformator  auf  kirchlichem  Gebiete 
gewesen,  als  solcher  in  zahlreiche  Zwistigkeiten  verwickelt,  wo  immer 
er  verweilte,  in  Nürnberg  ebensowohl  als  später  in  Königsberg  am 
Hofe  des  Herzogs  Albrecht.  Dort  zählte  er  z.  B.  Michael  Stifel 
unter  seine  Gegner.  Wir  haben  seiner  hier  in  einer  ganz  anderen 
Eigenschaft  zu  gedenken.  Gemeinsam  mit  Schöner  leitete  er  den 
1543  in  Nürnberg  vollendeten  Druck  des  koppernikanischen 
Werkes  über  die  Kreisbewegungen  der  Weltkörper,  und 
Oslander  allein  fügte   dem  ursprünglichen  Titel  De  revolutionibus  die 

^)  Doppelmayr  S.  45— .50  und  S.  80  Note  tt.  — G.  A.  Will,  Nürnbergisches 
Gelehrtenlexicon  III,  559—561  (Nürnberg  und  Altdorf  1757).  ^)  Zeitschr.  Math. 
Phys.  XX,  Histor.-literar.  Abthlg.  S.  66.  ^  Doppelmayr  S.  58— 61.— Allgem. 
deutsche  Biographie  XXIV,  473—483  Artikel  von  W.  Möller. 


470  63.  Kapitel. 

abschwächenden  Worte  orhium  caelestium  bei,  unterdrückte  eine  Ein- 
leitung des  Verfassers  und  ersetzte  sie  durch  die  unglückselige  Vor- 
rede, welche  mit  der  Aeusserung,  es  sei  nicht  erforderlich,  dass 
Hypothesen  über  astronomische  Dinge  wahr  oder  auch  nur  wahr- 
scheinlich seien,  es  reiche  schon  allein  hin,  dass  sie  eine  mit  den 
Beobachtungen  übereinstimmende  Rechnung  ergeben,  welche  mit 
dieser  Aeusserung,  sagen  wir,  die  allerdings  keineswegs  beabsichtigte 
Veranlassung  zu  späterer  Ketzerrichter  ei  gegen  das  Werk  und  seine 
Verehrer  gab. 

Damit  gewinnen  wir  selbst  aber  den  Uebergang  zu  dem  Ver- 
fasser des  unsterblichen  Werkes,  welchen  die  Geschichte  der  Mathe- 
matik stolz  ist  nennen  zu  dürfen,  wenn  sie  auch  nicht  gleich  der 
Geschichte  der  Sternkunde  einen  neuen  Abschnitt  mit  ihm  zu  begin- 
nen hat.  Nicolaus  Koppernigk  ^),  wie  die  wahrscheinlichste 
Rechtschreibung  des  Namens  lautet,  ist  in  Thorn  am  19.  Februar 
1473  geboren,  in  Frauenburg  am  24.  Mai  1543  gestorben.  Er  stu- 
dirte  1491—1494  in  Krakau,  1496—1500  in  Bologna.  Während 
dieses  Aufenthaltes  wurde  er  1497  zum  Frauenburger  Domherr  er- 
wählt. Auch  in  Rom  verweilte  der  junge  Domherr  noch  über  ein 
Jahr,  bevor  er  1501  auf  kurze  Zeit  nach  Hause  reiste.  Nach  Juli 
1501  setzte  er  medicinische  und  juristische  Studien  in  Italien,  zunächst 
in  Padua  fort.  Den  juristischen  Doctortitel  erwarb  er  den  31.  Mai 
1503  in  Ferrara.  Zwischen  1505  und  1506  war  die  endgültige  Rück- 
kehr in  die  Heimath.  Die  verschiedensten  Geschäfte  erfüllten  dort 
sein  Leben,  und  dazwischen  arbeitete  er  seit  1506  unablässig  an  dem 
grossen  Werke,  das  ein  neues  Weltsystem  begründen  sollte.  Gegen 
1530  war  es  vollendet.  Etwa  drei  Jahre  später  verfasste  Koppernikus 
eine  Selbstanzeige,  die  erst  1878  aus  einer  Wiener  Handschrift  zur 
Veröffentlichung  gelangte.  Die  erste  gedruckte  Nachricht  von  dem 
koppernikanischen  Werke  gab  die  Narratio  prima  de  lihris  revolutio- 
num  von  1539  aus  der  Feder  eines  Schülers,  Georg  Joachim  von 
Lauchen,  von  welchem  gleich  nach  Koppernikus  die  Rede  sein 
wird.  Eben  dieser  brachte  1541  das  druckreife  Manuscript  der  „Re- 
volutionen" nach  Nürnberg  und  überwachte  den  Satz  der  ersten 
Bogen,  dann  reiste  er  ab,  und  Schöner  und  Osiander  übernahmen, 
wie  wir  wissen,  die  Besorgung.  Der  Druck  dauerte  bis  1543,  und 
die  Sage  will,  das  erste  fertige  Exemplar  sei  dem  Verfasser  auf  dem 

*)  Nicolaus  Coppernicus  von  Leopold  Prowe.  Bd.  I:  Das  Leben.  Bd.  II: 
Urkunden  (Berlin  1883—1884).  Bd.  III:  Die  Lehre,  ist  in  Folge  des  Todes  des 
Verfassers  leider  unvollendet  geblieben.  Die  beste  Ausgabe  des  Werkes  De 
revolutionibus  orhium  caelestium  ist  die  sogenannte  Jubiläumsausgabe  (Thorn 
1873),  ins  Deutsche  übersetzt  von  Menzzer  (Thom  1879). 


Deutsehe  Geometer.     Englische  Mathematiker.  471 

Todteiibette  überreicht  worden.  Wir  haben  es  mit  dem  grossen 
Werke  nur  soweit  zu  thun,  als  es  mathematisches  Wissen  des  Ver- 
fassers verräth  und  mittheilt,  und  das  ist  vorzugsweise  im  12.,  13., 
14.  Kapitel  des  I.  Buches  der  Fall,  welche  die  Ueberschriften  führen: 
12.  lieber  die  geraden  Linien,  welche  Sehnen  im  Kreise  sind.  13.  lieber 
die  Seiten  und  Winkel  der  ebenen  geradlinigen  Dreiecke.  14.  lieber 
die  sphärischen  Dreiecke.  Ursprünglich  bildeten  diese  Kapitel  ein 
besonderes,  und  zwar  das  IL  Buch  des  Werkes^),  später  wurden  sie 
von  Koppernikus  unter  mancherlei  Kürzungen  zum  I.  Buche  geschla- 
gen und  büssten  so  einen  Theil  ihrer  Selbständigkeit  ein,  in  welcher 
sie  dem  Leser  ein  kurzgefasstes  Lehrbuch  der  Trigonometrie  ersetzten. 
Wir  glauben  über  den  Inhalt^)  genügend  Rechenschaft  zu  geben, 
wenn  wir  bemerken,  dass  Koppernikus  sich  ziemlich  streng  an  den 
Almagest  des  Ptolemäus  anschloss,  mit  der  Trigonometrie  des  Regio- 
montan  dagegen  anfangs  kaum  bekannt  gewesen  sein  dürfte.  Als  er 
später  diese  Bekanntschaft  erwarb,  fügte  er,  wie  aus  der  Original- 
handschrift zu  erkennen  ist^),  die  beiden  wichtigsten  Aufgaben  der 
sphärischen  Trigonometrie,  aus  den  drei  Seiten  die  Winkel,  aus  den 
drei  Winkeln  die  Seiten  des  sphärischen  Dreiecks  zu  ermitteln,  nach- 
träglich bei,  aber  die  Beweisführung  ist  ihm  hier  durchaus  eigen- 
thümlich.  Auch  an  anderen  Stellen  der  Revolutionen  kommen  geo- 
metrische Dinge  vor,  welche  Beachtung  verdienen,  und  welche  eine 
genaue  Durchforschung  des  koppernikanischen  Werkes  nach  dieser 
Richtung  als  vielleicht  lohnend  vermutheu  lassen.  Man  hat  z.  B.  be- 
merkt*), dass  im  4.  Kapitel  des  III.  Buches  der  Satz  ausgesprochen 
und  bewiesen  ist,  dass  jeder  Punkt  des  Umfanges  eines  im  Innern 
eines  Kreises  von  doppeltem  Halbmesser  längs  dessen  Umfang  rollen- 
den Kreises  bei  seiner  Bewegung  einen  Durchmesser  des  grösseren 
Kreises  beschreibt.  Zur  Würdigung  der  mathematischen  Kenntnisse 
des  Koppernikus  sind  ausser  den  Revolutionen  noch  die  Einzeich- 
nungen  zu  beachten,  welche  er  in  verschiedene  nachweislich  von  ihm 
besessene  Bücher  machte^).  Zu  diesen  Büchern  gehörte  ein  Exemplar 
der  Tabula  diredionum  Regiomontan's  in  einem  Augsburger  Drucke, 
der  1490  aus  Ratdolt's  Werkstätte  hervorgegangen  war.  Kopper- 
nikus  hat   darin   die  Tabula  foecunda  des  Regiomontanus   durch  eine 


1)  Jubiläumsausgabe  S.  34  Note.  *)  Ueber  den  Inhalt  vergl.  Fasbender, 
Die  Kopernikanischen  Sehnen-  und  Dreiecksberechnungen.  Programm  des  Thor- 
ner Gymnasiums  und  der  Realschule  erster  Ordnung  für  1872.  ^)  Prowe  1.  c. 
Bd.  I  Abtheilung  2  S.  478—479  Note  **.  ")  Max.  Curtze   in  der  Bibliotli. 

mathem.  1888  S.  65—66  und  1895  S.  33— 34.  ^)  Max.  Curtze,  Beliqiciae  Coper- 
nicanae,  Zeitschr.  Math.  Phys.  XIX,  76—82  und  432—458.  XX,  221—248.  Ueber 
die  trigonometrische  Secante  vergl.  1.  c.  XX,  221 — 222. 


472  153.  Kapitel. 

neuberechnete  Columne  ergänzt,  welche  die  Ueberschrift  'Tjtotsovovöa 
führt,  während  die  von  Regiomontan  herrührenden  Zahlen  mit  Kad'stog 
überschrieben  sind.  Der  Sinn  dieser  Ausdrücke  ist  aus  den  bei- 
stehenden Zahlen  mit  Sicherheit  zu  entnehmen 
und  entspricht  auch  dem  Augenscheine  (Fig.  93). 
BC  ist  xadstog,  AC  ist  vjiorsLvovGa  oder  trigo- 
nometrisch ausgedrückt  ersteres  ist  die  Tan- 
gente, letzteres  die  Secaute,  welche  durch 
Koppernikus  in  die  Wissenschaft  eingeführt  war. 
Der  Oeffentlichkeit  gehörte  aber  diese  trigono- 
metrische Function  vorläufig  noch  nicht  an;  wenig- 
stens ist  eine  Anwendung  derselben  nicht  einmal 
in  den  Revolutionen  des  Koppernikus  selbst  nachweisbar. 

Wir  erwähnen  hier  gelegentlich  auch  eine  von  Koppernikus  auf- 
gestellte Brodorduung,  welche  etwa  gleichzeitig  mit  der  durch 
Adam  Riese  berechneten  Annaberger  Brodordnung  (S.  422)  sein  mag. 
Deren  Handschrift  (nicht  von  Koppernikus  selbst  gefertigt)  findet 
sich  mit  einer  Handwerksordnung  von  1531  vereinigt  in  einem  zu 
Upsala  aufbewahrten  Sammelbande  ^). 

Es  war  von  einem  Schüler  des  Koppernikus  lihäticus-)  die 
Rede.  Wie  der  eigentliche  Name  dieses  Gelehrten  lautete,  steht  nicht 
fest.  Er  ist  fast  ausschliesslich  als  Rhäticus,  der  im  Voralberg  Ge- 
borene, bekannt  nach  seinem  Heimathsorte  Feldkirch,  wo  er  1514 
zur  Welt  kam.  Er  starb  1576  zu  Kaschau  in  Ungarn.  Unter  den 
verschiedenen  Vermuthungen  über  den  Familiennamen  hat  diejenige 
viel  für  sich,  er  habe  Georg  Joachim  von  Lauchen  geheissen,  wäh- 
rend Andere  Joachim  für  den  Familiennamen  halten.  Rhäticus 
studirte  in  Zürich,  Wittenberg,  wo  er  1535  den  Grad  als  Magister 
erwarb,  Tübingen,  Nürnberg  und  trat  an  diesem  letzteren  Orte  zu 
Johannes  Schöner  in  engere  Beziehung.  Während  Rhäticus  in 
Nürnberg  verweilte,  starb  1536  Volmar  in  Wittenberg,  vor  wenigen 
Jahren  sein  Lehrer  in  Mathematik  und  Astronomie.  Melanchthon, 
damals,  wie  wir  wissen  (S.  408),  allmächtig  in  Universitätsangelegen- 
heiten vorab  so  weit  sie  Wittenberg  betrafen,  setzte  die  Zweitheilung 
der  einen  bisher  vorhandenen  mathematischen  Professur  durch  und 
liess  für  die  höhere  Mathematik,  worunter  man  die  Astronomie  zu 
verstehen  hat,    Erasmus  Reinhold^)   ernennen,    während   für  die 


^)  Curtze  in  den  Mittheilungen  des  Coppernicus -Vereins  für  Wissenschaft 
und  Kunst.  Heft  I,  S.  47—51  (Leipzig  1878).  ";  Allgemeine  deutsche  Biogra- 
phie XIV,  93—94  Artikel  von  Bruhns  und  XXVIII,  388—390  Artikel  von 
Günther.         3)  Ebenda  XXVni,  77—79  Artikel  von  Günther. 


Deutsche  Geometer.     Englische  Mathematiker.  473 

niedere  Mathematik,  Aritlinietik  und  Geometrie  umfassend,  wieder  auf 
Melanchthon's  Vorschlag,  der  noch  nicht  23jährige  Rhäticus  berufen 
wurde.  In  der  Antrittsvorlesung  vom  5.  Januar  1537  verlas  dieser 
die  von  Melanchthon  angefertigte  Declamation  über  den  Nutzen  der 
Arithmetik.  Zwei  Jahre  verwaltete  Rhäticus  sein  Amt,  da  drang  das 
Gerücht  von  der  neuen  Lehre,  welche  der  Domherr  in  Frauenburg 
besass,  zu  ihm,  und  er  zog  offenbar  mit  Einwilligung  der  Universitäts- 
behörde, da  ihm  seine  Stelle  sonst  doch  nicht  offen  gehalten  worden 
wäre,  im  Frühjahr  1539  nach  Preussen,  um  dort  einen  bis  zum  Spät- 
herbst 1541  dauernden  Aufenthalt  zu  nehmen.  Erste  Frucht  des 
täglichen  Umganges  mit  Koppernikus  war  die  noch  1539  in  Danzig 
gedruckte  Narratio  prima  de  libris  revölutionum,  eine  vorläufige  aber 
schon  ziemlich  ausgedehnte  Mittheilung  über  das  zu  erwartende  Werk. 
Ein  Encomium  Borussiae  war  angehängt,  eine  im  Humanistenstyle 
verfasste,  etwas  überschwängliche  Schilderung  des  Landes,  in  welchem 
Rhäticus  sich  befand.  Er  trat  dadurch  zu  Herzog  Albrecht  in  per- 
sönliche Beziehung  und  verfasste  für  diesen  eine  im  August  1541 
vollendete  Chorographie  Preussens^).  Inzwischen  wurden  die  Revo- 
lutionen des  Koppernikus  vollendet.  Rhäticus  brachte  die  fertig  ge- 
stellte Handschrift  Ende  1541  nach  Nürnberg,  wo  der  Druck  bei 
Petreius  begann,  zuerst,  wie  wir  gesehen  haben,  unter  des  Rhäticus 
eigener  Ueberwachung,  dann  unter  der  Schöner's  und  Osiander's.  Die 
Originalhandschrift  hat  sich  bis  auf  den  heutigen  Tag  erhalten.  Mit 
dem  Druck  verglichen  zeigt  sie  einestheils  erhebliche  Abweichungen 
von  demselben,  anderntheils  durchaus  keinerlei  Strichelchen  oder  der- 
gleichen, wodurch  der  Setzer  sich  bemerklich  gemacht  haben  könnte, 
wie  weit  er  im  Satze  gelangt  war.  Beide  Umstände  vereinigt  nöthigen 
dazu  anzunehmen,  es  sei  von  der  Originalhandschrift  noch  eine  Ab- 
schrift genommen  worden,  welche  beim  Drucke  selbst  diente.  Diese 
Setzerabschrift,  wie  man  sie  wohl  genannt  hat,  muss  von  einem 
humanistisch  Gebildeten  angefertigt  worden  sein,  der  z.  B.  viele  in 
der  Handschrift  des  Koppernikus  lateinisch  geschriebene  Wörter  mit 
griechischen  Lettern  schrieb,  der  die  bei  Koppernikus  regelmässig 
auftretende  Wortform  caelum  eben  so  regelmässig  in  coelum  umwan- 
delte u.  s.  w.  Letztere  Schreibweise  ist  in  der  Narratio  prima  des 
Rhäticus  in  fortwährender  Uebung  und  hat  wesentlich  zu  der  Ver- 
muthung  geführt,  Rhäticus  werde  die  Setzerabschrift  hergestellt  haben "). 
Es  ist  um  so  auffallender,  dass  Oslander,  der  doch  die  Fortsetzung 
des   Druckes  leitete,   in   seiner   unterschriftlosen  Vorrede  nicht   bloss 


^)  F.  Hipler  hat  den   Abdruck   in   der  Zeitschr.  Math.  Phys.  XX,  Histor.- 
literar.  Abthlg.  veranlasst.        -)  Prowe  1.  c.  Bd.  I,  Abtheilung  2,  S.  504  Note  *. 


474  63.  Kapitel. 

zu  der  Form  caeluni  zurückkehrte,  sondern  sie  sogar  mit  Plinius  durch 
Ableitung  von  caelare  rechtfertigte. 

In  jenen  zweiten  Nürnberger  Aufenthalt  fällt  die  von  Rhäticus 
gehegte,  aber  nicht  zur  Ausfühning  gebrachte  Absicht,  die  Kegel- 
schnitte des  Apollonius  herauszugeben,  von  welchen  ein  griechischer 
Text  aus  Regiomontan's  Nachlasse  in  Nürnberg  vorhanden  war. 

Folgenden  Jahres  1542  war  Rhäticus  wieder  in  Wittenberg  und 
gab  dort  die  Schrift  De  laterihus  et  angidis  triangulorum  libellus  im 
Drucke  heraus^).  Regiomontan  habe,  so  erklärt  Rhäticus  in  einer 
Vorrede,  über  Dreiecke  geschrieben,  und  diese  Schrift  sei  unlängst 
veröffentlicht  worden,  aber  lange  vor  dieser  Veröffentlichung  habe 
Koppernikus  unabhängig  davon  die  gleichen  Gegenstände  behandelt, 
indem  er  an  Ptolemäus  vielmehr  sich  anlehnend  dieser  Sätze  bei  der 
wissenschaftlichen  Begründung  der  Lehre  von  der  Bewegung  der 
Himmelskörper  bedurfte,  und  dessen  Untersuchungen  übergebe  er  nun 
dem  Drucke.  Der  libellus  triangulmiim  von  1542  ist  in  der  That 
nicht  mehr  und  nicht  weniger  als  das  13.  und  14.  Kapitel  des 
I.  Buches  der  Revolutionen,  welche  losgetrennt  aus  dem  Uebrigen 
früher  in  die  Oeffentlichkeit  gelangten.  Sie  wurden  allerdings  mannig- 
fach von  Rhäticus,  wie  man  annehmen  muss,  abgeändert  und  auch 
eine  wesentliche  Anordnungsänderung  hat  dieser  sich  gestattet.  Kop- 
pernikus hat  seinem  13.  und  14.  Kapitel  im  12.  Kapitel  eine  Tafel 
der  halben  Sehnen  des  doppelten  Bogens  —  des  Wortes  Sinus  be- 
dient er  sich  nicht  —  für  die  um  je  10'  wachsenden  Winkel  von  0 
bis  zu  90"  vorausgeschickt  und  den  Kreishalbmesser  zu  100000  an- 
genommen. Rhäticus  hat  eine  Tabelle  verwandter  Natur  den  beiden 
trigonometrischen  Kapiteln  nachfolgen  lassen,  die  offenbar  seine  eigene 
Arbeit  gewesen  ist.  Das  Wort  Sinus  vermied  er,  wie  es  in  den  Re- 
volutionen vermieden  ist,  aber  die  Winkel  Hess  er,  statt  um  10',  um 
je  1'  wachsen,  und  sein  Kreishalbmesser  war  hundertmal  grösser, 
also  10000000.  Jeder  Winkelspalte  ist  die  Angabe  der  Grade  am 
Kopfe  beigedruckt,  die  der  Minuten  am  Rande  von  oben  nach  unten 
zunehmend.  Aber  eine  zweite  Angabe  von  Graden  und  Minuten  findet 
sich  unten  am  Fusse  der  Spalte  und  am  anderen  Rande  von  unten 
nach  oben  zunehmend  und  jene  erstere  Angabe  zu  90"  ergänzend, 
so  dass  es  möglich  ist  abzulesen,  welcher  Winkel  der  jedesmalige 
Complementwinkel  ist,  der  den  aufgefundenen  Sinus,  wie  wir  heute 
sagen,  zum  Cosinus  hat.  Diese  Einrichtung  rührt  mit  grösster  Wahr- 
scheinlichkeit von  Rhäticus  her.  Was  wir  aus  der  Vorrede  zum  Li- 
bellus triangulorum   anführten,  bestätigt   das   (S.  471)   Gesagte,   dass 


1)  Prowe  1.  c.  Bd.  I,  Abtheilung  2,  S.  480—489. 


Deutsche  Geometer.     Englische  Mathematiker.  475 

Koppernikus  bei  der  ersten  Niederschrift  seiner  Trigonometrie  mit 
der  des  Regiomontanus  wohl  nicht  bekannt  war.  Auch  die  weitere 
Behauptung,  er  habe  später  diese  Keuntniss  erlangt,  sind  wir  in  der 
Lage  bestätigen  zu  können.  Ein  Exemplar  von  Regiomontan's  De 
triangulis  hat  sich  erhalten  ^),  welches  die  eigenhändige  Widmung  des 
Rhäticus  an  Koppernikus  trägt.  Leider  ist  dieselbe  nicht  datirt,  so 
dass  es  unmöglich  ist  genau  zu  bestimmen,  ob  dieses  Geschenk  in 
Frauenburg  während  des  Rhäticus  Aufenthalt  daselbst  von  Hand  zu 
Hand  erfolgte,  oder  ob  es  von  Nürnberg  oder  Wittenberg  aus  als 
Zeichen  der  Dankbarkeit  dem  fernen  Lehrer  zugeschickt  wurde.  Wahr- 
scheinlicher ist  das  erstere,  denn  wie  wollte  man  sonst  die  ebenfalls 
(S.  471)  erwähnte  Einschaltung  zweier  Sätze  des  Regiomoutan  in  die 
koppernikanische  Originalhandschrift  erklären,  welche  doch  Rhäticus 
aus  Preussen  nach  Nürnberg  brachte. 

Des  Rhäticus  Bleiben  in  Wittenberg  war  nicht  von  langer' Dauer. 
Noch  im  gleichen  Jahre  1542,  in  welchem  er  heimgekehrt  war,  ver- 
liess  er  diese  Universität,  um  nach  Leipzig  überzusiedeln,  wohin  er 
einem  Rufe  folgte.  Hier  beginnt  die  zweite  Periode  seiner  Wirksam- 
keit, von  welcher  wir  in  dem  XIV.  Abschnitte  zu  reden  haben.  Wenn 
wir  auch  sonst  kein  Bedenken  tragen  und  im  66.  Kapitel  den  Be- 
weis dafür  reichlich  liefern  werden,  die  Grenzen  der  als  Ueberschriften 
der  Abschnitte  gewählten  Zeiträume  ziemlich  weit  zu  überschreiten, 
wenn  es  darauf  ankommt,  das  Bild  einer  Persönlichkeit  nicht  zu  zer- 
reissen,  bei  Rhäticus  ist  es  anders.  Seine  seit  1542  entfaltete  Thätig- 
keit  gipfelt  in  einem  erst  1596  fast  20  Jahre  nach  seinem  1577  er- 
folgten Tode  unter  anderen  Händen  vollendeten  Werke  und  hängt 
mit  weiteren  Arbeiten  ähnlicher  Natur  eng  zusammen,  welche  alsdann 
auch  im  Zusammenhange  behandelt  werden  müssen. 

Wir  dürfen  jetzt,  nachdem  wir  Werner  und  Dürer,  Koppernikus 
und  Rhäticus  kennen  gelernt  haben,  mit  grösserer  Befriedigung  als 
am  Anfange  des  Kapitels  auch  Apian's  und  des  Gemma  Frisius  uns 
erinnern,  sechs  würdige  Vertreter  geometrisch -trigonometrischer  Be- 
strebungen in  Deutschland,  von  denen  allerdings  vier  eher  den  Tri- 
gonometern  als  den  Geometern  angehören,  einer,  Werner,  eine  Mittel- 
rolle spielt,  Dürer  endlich  das  volle  Zeug  zum  wirklichen  Geometer 
besass:  Sinn  für  geometrische  Strenge,  verbunden  mit  der  dem  Geo- 
meter und  dem  Künstler  gemeinsamen  Freude  an  der  Gestalt. 

Wir  würden  ein  neues  Kapitel  hier  zu  beginnen  haben,  wenn 
nicht  ganz  äusserliche  Gründe  uns  veranlassten  noch  fortzufahren. 
England,    wohin  wir  unsere  Blicke    zu   wenden  haben,    liefert    uns 


1)  Prowe  1.  c.  Bd.  I,  AbtheUung  II,  S.  408. 


476  63.  Kapitel. 

am  Anfange  des  XVI.  Jahrhunderts  nur  etwa  drei  Persönlichkeiten, 
welche  unsere  Aufmerksamkeit  fesseln,  aber  nicht  genügen  ein  ganzes 
Kapitel  zu  füllen,  und  welche  immerhin  leichter  an  Deutschland 
als  an  Italien,  wohin  wir  im  Nachfolgenden  übergehen,  sich  anglie- 
dern lassen. 

Cuthbert  Tonstall  i)  (1474—1559)  studirte  in  Oxford,  dann 
in  Cambridge,  später  in  Padua,  wo  er  den  Grad  eines  Doctors  der 
Rechte  sich  erwarb,  wo  er  aber  auch  mathematische  Kenntnisse  in 
sich  aufnahm,  insbesondere  aus  den  Werken  von  Regiomontanus  und 
Paciuolo.  Seine  vielseitige  Bildung  warf  ihn  1522  mitten  ins  poli- 
tische Leben.  Er  wurde  Bischof  von  London,  Mitglied  des  geheimen 
Raths,  seit  1530  war  er  Bischof  von  Durham.  Bald  als  Botschafter 
zu  diplomatischen  Verhandlungen  entsandt,  bald  unter  dem  Verdachte 
heimlicher  Verschwörung  in  den  Tower  geworfen,  durch  Königin 
Maria  befreit  und  seinem  Amte  wiedergegeben,  durch  Königin  Elisabeth 
neuerdings  abgesetzt,  lernte  er  Gunst  und  Ungunst  seiner  Fürsten 
in  rascher  Abwechslung  kennen.  Bevor  er  1522  zu  Amt  und  Würde 
gelangte,  gab  er  als  Lebewohl  an  die  Wissenschaft,  a  farewell  to  tJie 
science,  eine  Arithmetik  in  vier  Büchern  heraus:  De  arte  supputandi 
libri  quatuor,  welche  auch  ausserhalb  England  sich  grossen  Beifalls 
erfreute  und  1544  in  Strassburg  von  dem  eifrigen  Pädagogen  jener 
Stadt,  JohannesSturm,  neu  herausgegeben  wurde.  Viel  Neues  ist 
in  dem  AVerkchen  nicht  vorhanden,  und  Tonstall  selbst  beruft  sich 
gegen  Ende  des  IL  Buches  auf  Paciuolo  als  seine  Quelle^).  Man 
kann  dagegen  Tonstall  das  Lob  klarer  Darstellung,  geschickter  An- 
ordnung, glücklicher  Auswahl  von  Beispielen  nicht  vorenthalten. 

Wir  heben  einige  wenige  Einzelheiten  hervor,  die  bemerkenswerth 
sein  möchten.  Tonstall  ordnet  an  verschiedenen  Stellen  eine  Anzahl 
von  Ergebnissen,  deren  mau  öfters  bedarf,  in  Tabellen.  Eine  Eins- 
undeins-, sowie  eine  Einsvoneinstabelle,  ein  quadratisch  gedrucktes 
Einmaleins  fehlt  so  wenig  als  eine  Tafel  der  zehn  ersten  Kubik- 
zahlen^).   Bruchbrüche  werden  so  geschrieben,  dass  nur  bei  dem  ersten 

ein  Bruchstrich  steht  ^),    z.  B.    -^   o   .>   bedeutet    -^  von 


4     3    2         4  3 


von 


Beim  Quadratwurzelausziehen  sucht  man  Näherungswerthe   nach   der 
RegeP)    ]/ JL  =  —  y J.  •  a^ .     Getreidepreis   und   Brodpreis    sollen    im 


1)  Kästner  I,  94—96.  Poggendorff  II,  1117.  W.  W.  Rouse  Ball,  A 
Histonj  of  the  study  of  Matliematics  at  Cambridge  (Cambridge  1889)  pag.  10. 
-)  Ea  aiitem  rudimenta  ex  Ärithmetica  Lucae  de  Burgo,  cuius  nonien  in  ea  arte 
non  x>arurn,  neque  abs  re  celebratur:  excerpsimus.  pag.  175  der  Strassburger  Aus- 
gabe, welche  uns  vorlag.  =*)  Ebenda  pag.  25,  39,  50,  106—107.  *)  Ebenda 
pag.  119.         ^)  Ebenda  pag.  167. 


Deutsche  Geometer.     Englische  Mathematiker.  477 

Verhältnisse  zu  einander  stehen  und  können  tabellarisch  übersichtlich 
gemacht  werden^).  Die  Fassung  der  Regel  zur  Auffindung  der  Summe 
einer  geometrischen  Reihe ^)  ist  die  gleiche,  welche  Prodocimo  di 
Beldomandi  (S.  207)  lehrte.  Neu  scheint  uns  eine  Regel  zur  Auf- 
findung des  harmonischen  Mittels^)  zweier  Zahlen.  In  Buchstaben, 
die  freilich  bei  Tonstall  nicht  vorkommen,  läuft  sie  auf  die  Formel 

hinaus,  das  harmonische  Mittel  zwischen  a  und  h  sei  —7-4:^ h  et- 

Tonstall  hat  seine  Arithmetik  dem  späteren  unglücklichen  Kanzler 
Thomas  Morus  gewidmet  und  denselben  gebeten,  Gedächtnissverse 
zum  leichteren  Behalten  der  Regeln  des  doppelten  falschen  Ansatzes 
anzufertigen.     Diese  Verse  lauten'^): 

A  plure  cleme  phisculum. 
Minus  minore  subtrahe, 
Pluri  minus  coniungito. 
Atque  ad  minus  plus  adiice. 

Der  zweite  Schriftsteller,  den  wir  nennen,  ist  Robert  Recorde^) 
(1510 — 1558).  Er  war  Leibarzt  König  Eduard  VI.  und  nachmals  der 
Königin  Maria,  muss  aber  in  seinen  Ausgaben  die  durch  diese  Stellung 
möglichen  reichen  Einnahmen  weit  überschritten  haben,  denn  der 
Tod  ereilte  ihn  im  Schuldgefängnisse  Kings  Bench.  Schriftstellerische 
Leistungen  hat  er  seit  1540  veröflentlicht.  Ein  erstes  Werk  unter 
dem  Titel  The  Groimde  of  Artes  wurde  später  von  John  Dee  ver- 
mehrt und  1582  in  abermals  vermehrter  Auflage  durch  John  Mellis 
herausgegeben  ^).  Die  Engländer,  klagt  Recorde  in  der  Vorrede,  seien 
zwar  nur  von  wenigen  Völkern  an  natürlichem  Menschenverstände 
übertroffeu,  aber  sie  seien  entsetzlich  unwissend,  und  dem  wolle  er 
durch  sein  Buch  einigermassen  abhelfen.  Er  hat  es  in  Gestalt  eines 
Gespräches  zwischen  Lehrer  und  Schüler  auf  englisch  verfasst.  Nicht 
selten  kommen  im  fortlaufenden  Texte  Reimzeilen  vor,  welche  aber 
durch  den  Druck  nicht  bemerklich  gemacht  sind^).  Anfangs  werden 
Fehler  des  Schülers  getadelt  und  zurechtgewiesen,  in  deren  Auswahl 
nicht  zu  verkennen  ist,  dass  Recorde  wusste,  wo  und  wie  Rechenfehler 
zu  befürchten   sind.     Einmal  schreibt  z.  B.  der  Schüler  eine   6  statt 


1)  Ebenda    pag.  224.  -)  Ebenda    pag.  378.  ^)  Ebenda    pag.  330. 

*)  Ebenda  pag.  390.  ^)  Rouse   Bali  1.  c.  pag.  15—19.  '^)    Uns   lag  nur 

diese  3.  Auflage  von  1582  vor,  nach  welcher  wir  citiren.  ')  Der  Schüler  sagt 
z.  B.  einmal:  And  I  to  youre  authoritie  viy  witte  cloe  mihdue,  tvJiatsoever  you 
say,  I  take  ü  for  true,  worauf  der  Lehrer  erwidert,  das  sei  zu  viel  und  Thoughe 
I  mighte  of  my  Scholler  some  credence  require,  yet  except  I  shew  reason,  I  do  it 
'II  ot  desire. 


478  63.  Kapitel. 

der  9;  beim  Addiren  schreibt  er  ein  anderesmal  eine  zweiziffrige 
Theilsumme  hin,  statt  deren  Zehner  im  Sinne  zu  behalten;  einen 
di'itteu  Fehler  begeht  er  beim  Kürzen  von  Brüchen:  er  war  an- 
gewiesen worden,   im  Zähler  und  Nenner   auftretende  Randnullen  zu 

streichen   und   kürzt   dem   entsprechend   -—   in   — ,    was    dem  Lehrer 

Veranlassung  giebt  zu  betonen,  die  zu  streichenden  Nullen  müssten 
in  Zähler  und  Nenner  von  gleicher  Anzahl  sein.  Die  Neunerprobe 
spielt  bei  allen  Rechnungs verfahren  eine  wichtige  Rolle  ungleich  der 
Tonstall'schen  Arithmetik,  in  welcher  sie  nie  angewandt  ist.  Auch 
beim  Rechnen  mit  benannten  Zahlen,  z.  B.  Pfunden,  Schilling,  Pence 
ist  die  Neunerprobe  wichtig.  Da  1  dst.  =  20  sh.  ^=  (18  +  2)  sh. 
und  1  sh.  =  12  A  =  (9  -f-  3 j  A ,  so  zählt  bei  der  Neunerprobe  1  ^st. 
für  2  sh.  und  1  sh.  für  3  ä.  Davon  sehe  ich  den  Grund  nicht,  sagt 
der  Schüler.  Von  vielen  anderen  Dingen  auch  nicht,  no  more  doe 
yon  of  manye  things  eise,  tröstet  der  Lehrer,  aber  man  müsse  zuerst 
durch  kurz  gefasste  Regeln  die  Kunst  erlernen,  bevor  man  deren 
Begründung  verstehen  könne.  Nach  dem  Zifferrechnen  wird  auch 
das  Rechnen  mit  Rechenpfennigen,  coimters,  gelehrt,  welches  nicht 
nur  den  Unkundigen  des  Schreibens  und  Lesens  zu  empfehlen  sei, 
sondern  auch  den  Kundigen,  wenn  sie  zufällig  Feder  oder  Tafel  nicht 
zur  Hand  habendi,  und  auch  an  den  Händen  kann  man  rechnen^). 
Die  Einmaleinstabelle  gibt  Recorde  in  ihrer  dreieckigen  Anlage.  Die 
goldene  Regel,  the  golden  ride,  oder  directe  Regeldetri  wird  von  der 
rückwärtsigen  Regel,  the  hacker  ride,  unterschieden.  Wie  viel  Yard 
eines  3  Yard  breiten  Canvas  braucht  man,  um  30  Yard  2  Yard 
breites  Tuch  zu  füttern,  fragt  der  Lehrer  als  Beispiel  der  zweiten 
Gattung.  So  breiten  Canvas  giebt  es  nicht,  zvhy,  tJiere  is  nmie  so 
hroade,  antwortet  der  Schüler,  worauf  ihn  der  Lehrer  mit  einem: 
das  gilt  mir  gleich,  /  doe  not  care  for  that,  auf  das  bloss  Rechnungs- 
mässige  der  Aufgabe  hinweist.  Wir  haben  bei  Tonstall  der  Tabelle 
für  Getreide-  und  Brodpreis  gedacht.  Recorde  belehrt  uns,  dass  es 
eine  öffentliche  Liste  mit  Gesetzeskraft,  Statute  of  Ässise  of  hreade, 
gab,  welche  das  Gewicht  eines  Brodes  von  gleichbleibendem  Preise 
zu  dem  wachsenden  Preise  des  Weizens  in  Beziehung  setzte,  dass 
aber  diese  gesetzliche  Liste  fehlerhaft  war.  Wir  erinnern  hier  an 
die  von  Riese  1533  verfertigte  Annaberger  Brodordnung  (S.  387), 
welche  dort  einer  öffentlichen  Anordnung  zu  Grunde  gelegt  wurde. 
Zuletzt  erscheint  bei  Recorde   die  Regel    des  doppelten  falschen  An- 


*)  whiche  doth  not  onely  serve  for  tliem,  that  cannot  write  and  reade,  but 
also  for  ihem,  that  can  doe  both,  but  have  not  at  some  times  their  x>en  w  tables 
readie  witli  them.  *)  The  arte  of  nunibering  oti  the  hande. 


Deutsche  Geometer.     Englische  Mathematiker.  479 

Satzes,  tlie  rule  of  Falsehode,  und  bei  dieser  Gelegenheit  werden  die 
Zeichen  -{-  und  —  eingeführt^).  Ersteres  bedeute,  dass  die  An- 
nahme ein  zu  Grosses,  letzteres  dass  sie  ein  zu  Kleines  geliefert 
habe.  Welcherlei  Quellen  Recorde  gedient  haben  ist  nirgend  an- 
gegeben. Wenn  es  einmal  heisst  Some  men  (as  Stifelius),  so  ist  das 
sicherlich  ein  Zusatz  einer  späteren  Ausgabe,  da  1540  die  Arithmetica 
iutegra  noch  nicht  erschienen  war,  Stifel's  Name  als  Mathematiker 
also  noch  nicht  bekannt  sein  konnte.  Ob  der  Zusatz  erst  der  dritten 
Ausgabe  angehört,  oder  schon  in  der  zweiten  vorkommt,  ist  uns 
nicht  möglich  aufzuklären. 

Gewiss  nicht  minder  interessant  als  Recorde's  erste  Schrift  muss 
seine  zweite  sein,  welche  uns  nur  durch  einen  sehr  dürftigen  Auszug 
bekannt  geworden  ist.  Es  ist  eine  Algebra,  welche  er  1556  wieder 
in  Form  eines  englischen  Gespräches  zwischen  Lehrer  und  Schüler 
veröffentlicht  hat.  Sie  führt  den  Titel:  The  Wetstone  of  witte  in 
Folge  eines  recht  kühnen  Wortspiels:  aus  Regula  Coss  wurde  cos 
iugeniiy  daraus  durch  Uebersetzung  der  Wetzstein  des  Witzes.  Jeden- 
falls hatte  also  Recorde  die  Algebra  nicht  als  Regula  della  Cosa, 
sondern  als  Regula  Coss  d.  h.  aus  einem  in  Deutschland  verfassten 
Werke  kennen  gelernt.  Am  bekanntesten  ist  aus  Recorde's  Algebra 
die  Einführung  des  Gleichheitszeichens  geworden.  Recorde 
bediente  sich  dazu  des  wenn  auch  nicht  sofort,  doch  endlich  zur 
alleinigen  Uebung  gewordenen  =,  weil  nichts  einander  gleicher  sein 
könne,  als  zwei  parallele  Strichelchen-).  Es  ist  unbegreiflich,  dass 
man  klüger  als  der  Erfinder  hat  sein  wollen  und  die  Behauptung 
aufstellte,  =^  sei  desshalb  zu  der  Bedeutung  gleich  gekommen,  weil 
ein  mittelalterliches  Abkürzungszeichen  für  id  est  so  aussehe.  Auch 
das  Verdienst  wird  Recorde  zugeschrieben  ^) ,  die  Ausziehung  der 
Quadratwurzel  aus  algebraischen  Ausdrücken  zuerst  gelehrt  zu  haben. 
Das  „zuerst"  wird  sich  wohl  auf  England  beziehen,  wie  Recorde 
auch  nachgerühmt  wird,  er  sei  der  erste  Engländer  gewesen,  der  der 
Koppernikanischen  Lehre  sich  anschloss,  denn  in  anderen  Ländern 
haben  wir  viel  früher  als  1556  Quadratwurzeln  aus  Ausdrücken  ziehen 
sehen,  welche  aus  Summen  von  mit  bestimmten  Zahlen  vervielfachten 


')   -j-  whyehc  betokeneth  too  muche,  as  tliis  line,  —  plaine  whitout  a  Crosse 
line,    betokeneth  too  little.  ^)  And  to  avoide   the  tediouse  repetition  of  tJiese 

wordes:  is  equalle  to  I  will  sette  as  I  do  often  in  woorke  use  a  pair  of  pa- 
ralleles, or  Gemove  lines  of  one  length,  thus:  =,  because  noe  2  thynges  can  be 
more  equalle.  ^)  Encyelopaedia  Britannica  (9.  Edition  Edinburgh  1886)  XX, 

310:  The  adaption  of  the  rule  for  extracting  the  Square  root  of  an  integral 
number  to  the  extraction  of  tlie  Square  root  of  an  integral  algebraical  function  is 
also  Said  to  be  due  to  Becorde. 


480  64.  Kapitel. 

Potenzen  der  Unbekannten  bestanden,  nnd  nm  Anderes  kann  es  sich 
nicht  gebandelt  haben. 

Einige  weitere  Bücher  des  gleichen  Verfassers  werden  genannt, 
ein  Pathwai/  to  knowledge  (1551),  Frinciples  of  geometry  (1551),  eine 
nicht  datirte  Metisuration ,  verschiedenes  Astrologische  (155G).  Eine 
Uebersetzung  von  Euklid's  Elementen  soll  handschriftlich  geblieben  sein. 

Im  Vorübergehen  nennen  wir  noch  drittens  William  Buckley  ^), 
der  am  Hofe  Eduard  VI.  in  Ansehen  stand  und  gegen  1550  starb. 
Er  verfasste  eine  Arithnietica  memorativa  in  lateinischen  Versen.  Bei 
Ausziehung  von  Quadratwurzeln  lässt  er  dem  Radicanden  sechs  Nullen 

rechts   beifügen,   um   die    Wurzel   auf  -—   genau   zu    erhalten.     Wir 

wissen,  dass  Tonstall  Aehnliches  lehrte  (S.  476).  Ausserdem  wusste 
Buckley^),  wie  viele  Combinationen  zu  allen  möglichen  Classen  aus 
n   Elementen    gebildet    werden    können,    aus    vier    Elementen    z.  B. 

1  +  2  +  4  +  8  =  15. 

64.  Kapitel. 
Italienische  Mathematiker.     Die  kubische  Crleichuiig. 

Wir  gelangen  in  unserer  Wanderung  nach  Italien,  dem  Lande, 
welches  den  unbestritten  ersten  Rang  der  dort  geraachten  Erfin- 
dungen den  letzten  Platz  in  der  mathematischen  Entwickelungs- 
geschichte  des  Anfanges  des  XVI,  Jahrhunderts  verdankt,  den  wir  ihm 
zu  geben  uns  veranlasst  sehen,  da  Grosses  nur  dann  in  seiner  ganzen 
Höhe  erscheint,  wenn  man  die  niedrigere  Gestaltung  der  Umgebung 
in  Vergleich  zu  ziehen  vermag. 

Auch  in  Italien  hat  es  freilich  für  die  Männer,  welche  den  wesent- 
lichen Ruhepunkt  unserer  Erzählung  bilden  müssen,  an  kleineren 
Vergleichungspersönlichkeiten  nicht  gefehlt.  Wir  müssen  zu  diesen 
sogar  einen  Uebersetzer  zählen,  Gianbattista  Memmo,  latinisirt 
Memmius^),  einen  venetianischen  Edlen,  welcher  glaubte  ohne  Fach- 
wissen, bloss  auf  Kenntniss  der  griechischen  Sprache  gestützt  eine 
lateinische  Uebersetzung  der  vier  ersten  Bücher  der  Kegelschnitte  des 
Apollonius  anfertigen    zu    können,    die    sein   Sohn    1537    im   Drucke 


Ferner   hat   es   in   Italien   gleichwie   in    Deutschland    eine    srosse 


1)    Kästner   I,  48—49.     —    Poggendorff  I,  332.  -)    Todhunter, 

History  of  the  Tlieory  of  ProbahiUtij  from    the  fime  of  Pascal   to  fliaf  of  Lajjlace 
pag.  26.         ")  Vossius  pag.  55. 


Italienische  Mathematiker.     Die  kubische  Gleichuug.  481 

Anzahl  von  Rechenmeistern  geringerer  Art  gegeben,  von  denen 
Druckwerke  sich  erhalten  haben,  die  ehemalige  Verbreitung  dieser 
Schriften  bezeugend  und  der  Zukunft  die  Namensnennung  dieser 
Schriftsteller  ermöglichend,  aber  keineswegs  zur  unabweisbaren  Pflicht 
machend^).  Eine  rühmliche  Ausnahme  bildet  Francesco  Ghaligai"), 
der  in  seiner  Summa  de  arithmetica  von  1521,  welche  vielleicht  von  der 
Practica  d'arithmetica  von  1548  und  von  1552  nicht  verschieden  ist, 
ein,  so  weit  der  Druck  von  1552  dem  Urtheile  zu  Grunde  gelegt 
wird,  vortreffliches  aus  13  Büchern  bestehendes  Werk  geliefert  hat. 
Die  ersten  drei  Bücher  behandeln  das  Rechnen  mit  ganzen  Zahlen 
und  Brüchen,  die  Ausziehung  der  Quadratwurzeln  und  die  Propor- 
tionen, die  folgenden  vier  die  Regeldetri  und  deren  Anwendung  auf 
kanfmännische  Aufgaben  (Münzrechnungen ,  Gesellschaftsrechnungen 
u.  s.  w.).  Das  8.  Buch  enthält  Aufgaben  über  die  Zerlegung  von 
Zahlen  in  Theile  von  vorgeschriebenen  Eigenschaften ,  das  9.  ist 
der  Regula  falsi  gewidmet.  Die  vier  letzten  Bücher  behandeln  recht 
gründlich  die  eigentliche  Algebra,  deren  Gegenstände  (Ausziehen  der 
Kubikwurzel,  Rechnen  mit  Wurzelgrössen,  quadratische  Gleichungen 
u.  s.  w.)  an  Aufgaben  durchgenommen  werden.  Ghaligai  liebt  ge- 
schichtliche Notizen,  insbesondere  nennt  er  fortwährend  Leonardo  von 
Pisa,  an  den  er  sich  vorzugsweise  anschliesst.  Ganz  eigenthümlich 
sind  wenn  nicht  die  Namen  doch  die  Bezeichnungen  der  Potenzen 
der  Unbekannten,  deren  Ghaligai  sich  bediente.  Er  schreibt  für 
a-i=  cosa  =  c'^,  a;^  =  censo  =  D,  :r^^=cubo=  m,  a;^  =  censo  di  ceuso 
=  DdiD,  ;r^  ^  relato  =  B .  Er  hat  noch  einen  Namen  für  x^^  = 
dromico  =  H.  Aber  für  Uberti,  Thesoro  universale  de  abacho 
(1548),  Feliciano,  Libro  di  arithmetica  e  geometria  intitulato  scala 
grimadelli  (1550),  Verini,  Spechio  del  mercatante  (1542),  Catani, 
Pratica  delle  due  prime  matematiche  (1546)  werden  auch  von  dem 
Geschichtsschreiber,  welchem  wir  diese  Büchertitel  entnehmen,  keine 
besonderen  Verdienste  in  Anspruch  genommen,  während  ein  anderer 
Schriftsteller  ^)  von  Feliciano  zu  berichten  weiss ,  er  sei  der  erste, 
der  von  einer  feldmesserischen  Vorrichtung  mit  Namen  Squadro  sjjreche, 
welche  auf  einer  Figur  durch  einen  kleinen  Kreis  dargestellt  sei,  und 
welche  nach  einem  Berichte  des  Feliciano  über  Reisen,  welche  er 
unternahm,  um  sich  zu  unterrichten,  schon  seit  Ende  des  XV.  Jahr- 
hunderts in  Gebrauch  gewesen  sein  müsse.  Der  Name  Sfortunati's 
begegnet  uns  von  mitunter  ihn  zurechtweisenden  Bemerkungen  be- 
gleitet  in    den   Schriften   der  wirklich  hervorragenden   Mathematiker 


1)  Libri  III,  145—147.  ')  Wertheim  brieflich.  =*)  Giov.  Rossi, 

Groma  e  squadro  (Torino  1877)  pag.  116 — 121. 

Cantok,  Geschichte  der  Mathem.    II.    2.  Aufl.  31 


482  61-  Kapitel. 

der  Zeit,  von  denen  wir  gleich  zu  reden  haben.  Der  hochtrabende 
Titel  seines  Werkes  lautet:  Nuovo  lume,  libro  di  arithmetica  (1534). 
Gabriel  de  Aratoribus  aus  Mailand  ist  der  Einzige,  von  dessen 
Erfindungen    uns   eine  ausdrücklich   genannt   wird^).     Er  habe  zuerst 

bemerkt,  dass  \h  —  V  c  )  (h  -}-  Yc  -\-  y  ys)  =  ^'  —  y,  eine  Be- 
merkung, welche   dazu  führt,   den  Bruch  ^  rational  machen  zu 

b  -y~c 

können.      Natürlich    ist    die    Regel    nur    an    einem    Zahlenbeispiele 

:^ —    auseinandergesetzt,    au   diesem   aber  so,   dass   man   erkennen 

3  —  y¥ 

muss,  wie  dem  Ergebnisse 


^h+]/^Si  +  V^i 


463 
331 


entsprechend  in  ähnlichen  Fällen  gerechnet  werden  soll. 

Die  Mathematiker,  deren  wir  in  Ausführlichkeit  zu  gedenken 
haben,  sind  Scipione  del  Ferro,  Hieronimo  Cardano,  Nicolo 
Tartaglia,  Luigi  Ferrari. 

Gleich  für  den  Erstgenannten  sind  wir  allerdings  leider  genöthigt, 
unsere  Zusage  sofort  wieder  wesentlich  einzuschränken,  nicht  weil 
wir  eine  Ausführlichkeit  der  Darstellung  seiner  Verdienste  für  übel 
angebracht  hielten,  sondern  weil  wir  so  wenig  von  ihm  wissen^). 
Wann  und  wo  Scipione  del  Ferro,  lateinisch  Scipio  Ferreus, 
geboren  ist,  wissen  wir  schon  nicht.  Seine  Lehrthätigkeit  an  der 
Universität  in  Bologna  dauerte  30  Jahre  von  1496  bis  1526,  und  im 
letzten  Jahre  seiner  Wirksamkeit  ist  er  zwischen  dem  29.  October 
und  16.  November  gestorben,  wie  aus  Einträgen  von  Besoldungsaus- 
zahlungen in  Bologneser  Acten  hervorgeht.  Am  29.  October  wurde 
noch  eine  Summe  an  ihn  ausbezahlt,  am  16.  November  ist  schon 
von  ihm  als  Verstorbenem  die  Rede.  Nachfolger  Del  Ferro's  in  der 
Professur  war  während  eines  noch  längeren  Zeitraumes  als  dieser  sie 
inne  gehabt  hatte  (1526 — 1560)  sein  Schwiegersohn  Annibale  della 
Nave,  der  auch  in  Besitz  der  nachgelassenen  Schriften  des  Verstor- 
beneu kam,  sie  aber  leider  nicht  durch  den  Druck  zum  Allgemein- 
gute der  damaligen  mathematischen  Welt  machte,  sondern  nur  Ein- 
zelnen den  Einblick  gewährte.  Wohin  der  handschriftliche  Nachlass 
Del  Ferro's  nach  dem   Tode   seines  Erben  gekommen  sein   mag,  ist 


*)  Practica  Arithmeticae  generalis  von  C'ardanus  (1537)  Cap.  LI,  §17. 
*)  Glierardi,  Einige  Materialien  zur  Geschichte  der  mathematischen  Facultät 
der  alten  Universität  Bologna  (deutsch  von  Max.  Curtze)  Berlin  1871  (Sepa- 
ratabzug aus  Grunert's  Archiv  Bd.  LH). 


Italienische  Mathematiker.     Die  kubische  Gleichuug.  483 

auch  nicht  aus  den  leisesten  Andeutungen  zu  errathen.  Zwei  Dinge 
werden  uns  in  Bälde  von  Scipione  del  Ferro  berichtet  werden:  dass 
er  vielfach  mit  jener  damals  bei  einzelnen  Italienern  beliebten  Geo- 
metrie mit  unverändert  bleibender  Zirkelöffnung  sich  be- 
schäftigte und  zur  Verbreitung  dieser  geistreichen  Spielerei  das  Seine 
beitrug,  dass  er  eine  hervorragende  Stelle  in  der  Geschichte  der  Auf- 
lösung der  kubischen  Gleichung  von  der  besonderen  Form 
x^  -\-  ax  =  h  gespielt  hat. 

Wie  er  die  Auflösung  dieses  für  Paciuolo  noch  unmöglichen, 
von  Anderen  in  verkehrter  Weise  behandelten  Falles  zu  Wege  brachte, 
ist  nicht  berichtet  ^\  wenn  wir  auch  glauben  durch  Rückschlüsse  einige 
Kenntniss  davon  erlangen  zu  können.  Wann  er  die  Entdeckung  ge- 
macht, ist  zweifelhaft,  indem  zwei  einander  widersprechende  Angaben 
darüber  im  Drucke  erschienen  sind.  Cardano  erzählt  in  seiner  Ars 
magna  ds  JRegulis  Algebraicis'^)  von  1545:  Scipio  Ferreus  Bononiensis 
iam  annis  ab  hinc  triginta  ferme  capitulum  hoc  invenit,  tradidit 
vero  Anthonio  Mariae  Florido  Veneto.  Er  verlegt  also  die  Erfindung 
etwa  auf  1515  und  lässt  ungewiss,  wann  die  Mitthoilung  an  jenen 
Floridus  erfolgte.  Tartaglia  dagegen  in  seinen  Quesitl  von  1546 
erzählt^),  jene  Mittheilung  an  Floridus  sei  etwa  1506  erfolgt,  denn 
aus  einem  am  10.  December  1536  stattgefundenen  Gespräche  werden 
die  Worte  berichtet:  se  avantava  che  giä  trenta  anni  tal  secreto  gl 
era  stato  mostrato  da  un  gran  mathematico.  Die  Entdeckung  selbst 
würde  somit  möglicherweise  noch  weiter  hinaufrücken.  Uns  scheint, 
so  wenig  auf  die  Festlegung  der  Erfiudungszeit  an  sich  Gewicht  zu 
legen  ist,  weil  keinenfalls  vor  1545  etwas  davon  in  die  grössere 
Oeffentlichkeit  drang,  die  Angabe  Cardano's  die  glaubwürdigere,  weil 
sie,  wie  wir  sehen  werden,  auf  Mittheilungen  des  Schwiegersohnes 
des  Erfinders  sich  stützt. 

Aber  dieser  Widerspruch  in  den  Zeitangaben  ist  nur  ein  kleines 
Beispiel  von  den  Gegensätzen  in  den  Darstellungen,  welche  über  die 
Geschichte  der  Auflösung  der  kubischen  Gleichungen  von  einander 
feindseligen   Schriftstellern    gegeben    worden    sind,    und  wir    müssen, 

')  Der  erste  Versuch,  die  Lösung  des  Del  Ferro  nachzuerfinden ,  dürfte 
1780  von  Francis  Maseres  angestellt  worden  sein,  der  ihn  in  den  Philoso- 
phical  Transactions  für  jenes  Jahr,  Vol.  LXX  pag.  221 — 238,  veröffentlichte. 
-)  Ars  magna  de  Begiüis  Algebraicis,  caput  XI:  De  cubo  et  rebus  aequalibus. 
In  der  Lyoner  Gesammtausgabe  der  Werke  des  Cardano  von  1663,  die  wir  als 
Cardano  kurzweg  citiren,  findet  sich   die  Stelle  Bd.  IV,  pag.  249.  ^)   Quesito 

XXV  fatfo  da  M.  Zuaiie  di  Tonini  da  Coi  personalmente.  l'anno  1536  adi 
10.  Dccembrio  in  Venetia.  In  den  1606  in  Venedig  gedruckten  Opere  del  Tar- 
taglia steht  die  Stelle  in  dem  Quesiti  benannten  Abschnitte,  den  wir  kurzweg 
als   Quesiti  citiren  werden,  auf  pag.  235. 

31* 


484  64    Kapitel. 

um  zu  einer  unparteischen  Würdigung  zu  gelangen,  die  verschiedenen 
Erzählungen,  wie  sie  auf  einander  gefolgt  sind,  uns  vorführen.  Wir 
gestatten  uns  zur  Erleichterung  der  Uebersichtlichkeit  nur  die  Ver- 
änderung, dass  wir  die  vorkommenden  Gleichungen  u.  s.  w.  in  der 
heute  üblichen  Form  schreiben  und  nicht  von  cubo,  ceuso,  cosa, 
numero  sprechen,  um  Potenzen  der  Unbekannten  oder  die  Gleichungs- 
constante  zu  bezeichnen,  wie  es  bei  Cardano  sowohl  als  bei  Tartaglia 
alleinige  Uebung  war. 

Im  Jahre  1545  erschien  in  Nürnberg  bei  dem  dortigen  Buch- 
drucker Petreius  und  mit  einer  Widmung  an  Andreas  Osiander 
versehen  ein  Buch  des  Cardano  unter  dem  Titel  Ars  magna  de 
rebus  AJgebraicis.  Gleich  im  I.  Kapitel  und  dann  wiederholt  im 
XI,  KapiteP)  erzählt  der  Verfasser,  wie  die  Entwickelung  der  Algebra 
geschichtlich  verlaufen  sei.  Der  Ai-aber  Muhammed  habe  die  Lehre 
begi-ündet.  Die  quadratischen  Gleichungen  seien  von  ihm  erledigt 
worden,  wie  man  aus  dem  Zeugnisse  des  Leonardo  von  Pisa  ent- 
nehmen könne.  Abgeleitete  Gleichungsformen ,  welche  P  a  c  i  u  o  1  o 
veröffentHchte,  haben  dem  sich  fügen  müssen;  wer  sie  bewältigte, 
wisse  man  nicht.  Gemeint  sind  diejenigen  Gleichungen,  welche  in 
der  allgemeinsten  Form  «ic*  +  6x^  +  c  =  0  enthalten  sind.  Andere 
abgeleitete  Formen,  in  welchen  eine  Gleichungsconstante  neben  x^ 
und  x'^  vorkomme,  seien,  fährt  Cardano  fort,  wie  er  gelesen  habe, 
von  einem  Unbekannten  behandelt  worden;  im  Drucke  seien  diese 
Ergebnisse  nicht  erschienen.  In  der  Neuzeit  erfand  Scipio  Ferreus 
die  Auflösung  von  x^  -f"  f<^  "==  ^  '^^^  theilte  sie  seinem  Schüler 
Floridus  mit.  Letzterer  hatte  aber  einen  wissenschaftlichen  Wett- 
kampf mit  Nicolaus  Tartalea,  und  bei  dieser  Veranlassung  entdeckte 
Tartalea  neuerdings  die  Auflösung.  Von  ihm,  seinem  Freunde, 
habe  er  mit  vielen  Bitten  die  Auflösung  erlangt"),  welche  er  bisher, 
durch  Paciuolo's  Aeusserungen  irre  geleitet,  für  unmöglich  gehalten 
hatte.  Jetzt  in  den  Besitz  des  einen  Falles  gelangt  habe  er  auf 
den  Beweis  Jagd  gemacht  und  dabei  erkannt,  dass  noch 
Mancherlei  gefunden  werden  könne.  Auch  Ludovicus  Fer- 
rari, sein  ehemaliger  Schüler,  hat  Einiges  hinzuentdeckt.  Was  diese 
Männer  fanden  werde  mit  ihrem  Namen  versehen  werden,  wo  ein 
Name  fehle,  seien  die  Sätze  sein  Eigenthum^). 

Die  Ars  magna  de  rebus  Algebraicis  war  noch  kein  Jahr  er- 
schienen,  so   verhess  1546  in  Venedig  ein  Werk  des  Tartaglia  die 


^)  Cardano  IV,  222  und  249.       ^)  qiii  mihi  ipsum  muliis  preeibus  exoratus 
tradidit.  ^)  Porro  quae  ab  his  inventa  sunt  illonim  nominibus  decorabimtur, 

caetera  quae  nomine  carent  nostra  sunt. 


Italienische  Mathematiker.     Die  kubische  Gleichung.  485 

Presse,  welches  die  Ueberschrift  führte :  Quesiti  et  inventioni  diverse 
de  Nicolo  Tartaglia.  Es  waren  zunächst  acht  Bücher  voll  von  Erfin- 
dungen, welche  zumeist  der  Mechanik  mit  Einschluss  der  Ballistik 
oder  Lehre  von  den  Geschossen  und  der  Befestigungskunde  ange- 
hörten. Quesiti,  Fragen,  war  als  Ueberschrift  benutzt,  weil  die  Aus- 
einandersetzung immer  an  Fragen  anknüpfte,  welche  zu  bestimmt 
angegebenen  Zeiten  von  bestimmt  genannten  Persönlichkeiten  vor- 
gelegt worden  waren,  eine  untrügliche  Sicherstellung  der  betreffenden 
Erfindung  und  der  angeführten  Thatsacheu,  wenn  die  Personen,  auf 
welche  Bezug  genommen  wurde,  noch  am  Leben  und  erreichbar  waren. 
Als  9.  Buch  schloss  sich  genau  in  der  gleichen  Darstellungsform, 
wie  wir  sie  als  die  der  acht  ersten  Bücher  geschildert  haben,  eine 
Reihe  von  42^  quesiti  an,  worin  von  mathematischen  Dingen,  haupt- 
sächlich von  kubischen  Gleichungen  und  deren  Auflösung  die  Rede 
ist.  Das  Bild,  welches  hier  von  dem  geschichtlichen  Gange  gegeben 
ist,  ergänzt  Cardano's  Zeichnung  durch  sehr  wesentliche  Züge.  Im 
Jahre  1530,  so  weit  gi-eift  Tartaglia's  Darstellung  zurück,  legte  ein 
gewisser  Zuane  de  Tonini  da  Coi,  mit  lateinischer  Namensform 
Co  IIa,  ihm  zwei  Aufgaben  vor:  Eine  Zahl  zu  finden,  welche  mit 
ihrer  um  3  vermehrten  Quadratwurzel  vervielfacht  das  Product  5 
gebe  {x^  -f-  ?>x^  =  5),  und  drei  Zahlen  zu  finden,  von  welchen  jede 
folgende  um  2  gi-össer  sei  als  die  vorhergehende  und  die  als  Product 
1000  geben  (cc^  +  6a-  +  Sx  =  1000).  Tartaglia  hielt  es  nicht  für 
unmöglich  die  zweite  Aufgabe  zu  lösen,  wenn  er  auch  keine  Regel 
dafür  kannte;  für  die  Auflösung  der  ersten  Aufgabe  vollends  war  er 
überzeugt  eine  allgemeine  Regel  gefunden  zu  haben,  die  er  aus  ver- 
schiedenen Gründen  noch  zu  verschweigen  für  gut  halte  ^).  Trotz 
dieses  absichtlichen  Schweigens  können  wir  aus  anderen  Angaben 
wenigstens  die  Richtung  erkennen,  wohin  Tartaglia's  regola  generale 
zielte.  In  den  ersten  Monaten  des  Jahres  1535  stellte  nämlich  Tar- 
taglia seinerseits  die  Aufgaben^),  eine  irrationale  Grösse  zu  finden, 
welche  mit  ihrer  um  40  vermehrten  Quadratwurzel  vervielfacht  ein 
rationales  Product  gebe,  und  gleichermassen  eine  zweite  irrationale 
Grösse,  welche  mit  dem  Unterschiede  zwischen  30  und  ihrer  Quadrat- 
wurzel vervielfacht  Rationales  liefere.  Darnach  vermochte  er  x^  -|-  4:0  x^ 
und  dOx^  —  x^,  wahrscheinlich  allgemein  x^  -j-  ax^  zu  einem  ratio- 
nalen Werthe  zu  machen,  aber  das  war  noch  lange  nicht  die  Auf- 
lösung von  x^  -j-  ax^  =  c,  d.  h.  Auflösung  der  vorgenannten  Aufgabe 


^)  Quesiti  pag.  224 :  quello  de  cuho  e  censo  equal  a  numero  io  me  x^ersuado 
di  liauervi  trovato  la  sua  regola  generale,  ma  per  al  presente  la  voglio  iacere  per 
piu  rispetti.         ^)  Ebenda  pag.  23G. 


486  64.  Kapitel. 

mit  Angabe  desjenigen  rationalen  Werthes,  den  x^  -\-  ax'  erhalten 
sollte.  Am  15.  December  1536  gab  Tartaglia  den  Werth  von  x  an, 
welcher    x-(x  -\-  40)   rational  zu   machen   geeignet  sei.     Nehme  man 

a;2  =  78  —  ]/3Ö8,  so  sei  x  =  VlS  —  j/Söf  =  ]/77  —  1   und 

(78  —  ]/3Ü8)  ■  (]/77  —  1  +  40)  =  2888. 
Da  Coi  erhob  den  Einwand,  welchen  wir  grade  geäussert  haben;  er 
sagte,  Tartaglia's  Beispiel  gründe  sich  darauf,  dass  x^  -\-  ax^  mittels 
x^  ^  2a  —  2  —  ySa —  12  =  (")/2a  —  3  —  l)^  rational  werde,  aber 
Tartaglia  behauptet  in  einem  Briefe  an  Cardano  vom  12.  Februar 
1539,  Da  Coi  habe  seine  Aufgabe  nur  für  den  besonderen  Fall  der 
Form  x  =  Ym  —  n  zu  lösen  verstanden^).  Worin  seine  regola  ge- 
nerale bestehe,  oder  auch  nur  wie  weit  er,  Tartaglia,  die  Leistung 
Da  Coi's  zu  überbieten  vermöge ,  erfahren  wir  1539  so  wenig  als 
1530.  Es  war  hier  von  Aufgaben  aus  dem  Jahre  1535  die  Rede. 
Damals  trat  eine  weitere  Persönlichkeit  in  den  Kreis  der  von  Tar- 
taglia Genannten:  Antoniomaria  Fior,  der  Floridus  des  Carda- 
nischen  Berichtes.  Dieser  habe  in  einen  mathematischen  Wettkampf 
auf  30  Aufgaben,  welche  jeder  dem  Gegner  zu  stellen  berechtigt  sein 
sollte,  mit  Tartaglia  sich  eingelassen,  und  der  Verlauf  des  Wett- 
kampfes wird  in  einem  Gespräche  mit  Da  Coi  vom  10.  December  1536 
erzählt-).  Die  Aufgaben  Fior's  waren  sämmtlich  von  der  Form 
x^  -\-  ax  ^^  h,  und  Fior  gab  dabei  an,  er  sei,  wenn  auch  einfacher 
Praktiker,  schon  seit  30  Jahren  im  Besitze  der  ihm  von  einem  grossen 
Mathematiker  anvertrauten  Auf lösungsmethode  ^).  Tartaglia  strengte 
sich  nun  aufs  Höchste  an,  die  Regel  sich  zu  verschaffen,  und  durch 
sein  gutes  Geschick  fand  er  sie,  ^9er  mia  bona  sorte  la  ritrovai,  acht 
Tage  vor  Ablauf  des  Termins,  an  welchem  die  Auflösungen  einem 
Notare  übergeben  werden  mussten,  nämlich  am  12.  Februar  1535. 
Folgenden  Tags,  am  13.  Februar,  fand  Tartaglia  auch  die  Auflösung 
des  Falles  x^  =  ax  -{-  h.  So  war  Tartaglia  im  Stande,  sämmtliche 
30  Auflösungen  rechtzeitig  und  richtig  einzuliefern.  Fior  dagegen 
rühmte  sich,  auch  die  ihm  gestellten  Aufgaben  gelöst  zu  haben,  ver- 
langte aber,  einige  seiner  Freunde  sollten  zur  Prüfung  seiner  Auf- 
lösungen auserwählt  werden,  worauf  Tartaglia,  so  erzählt  dieser 
wenigstens*),    ihm    öffentlich    ein    Geschenk    mit    dem    Wettbetrage 


1)  Quesiti  pag.  239,  243,  262.  ^)  Ebenda  pag.  234—237.  ^)  anchor  che  non 
havesse  theorica,  se  avantava  che  giä  trenta  anni  tal  secreto  gli  era  stato  mostrato 
da  an  gran  mathematico.  *)  lui  voleva  che  se  elegesse  alciini  suoi  amici,  che 

giudieassero  se  lui  gli  haveva  hen  risolti,  over  non,  la  quäl  cosa  vedendo,  che  da 
ognuno  era  giudicato  per  perdentc,  io  gli  feci  puhlicamente  un  presente  del  precio 
giocato. 


Italienisclie  Mathematiker.     Die  cubische  Gleichung.  487 

maclite,  da  Fior  von  Jedem  als  besiegt  betrachtet  wurde.  In  Briefen 
vom  8.  Januar,  vom  17.  Februar  1537  drängte  nunmehr  Da  Coi,  dass 
Tartagiia  seine  Entdeckungen  veröffentlichte.  Sein  könne  er  sie  ohne- 
dies nicht  nennen,  da  Fior  sie  gleichfalls  besitze  und  aus  verletzter 
Eigenliebe  leicht  dahin  geführt  werden  könne,  etwaigen  Gegnern  von 
Tartagiia  bei  Wettkämpfen  beizustehen.  Nach  zwei  weiteren  Jahren 
liegen  die  Sachen  noch  genau  ebenso,  wie  sie  1537  lagen ^).  Car- 
dano,  der  nach  Tartaglia's  Darstellung  jetzt  zum  ersten  Male  in 
Sceue  trat,  wandte  sich  am  12.  Februar  1539  brieflich  an  Tartagiia 
um  dessen  Entdeckungen.  Er  stellte  dabei  die  Frage  ^)  nach  vier  in 
stetiger  geometrischer  Progression  gebildeten  Zahlen,  deren  Summe 
10  und  deren  Quadratsumme  60  sei;  eine  ähnliche  Aufgabe  habe 
Paciuolo  schon  gestellt,  aber  nicht  beantwortet.  Ausserdem  war  in 
dem  Briefe  die  Rede  von  einem  gewissen  an  Geld  und  Einfluss  reichen 
Marcliese,  welcher  die  grösste  Sehnsucht  besitze,  Tartaglia's  Unter- 
suchungen kennen  zu  lernen.  Schon  am  18.  Februar  antwortete  Tar- 
tagiia. Die  sehr  elegante  Auflösung  der  Aufgabe  von  der  geometrischen 
Progression  kommt  im  Wesentlichen  auf  Folgendes  heraus^).  Seien 
a,  ae,  ae",  ac^  die  Reihengiieder  und  Ä  ihre  Summe;  sei  ferner 
ae  ^  ae-  =  x,  mithin  a  -\-  ae^  =  A  —  x.     Man  findet  leicht 

x^  =  (A  -{-2x)a  •  ae^ 
oder  in  anderer  Form 

x^  =  (A  -\-  2x)ae  ■  ae". 
So  gewinnt  man  zwei  Gleichungspaare 

ae  -f-  «e^  =  ^      nebst     ae  ■  ae^ 


A  +  2x' 
a  -\-  ae^  ^^^  A  —  x    nebst      a  ■  ac?  =  -. — r- -r— 


noch   einzeln   gegeben   und   somit   erhält   man   in  von  x  abhängenden 
Werthen  die  vier  Glieder  der  Reihe  ,     . 


+ 


A-\-2x 

W^Ax^-^ 
A  -f  2  a; 


^)  Quesito  XXXIII,  pag.  254—263.  ^)  Ebenda  pag.  256.  ^^  Ebenda 

pag.  259—260. 


488  61-  Kapitel. 


Vi 


3  1 


Ä  +  2x 


0^    ,     1/   ^ 4 


^3  _  ^^^2  . 

4 


Werden  die  einzelnen   Glinder  quadrirt  und  dann  addirt,  und  heisst 

B  die  bekannte  Quadratsumme,  so  findet  man  — ,    .^  - —  =  JB,    und 

nun  ist  x  und  sind  durch  a;  die  Reihenglieder  als  gefunden  zu  betrach- 
ten. Bezüglich  der  kubischen  Gleichung  aber  antwortete  Tartaglia 
entschieden  ausweichend.  Er  mache  es  nicht  wie  Andere,  die  ihre 
Bücher  mit  breitgetretenen  Geschichten  füllen;  er  liebe  es,  nur  Ent- 
deckungen in  denselben  zu  veröffentlichen.  Wann  freilich  das  sein 
werde,  sagte  Tartaglia  in  diesem  Briefe  nicht,  aber  Da  Coi  gegenüber 
hatte  er  sich  am  15.  December  ausgesprochen^),  und  im  gleichen 
Sinne  äusserte  er  sich  in  einer  mündlichen  Unterredung  mit  Cardano, 
welche  am  25.  März  1539  in  Mailand  stattfand^);  er  sei  mit  einer 
Euklidübersetzung  beschäftigt,  und  bevor  diese  vollendet  sei,  gebe  er 
seine  Auflösung  von  x'^  -\-  ax  =^  h  nicht  her;  sie  bilde  nämlich  den 
Schlüssel  zu  zahlreichen  weiteren  Entdeckungen,  welche  er  sich  nicht 
von  Anderen  wegnehmen  lassen  wolle,  was  zu  befürchten  stehe,  wenn 
er  gegenwärtig  schon  diesen  Schlüssel  aus  der  Hand  gebe.  So  wohl- 
begründet diese  Abweisung  war,  so  liess  sich  Tartaglia  doch  in  der 
gleichen  Unterredung,  in  welcher  wieder  von  dem  bewussten,  nie 
mit  Namen  genannten,  im  Augenblicke  zufällig  abwesenden  Marchese 
die  Rede  war,  und  in  welcher  Cardano  einen  heiligen ,  später  in 
einem  Briefe  vom  12.  Mai  1539  bestätigten^)  Eid  schwur,  das  ihm 
Anvertraute  ■  geheim  zu  halten,  so  weit  breitschlagen,  dass  er  in 
Versen  seine  Methode  aussprach. 

Quanclo  che'l  cubo  con  le  cose  appresso, 

Se  agguaglia  ä  qualche  numero  discreto 

Trouan  dui  altri,  differenti  in  esso. 
Dapoi  terrai,  questo  per  consueto, 

Che'l  lor  produtto  sempre  sia  eguale 

AI  terzo  cubo,  delle  cose  neto. 
El  residuo  poi  suo  generale 

Dein  lor  lati  cubi,  ben  sottratti 

Varrä  la  tua  cosa  principale. 
In  el  secondo,  de  cotesti  atti; 

Quando  che'l  cubo  restasse  lui  solo, 

Tu  osserverai  quest'  altri  contratti, 


1)  Quesiti  pag.  237.         -)  Ebenda  pag.  265.         ^)  Ebenda  pag.  269. 


Italienische  Mathematiker.     Die  kubische  Gleichung.  489 

Del  numer  farai  due,  tal  part'  a  uolo, 

Che  l'una,  in  l'altra,  si  procluca  schietto, 

El  terzo  cubo  della  cose  in  stolo; 
Delle  quäl  poi,  per  commun  precetto, 

Torrai  li  lati  cubi,  insieme  gionti 

Et  cotal  somma,  sarä  il  tuo  concetto: 
El  terzo,  poi  de  questi  nostri  conti, 

Se  solue  col  secondo,  se  ben  guardi 

Che  per  natura  son  quasi  congionti. 
Questi  trouai,  et  non  con  passi  tardi 

Nel  mille  cinquecent'  e  quattro  e  trenta; 

Con  fondamenti  ben  saldi,  e  gagliardi. 
Xella  Cittä  dal  mar'  intorao  centa  ^). 

Der    scheinbare  Widerspruch    gegen    die   frühere    Datumsangabe    des 
12.  Februar  1535  (S.  486)    beruhte   auf   der  venetianischen   Zeitrech- 
nung  mit  späterem  Jahresanfänge,   so   dass    der  Monat  Februar  dem 
Jahresende  von  1534  angehörte.     Nach  der  Unterredung,  beziehungs- 
weise  der  Mittheilung    der    Verse,    die    man   kaum    als   Stegreifverse 
vs^ird  betrachten  dürfen,  so  dass  es  beinahe  aussieht,  als  habe  Tartaglia 
sich    darauf  vorbereitet,  sich    überrumpeln    zu    lassen,    reiste    dieser 
schleunigst    ab.     Cardano    verstand    den   Sinn    der   Verse   nicht,    was 
man  ihm  kaum  wird  verübeln  können,  und  wandte  sich  am  9.  April 
abermals   brieflich    an  Tartaglia    um   Erläuterung,    welche    dieser    in 
seiner  Antwort  vom  23.  April  1539  nunmehr  auf's  Deutlichste  gab^j. 
Man  müsse,    um    x^  =  ax  -\-  h    aufzulösen,    die    beiden    Gleichungen 
u  —  V  ==h,    UV  =  \-^\     behandeln,  dann  sei  x  =  ")/w  —  yv.     Auch 
hier  bedarf  es  kaum   der  Bemerkung,    dass  unsere  Darstellung    den 
Sinn,  aber  nicht  die  Form  von  Tartaglia's  Auseinandersetzungen  wieder- 
giebt,  in  denen  allgemeine  Buchstabenausdrücke  überhaupt  nicht  vor- 
kommen.   Nun  machte  Cardano  sich  neuerdings  an  die  Untersuchung 
und    bemerkte  ^)    am  4.  August   1539    die    Schwierigkeit    des    Falles, 
welchen   man   später  den  irreductibeln   genannt  hat,    und  welcher 
zu  Tage  tritt,  wenn  (y)  V  (-~)^  z.B.  bei  x^  =  ^x-{-10,  wo  27  >  25. 
Tartaglia  erkannte   aus   dieser  Beobachtung    Cardano's,   dass   derselbe 
mit  eigenen    Forschungen  vorangegangen  war    und  suchte   in    seiner 
Antwort  ihn  irre  zu  leiten,  was  ihm  aber  nicht  gelang.     Inzwischen 
kam  Da  Coi   im  Januar  1540  nach  Mailand,    verkehrte  daselbst  mit 
Cardano,  gab   auch  einige  Monate    hindurch    mathematischen  Unter- 
richt,  dann  reiste   er  mit  Schimpf  un(J   Schande  bedeckt   wieder  ab, 
um  plötzlich  Mitte  April  neuerdings   dort  aufzutauchen   und    in    die 
dem  Cardano   abgenommene  Professur   der  Mathematik   einzutreten^). 
1)  Quesiti  pag.  266.     ^)  Ebenda  pag.  268.     ^)  Ebenda  pag.  271.     *)  Ebenda 
pag.  275  und  278, 


490  64.  Kapitel. 

Noch  ein  letztes  Gespräch  aus  dem  Jahre  1541  ist  in  den  Quesiti 
abgedruckt.  Es  findet  zwischen  Tartaglia  und  einem  englischen 
Freunde  Ricardo  Venthuorthe  vor  dessen  Rückreise  in  die  Heimath 
statt  und  enthält  zwei  nicht  unwesentliche  Mittheilungen,  welche  wir 
zu  späterer  Benutzung  uns  merken  wollen.  Erstens  behauptet  Tar- 
taglia, ax^  =  &  -f-  ^^  besitze  zwei  oder  vielleicht  noch  mehrere  Auf- 
lösungen^), und  zweitens  erzählt  er-),  er  habe  in  der  schlaflosen 
Xacht  von  Martini  1536  die  Auflösung  der  Gleichungen  x^  -\-  ax^  =  h, 
x^  ^h  =  ax^  und  x^  =  ax^  -\-  h  gefunden.  Ueber  Cardano's  Buch 
von  1545  ist  in  den  Quesiti  keine  unmittelbare  Aeusseruug  vorhan- 
den, aber  die  Erzählung  von  dem  am  25.  März  1539  geleisteten,  am 
12.  Mai  gleichen  Jahres  bestätigten  Eide  kam  doch  der  unmittel- 
baren Beschuldigung,  durch  jenes  Buch  einen  Eidbruch  begangen  zu 
haben,  sehr  nahe.  Tartaglia's  englischer  Freund  hiess  in  richtiger 
Schreibart  des  Namens  Richard  Wentworth  und  war  der  Sohn 
von  Thomas  Wentworth,  der  wegen  seines  Reichthums  Gold- 
Thomas,  Golden  Thomas,  genannt  wurde  und  einer  holien  Geldstrafe 
sich  unterwarf,  um  nicht  zum  Ritter  ernannt  zu  werden.  Eben- 
derselbe Thomas  erhielt  1528  das  Vorrecht,  in  Gegenwart  des  Königs 
bedeckten  Hauptes  bleiben  zu  dürfen^). 

Lodovico  oder  Luigi  Ferrari,  der  dankerfüllte  Schüler  Car- 
dano's, der  sich  mit  seinem  Lehrer  so  sehr  eins  wusste,  dass  er  sich 
selbst  von  ihm  geschaffen,  die  sono  creato  suo,  nannte,  nahm  den  hin- 
geworfenen Fehdehandschuh  auf,  oder  vielmehr  beantwortete  ihn  durch 
eine  öffentliche  Herausforderung  an  Tartaglia,  und  bei  dieser  allein 
blieb  es  nicht,  denn  Tartaglia  gab  eine  Erwiderung,  und  nicht  weniger 
als  sechsmaliger  Wechsel  solcher  Schmähschriften  Hess  die  gelehrte 
Mitwelt  erkennen,  dass  wenigstens  im  Gebrauche  von  Ausdrücken, 
wie  man  sie  nur  auf  Fischmärkten  zu  vernehmen  pflegt ,  die  beiden 
Gegner  einander  vollständig  gewachsen  waren.  Sämmtliche  6  Car- 
k'lli  und  6  Bisposte,  Herausforderungen  und  Erwiderungsschreiben, 
haben  sich  erhalten^).  Sie  waren  als  Flugschriften  gedruckt  und 
wurden  massenweise  verbreitet.  Alle  führen  neben  der  Unterschrift 
des  Verfassers  auch  die  von  Zeugen,  welche  das  Datum  der  Unter- 
schrift beglaubigten.    Ferrari's  Cartelli  sind  vom  10.  Februar,  1.  April, 


'j  Quesiti  pag.  281.  ^)  Ebenda  pag.  282.  ^)  Catalogue  Lihri  (1861)  II, 
737—738.  *)  I  sei  cartelli  di  matematica  disfida  primamente  intorno  alla  gene- 
rale risoluzione  delle  equazioni  cuhiehe  di  Lodovico  Ferrari  coi  sei  contro-cartelli 
in  risposta  di  Nicola  Tartaglia  comj)rendenti  le  solusioni  de'  quesiti  dalV  una  e 
daW  altra  parte  propositi.  Baccolti  autografati  e  pubblicaii  da  Enrico  Giordani. 
Milano  1876.  Der  Ausdruck  che  sono  creato  suo  ist  von  Ferrari  erstmalig  Car- 
tello  I  pag.  2  gebraucht. 


Italienische  Mathematiker.     Die  kubische  Gleichung.  491 

l.Juiii,  10.  August,  October  1547,  14.  Juli  154<S.  Tartaglia's  Risposte 
sind  vom  19.  Februar,  21.  April,  9.  Juli,  30.  August  1547,  16.  Juni, 
24.  Juli  1548,  so  dass  also  durch  rund  anderthalb  Jahre  die  wüste 
Schimpferei  in  Thätigkeit  blieb.  Wir  würden  sie  unberücksichtigt 
lassen,  wenn  nicht  zwischen  dem  gegenseitigen  Schelten  auch  That- 
sächliches  mitgetheilt  wäre,  welches  zu  wissen  uothwendig  ist  Ferrari, 
sagten  wir,  trat  als  Kämpfer  für  seinen  geliebten  Lehrer  auf.  Er 
behauptet  in  den  ersten  Büchern  der  Quesiti,  deren  8.  Buch  ein  Pla- 
giat an  Jordanus  Nemorarius  sei  (eine  Anklage,  welche  im  IL  Cartello 
wiederkehrt)^)  eine  Menge  von  Fehlern  nachweisen  zu  können;  er 
behauptet,  Tartaglia  habe  mit  Unrecht  Tadel  gegen  Cardano  erhoben, 
den  er  zu  nennen  kaum  würdig  sei,  il  quäle  a  pena  sete  degno  di 
nominare;  er  erbietet  sich,  um  einen  zu  hinterlegenden  Betrag,  der 
bis  zur  Höhe  von  200  Scudi  von  Tartaglia  bestimmt  werden  möge, 
mit  diesem  über  alte  und  neue  Schriftsteller,  fremde  und  eigene  Er- 
findungen öffentlich  zu  disputiren.  Tartaglia  erwiderte ,  er  denke 
gar  nicht  daran,  auf  Ferrari's  Herausforderung  einzugehen;  er  habe 
nur  mit  Cardano  einen  Streit,  und  wenn  dieser  sich  bereit  finde  her- 
vorzutreten, dann  sei  es  ihm  recht.  Er  schlage  dann  vor,  sich  gegen- 
seitig Aufgaben  zu  stellen,  die  Jeder  in  seiner  Heimath,  Cardano 
und  Ferrari  in  Mailand,  er  in  Venedig  zu  lösen  habe;  dadurch  sei 
die  Reise  an  einen  fremden  Ort  ebensowohl  als  die  öffentliche  Dis- 
putation und  die  Wahl  von  Richtern  vermieden.  Im  IL  Cartello 
kam  Ferrari  auf  die  Geschichte  der  Auflösung  der  kubischen  Glei- 
chungen-). Tartaglia's  Vorwürfe  gegen  Cardano  beruhten  darauf,  dass 
dieser  seine  Erfindung  preisgegeben  habe.  Wie  aber,  wenn  das  von 
Cardano  Veröffentlichte  die  Erfindung  eines  Dritten  war?  „Vor  jetzt 
fünf  Jahren,  erklärt  Ferrari  dadurch  das  Jahr  1542  bezeichnend,  als 
Cardano  nach  Bologna  reiste  und  ich  ihm  Begleiter  war,  sahen  wir 
Annibale  de  Nave,  einen  Mann  von  Geist  und  liebenswürdigen  Um- 
gangsformen, der  uns  ein  von  der  Hand  seines  Schwiegervaters 
Scipione  del  Ferro  vor  langer  Zeit  geschriebenes  Büchlein  zeigte,  in 
welchem  jene  Erfindung  mit  Eleganz  und  Gelehrsamkeit  entwickelt 
niedergelegt  ist.  Ich  würde  Solches  nicht  schreiben,  um  nicht  den 
Schein  auf  mich  zu  laden,  dass  ich,  wie  es  Deine  Gewohnheit  ist, 
Gespräche  erfinde,  wenn  nicht  Annibale  noch  am  Leben  wäre,  und 
als  Zeuge  beigezogen  werden  könnte.  Und  überdies  was  bedarf  es 
äusseren  Zeugnisses?  Gestehst  Du  am  Ende  Deines  Buches  ,  in  eben 
jenem  Abschnitte,  in  welchem  Du  in  so  unverschämter  Weise  Car- 
dano  nennest,   nicht    selbst    zu,    dass    Dein   Gegner    Fior    vor    vielen 


^)  Cartello  I  pag.  2  und  Cartello  II  pag.  6.        ")  Cartello  II  pag.  3, 


492  64.  Kapitel. 

Jahren  die  genannte  Erfindung  besass?"  Wir  lassen  sofort  aus  Tar- 
taglia's  Risposta  \)  seine  Erwiderung  auf  diesen  Punkt  folgen.  „Was 
diese  Einzelheit  betrifft,  so  scheint  es  mir  nicht  erlaubt,  sie  zu  be- 
streiten, geschweige  denn  zu  leugnen,  denn  es  wäre  eine  übergrosse 
Anmassung  Ton  mir,  zu  verstehen  zu  geben,  dass  Dinge,  welche 
durch  mich  erfunden  worden  sind,  nicht  zu  anderen  Zeiten  von  An- 
deren erfunden  worden  sein  können  und  in  gleicher  Weise  in  Zukunft 
von  Anderen  erfunden  werden  dürften,  auch  wenn  sie  nicht  durch 
den  genannten  Herrn  Hieronymo  oder  mich  der  Oeffentlichkeit  über- 
geben worden  wären.  Wohl  aber  kann  ich  der  Wahrheit  gemäss 
sagen,  dass  ich  diese  Dinge  niemals  bei  irgend  einem  Schriftsteller 
gesehen  habe,  dass  ich  sie  vielmehr  und  zwar  rasch  erfunden  habe, 
zugleich  mit  anderen  Einzelheiten,  die  vielleicht  von  noch  grösserer 
Bedeutung  sind."  Vielleicht  rechnete  Tartaglia  zu  diesen  Einzelheiten 
die  auf  der  gleichen  Seite  der  IL  Risposta  erwähnte  Erledigung  der 
drei  Fälle  vom  Kubus,  Census  und  Zahl,  welche  er,  wie  vielen  Leuten 
in  Venedig  bekannt  sei,  schon  fünf  Jahre  vor  seinen  sonstigen  Er- 
öffnungen an  Cardano,  mithin  1534,  vollzogen  haben  will.  Wieder 
in  der  IL  Risposta^)  wendet  sich  Tartaglia  gegen  den  früher  erwähnten 
Vorwurf  eines  Plagiates  an  Jordanus  Nemorarius.  Jedenfalls  seien 
die  Beweise,  sei  die  Anordnung  von  ihm  selbst,  und  ein  mathemati- 
scher Satz  ohne  Beweis  sei  werthlos;  auch  habe  jeder  Schriftsteller, 
welcher  ein  Werk  in  anderer  Anordnung  als  sein  Vorgänger  heraus- 
gebe, auch  bei  gleichem  Inhalte,  das  Recht  von  seinem  Werke  zu 
reden.  Werfe  man  ihm  vor,  Jordanus  gar  nicht  genannt  zu  haben, 
so  sei  das  aus  Schonung  geschehen,  denn  er  hätte  Jordanus  nicht 
nennen  können,  ohne  ihm  schwere  Vorwürfe  wegen  der  Dunkelheit 
seiner  Darstellung  zu  machen.  Abgesehen  von  diesen  thatsächlichen 
Aeusserungen,  denen  wir  nachher  noch  einige  weitere  hinzuzufügen 
haben  werden,  handelt  es  sich  in  dem  IL  Cartello  und  der  zugehörigen 
Risposta  vielfach  um  Formfragen ,  welche  auch  in  den  folgenden 
Streitschriften  wiederkehren.  Tartaglia  wünscht  regelmässig  die  Person 
Cardano's  ins  Spiel  zu  ziehen,  Ferrari  lehnt  diesen  Versuch  eben  so 
regelmässig  ab.  Ferrari  will  eine  öffentliche  Disputation  in  einer  der 
vier  Städte  Rom,  Florenz,  Pisa,  Bologna,  die  nähere  Wahl  der  Stadt 
Tartaglia  freistellend;  die  Richter  sollen  dann  dem  Orte  der  Dispu- 
tation entnommen  werden;  Tartaglia  besteht  darauf,  man  wolle  sich 
gegenseitig  gedruckte  innerhalb  bestimmter  Frist  zu  lösende  Aufgaben 
vorlegen,  des  Ortswechsels  bedürfe  es  so  wenig  wie  der  Richter,  weil 
mathematische  Auflösungen,  wenn  richtig,  überall  und  von  Jedem  als 


')  Risposta  II  pag.  6.         -;  Ebenda  pag.  7 — 8. 


Italienische  Mathematiker.     Die  kubische  Gleichung.  493 

richtig  erkanntj  beziehungsweise  zugestanden  werden  müssten.  Einen 
weitereu  Streitpunkt  bildet  die  Frage,  wo  und  bei  wem  die  beiden 
Gegner  die  betreffende  Wettsumme  in  Verwahrung  zu  geben  haben 
sollten,  und  ob  baares  Geld  niedergelegt  werden  müsse,  oder  ob  Tar- 
taglia  berechtigt  sein  solle,  statt  eines  Theiles  der  Summe  die  noch 
in  seinem  Besitze  befindlichen  Druckexemplare  der  Quesiti  zu  be- 
nutzen. Tartaglia's  Bestreben,  sagten  wir,  ging  fortwährend  dahin, 
einer  persönlichen  Begegnung  auszuweichen  und  dafür  Aufgaben  stellen 
zu  lassen.  Er  selbst  stellte  schon  in  der  IL  Risposta  deren  31,  zu 
deren  Beantwortung  er  Ferrari  273  Monate  als  Frist  setzte.  Ferrari 
stellte  im  III.  Cartello  31  Gegenaufgaben,  welche  Tartaglia  gleich  in 
der  III.  Risposta  beantwortete,  von  da  an  immer  höhnend,  er  sei 
bereits  Sieger,  da  er  die  ihm  gestellten  Aufgaben  in  kürzester  Frist 
gelöst  habe,  Ferrari  dagegen  jede  Beantwortung  schuldig  geblieben 
sei.  Im  V.  Cartello  begegnete  Ferrari  diesem  Hohne  in  doppelter 
Weise.  Ersthch  zerpflückte  er  unbarmherzig  die  sogenannten  Auf- 
lösungen Tartaglia's,  von  welchen  er  nur  fünf  als  richtig  gelten  liess, 
vierzehn  seien  gar  nicht ,  zwölf  unrichtig  beantwortet ;  zweitens 
schickte  er  die  Beantwortung  sämmtlicher  Aufgaben  des  Tartaglia 
ein.  Bei  letzterer  Gelegenheit  ist  ein  Ausspruch  Ferrari's  nicht  ohne 
Bedeutung.  Die  siebzehn  ersten  Aufgaben  des  Tartaglia  bezogen  sich 
auf  Geometrie  mit  einer  einzigen  Zirkelöffnung ^),  und  dieses,  sagt 
Ferrari,  freue  ihn,  weil  er  wohl  wisse,  dass  seit  etwa  50  Jahren  viele 
schönen  Geister  erfolgreiche  Mühe  darauf  verwandten,  unter  welchen 
Scipione  del  Ferro  aus  Bologna  seligen  Angedenkens  einen  gi-ossen 
Antheil  habe.  Während  die  vier  ersten  Risposte  den  Cartelli  inner- 
halb weniger  Wochen  nachfolgten,  verging  jetzt  ein  achtmonatlicher 
Zwischenraum,  bevor  Tartaglia  antwortete,  und  noch  überraschender 
als  die  Zeitangabe  ist  der  Inhalt  der  V.  Risposta.  Tartaglia  erklärte 
sich  nämlich  jetzt  plötzlich  zu  der  bisher  von  ihm  abgelehnten  öffent- 
lichen Disputation  bereit -j  und  sogar  bereit,  zu  diesem  Zwecke  nach 
Mailand  zu  kommen.  Der  Umschwung  ist  ein  zu  unvermittelter,  als 
dass  nicht  nach  einem  begründenden  Zwischengliede  gefragt  werden 
müsste,  und  Ferrari  fand  dasselbe  darin  ^),  dass  Tartaglia,  der  in- 
zwischen nach  Brescia  übergesiedelt  war,  sich  mit  Annahme  der  Her- 
ausforderung einer  Bedingung  fügte,  die  man  an  seinem  neuen  Wohn- 
sitze ihm  gestellt  hatte. 


^)  CaHello  V  pag.  25 :  quella  bella  inventione  di  operare  senza  mutare  Vaper- 
tura  del  compasso.  Ausführliche  Auszüge  bei  W.  M.  Kutta,  Zur  Geschichte  der 
Geometrie  mit  constanter  Zirkelöffnung  in  Abh.  der  Kaiserl.  Leop.-Garol.  Deut- 
schen Akademie  der  Naturforscher  Bd.  71  Nr.  3.  Halle  1897.  -)  Bisposta  Y 
pag.  7.         ^)  Cartello  VI  pag.  9. 


494  04.  Kapitel 

Wie  dem  sei,  das  öffentliche  Zusammentreffen  in  Mailand  fand 
am  10.  August  1548  statt,  und  über  dessen  Verlauf  ist  ein  Bericht 
von  Tartaglia  vorhanden ^j.  Er  habe  sich  eingefunden  nur  von  einem 
Bruder  begleitet,  während  Ferrari  mit  einer  grossen  Zahl  von  Freun- 
den erschien,  Cardano  hatte  das  Weite  gesucht.  Als  er  der  versam- 
melten Menge  auseinandergesetzt  habe,  was  der  Ursprung  des  Streites 
und  wesshalb  er  nach  Mailand  gekommen  sei,  und  nun  begonnen 
habe,  eine  Kritik  der  31  Auflösungen  Ferrari's  zu  geben,  sei  er  mit 
dem  Verlangen,  erst  müssten  Kampfrichter  gewählt  werden,  unter- 
brochen worden.  Er  habe  diesem  Ansinnen  widersprochen,  weil  er 
keinen  der  Anwesenden  kenne;  Alle  sollten  Richter  sein,  und  mit 
ihnen  Alle,  welchen  seine  gedruckte  Kritik  zu  Händen  kommen  werde. 
Endlich  liess  man  ihn  reden.  Er  fing  mit  der  Kritik  der  Beantwor- 
tung einer  auf  Ptolemäus  bezüglichen  Frage  an  und  brachte  den  Gegner 
dahin,  nicht  leugnen  zu  können,  dass  er  diese  Aufgabe  unrichtig  ge- 
löst habe.  Er  habe  fortfahren  wollen;  da  sei  er  mit  lautem  Zurufe 
unterbrochen  worden,  nun  müsse  Ferrari  zur  Kritik  seiner  Auflösungen 
das  Wort  haben.  Vergeblich  habe  er  mit  der  Stimme  durchzudringen 
versucht  und  beansprucht,  man  möge  ihn  vollenden  lassen,  dann 
könne  Ferrari  reden,  was  er  wolle.  Man  verlangte  aufs  Ungestümste 
das  Wort  für  Ferrari  und  dieser  erhielt  es.  Der  habe  dann  über 
eine  auf  Vitruvius  bezügliche  Aufgabe,  zu  deren  Lösung  er,  Tartaglia, 
angeblich  nicht  im  Stande  gewesen  sei,  so  lange  geschwatzt,  bis  die 
Mittagsstunde  herankam  und  Jeder  zum  Essen  ging.  Da  habe  er, 
Tartaglia,  an  diesem  Verlaufe  gemerkt,  wie  es  gehen  werde,  habe  für 
den  folgenden  Tag  noch  Schlimmeres  befürchtet  und  sei  schweigend 
und  auf  einem  anderen  Wege  als  der  war,  auf  dem  er  gekommen, 
nach  Brescia  zurückgekehrt.  Auf  die  Brescianer  selbst  ist  Tartaglia 
in  diesem  seinem  Berichte  gleichfalls  nicht  sehr  gut  zu  sprechen. 
Man  habe  ihn  dorthin  zur  öffentlichen  Erklärung  des  Euklid  mit 
grossen  Versprechungen  und  kleinen  Erfüllungen  berufen;  man  habe, 
als  er  seine  Besoldung  verlangte,  ihn  von  Herodes  zu  Pilatus  geschickt; 
man  habe  einen  Rechtsstreit,  den  er  darüber  begonnen,  Monate  lang 
herumgezogen,  ihn  endlich  mit  seinen  Ansprüchen  auf  einen  der  ersten 
Rechtsgelehrten  von  Brescia  verwiesen,  mit  welchem  zu  processiren 
er  nicht  Lust  gehabt  habe,  und  so  sei  er  endlich  nach  grossen  Ver- 
lusten nach  Venedig  zurückgekehrt. 

Damit  schliessen  die  gedruckten  Akten  über  den  Streit  wegen 
der  Erfindung  der  Auflösung  der  kubischen  Gleichung.  Aussprüche 
von  Da  Coi   und   von   Fior  sind  nicht  vorhanden.     Ob   sie  bei  Ver- 

^)  Tartaglia,  General  traUato  dl  numeri  et  misure  Part.  II  fol.  41  (Vine- 
gia  1556). 


Italicniscbo  Mathematiker.     Die  kubische  Gleichung.  495 

öifenfclicliung  der  Quesiti  beide  schon  gestorben  waren?  Es  hült  fast 
eben  so  schwer,  es  zu  glauben,  als  es  in  Abrede  zu  stellen.  Denn 
wenn  Fior  noch  lebte,  wie  kommt  es,  dass  keiner  der  beiden  Gegner 
auf  ihn  als  Zeugen  sich  beruft?  wenn  er  todt  war,  wie  kommt  es, 
dass  wieder  mit  keinem  Worte  in  den  Streitschriften  davon  Erwähnung 
geschieht?     Und  das  gleiche  Dilemma  gilt  für  Da  Coi.  <» 

Genöthigt  aus  dem  nun  einmal  allein  Vorhandenen  ein  Urtheil 
zu  begründen ,  müssen  wir  dazu  noch  eine,  wie  uns  scheint,  sihr 
wichtige,  sogar  unerlässliche  Vorfrage  beantworten:  wer  sind  die 
Gegner  selbst?  Wir  meinen,  was  war  ihr  persönlicher  Cha- 
rakter, was  ihre  durch  wissenschaftliche  Thaten  bekundete 
Leistungsfähigkeit? 

Die  uns  für  diesen  Zweck  zu  Gebote  stehenden  Quellen  sind  nicht 
über  jeden  Zweifel  erhaben.  Cardano  hat  in  einer  besonderen  Schrift 
Be  Vita  propria^)  von  sich  erzählt.  Tartaglia  hat  Autobiographisches 
dem  G.  Buche  der  Quesiti  einverleibt").  lieber  Ferrari  berichtet  sein 
Freund  und  Lehrer  Cardano  unter  der  Ueberschrift  Vita  Ludovici 
Ferrarii  Bononiensis  in  kurzem  Lebensabrisse  ^). 

Cardano  hat  ein  jedenfalls  nicht  geschmeicheltes  Bild  seiner 
selbst  der  Nachwelt  hinterlassen.  Ein  Widerstreit  von  Leidenschaften 
der  niedrigsten  Art  und  tiefster  Frömmigkeit,  von  umfassendstem 
Wissen  und  blindem  Aberglauben  steht  er  vor  uns.  Seine  äusseren 
Lebensschicksale  zeigen  ihn  uns  frühreif  durch  harte,  alle  körperlichen 
und  geistigen  Kräfte  fast  im  Uebermaasse  anstrengende  Erziehung. 
Schon  1523  mit  22  Jahren  lehrte  Cardano  in  Pavia  die  Mathematik; 
drei  Jahre  später  war  er  Doctor  medicinae  in  Padua,  konnte  aber  das 
durch  diese  Stellung  ihm  eröffnete  einträgliche  Gewerbe  nicht  aus- 
üben, weil  der  Makel  ausserehelicher  Geburt  an  ihm  haftete;  erst  15o9 
gelang  es  ihm,  in  der  Genossenschaft  der  Mailänder  Aerzte  Aufnahme 
zu  finden.  Nun  schienen  die  Vermögensverhältnisse  des  auch  durch 
zahlreiche  Veröffentlichungen  mathematischen,  philosophischen,  medi- 
cinischen  Inhalts  bald  hochberühmten  Gelehrten  sich  bessern  zu  müssen, 
aber  es  schien  nur  so.  Nach  Dänemark  und  Schottland  wurde  er  be- 
rufen, Frankreich  und  Deutschland  durchstreifte  er,  überall  lolinenden 
Erfolg  findend,  aber  auch  allen  Ausschweifungen  sich  ergebend.  In 
Bologna,  wo  er  von  1562  bis  1570  lehrte,  führte  eine  Schuld  von 
1800  Scudi,  die  er  nicht  zu  tilgen  vermochte,  ihn  ins  Gefängniss. 
Sein  letzter  Aufenthaltsort  war  Rom,  wo  er  am  21.  September  1576 
starb. 


')  Cardano  I,  1—54.  ^)  ^Mes^»  pag.  151— 153.  ^^  Cardano  IX,  568— 569. 
Vergl.  Gherardi,  Einige  Materialien  zur  Geschichte  der  mathematischen  Fa- 
cultät  der  alten  Universität  Bologna  S.  126—132. 


49G  64.  Kapitel. 

Sein  Schüler,  im  Wisseuswürdigen  wie  im  wenig  Naeliahmuno-s- 
wertben,  wurde  1537  der  damals  löjährige  Luigi  Ferrari  aus  Bo- 
logna. Begabt  und  gelehrt  in  den  matbematischen  Wissenschaften 
aber  von  zügelloser  Ausgelassenheit  sei  er  gewesen,  und  für  die  Treue 
der  Schilderung  spricht  ein  Raufhandel,  in  welchen  er  mit  17  Jahren 
sicb#  einliess,  und  bei  welcheto  der  jähzornige  Jüngling  sämmtliche 
Finger  der  rechten  Hand  einbüsste,  spricht  sein  nicht  viel  späteres 
Amftreten  als  Lehrer  in  Mailand.  Die  Cartelli  gegen  Tartaglia  schrieb 
er  mit  25  Jahren.  Wenn  Cardano,  welcher  das  Geburtsjahr  1522 
ausdrücklich  nennt,  die  Behauptung  ausspricht,  Ferrari  habe  Tartaglia 
besiegt,  bevor  er  20  Jahre  alt  gewesen,  so  ist  dieses  ein  offenbarer 
Irrthum,  vielleicht  sogar  absichtlich  begangen,  um  Ferrari's  Bedeut- 
samkeit zu  erhöhen.  In  Mailand  war  Ferrari  in  der  Zeit  zwischen 
1549  und  1556  auch  Vorsteher  des  Katasterwesens.  Eine  Fistel,  die 
er  sich  zuzog,  und  die  es  ihm  unmöglich  machte,  zu  Pferde  zu  sitzen 
und  wie  ehedem  die  praktischen  Arbeiten  seiner  Untergebenen  da  und 
dort  zu  beaufsichtigen,  veranlassten  ihn  wohl,  die  Stellung  aufzugeben 
und  nach  der  Heimath,  nach  Bologna  zurückzukehren.  Dort  lebte  er 
als  Lehrer  seiner  Wissenschaft  bis  1565.  lieber  seinem  Tode  schwebt 
ein  geheimnissvolles  Dunkel.  Seine  Schwester,  so  wird  kurz  be- 
richtet, habe  ihn  muthmasslich  vergiftet. 

Tartaglia  endlich  erzählt,  sein  Vater  Micheletto  —  einen  Fa- 
miliennamen will  er  von  ihm  niemals  gekannt  haben  —  sei  1506 
etwa  gestorben  und  habe  es  der  Wittwe  überlassen,  sich  mit  ihren 
drei  Kindern,  unter  welchen  Nicolo,  der  damals  sechs  Jahre  alt  war, 
aber  bereits  lesen  konnte,  zu  ernähren.  Der  etwa  zwölfjährige  Knabe 
wurde  1512  bei  der  Einnahme  Brescias  durch  die  Franzosen  im  Dome, 
wohin  die  Mutter  sich  mit  den  Kindern  geflüchtet  hatte,  schwer  ver- 
wundet. Ein  fui-chtbarer  Hieb  über  die  unteren  Theile  des  Gesichts 
heilte  nur  mangelhaft,  die  Zähne  blieben  wacklig,  die  Sprache  wurde 
stotternd,  und  um  ihretwillen  legten  Nicolo's  Altersgenossen  ihm  einen 
Spottnamen  bei,  den  er  später  freiwillig  als  Namen  behielt:  der  Stamm- 
ler, Tartaglia.  Als  er  14  Jahre  alt  geworden  war,  brachte  die  Mutter 
ihn  zu  einem  Schreiblehrer.  Es  war  Sitte,  das  Schulgeld  in  drei 
Abtheilungen  zu  entrichten.  Das  erste  Drittel  musste  voraus  erlegt 
werden,  das  zweite,  wenn  die  Hälfte  der  Buchstaben,  also  A  bis  K, 
erlernt  war,  das  letzte  Drittel  am  Ende  des  Unterrichts.  Tartaglia's 
Mutter  hatte  nur  das  erste  Drittel  aufzubringen  gewusst.  Der  Knabe 
wurde  desshalb  entlassen,  noch  ehe  er  die  Anfangsbuchstaben  seines 
Namens  zu  schreiben  erlernt  hatte,  wie  er  mit  bitterer  Selbstverhöh- 
nung erzählt,  und  war  von  da  an  in  Allem  sein  eigener  Lehrer,  sich 
stets  nach  den  Vorschriften  der  Verstorbenen  richtend,  sojmi  Je  opere 


Cardano's  ältere  Schriften.  497 

degJi  Imomini  defonti  continuamente  nii  son  travagliato.  Die  Erzählung 
ist  jedenfalls  sehr  geschickt  angelegt,  das  Mitleid  und  damit  auch  das 
Wohlwollen  der  Leser  anzuregen.  Ob  sie  überall  wahrheitsgetreu  ist, 
ist  eine  andere  Frage.  Einen  Familiennamen  seines  Vaters  will  Tar- 
taglia  z.  B.  1546  nie  gekannt  haben.  Als  er  elf  Jahre  später  am 
10.  December  1557  in  Venedig  sein  Testament  machte^),  wird  in 
diesem  amtlichen  Actenstücke  als  Familiennamen  Fontana  augegeben. 
Ist  das  der  Name  der  Mutter  gewesen,  oder  hat  ihn  Tartaglia  sich 
selbst  beigelegt,  weil  etwa  ein  Brunnen  bei  seinem  Hause  stand,  oder 
hat  die  Nothwendigkeit,  ein  Testament  genau  anfertigen  zu  lassen, 
sein  Gedächtniss  so  sehr  geschärft,  dass  der  väterliche  Name  ihm 
nun  doch  einfiel?  Alle  drei  Möglichkeiten  sind  vorhanden.  Eine 
Zusatzbemerkung  des  Notars  zum  Testamente  giebt  an,  der  Erblasser 
sei  in  der  Nacht  vom  18.  auf  den  14.  December  1557  verstorben. 
Aus  unseren  Auszügen  aus  den  Streitschriften  wissen  wir  überdies, 
dass  Tartaglia  eine  mathematische  Lehrthätigkeit  abwechselnd  in 
Venedig,  in  Brescia,  dann  wieder  in  Venedig  ausübte-,  die  wesentlich- 
sten Umstände  auch  seines  Lebens  sind  uns  mithin  bekannt. 


65.  Kapitel. 
Cardano's  ältere  Scliriften. 

Weit  wichtiger  für  die  abschliessende  Beurtheilung  des  grossen 
Streites,  wichtiger  unter  allen  Umständen  für  die  Geschichte  der 
Mathematik  ist  es,  kennen  zu  lernen,  was  jeder  Einzelne  unter  den 
Männern,  mit  welchen  wir  uns  beschäftigen,  wissenschaftlich  geleistet 
hat.  Allerdings  werden  wir  uns  dabei  entschliessen  müssen,  bei  Auf- 
zählung der  Verdienste  Cardano's  die  Zeitgrenze  von  1550  weiter  zu 
überschreiten,  als  wir  es  uns  irgend  seither  gestatteten.  Der  Zu- 
sammenhang seiner  Leistungen  muss  gewahrt  bleiben,  wenn  man  die 
ganze  Bedeutung  des  Mannes  erkennen  will. 

Wir  beginnen  mit  einer  Schrift  recht  untergeordneter  Bedeutung, 
mit  Cardano's  Libellus  qui  dicihir  Computus  minor  ^)  von  1539.  Kaum 
dass  wir  Zinsrechnungen  und  ein  grosses  Einmaleins  mit  der  Aus- 
dehnung bis  zu  20  mal  20  darin  erwähneuswerth  finden. 

Dem  gleichen  Jahre  1539  gehört  die  Practica  Aritlimeticae  gene- 


')  VeröfFentliclit  durch  Fürst  Bald.  Boncompagni  in  dem  Bande  In 
\iemoriain  Bominici  CJieJini.  Collectcuiea  mathematlca  (Milano  1881)  pag.  363 — 
412.         -)  Cardano  IV,  216—220. 

Cantor,  Geschiclite  der  Matbem.    II.    2.  Aufl.  32 


498  65.  Kapitel. 

rcdis  ^)  an.  Im  Grossen  und  Ganzen  der  Summa  des  Paciuolo  nach- 
gebildet, enthält  sie  doch  manches  Eigenthümliche.  Der  Gedanke, 
Gleichungen  dadurch  in  ihrem  Grade  zu  erniedrigen  und  damit  einer 
Auflösung  fähig  zu  machen,  dass  mau  auf  beiden  Seiten  Gleiches 
addirt  und  dann  durch  einen  sich  kund  gebenden  Gemeintheiler  divi- 
dirt,  ist  wiederholt  in  Anwendung  gebracht").  Aus 
2x^  -f*  4x-  -\-  2b  ^  16  X  -\-  bö 

wird  durch  beiderseitige  Addition  von  2x~ -{-  lOx -f~  ^  ^^^  ^^eue  Glei- 
chung (2x  -f  G)  (x'  +  ö)  =  {2x  -}-  6)  (x  -j-  10)  und  daraus  :/;-  =  a:  -f-  5, 

aus   welcher   x  =  —  -}-y  5-y-    sich  ergiebt.     Umständlicher  verfährt 

Cardano  bei  6x'^  —  Ax^  =  Mx  -\-  24.  Zunächst  addirt  er  beider- 
seitig Qx^  —  4:x''  und  erhält  2{6x^  —  4cX^)  =  6x^  -  4x^ -\-Mx -\-24:. 
Dann  addirt  er  nochmals  links  2(12a;^),  rechts  24:X^  und  erhält 

2(6x^  +  Sx-)  =  6x^  -f  20:^2  -f  34a;  -f  24 
oder 

2  •  2x\^x  +  4)  =  (ßx  +  4)(2^:2  -f  4.x  +  6), 

woraus  x^=2x-{-d  und  a:  =  3  sich  ergiebt.  Auch  darauf  wird  auf- 
merksam gemacht^),  dass  die  Division  a^x^  —  a^  durch  a{x  —  1), 
sowie  die  von  a^x^  +  a^  durch  a{x  -f  1)  aufgehe,  und  dass  man 
dieses  sich  wohl  merken  müsse,  um  Gleichungen  von  der  Form 

ax^  =-  ßx  -\-  y     und     ax^  -\-  y  =  ßx 

durch  beiderseitig  vollzogene  Additionen  in  eine  durch  a:  +  1  theil- 
bare  Gestalt  zu  bringen.  Irgend  eine  Aufgabe  kaufmännischer  Natur 
dadurch  in  Gleichungsgestalt  zu  bringen,  dass  man  eine  unbekannte 
Grösse  als  res  betrachte  und  als  solche  in  die  Rechnung  einbeziehe, 
nennt  Cardano  Begula  de  modo^).  Es  ist  im  Grunde  die  gleiche  Vor- 
schrift, welche  einige  Jahre  später  Michael  Stifel  bei  jeder  Ge- 
legenheit breittrat  (S.  440) ,  und  in  welcher  wir  Cardano's  Einfluss 
gemuthmasst  haben.  Jedenfalls  hat  nämlich  Stifel  die  Practica  Arith- 
meticae  generalis  gekannt,  welcher  er  einige  am  Ende  des  3.  Buches 
der  Arithmetica  integra  mitgetheilte  Aufgaben  ausdrücklich  entnahm^). 
Gleichungen  mit  mehreren  Unbekannten  behandelt  Cardano  nach  der 
von  ihm  erfundenen  Regida  de  duiilica^),  welche  in  der  Einsetzung 
neuer,  die  Rechnung  erleichternder  Hiifsgrössen  besteht.  Die  beiden 
Gleichungen,  welche  wir  heute  x-  -\-  y-  =  a  und  xy  -\-  x  -]^  y  =^  h 
schreiben  würden,  bringt  Cardano  z.  B.  durch  xy  =  z  zur  Auflösung. 


1)    Cardano   IV,    14—215.  -)    Ebenda   lY,  29  und  61.  ^)  Ebenda 

IV,   83.  *)  Ebenda  IV,   79.  ^)  Beispielsweise  ist  Arithmetica  integra  fol. 

306  recto  identisch  mit  Cardano  IV,  139  Nr.  14  u.  s.  w.      «)  Cardano  IV,  8ü. 


Cardano's  ältere  Schriften  409 

x  -^  y  =  h  —  z,  [x  -\-  y)-  =  (h  —  zf.     Abera  iicli  (x  -{-  yY  =  a  -{-2z 
and   dalier 


//-  —  2hz  +  z'  =  a  -{-2z,     z  =  h-{-l—ya-{-2h-{-l, 

Dieses  letzte  Ergebniss  lässt  erkennen,  warum  bei  Auflösung  der  nach 
z  quadratischen  Gleichung  die  Wurzelgrösse  mit  dem  Minuszeichen 
genommen  werden  musste.     Weiter  ist 


(x  —  yf  =  a-2z  =  a  —  2}>  —  2-^  Y^a  +  Sb  +  4, 
also  auch 

x  —  y  =  Va-2h—2-{-  Y^a  +  SV+l: 
bekannt,  und  nun  sind  die  Werthe  x  und  y  sofort  zu  finden. 

Quadratwurzeln,  deren  Ausziehung  bei  den  Gleichungsauflösungen 
vielfach  verlangt  wird,  sind  schon  vorher  nach  zwei  Methoden  nähe- 
rungsweise  berechnet  ^).     Die   erste   Methode  geht  aus    von  "j/a  f\j  h , 


wo 

h 

die 

ganzzahlige  Annäherung 

bedeutet; 

ist 

dann 

a 

—  !>■'  - 

=  r,, 

so 

ist 

die 

zweite  Annäherung  Ya  ro  h^  mit  h^ 

= 

^'  +  i 

■Ti"' 

dann 

wird 

weiter 

v-„  =  ^  =  n 

,,     a=h,' 

— 

»2 

gesetzt  und 


]/«  cxj  h.2  mit  h  =  &i  —  ^ 


als  neue  Annäherungen.  Die  zweite  Methode  dient  für  Quadrat-  und 
Kubikwurzeln  in  gemeinschaftlich  erkannter  Weise-,  man  hängt  dem 
Radicaude'u  rechts  2,  4,  6  ... ,  beziehungsweise  o,  6,  9  .  .  .  Nullen  an, 
begnügt  sich  dann  bei  Ausziehung  der  Wurzel  mit  ganzzahliger  An- 
näherung, deren  Ganze  aber  nur  Zehntel,  Hundertel,  Tausendstel . . .  sind. 
Das  42.  Kapitel  von  den  wunderbaren  Eigenschaften  der  Zahlen^), 
de  proprietatibus  numerorum  mirificis  enthält  vieles,  was  auf  Leo- 
nardo von  Pisa  zurückgeht.  Cardano  hat  den  Gegenstand  später 
ungefähr  in  gleicher  Ausdehnung,  aber  als  besondere  kleine  Schrift^): 
De  numerorum  proprietatibus  caput  unicum  wiederholt  behandelt  und 
hierbei  nicht  Unwichtiges  hinzugefügt.  Die  Bearbeitung  von  15,39 
lehrt  die  Entstehung  der  vollkommenen  Zahlen  nach  der  euklidischen 
Regel  und  spricht  den  Satz  aus*),  die  Randziffer  sei  immer  6  oder  8, 
was  allerdings  Nikomachus^)  schon  bemerkt  hatte;  die  spätere  Be- 
arbeitung beweist  diesen  Satz^).  Nach  EukHd  (Bd.  I,  S.  253—254) 
ist  (1  -[-  2  -[-  •  •  -|-  2^)2"  eine  vollkommene  Zahl,  sofern 

')  Cardano  IV,  30—31.        ^)  Ebenda  IV,  51—63.        ^)  Ebenda  IV,  1—13. 
^)  Ebenda  IV,  52.  ^)    Nikoniacbus,  Introdtictio  etc.  (ed.  Hoclie)  pag.  40 

liu.  20—21  (Buch  I.  Kap.  XVI,  §  3).         «)  Cardano  IV,  :]. 

32* 


500  ßö.  Kapitel. 

1  +  2H \-  2«  =  2»  +  i  —  1 

Primzahl  ist.  Die  Randziffer  von  2"  ist  stets  2,  oder  4,  oder  S,  oder  6, 
die  von  2"+^  —  1  also  3,  oder  7,  oder  5,  oder  1.  Die  dritte  Mög- 
lichkeit fällt  weg,  weil  2"  +  ^  —  1  Primzahl  sein  muss,  also  entsteht 
die  Randziffer  der  vollkommenen  Zahl  ausschliesslich  durch  2-3,  oder 
4  •  7,  oder  6  •  1  und  ist  6^  S,  6.  In-  der  ersten  Bearbeitung  sind  Drei- 
eckszahlen und  Quadratzahlen  durch  Punkte  dargestellt  ^),  in  der 
zweiten  ist  hinzugefügt-),  dass  zwei  aufeinander  folgende  Dreiecks- 
zahlen eine  Quadratzahl  geben,  wenn  man  sie  iunctis  capitihus  ad- 
versis  d.  h.  über  Kopf  aneinanderfüge,  womit  offenbar  eine  Punkten- 
vereinigung gleich  der  folgenden 


gemeint  ist.  Der  zweiten  Bearbeitung  gehört  auch  die  wichtige  Be- 
hauptung an^),  dass  die  Wurzel  einer  ganzen  Zahl  niemals  ein  Bruch 
sein  könne,  was  am  Anfange  des  dritten  Tractates  gezeigt  werde. 

Diesen  in  den  gedruckten  Werken  Cardano's  unauffindbaren  dritten 
Tractat  sind  wir  im  Stande  zu  bezeichnen  und  zugleich  eine  obere 
Grenze  für  die  Zeit  der  Niederschrift  der  zweiten  Bearbeitung  an- 
zugeben. In  der  Abhandlung  über  die  eigenen  Bücher,  De  lihris 
propriis,  welche  selbst  in  mehrfacher  Bearbeitung  erhalten  ist,  erzählt 
Cardano,  dass  er  nach  Bemeisterung  der  kubischen  Gleichung,  mithin 
nicht  wohl  vor  der  1542  vorgenommenen  Reise  nach  Bologna,  ein 
mathematisches  Gesammtwerk  als  Opus  perfedum  zu  schreiben  beab- 
sichtigte, welches  aus  14  Büchern  bestehen  sollte^).  Die  Ueberschriften 
der  14  Bücher  sollten  heissen: 

1.  Von  den  ganzen  Zahlen.  2.  Von  den  Brüchen.  3.  Von  den  Quadrat- 
imd  Kubikwurzeln.  4.  Von  den  Unbekannten.  5.  Von  den  Proportionen. 
6.  Von  den  Eigenschaften  der  Zahlen.  7.  Vom  Handel.  8.  Von  den  Er- 
trägen {De  redditihus,  vermuthlich  Zinsrechnung).  9.  Von  den  ausser- 
gewöhnlichen  Aufgaben  (De  Ms  quae  sunt  extra  ordinem).  10)  Von  den 
grossen  Regeln  oder  der  sogenannten  Ars  magna.  11.  Von  der  Ausmes- 
sung ebener  Figuren.  12.  Von  Körpermessungen.  1.3.  Arithmetische  Auf- 
gaben.    14.  Geometrische  Aufgaben. 

Ausser  den  Ueberschriften  giebt  Cardano  auch  die  Anfange  ein- 
zelner dieser  14  Bücher  an,  welche  demnach  schon  in  der  Ausarbei- 
tung ziemlich  weit  vorgeschritten  gewesen  sein  müssen.  Das  erste 
Buch  Be  integris  sollte  mit  den  Worten  anfangen:  Si  ab  antiquitate 
aut  necessitafe  disciplina  uUa  nohilis  dici  iwtest,   und  ein  so  beginnen- 


')  Cardano  IV,  53.        -)  Ebenda  IV,  6.        =»)  Ebenda  IV,  8.         ")  Ebenda 
I,  103, 


Cardano's  ältere  Scliriften.  501 

des    Bruchstück    ist    vorhanden^).      In    dem    dritten    Buche    von    den 

Quadrat-  und  Kubikwurzeln  konnte  sehr   gut  der   Satz    vorkommen, 

von  vrelehem  wir  oben  mit  Cardano  sagten,  dass  er  am  Anlange  des 

dritten  Traetates  gezeigt  sei.    Ueber  das  sechste  Buch  äussert  er  sich, 

er  habe  9G  Blätter  davon  geschrieben,   welche  anfangen:    Numerorum 

alii  dicuniur  primi,  und  genau  so  beginnt  jenes  Kapitel,  welches  wir 

bisher  als  zweite  Bearbeitung  eines  Kapitels  der  Practica  Arithmeticae 

generalis  benannt  haben.  Es  ist  daher  nichts  Anderes  als  wieder  ein 
o 

Bruchstück  des  leider  unvollendet  gebliebenen  Opus  perfectum  und 
kaum  vor  1542  geschrieben. 

Wir  kehren  zu  dem  Werke  von  1539,  zur  Practica  Arithmeticae 
generalis  zurück.  Eine  nicht  unbedeutsame  Bemerkung  desselben,  die 
bei  einer  unbestimmten  Aufgabe  gemacht  ist,  lautet  ^) :  „Ich  habe 
nicht  gesagt  in  ganzen  oder  gebrochenen  Zahlen,  weil  jede  Frage, 
deren  Erledigung  in  Brüchen  erfolgt,  auch  ganzzahlig  erfüllt  werden 
kann  und  ich  desshalb  Eines  von  dem  Anderen  nicht  trennen  wollte." 
Eine  von  Georg  Valla  herrührende  Aufgabe^)  (S.  345)  unbestimmter 
Natur  ist  die,  zwei  Rechtecke  von  gleicher  Seitensumme  zu  finden, 
deren  Flächen  Vielfache  von  einander  sind.  Cardano  giebt  a  und 
ah(h  -\-  1)  als  die  Seiten  des  einen,  a(h  -\-  1)  und  alr'  als  die  Seiten 
des  anderen  &- fachen  Rechtecks.  Eine  andere  von  Cardano  behandelte 
Aufgabe^)  ist  die  von  den  2  mal  15  Männern,  die  in  einem  Kreise 
so  zu  ordnen  sind,  dass  ein  gewisses  Abzählen  nur  immer  auf  eine 
Persönlichkeit  der  einen  Gruppe  trifft,  während  die  andere  Gruppe  ver- 
schont bleibt.  Sie  begegnete  uns  schon  in  einer  französischen  Samm- 
lung (S.  362),  Cardano  giebt  ihr  einen  Namen.  Er  nennt  sie  Lucius 
Joseph,  das  Josephsspiel,  weil  sie  einst  von  Josephus  zur  Rettung 
seines  Lebens  ersonnen  worden  sei.  Näheres  werden  wir  von  zwei 
Schriftstellern  unseres  XV.  Abschnittes  erfahren. 

Auch  Reihen  sehr  verschiedener  Art  kommen  vor,  z.  B.  arith- 
metische Reihen  von  gleichen  Unterschieden,  welche  in  einander  ge- 
schoben eine  einzige  Reihe  bilden^).  Aus  1,  7,  13,...  und  3,  9,  15... 
entsteht  nach  dieser  Bildungsweise  1,  3,  7,  9,  13,  15  .  .  .  Die  Reihe 
X  -\-  2x^  -^  iiX^  -\-  '^x'^  -\-  •  •  •  sei  leicht  zu  summiren,  dagegen  stelle 
X  -{-  2x^  -\-  ox^  -[-  4iX^  +  ■  ■  ■   ^^^^   schwierige   Summenbildung   dar^). 

Eine  Anzahl  von  Aufgaben  gehört  der  Wahrscheinlichkeits- 
rechnung an.  Paciuolo  (S.  327)  beantwortete  die  Frage  nach  der 
richtigen  Theilung  zwischen  zwei  Spielern,  von  denen  der  eine  .s'^, 
der  andere  s.,  Spiele  gewonnen  hatte,  und  die  sich  trennen,  bevor  die 
s  Gewinnspiele,  auf  welche  die  ganze  Entscheidung  geht,  von  Einem 

1)  Cardano  IX,  117—128.  ^)  Ebenda  IV,  57  (§  78).  ^)  Ebenda  IV,  170. 
*)  Ebenda  IV,  113.  ">)  Ebenda  IV,  33.  '^)  Ebenda  IV,  37. 


502  65.  Kapitel. 

erreicht  sind,  dahin. 
ricMen.  Cardano  erkannte  es  als  wesentlichen  Mangel  dieses  Theilungs- 
vorschlags,  dass  die  Zahl  s,  welche  die  wichtigste  ist,  gar  nicht  be- 
rücksichtigt werde  ^).  Sein  Gegenvorschlag  ist  allerdings  wenig  glück- 
lich. In  dem  besonderen  Beispiele,  von  welchem  Cardano  redet,  ist 
.5=10,  s^  =  7,  Sg  ==  9,  der  erste  Spieler  hätte  also  noch  dreimal,  der 
zweite  einmal  zu  gewinnen.  Um  nun  ein  erstes  Spiel  zu  gewinnen, 
bedarf  der  zweite  wie  der  erste  Spieler  eines  Gewinnspiels.  Um  ein 
zweites  Spiel  als  solches  zu  gewinnen,  sind  dem  ersten  zwei  Gewinn- 
spiele nöthig,  denn  ohne  einen  ersten  Gewinn  gelangt  er  nicht 
zum  zweiten.  Um  ein  drittes  Spiel  als  solches  zu  gewinnen,  sind 
dem  ersten  drei  Gewinuspiele  erforderlich,  deren  Begründung  in  der 
Noth wendigkeit  liegt,  überhaupt  zu  einem  dritten  Gewinne  zu  ge- 
langen. Um  das  erste,  zweite  und  dritte  Spiel  zu  gewinnen,  bedarf 
es  somit  1  -\-  2  -\-  ^  =  G  Gewinnspiele  und  das  Theilnngsverhältniss 
der  beiden  Spieler  muss  wie   1  :  6  sein,  allgemein  wie 

(1  -f  2  +  .  .  +  (s  -  5,))  :  (1  +  2  .  •  +  (s-s,)). 
Anschliessend  an  diese  Aufgabe  und  des  gleichen  Gedankenganges 
sich  bedienend,  besprach  Cardano  eine  andere,  welche  hiermit  in  die 
AVissenschaft  eingeführt  war,  um  erst  etwa  zwei  Jahrhunderte  später 
als  sogenannte  Petersburger  Aufgabe  zur  richtigen  Geltung  zu 
gelangen.  Ein  Reicher  und  ein  Armer  spielen  um  gleichen  Einsatz. 
Gewinnt  der  Arme,  so  wird  am  folgenden  Tage  um  verdoppelten 
Einsatz  gespielt  und  dieses  Verfahren  fortgesetzt,  während  ein  ein- 
maliges Gewinnen  des  Reichen  dem  Spiele  ein  für  alle  mal  ein  Ende 
macht.  Cardano  begründete  hier  den  grossen  Nachtheil,  in  welchem 
der  Reiche  bei  diesen  Spielbedingungen  sich  befinde. 

Endlich  gedenken  wir  noch  mit  einem  Worte  der  Stellung,  welche 
Cardano  1539  zu  nichtpositiven  Gleichungswurzeln  einnahm.  Nega- 
tiven Wurzeln  (fictae)  erkannte  er  die  Bedeutung  zu^),  dass  für 
einen  Gegenstand  nicht  nur  nichts  erlöst  wird,  sondern  für  dessen 
Beseitigung  noch  gezahlt  werden  muss.  Imaginäres  nennt  er  einfach 
unmöglich^):  cum  numerus  non  possit  detrahi  a  quadrato  dimidn 
radicum,  tunc  casus  est  impossihüis,  d.  h.  wenn   in  der  Auflösung  der 

Gleichung  ctr  -\-h  =  ax,  bei  welcher  a;  =  ^  +  1/  (^j  —  h  heraus- 
kommt, h  von  (--)  nicht  abgezogen  werden  kann,  so  ist  es  ein  Zeichen 
von  der  Unmöglichkeit  des  Geforderten. 


^)  Cardano  IV,  112:  Ad  rationem  ludorum  sciendum  est  quod  in  ludis  non 
habet  eonsiderari  iiisl  terminus  ad  quem,  et  hoc  in  progressione  dividendo  totwn 
per  easdem  paites.         -)  Ebenda  IV,  1.57.         ■'')  Ebenda  IV,  72. 


Cardano's  ältere  Schriften.  503 

Diese  Auszüge  dürften  genügend  erkennen  lassen,  dass  die  Ver- 
öffentlichung von  1539  bereits  einen  hohen  Grad  mathematischer  Be- 
fähigung Cardano's  bewies,  dass  sie  ahnen  liess,  es  stehe  Grosses  von 
ihm  zu  erwarten,  wenn  er  mit  erweitertem  Wissen  noch  unbetretene 
Bahnen  einschlage.  Diese  Ahnung  wirkte  vielleicht  bei  Tartaglia, 
welcher  die  Practica  Arithmeticae  generalis  schon  kannte,  mit,  als  er 
sich  1539  des  Eides  Cardano's  versicherte,  bevor  er  ihm  die  Regel 
zur  Auflösung  von  x^  -\-  ax  ==  h  anvertraute. 

Den  Eid  der  Verschwiegenheit  hat  Cardano  in  seiner 
Veröffentlichung  von  1545  unzweifelhaft  gebrochen.  Das 
Unrecht,  welches  er  Tartaglia  gegenüber  dadurch  beging,  mag  durch 
die  rühmende  Nennung  des  Verletzten  einestheils,  durch  den  Umstand, 
dass  Cardano  inzwischen  von  Del  Ferro's  schriftlich  erhaltenen  früheren 
Arbeiten  Kenntniss  erhalten  hatte,  anderntheils  gemindert  sein,  aus 
der  Welt  geschafft  ist  es  nicht.  Aber  die  Geschichte  der  Mathematik 
sitzt  weniger  über  den  Menschen  als  über  den  Mathematiker  zu  Ge- 
i-icht,  und  desshalb  ist  es  unter  allen  Umständen  nothwendig,  zuzu- 
sehen, ob  etwa  in  dem  Werke  von  1545  nur  die  Entdeckung  von 
Tartaglia,  beziehungsweise  von  Del  Ferro  sich  vorfindet,  oder  was 
Cardano  selbst  zugeschrieben  werden  muss. 

Artis  magnae  sive  de  regulis  algebraicis  liber  unus^) 
ist  der  Titel  des,  wie  wir  schon  wissen,  in  Nürnberg  gedruckten  und 
Osiander  zugeeigneten  Buches.  Das  10.  Buch  des  Opus  perfectum 
sollte  (S.  500)  die  Ueberschrift  Ars  magna  führen.  Seine  Anfangs- 
Avorte  sind  in  der  Abhandlung  über  die  eigenen  Bücher  angegeben^). 
Beides  stimmt  mit  dem  Drucke  von  1545  genau  überein.  Eine  weitere 
Uebereinstimmung  liegt  darin,  dass  in  diesem  Drucke  von  einem 
3.  und  4.  Buche  die  Rede,  welche  ihrem  Inhalte  nach  mit  Wurzel- 
grössen,  mit  Unbekannten  es  zu  thun  haben  müssen,  also  mit  den 
ebenso  bezifferten  Büchern  des  Opus  perfectum  sich  decken.  Kein 
Zweifel  ist  daher  möglich:  die  Ars  magna  von  1545  ist  das 
10.  Buch  des  Opus  perfectum,  und  wenn  wir  vorher  sahen,  dass 
der  Plan  zu  diesem  grossartig  gedachten  Werke  kaum  vor  1542  ent- 
standen sein  kann,  so  wissen  wir  jetzt,  dass  er  1545  mit  Einschluss 
eines  ganz  vollendeten  Buches  in  fertiger  Gestalt  vorgelegen  haben  muss. 

Die  kubischen  Gleichungen  nebst  ihrer  Auflösung  bilden  gewiss 
den  wesentlichen  Inhalt  der  Ars  magna,  aber  Zusätze  Cardano's  sind 
deutlich  zu  erkennen,  um  welche  er  das  von  Tartaglia  Erlernte  ver- 
mehi-t  hat^).    Die  Gleichungen  x^  -\-  ax  =  b,  x^='  ax-\-h  aufzulösen 

1)  Cardano  IV,  221—302.  ^)  Ebenda  I,  103.  ">)  Das  Cardano 

Eigenthümliche  ist  vortrefflich  hervorgehoben  bei  Cos  sali,   Origine,  trasporto  in 
Ilalia,  primi  progressi  in  cssa  delV  algebra  (Parma  1797— 1799)  Vol. II,  pag.  159sqq. 


504  6ö.  Kapitel. 

hatte  Tartaglia  ihn  deutlich  gelehrt,  und  wenn  er  die  so  erhaltenen 
Auflösungen  in  eine  geometrische  Form  kleidete^),  so  ist  damit  nicht 
das  geringste  Verdienst  verbunden.  Die  Form  x^  -\-  h  =  ax  war  in 
Tartaglia's  Terzinen  (S.  489)  sehr  stiefmütterlich  behandelt.  Se  solve 
col  secondo  hiess  es  im  20.  Verse,  sie  sei  mittels  x'^  =  ax  -\-h  zu  lösen; 
mehr  war  nicht  gesagt.  Cardano's  Auflösung^)  kam  auf  folgende  Be- 
trachtung hinaus.  Sei  y^  =  ay  -\-  h  zugleich  mit  x^  -}-  h  =  ax,  so 
ist  h  =  ax  —  x^  ='  y^  —  ay.  Daraus  folgen  aber  Proportionen  und 
Gleichungen: 

(2/2  —  a):{a  —  x^)  =  X'.y, 
{if  —  a-]r  a  —  x^)  :  (a  —  x^)  =  (x  +  y):y, 
{y^  —  x^)  :  {y  +  x)  =  (a  —  x^)  :  y, 
(y~x):l  =  («  —  x^)  :  y, 
y-  —  xy  =  a  —  x^, 

so  dass,  sobald  man  y  kennt,  nicht  bloss  ein  Werth  von  x  ermittelt 
ist,  sondern  gleich  deren  zwei.     Demnächst  werden  die  Gleichungen 
in  Angriff  genommen,  welche  Kubus,  Census  und  Zahl  enthalten^), 
x^  =  ax^  -f"  ^j     ^^  -\~  (^^'  =^  ^7     x^  -\- h  =  ax^ . 

Die   beiden   ersten  Formen  werden   durch    x  =  y  -{-  -r-)    ^^  =  V 5" 

vom  quadratischen  Gliede  befreit.     Ein  Beispiel  lautet 

x^  -f  6x^  =  100 
und  führt  zu 


1/42  +  /1700  +  ]742  —  ]/l 


700 


3 

Die  dritte  Form    x^  4-  h  =  ax^  behandelt  Cardano  mittels    x  =  ^— - , 

2/    ' 

wodurch  sie  in  y'^  -\-  b  =  ya^/h  übergeht  und  diese   liefert,  wie  erst 

gezeigt  worden  ist,  unter  Benutzung  von  z^  =  zayh  -\-  h  zwei  Werthe 
von  y,  also  auch  von  x.  Bei  kubischen  Gleichungen  mit  allen  vier 
möglichen     Gliedern*)     führen     Substitutionen,     welche     immer    auf 

a;  =  «/  +  Y  hinauslaufen  (a  als  Coefficient  des  quadratischen  Gliedes 

gedacht)  auf  früher  behandelte  Gleichungsformen  zurück,  auch  ist 
nicht  ausser  Auge  zu  lassen,  dass  die  Anordnung  der  Ars  magna  der 
Art  getroffen  ist,  dass  von  solchen  Umformungen,  de  capitidorum  trans- 


^)  Ars  magna,  Cap.  XI  und  XII.  ^)  Ebenda,  Cap.  XIII.  »)  Ebenda, 

Cap.  XIV,  XV,  XVI.        ")  Ebenda,  Cap.  XVII-XXIII. 


Cardano's  ältere  Schriften.  505 

mutatione^) ,  die  Rede  ist,  bevor  Cardano  den  kubischen  Gleichungen 
sich  zuwendet. 

Von  grosser  Wichtigkeit  ist  ein  Ausspruch  Cardano's,  der  sich 
im  XVIII.  Kapitel   findet^).     Er  hatte  die  drei  Gleichungen 

a;3-|-l0a;  — G^-2+4,  x^-\-2\x=^x^  +  b,  x^ -\-2Qx=^l2x- +  b 
behandelt.  Er  hatte  gefunden,  dass  jede  derselben  drei  Wurzeln 
besitze,  die  erste  2,  2  +  1/2,  2-1/2,  die  zweite  5,  2  + ys,  2-l/3, 
die  dritte  2,  5+l/l9,  5 — yTO.  Schon  darin  lag  ein  ungeheurer 
Fortschritt,  da  noch  niemals  Gleichungen  mit  mehr  als  zwei 
Wurzelwerthen  bekannt  geworden  waren.  Aber  Cardano  geht 
viel  weiter.  Er  addirt  die  jedesmaligen  Wurzelwerthe  und  bemerkt, 
dass  in  allen  drei  Fällen  die  Summe  der  Wurzelwerthe  den 
Coefficienten  des  quadratischen  Gliedes  bilde.  Er  verweist 
dabei  zugleich  rückwärts  auf  das  I.  Kapitel,  welches  jetzt  erst  dem 
dem  Leser  vollkommen  deutlich  wird.  Dort  findet  sich  unter  Anderem 
die  Bemerkung^),  x^  =  12x  -\-  \Q  habe  die  Wurzeln  x  ==  4  und 
X  =  —  2,  die  positive  Wurzel  (vera)  sei  das  Doppelte  der  negativen 
(fida).  Kann  es,  bei  Beachtung  der  Rückverweisung  im  XVIII.  Ka- 
pitel, einem  Zweifel  unterworfen  sein,  dass  Cardano  das  Vorhan- 
densein zweier  gleichen  negativen  Wurzeln  zum  mindesten 
ahnte,  dass  er  das  Nichtvorkommen  eines  quadratischen  Gliedes  auf 
das  gegenseitige  Aufheben  der  drei  Wurzelwerthe  zurückführte? 

An  die  Auflösung  der  kubischen  Gleichungen  mit  wie  immer 
gearteten  Coefficienten  schliessen  sich  Untersuchungen  über  besondere 
Fälle  an*).     Wir  erwähnen  davon  nur  die  beiden  ersten,  wonach 

x^  =  (a  -{-  h^)x  -\-  ah 
durch 

und  x^  ==  (a^  -{-  h^)x  -\-  2ah(a  -f-  h)  durch  x  =  a  -{-  h  erfüllt  wird. 

Wir  können  aber  der  Ars  magna  auch  solche  Dinge  entnehmen, 
welche  nicht  im  Geringsten  mit  der  von  Tartaglia  empfangenen  Be- 
lehrung zusammenhängend  nur  um  so  gewisser  Cardano's  geistiges 
Eigenthum  bilden.  Das  XXX.  und  das  XXXVII.  Kapitel  sind  in 
dieser  Beziehung  ganz  besonders  reicher  Ausbeute.  Das  XXX.  Ka- 
pitel ^)  führt  die  Ueberschrift  De  regula  aurea  und  enthält  eine 
Methode  zur  näherungsweisen  Auflösung  numerischer  Gleichungen, 
die   erste,  welche   in   Europa  zur  Veröfi^entlichung    gelangte.      Wohl 

')  Ars  magna,  Cap.  VII.  ^)  Cardano  IV,  259,  letztes  Alinea  der  zweiten 
Columne.  =')  Ebenda  IV,  223.  '')  Ars  magna,  Cap.  XXV.  °)  Cardano 

IV,  273—274. 


506  t55.  Kapite.. 

hatte  ein  Araber  (Bd.  I,  S.  736)  x^  -}-h  =  ax  unter  der  Voraussetzung, 
dass  a  gegen  h  sehr  gross  sei,  näherungsweise  lösen  gelehrt.  Wohl 
hatte  Leonardo  von  Pisa  (S.46 — 47)  eine  sehr  nahezu  genaue  Wurzel  von 

erkannt,  aber  wie  er  sich  dieselbe  verschafft,  ist  nirgend  angedeutet, 
und  anzunehmen,  Cardauo's  Regula  aurea  sei  gerade  Leonardo's 
Methode  gewesen^),  ist  eine  Vermuthung,  welche  nicht  die  geringste 
Stütze  besitzt.  Cardano's  Verfahren,  welches  wir  als  seine  Erfindung 
rühmen  zu  müssen  glauben,  ist  allerdings  von  ihm  nur  an  Gleichungen 
dritten  und  vierten  Grades  geübt,  doch  liegt  nichts  in  dem  Verfahren 
selbst,  was  diese  Beschränkung  noth wendig  machte.  Wir  erlauben 
uns  daher  zur  besseren  Würdigung  der  goldenen  Regel  sie  in  ganz 
allgemeinen  Buchstaben  zu  schildern.  Es  sei  f(x)  eine  ganze  alge- 
braische Function  von  x,  welche  von  der  nten  bis  zur  1.  Potenz  der 
Unbekannten  mit  positiven  Coefficienten  (dieses  Positivsein  der  Coeffi- 
cienten  bildet  die  einzige  Einengung  der  goldenen  Regel),  welche 
theilweise  auch  0  sein  können,  herabsteigt,  und  es  sei  eine  Wurzel 
der  Gleichung  f{x)  =  Je  zn  suchen.  Nun  seien  a  und  a  -\-  1  zwei 
auf  einander  folgende  positive  ganze  Zahlen  von  der  Eigenschaft,  dass 
f(a)  =  h  —  h,  f(a  -|-  1)  =  ^'  +  ^',  so  ist  x  zwischen  diesen  beiden 
ganzen  Zahlen  enthalten,  d.  h.  wir  können  nach  Belieben 

x  =  a-\-  ((«  +  1)  —  a)d-     oder     x  =  (a  +  1)  —  ({a  +  1)  —  a)£ 
setzen  mit  d-  und  s  als  positiven  echten  Brüchen.    Ersteres  Verfahren 
wollen  wir  das  additive,    letzteres   das  subtractive  Ergänzungs- 
verfahren nennen.     Wegen 

f(a  +  1)  >  fix)  >  f(a)    ist    f(a  +  1)  -  f{a)  >  f(x)  -  f{a) 

und 

fix)  -  fia)      _        Jc-{k-h)        _       b  ^^^ 


f(a  +  1)  -  /■(«)        (A-  +  V)  -{k-h)        &  +  h' 
Diesen   Bruch   benutzen   wir   als  d-,  d.  h.   wir  wählen   in  zweiter  An- 
näherung  X  c\)  a  -\-  )    ,   1'  •■     Nehmen    wir    nun    an,    es    würde    etwa 

fia  -\-     _^     \  ^=  Je  —  h"<C  l'.     Wir  wenden    nun   weiter   das  subtrac 
tive  Ergänzungsverfahren  an;  wir  setzen 

s=(a  +  l)-((a+l)-{a+^-^))e  =  a+l~J^., 

wo  es  nur  darauf  ankommt,  ein  geeignetes    £  <  1    einzusetzen.     Als 
solches  dient 


^)  Genocchi  in  den  von  Tortolini  herausgegebenen   Ann-iU  di   scienze 
inatematiche  e  fisicke  VI,  165 — 168. 


Cardano's  ältere  Schriften.  507 

/•(«  +  1)  —  /'(^)  iJc-\-h')  —  k         _       b' 


/•(«  +  !)-/•«.+ 


{k-\-h'}  —  {k  —  b")        b'-{-b" 


b-\-  b'J 

und  die  dritte  Annäherung  wird 

b' 


X  c<i  a  -{-  \ 


/^(«  + 


b  +  h'     &'+&' 


&' 


hJ^h'     ?/+&' 


ausgerechnet  und  der  Betrag  mit  /.'  verglichen  wird.  Je  nachdem  /-• 
zwischen  dem  neuen  Substitutionswerthe  und  /'(«)  oder  zwischen  dem- 
selben und  f(cl-\-^.^  liegt,  wird  nach  additivem  oder  subtractivem 
Ergänzungsverfahreu  weiter  gerechnet,  wodurch  man  dem  wahren  x 
so  nahe  kommen  kann,  als  man  nur  will.  Wir  haben  weiter  oben 
die  Beschränkung  hervorgehoben,  nach  welcher  f(i^  nur  positive 
Coefficienten  enthalten  darf.  Cardaoo  lässt  sie  nachträglich  fallen, 
indem  er  eine  Gleichung  x^ -\-nx^ -{- q  =  inx:^ -{-p  nach  der  goldenen 
Regel  behandelt.  Er  setzt  auch  in  solchem  Falle  x  =  a  und  x  =  a-{-  1 
und  zieht  das  Substitutionsergebniss  der  rechten  Seite  von  dem  der 
linken  ab,  um  die  beiden  dem  Vorzeichen  nach  entgegengesetzten 
Zahlen  — h  und  b'   zu  finden,    welche   den    zweiten   Näherungswerth 

xc\j  a  -\-  ,    herstellen    lassen    u.  s.  w.      Man    darf   gewiss    nicht 

sagen,  dass  mit  dieser  Erweiterung  die  Nullsetzung  eines  Gleichungs- 
polynoms an  die  Stelle  der  bisherigen  Gleichungen  mit  nur  positiven 
Gliedern  auf  beiden  Seiten  des  Gleichheitszeichens  getreten  sei,  aber 
ebenso  gewiss  war  Cardano  damit  auf  dem  Wege  zu  dieser  wichtigen 
Neuerung,  und  keineufalls  verdient  die  goldene  Regel  den  wegwerfen- 
den Namen  eines  wilden  Näherungsverfahrens.  Wie  Cardano  zu  ihr 
geführt  wurde,  ist  unschwer  zu  errathen^).  Sie  entstand  in  seinem 
an  weittragenden  Gedanken  überreichen  Geiste  aus  der  alten  Methode 
des  doppelten  falschen  Ansatzes,  welche  sie  zu  ersetzen  bestimmt  war, 
und  welche  von  nun  an  auch  wirklich  ihren  Jahrhunderte  hindurch 
behaupteten  Platz  in  den  Lehrbüchern  räumt  und  wahre  Näherungs- 
verfahren an  ihre  Stelle  treten  lässt. 

Noch  weit  merkwürdiger  ist  das  XXX VII.  Kapitel-)  De  regula 
falsum  ponendi.  Negatives  hat,  wie  wir  früher  gesagt  haben,  nicht 
die  Berechtigung,  eine  wahre  Gleichungswurzel  darzustellen.  Gleich- 
wohl rechnet  Cardano  mit  solchen  Zahlen,  und  weiss  ihnen  mit  Hilfe 
des  Begriffes  einer  Schuld  statt  eines  Besitzes  oder  einer  Bezahlung 
statt  eines  Ertrags  einen  Sinn  abzugewinnen.    Aber  so  weit  hatte  er 


M  Vergl.  Cossali  1.  c.  II,  321.         "^  Cardano  IV,  286—288. 


508  65.  Kapitel. 

vielfache  Vorgänger,  welche  wir  au  verschiedenen  Stellen  dieses  wie 
des  I.  Bandes  nennen  konnten.  Wie  verhielt  es  sich  dagegen  mit 
Quadratwurzeln  aus  negativen  Zahlen?  Einmal  haben  wir  (S.  360) 
in  einer  französischen  Aufgabensammlung  mit  solchen  Ausdrücken 
rechnen  sehen;  eine  Randnote  macht  darauf  aufmerksam,  diese  Aus- 
drücke forderten  Unmögliches,  aber  ob  die  Randnote  auch  dem 
XV.  Jahrhunderte  angehörte,  ob  sie  jünger  war,  ist  nicht  sicher- 
gestellt, und  unter  allen  Umständen  blieb  jenes  vereinzelte  Vorkom- 
men, so  viele  Ehre  es  dem  Schreiber  in  unseren  Augen  macht,  un- 
gedruckt und  damit  wirkungslos.  Bahnbrechend  dagegen  für  alle 
Zukunft  wurde  Cardano's  Kühnheit,  in  der  Ars  magna  mit  Quadrat- 
wurzeln aus  Negativem  zu  rechnen,  also  mit  solchen  Zahlen, 
welche  er  früher  als  ganz  unmögliche  bezeichnet  hatte.  „Die  zweite 
Art  einer  falschen  Annahme,  sagt  Cardano  ^),  ist  die  durch  eine  Wurzel 
aus  Minus,  per  radicem  m.  Soll  z.  B.  10  in  zwei  Theile  getheilt 
werden,  deren  Product  40  sei,  so  ist  das  offenbar  eine  unmögliche 
Forderung,  aber  wir  verfahren  so:  nimm  die  Hälfte  von  10,  also  5; 
vervielfache  sie  mit  sieh  selbst,  giebt  25;  ziehe  40,  das  verlangte 
Product  davon  ab,  so  bleibt  —  15,  dessen  Wurzel  zu  5  addirt  und 
von  5  abgezogen  die  gewünschten  Theile  5  +  ]/ —  15  und  5  —  y^l5 
liefert.  Vervielfache  5  -(-  ]/ —  15  mit  5  —  ]/ — 15.  Die  kreuzweise 
entstehenden  Producte  fallen  weg,  dimissis  hicruciationihus ,  und  es 
entsteht  25  minus  —  15,  was  so  viel  ist  wie  -\-  15.  Das  Product  ist 
also  40."  Etwas  weiter  unten  fährt  er  dann  fort:  quae  quantitas 
vere  est  sophistica,  quoniam,  per  eara,  non  ut  in  puro  m.  nee  in  aliis 
operationes  exercere  licet,  nee  venari  quid  sit,  d.  h.  es  ist  dieses  eine 
auf  formaler  Logik  beruhende  Grösse,  weil  es  nicht  gestattet  ist,  die 
Rechnungsverfahren  an  ihnen  wie  an  reinen  Minusgrössen  oder  an 
anderen  zu  üben,  noch  einem  Sinne  derselben  nachzustellen. 

Wahrlich,  es  waren  nicht  geringe  Entdeckungen,  denen  der  auf- 
merksame Leser  in  der  Ars  magna  des  Cardano  begegnete,  aber  es 
bedurfte  schon  eines  mehr  als  gewöhnlichen  mathematischen  Geistes, 
um  alle  diese  Dinge  zu  würdigen  oder  auch  nur  zu  verstehen.  Dem 
gewöhnlichsten  Leser  dagegen  musste  eine  Leistung  in  die  Augen 
fallen,  welche  wir  darum  zum  Schlüsse  unserer  Darstellung  aufgespart 
haben:  die  Auflösung  der  Gleichung  vierten  Grades.  Schon 
im  XXVI.  Kapitel  zeigt  Cardano,  dass  die  Gleichung 

11  7        '>       I         «^ 

X*  -+-  ax  =  bx-  -\-  YT 
leicht  aufzulösen  sei.  Er  führt  sie  nämlich  in  die  Form  x^  ==  h  (^  +  2t) 
1)  Cardano  IV,  287. 


Cardano's  ältere  Schriften.  509 

über,  welche  die  Quadrat wurzelausziehung  gestattet  und  dann  nur 
noch  eine  quadratische  Gleichung  zu  behandeln  verlangt.  Aehnlich 
verhält  es  sich  mit  anderen  Formen.  Aber  das  sind  doch  nur  ganz 
besondere  Fälle.  Allgemeinerer  Natur  sind  die  Fragen  des  XXXIX.  Ka- 
pitels, auf  welche  Cardano  durch  die  von  Da  Coi  gestellte  Aufgabe, 
ic*  -\-  Qx^  +  36  =  QOx  aufzulösen,  aufmerksam  gemacht  worden  war. 
Er  selbst  gesteht  zu,  nicht  im  Stande  gewesen  zu  sein,  diese  Aufgabe 
zu  bewältigen.  Luigi  Ferrari  ist  der  Erfinder,  der  erst  23  Jahre 
alte  Erfinder,  setzen  wir  hinzu.  Ferrari  ging  aus^)  von  der  Quadri- 
rung  einer  dreitheiligen  Grösse,  deren  beide  ersten  Theile,  sofern  sie 
nicht  zu  dem  dritten  in  Beziehung  treten,  vereinigt  aufgefasst  werden, 
also  von  der  Formel 

(^  -I-  7i  +  Cy  =  {Ä-{-Sy  +  2ÄC-\-  2BC  +  CK 
Ist  nämlich,  wie  in  Da  Coi's  Aufgabe 

x^  -\-  a  x^  -{-  c  =  hx 
vorgelegt    und    addirt    man    beiderseitig   {^Yc — a)x^  ^    so    entsteht 

{x'  +  Y'cy  =  {2yc  —  a)x'^  +  hx. 
Der  Ausdruck  links  als  (^A  -f-  J5)^  aufgefasst  und  C  =  t  gesetzt  zeigt, 
dass  wieder  linker  Hand  ein  Quadrat  auftreten  muss,  wenn 

2ÄC+2BC-}-C''=:2xH  +  2Y^-t  -{- e 
beiderseitig  addirt  wird,  oder  dass  man  erhält 

(^2  -f-y^-f  tf  =  {2yc  —  a  +  2t)x^  -]-hx-{-  (f-  +  2tyc)  . 
Wäre  auch  der  Ausdruck  rechter  Hand  ein  Quadrat,  so  könnte  man 
die  Wurzelausziehung  auf  beiden  Seiten  vornehmen  und  würde  damit 
die  Aufgabe  auf  eine  quadratische  Gleichung  zurückgeführt,  d.  h.  auf- 
gelöst haben.  Nun  wird  aber  der  Ausdruck  rechter  Hand  wirklich 
ein  Quadrat,  wenn  nur  4(2]/c  —  a  -{-  2t)  (t"  -\-  2t  ■  Yc)  =  W  oder 
anders  geschrieben,  wenn 

fJ^{?.Y~c-^)f+{2c-aY^)t  =  '^^- 

Man  muss  also   t  aus  einer  kubischen  Gleichung  finden,  und  das  ist 
wieder   eine  Zurückführung  einer  noch  ungelösten  Aufgabe    auf  eine 
schon  gelöste.     Wir  lassen  den  lateinischen  Wortlaut  der  hier  erläu- 
terten Entwickelung  folgen,    der  nunmehr  unseren  Lesern  verständ- 
licher, sein  dürfte,  als  ohne  die  vorausgeschickte  Auseinandersetzung: 
Semper  recluces  partem  quad.  quadrati  ad  I^  addo  tantum  utiiqendue 
parti,  ut  1  quadr.   quadratum  cum  quadrato   et  numero  habeant   radicem, 
hoc  facile  est  cum  posueris  dimidium  numeri  quadratorum  radicem  numeri; 

')  Eine  sehr  klare  Darstellung  des  Ferrari'schen  Verfahrens  bei  Cos  sali 
1.  c.  n.  299—305. 


510  65.  Kapitel. 

item  facies,  iit  denominationes  extremae  sint  plus  in  ambabus  aequationibus, 
nam  secus  trinomium  seu  binomium  reductum  ad  binomium  necessario 
careret  radice.  Quibus  iam  peractis  addes  tantuin  de  quadratis  et  numero 
uni  j)arti,  ut  idem  additum  alteri  parti,  in  qua  erunt  res,  faciant  trinomium 
habens  K  quadratam  per  positionem,  et  babebis  nunierum  quadratorum  et 
numeri  addendi  utrique  parti,  quo  habito  ab  utroque  extrabes  1^  quadratam 
quae  erit  in  una  1  quadratum  p  numero  (vel  m  numero),  ex  alia  1  i^ositio 
vel  plures  p  numero  (vel  m  numero,  vel  numerus  m  positionibus),  quare 
babes  propositum. 

Wesentlich  ist  das  Feklen  des  kubischen  Gliedes  in  der  Gleichung 
vierten  Grades.  Nun  sollte  man  denken,  der  Erfinder  der  Befreiung 
der  kubischen  Gleichung  vom  quadratischen  Gliede  werde  auch  hier 
die  zweckentsprechende  Substitution  leicht  erkannt  und  die  Unbekannte 
einer  neuen  Unbekannten  weniger  dem  Viertel  des  Coefficienten  des 
früheren  kubischen  Gliedes  gleich  gesetzt  haben;  aber  hier  ist  eines 
jener  deutlich  sprechenden  Beispiele  dafür,  dass  das  Naheliegende 
mitunter  längere  Zeit  übersehen  wird.  Cardano  zog  die  so  natur- 
gemässe  Folgerung  aus  seiner  früheren  Erfindung  keineswegs.  Er 
verwandelte^)  /.  B. 


x^  +  Qx^  =  64  durch   x  ^ —  ^  in  i/ -\- ßy  =  ^64  =  4, 
d.  h.  allgemein,  er  Hess  x^  -{-  ax^  =  c  durch  x  = 


y 

yc   . 

-^~   in 

•  _  ^ 

y'  +  ay  =  Vc 

übergehen. 

Wir  sind  mit  unseren  Auszügen  aus  der  Ars  magna  von  1545 
zu  Ende.  Was  erwartet  man  von  Tartaglia,  was  muss  man  von  ihm 
erwarten,  sobald  er  das  grossartige  Werk  gelesen?  Entweder  dass  er 
vor  dem  Genius  des  Verfassers  in  Bewunderung  sich  beugte  und 
schweigend  sich  mit  den  ihm  gewordenen  Lobeserhebungen  begnügte, 
oder  wenn  sein  Charakter  kleinlicher  war,  beziehungsweise  wenn  seine 
Verhältnisse  es  mit  sich  brachten,  dass  er  aus  seiner  Erfindung  so 
viel  als  möglich  für  sich  herauszuschlagen  suchen  musste,  dass  er  in 
diesem  letzteren  Falle  schleunigst  die  Ars  magna  zu  überbieten 
suchte  und  seine  eigenen  Entdeckungen  der  Oeffentlichkeit  übergab. 
Vergleichen  wir  damit  neuerdings  den  schon  geschilderten  Inhalt  der 
Quesiti  -). 

Tartaglia  behauptet,  schon  längst  in  Besitz  vieler  Dinge  zu  sein, 


1)  Cardano  IV,  297.     Quaesito   VII.  ^)  Wir  steben  in  dieser  Darstel- 

lung in  wesentlicber  Uebereinstimmung  mit  Gberardi,  der  in  seinen  sebon 
wiederholt  genannten  Materialien  zur  Gescbicbte  der  mathematischen  Facultät 
der  alten  Universität  Bologna  (deutsch  von  Max.  Curtze,  Berlin  1871)  zum 
ersten  Male  die  Tartaglia-Legende  prüfte  und  ihre  Unglaubwürdigkeit  darthat. 


Ciirdano's  ältere  Schriften.  53  1 

welche  er  nennt,  welche  aber  auch  in  der  Ars  magna  stehen,  er  be- 
hauptet auch  noch  vieles  Andere  zu  wissen.  Den  Beweis  für  das 
Eine  bleibt  er  schuldig,  die  leiseste  Andeutung,  worin  seine  sonstigen 
Entdeckungen  bestehen,  vermeidet  er.  Oder  soll  es  als  Beweis  gelten, 
wenn  er  1547  Gespräche,  die  er  geführt  haben  will,  mit  Zeitangaben 
versieht,  denen  jede  Bestätigung  abgeht?  Ob  Da  Coi  damals,  wie 
wir  (S.  495)  als  möglich  hinstellten,  gestorben  oder  verschollen  war, 
ob  das  Gleiche  für  Fior  gilt,  kommt  nicht  gar  sehr  in  Betracht.  Die 
von  diesen  beiden  etwa  zu  erhärtenden  oder  zu  widerlegenden  That- 
saclien  sind  nicht  so  erheblich.  Bedeutsam  ist  nur  das  Gespräch  von 
1541  mit  Ventuorthe,  und  dieser  Engländer  war  nach  Tartaglia's 
eigener  Aussage  eben  1541  in  sein  Vaterland  zurückgekehrt,  sein 
Zeugniss  in  Italien  somit  1547  so  gut  wie  unbeibringlich,  wenn  man 
die  damaligen  Verkehrsverhältnisse  berücksichtigt.  In  diesem  Ge- 
spräche will  Tartaglia  behauptet  haben,  ax^  =  })  -\-  t"  besitze  zwei 
oder  vielleicht  noch  mehr  Auflösungen,  eine  Wahrheit,  die  er  sehr 
gut  erst  durch  Cardano's  Ars  magna  kennen  gelernt  haben  kann.  In 
diesem  Gespräche  giebt  er  die  Lösung  der  Gleichung  ;X'^ -}- Gic^==  100 

mit  X  =  ]/42  +  yiTÖO  +  ]/42  —  /rTOO  —  2,  in  welcher  die  Be- 
freiung der  kubischen  Gleichung  vom  quadratischen  Gliede  durch  das 
in  jenem  Wurzelwerthe  vorkommende  — 2  mittelbar  gesichert  ist, 
aber  gerade  dieses  Beispiel  nebst  seiner  Auflösung  waren  wir  in  der 
Lage  (S.  504)  aus  der  Ars  magna  anzuführen.  Will  man  glauben, 
Cardano  habe  auch  dieses  von  Tartaglia  besessen,  und  Tartaglia  habe 
in  den  Quesiti  nur  versäumt,  auf  den  weiteren  Diebstahl  aufmerksam 
zu  machen?  Nein,  Tartaglia  war  im  Stande  x^ -\- ax^  =\>  mit  ratio- 
nalen Coefficienten  a  und  h  zu  versehen,  indem  er  von  einem  quadra- 
tisch-irrationalen X  ausging  (S.  486),  aber  die  Befreiung  der  all- 
gemeinen kubischen  Gleichung  von  ihrem  quadratischen  Gliede  hat 
er  nie  besessen,  hat  er,  als  er  sie  in  der  Ars  magna  las,  nicht  ein- 
mal verstanden,  sonst  hätte  er  in  den  Quesiti  ganz  anders  darüber 
sich  ausdrücken  müssen.  Von  allen  Ruhmredigkeiten  Tartaglia's  über 
seine  Verdienste  um  die  Erweiterung  der  Lehre  von  den  Gleichungen 
bleibt  für's  erste  nur  die  Thatsache,  dass  er  1539  die  Auflösung  der 
eines  quadratischen  Gliedes  entbehrenden  kubischen  Gleichung  besass. 
Weiteres  wollte  Tartaglia  seiner  in  den  Streitschriften  von  1547  bis 
1548  wiederholt  auftretenden  Zusicherung  gemäss  dann  der  Welt  mit- 
theilen, wenn  er  in  späterer  Zeit  die  Arbeit,  deren  Vollendung  ihn 
jetzt  voll  beschäftigte,  die  Uebersetzung  des  Euklid,  abgeschlossen 
haben  werde.  Und  wie  verhält  es  sich  mit  der  späteren  Zeit?  Tar- 
taglia hat  von  1556   ab  seinen  General  Trattato   de'  niimeri  e  misure 


512  <i-'j-  Kapitel. 

dem  Drucke  übergeben.  Der  1.  Band  erschien  1556,  der  2.  Band 
1558,  der  3.  Band  1560,  nachdem  Tartaglia  schon  gestorben  war. 
Nirgend  ist  auch  nur  eine  weitere  Entdeckung  im  Gebiete  der 
Gleichungslehre  mitgetheilt.  Wir  werden  Tartaglia's  Schriften  im 
nächsten  Kapitel  genauer  Besprechung  unterziehen,  aber  schon  jetzt 
dürfen  wir  unsere  Verwunderung  aussprechen,  dass  er,  auch  nachdem 
der  öffentliche  Streit  gegen  Feri-ari  und  Cardano  durch  die  Disputation 
vom  10.  August  1548,  wie  sie  auch  betrachtet  werden  mag,  zu  Ende 
geführt  war,  nachdem  also  aus  dem  Besitze  algebraischer  Geheimnisse 
ein  klingender  Vortheil  für  Tartaglia  nicht  mehr  in  Aussicht  stand, 
gar  nicht  eilte,  die  Entdeckungen  zu  veröffentlichen,  welche  ihn  zum 
grössten  Mathematiker  seiner  Zeit  stempeln  mussten,  sondern  Jahr 
um  Jahr  der  Niederschrift  von  verhältnissmässig  unbedeutenden  Dingen 
widmete.  Mit  dieser  Verwunderung  regt  sich  zugleich  auch  der 
Zweifel,  wie  es  mit  jenen  erwähnten  nachweisbaren  Kenntnissen  von 
1539  sich  verhielt. 

Nicht  ob  er  sie  besass,  können  wir  anzweifehi,  aber  woher  er  sie 
besass?  Wir  haben  Scipione  del  Ferro  als  ersten  Auflöser  der  Glei- 
chung x^  -\-  ax  =  h  kennen  gelernt,  wir  haben  (S.  483)  gesagt,  es 
sei  zwar  nirgend  berichtet,  wie  er  verfuhr,  aber  gewisse  Rückschlüsse 
seien  berechtigt.  Hier  ist  der  Ort,  sie  zu  ziehen.  Cardano  und  Fer- 
rari nahmen  1542  Einsicht  von  Del  Ferro's  Buche.  Cardano  nannte 
am  Anfange  des  XL  Kapitels  der  Ars  magna  von  1545  den  ersten 
Erfinder,  nannte  Tartaglia  als  zweiten^).  Die  Auflösungsmethode, 
welche  er  mittheilt,  ist  genau  die  des  Tartaglia,  wie  wir  sie  aus  dessen 
Terzinen  und  aus  dessen  an  Cardano  gerichtetem  Briefe  vom  23.  April 
1539  kennen.  Folgt  daraus  nicht  mit  an  Gewissheit  grenzender 
Wahrscheinlichkeit,  dass  die  beiden  Verfahren,  das  des  Del  Ferro  und 
das  des  Tartaglia,  nur  eines  und  dasselbe  waren?  Findet  diese  An- 
nahme nicht  eine  weitere  Bestätigung  in  Ferrari's  Worten,  welche  er 
im  sechsten  Cartello  ^)  Tartaglia  entgegenschleudert :  „Herr  Hierony- 
mus  konnte  diesen  Gleichungsfall  dem  ersten  Erfinder,  d.  i.  Herrn 
Scipio  del  Ferro  aus  Bologna  zuschreiben  und  ausser  diesem  noch 
Herrn  Antonio  Maria  Fiore,  welcher  —  Ihr  gesteht  es  in  Eurem  Buche 
ein  —  die  Sache  früher  als  Ihr  wusste.  Nichtsdestoweniger  war  er 
so  höflich.  Euch  glauben  zu  wollen,  dass  auch  Ihr  das  Verfahren 
erfunden  habet,  ohne  es  von  einem  von  diesen  oder  von  einem  ihrer 
Schüler  erhalten   zu   haben   und  hat  Euren  Ruhm   zugleich  mit  dem 

')  Scipio  Ferreus  Bononiensis  iam  annis  ab  liinc  triginta  fenne  capitidum 
hoc  invenit,  tradidit  vero  Anthonio  Mariae  Florida  Veneto,  qui  cum  in  certamen 
cum  Nicoiao  Tartalea  Brixellense  aliquando  venisset,  occasionem  dedit  ut  Nico- 
laus invenerit.         ^)  Cartello  VI,  pag.  4—5. 


Cardano's  ältere  Schriften.  513 

jeuer  Beiden  verkündet.  Und  Ihr?  Für  diese  Wohlthat,  an  die  ich 
Euch  in  meinem  zweiten  Cartello  erinnerte^),  für  viele  andere,  welche 
ich  bezeugen  kann,  habt  Ihr  zur  Unzeit  so  bäuerisch  über  ihn  ge- 
schrieben, dass  Ihr  verrü(5kt  erscheint."  Wir  nageln  den  Ausdruck 
„er  war  so  höflich  Euch  glauben  zu  wollen"  e  stato  sl  cortese,  che  vi 
a  voluto  crederc,  fest,  welcher  Ferrari's  Zweifel  an  Tartaglia's  Erfinder- 
recht ausspricht. 

Ist  es  denn  nur  in  einer  Weise  möglich,  die  kubischen  Glei- 
chungen aufzulösen?  Die  Geschichte  hat  diese  Frage  mit  lautem  Nein 
beantwortet.  Eine  1615  gedruckte  Auflösung  von  Vieta,  von  welcher 
noch  in  diesem  Bande  die  Rede  sein  wird,  eine  1G83  veröffentlichte 
Auflösung  von  Tschirnhausen,  Dutzende  von  späteren  Auflösungen 
weichen  alle  unter  einander  und  von  der,  wie  wir  begründet  haben, 
Tartaglia  und  Del  Ferro  gemeinschaftlichen  ab.  Ist  es  unter  diesen 
Umständen  nicht  gestattet,  Zweifel  daran  zu  hegen,  dass  beide  unter- 
einander übereinstimmende  Gedankenfolgen  ganz  unabhängig  in  zwei 
verschiedenen  Köpfen  sich  bildeten? 

Nur  zwei  wichtige  Bedenken  stehen  diesem  Zweifel  wiederum 
gegenüber.  Erstlich  wer  sollte  Tartaglia  die  Del  Ferro'sche  Ent- 
deckung mitgetheilt  haben?  Diesem  Bedenken  gegenüber  haben  wir 
keine  andere  Entgegnung  als:  wir  wissen  es  nicht,  und  wir  empfinden 
selbst  diese  Lücke  aufs  Unangenehmste.  Nur  das  könnte  gesagt 
werden,  dass  wo  eine  Handschrift  vorhanden  war,  wo  Fior  die  Methode 
kannte,  es  wenigstens  nicht  ausgeschlossen  erscheint,  dass  auch  ein 
Zweiter,  ein  Dritter  heimliche  Kenntniss  erhielt  und  sie  ebenso  heim- 
lich weiter  verbreitete'-).  Dann  muss  man  freilich  auf  den  neuen  Ein- 
wurf gefasst  sein,  warum  dieser  Zweite,  dieser  Dritte  nicht  hervortrat 
und  für  sich  und  seinen  eigenen  Nutzen  das  Geheimniss  verwerthete 
ähnlich  wie  Fior  es  that?  Diesem  Einwurfe  gestehen  wir  die  kräftigste 
Wirkung  zu.  Das  zweite  Bedenken  äussert  sich  in  der  Frage,  ob 
Tartaglia  denn  zuzutrauen  war,  dass  er,  auf  eine  oder  die  andere 
Art  in  den  Besitz  von  Del  Ferro's  Geheimniss  gelangt,  doch  immer 
nur  von  seiner  eigenen  Entdeckung  sprach?  Wir  müssen  die  Be- 
antwortung aufschieben,  bis  wir  Tartaglia's  Schriften  besprochen 
haben,  eine  Aufgabe,  welcher  wir  uns  jetzt  zuwenden. 


^)  Cartello  II,  pag.  3:    Te  inventorem  celebravit,  te  exoi-atutn  sihi  tradidisse 
commemoravit.     Quid  vis  amplius?  ^)  So  ist  die  Ansicht  Gherardi's  1.  c. 

S.  115—116. 


Cantor,  Geschichte  der  Mathem.   II.    2.  Aufl. 


014  66.  Kapitel. 

66.  Kapitel. 
Tartaglia's  Schriften.     Cardano's  spätere  Schriften . 

Tartaglia  eröffnete  seine  schriftstellerische  Laufbahn  1537  mit 
der  Nuova  scienza,  einem  Versuche  die  Lehre  von  dem  Wurfe 
auf  theoretischer  Grundlage  aufzubauen.  Hervorzuheben  ist  daraus 
die  Behauptung,  dass  die  Bahn  des  geworfenen  Körpers  eine  in  jedem 
ihrer  Theile  krumme  Linie  bilde,  während  die  Schulmeinung  dahin 
ging,  der  Anfang  und  das  Ende  der  Bahn  sei  eine  gerade  Linie  ^). 
Ausserdem  wusste  Tartaglia,  dass  der  unter  einem  Winkel  von  45" 
geworfene  Körper  am  weitesten  fliege.  Im  dritten  Buche  der  Nuova 
scienza  ist  ausschliesslich  von  Aufgaben  der  Feldmessung  die  Rede, 
wobei  ein  rechtwinklig  hergestelltes  Viereck  das  Hauptwerkzeug  bildet. 
Um  die  rechten  Winkel  selbst  zu  prüfen,  solle  man  durch  längs  den 
Seiten  gezogene  Striche  einen  solchen  zur  Abbildung  bringen,  dann 
um  den  Scheitel  als  Mittelpunkt  einen  Kreis  beschreiben  und  schliess- 
lich messen,  ob  der  von  den  Schenkeln  begrenzte  Kreisbogen  sich 
viermal  auf  dem  Kreise  herumtragen  lasse. 

Demnächst  veröfieutlichte  Tartaglia  1543  eine  lateinische  Aus- 
gabe des  Archimed^).  Die  Vorrede,  natürlich  gleichfalls  in  latei- 
nischer Sprache  geschrieben,  enthält  folgende  Erzählung:  „Nachdem 
durch  einen  Glückszufall  eine  zerrissene  und  kaum  lesbare  griechische 
Handschrift  des  Archimed  in  meine  Hände  gekommen  war,  wandte 
ich  alle  Arbeit,  alle  Mühe  und  Sorgfalt  auf  die  Theile,  die  sich  lesen 
Hessen,  sie  in  unsere  Sprache  zu  übertragen,  was  freilich  schwer 
war"^).  Deutlicher  und  bestimmter  kann  man  sich  nicht  ausdrücken, 
und  nun  hat  die  wörtliche  Uebereinstimmung  insbesondere  solcher 
Stellen,  deren  Uebersetzung  verfehlt  und  zum  Theil  ganz  sinnlos 
ist,  zur  Gewissheit  erhoben,  dass  Tartaglia  die  ganze  Uebersetzung 
abgeschrieben  hat,  dass  es  die  Arbeit  Wilhelm's  von  Moer- 
becke  (S.  99)  war,  die  der  freche  Herausgeber  als  seine  eigene  rühmte! 

Noch  im  gleichen  Jahre  1543  erschien  die  italienische  Ueber- 
setzung  des  Euklid*)  von   Tartaglia,   ein   Werk,  mit  welchem  er 


1)  Libri  III,  lüü— 161.  —  Heller,  Geschichte  der  Physik  I,  326—327. 
*)  Heiberg's  Archimedausgabe  (1880—1881)  Bd.  III  Prolegomena  pag.  XXIX  sqq. 
und  Heiberg,  Neue  Studien  zu  Archimedes.  Zeitschr.  Math.  Phys.  XXXIV, 
Supplementheft,  besonders  S.  6—7.  ^)  Cum  sorte  quadam  ad  manus  meas  per- 
venissent  fracti  et  qui  vix  legi  poterant  qiiidam  libri  manu  graeca  scripti  illius 
celeberrimi  pliilosophi  Archimedis  .  .  .  omnem  operam  meam  omne  Studium  et 
cmam  adhihui,  ut  nostram  in  Unguam,  quae  partes  eorum  legi  poterant,  conver- 
terentur,  quod  sane  difficile  fuit.      *)  Eticlide  Heg.  Philos.  solo  introduttore  delle 


Tartaglia's  Schriften.     Cardano's  spätere  Scliriften.  515 

ofifenbar  grossen  Erfolg  gehabt  haben  muss,  da  nicht  weniger  als 
fünf  Auflagen  innerhalb  42  Jahren  bekannt  sind.  Die  italienische 
Uebersetzung  ist,  wie  der  Titel  ausdrücklich  erklärt,  aus  zwei  latei- 
nischen Texten,  nämlich  aus  denen  von  Campano  und  von  Zam- 
berti,  abgeleitet,  während  der  griechische  Euklid  bereits  seit  zehn 
Jahren  im  Drucke  vorhanden  war.  Das  gleicht  so  ziemlich  einem 
Eingeständnisse,  dass  Tartaglia  nicht  im  Stande  war,  des  griechischen 
Textes  sich  zu  bedienen,  und  kann  dadurch  als  Bestätigung  gelten, 
dass  Tartaglia  noch  viel  weniger  befähigt  war,  einen  griechischen 
Archimed  zu  übersetzen.  Im  Uebrigen  ist  Tartaglia's  Bearbeitung 
nicht  ohne  Verdienst.  Sie  ist  mit  vielen  eingehenden  Erläuterungen 
versehen,  auch  ist  die  Nummerirung  der  Sätze  und  die  Anordnung 
des  Stoffes  zuweilen  eine  andere  als  bei  Campano  und  Zamberti. 
Am  Rande  sind  stets  die  Nummern  jener  beiden  Ausgaben  angegeben 
auch  in  den  Fällen,  in  welchen  alle  drei  Ausgaben  übereinstimmen^). 

Die  Quesiti  et  invenzioni  diverse  sind  von  1546.  In  deren 
V.  Buche  ist  die  Aufnahme  topographischer  Pläne  mittels  der  Bus- 
sole gelehrt.  Den  sonstigen  mathematischen  Inhalt  bildet  aus- 
schliesslich die  Geschichte  der  Entdeckung  der  Auflösung  kubischer 
Gleichungen.  Sie  ist  von  uns  bereits  ausführlich  in  Tartaglia'schem 
Sinne  erzählt,  aber  auch  dahin  erläutert  worden,  dass  irgend  Neues, 
was  der  Leser,  beziehungsweise  also  auch  der  Schreiber,  nicht  aus 
der  Ars  magna  Cardano's  wissen  konnte,  durchaus  nicht  vorkommt. 
Im  Anschlüsse  an  die  Quesiti  nennen  wir  der  Vollständigkeit  der 
Aufzählung  wegen  Tartaglia's  Risposte  auf  die  Cartelli  Ferrari's. 

Dann  folgte  1551  La  travagliata  invenzione  und  kurz  dar- 
auf Ragionamenti  sopra  la  travagliata  invenzione.  Beide 
Schriften  sind  der  Mathematik  fremd.  Wir  müssen  gleichwohl  Weniges 
über  sie  bemerken  und  zugleich  auf  ein  etwas  älteres  Werk  Car- 
dano's zurückgreifen.  Cardano  nämlich,  dessen  Vielseitigkeit  als 
Arzt,  als  Astrolog,  als  Physiker,  als  Philosoph,  als  Mathematiker  ihn 
zu  einem  der  fruchtbarsten  Schriftsteller  seines  Zeitalters  machte,  wo- 
von zehn  Foliobände  erhaltener  Werke  ausreichendes  Zeugniss  liefern, 
hatte  auch  eine  Schrift  De  subtilitate  verfasst,  welche  1550  in 
Nürnberg,  1552  abermals  und  zwar  in  Paris  gedruckt  worden  ist. 
In  XXI  Bücher  eingetheilt^)  enthält  sie  Dinge  aus  fast  allen  Wissens- 
gebieten.    Im  XL  Buche  z.  B.  ist   eine   Zusammenstellung  der  ästhe- 


Seientie  Matematiche  düigentamente  reassetato  ei  alla  integritä  ridotto  j)er  etc. 
Nie.  Tartalea  etc.  et  per  commune  commodo  et  iitilüa  di  latino  in  volgar  tradotto 
1543  in  fol.,  1544,  1545  in  fol.,  1565,  1569,  1585  in  4». 

1)  Wertteim  brieflich.         ^)  Cardano  HI,  353—672. 

33* 


516  66.  Kapitel. 

tisch  wirksamsten  Verhältnisszahleu  der  meuschlictien  Gliedmassen  zu 
finden^),  im  XVIL  Buche  die  Beschreibung  eines  Schlosses,  welches 
nur  dann  sich  öffnet,  wenn  gewisse  Wortstellungen  drehbarer  Buch- 
stabenvereinigungen hervorgebracht  sind^).  Gleichfalls  im  XVIL  Buche 
ist  von  einer  Vorrichtung  die  Rede  ^)  ,  welche  mittels  dreier  in  ein- 
ander greifender  Stahlringe  bewirkt,  dass  aus  einer  offenen  Lampe, 
wie  man  sie  auch  halte,  kein  Oel  herauslaufe.  Das  ist  die  sogenannte 
Ca r danische  Aufhängung,  welche  aber  mit  Unrecht  diesen  Namen 
führt,  da  nach  dem  Wortlaute  bei  Cardano  selbst  er  hier  über  eine 
schon  sehr  alte  Erfindung  berichtet  ^).  Von  anderen  Stellen  der  Bücher 
De  subtilitate  wird  noch  in  anderem  Zusammenhange  die  Rede  sein. 
Hier  nennen  wir  nur  noch  eine  Erfindung  gleich  aus  dem  L  Buche. 
Dort^)  ist  eine  Vorrichtung  zur  Hebung  gesunkener  Schiffe  beschrie- 
ben, welche  auf  dem  Gedanken  beruht,  das  gesunkene  Schiff  mittels 
von  Tauchern  daran  befestigten  imd  straff  angezogenen  Tauen  mit 
so  schwer  als  möglich  beladenen  Kähnen  in  Verbindung  zu  setzen. 
Werden  alsdenn  die  Kähne  erleichtert,  so  hebt  das  Wasser  sie  und 
zugleich  das  an  ihnen  befestigte  Schiff.  Kein  anderer  Gedanke  als 
dieser  ist  es,  welcher  der  Travagliata  invenzione  Tartaglia's  zu  Grunde 
liegt,  während  der  Name  Cardano's  vergeblich  gesucht  wird,  und 
wenn  auch  nicht  zu  verkennen  ist,  dass  zwischen  einem  hingeworfenen 
und  einem  ausführlich  entwickelten  Gedanken  ein  erheblicher  Unter- 
schied ist,  so  ist  doch  Tartaglia's  Verschweigen  des  Namens  dessen, 
der  den  Gedanken  zuerst  äusserte,  um  so  bezeichnender,  als  der  Streit 
über  die  kubischen  Gleichungen  zwischen  Beiden  vorhergegangen  war. 
Gleichwie  in  der  Travagliata  invenzione  fehlt  Cardano's  Name  auch 
in  den  Ragionamenti,  welche  der  Hauptsache  nach  eine  weitere  Aus- 
führung der  eben  genannten  Schrift  sind.  Dabei  ist  unter  anderen 
das  specifische  Gewicht  einer  ganzen  Anzahl  von  Stoffen  auf  das  Ge- 
wicht des  Regenwassers  als  Einheit  zurückgefühi-t.  Die  Versuche 
Tartaglia's  müssen  indessen  an  einem  bisher  noch  nicht  ermittelten 
einheitlichen  Fehler  gelitten  haben,  da  .sämmtliche  specifische  Ge- 
wichte, die  er  augiebt,  zu  klein  sind.  Die  Ragionamenti  von  1551 
sind  in  Gestalt  von  Gesprächen  mit  Richard  Ventuorthe  gedacht. 
Selbstverständlich  kann  diese  Gesprächsform  nicht  gegen  unsere  Be- 
merkung (S.  490),  jener  Engländer  sei  1541  in  seine  Heimath  zurück- 


1)  Cardauo  III,  555—556.  -)  Ebenda  pag.  623.  ^)  Ebenda  pag.  612. 
*)  Breusing,  Die  nautischen  Instrumente  bis  zur  Erfindung  des  Spiegelsextan- 
ten (Bremen  1890)  S.  16—17.  Berthelot  hat  in  den  Compt.  ßend.  CXI,  940 
(Paris  1890)  das  Vorkommen  der  Cardanischen  Aufhängung  in  einer  Handschrift 
des    XII.  S.   nachgewiesen.  ^)  Cardano  III,  364—365:     Modus   quo   naves 

demersac  gurgitihus  recuperantitr. 


Tartaglia's  Schriften.     Cardano's  spätere  Schriften.  517 

gekehrt,  verwerthet  werden,  denn  man  hat  es  sicherlich  mit  erdichteten 
Gesprächen  zu  thun,  wie  Tartaglia  sie  in  allen  neun  Büchern  der 
Quesiti  als  stylistische,  auch  sonst  vielfach  beliebte  und  gebrauchte 
Form  benutzt  hatte,  und  von  einem  neuen  wirklichen  Aufenthalte 
des  „Gevatters"  (mio  Compare)  in  Italien  ist  nirgend  eine  Andeutung 
zu  finden. 

Nun  gelangte  der  General  Trattato  di  numeri  et  misure 
zur  Veröffentlichung,  das  mathematische  Hauptwerk  Tartaglia's,  wel- 
chem wir  einen  ausführlichen  Bericht  zu  widmen  haben,  ebensowohl 
weil  es  an  und  für  sich  eines  solchen  würdig  erscheint,  als  weil  eine 
parteilose  Beendigung  der  von  uns  begonnenen  Untersuchung  ihn 
nothwendig  macht.  Der  I.  Band,  die  1.  Parte  enthaltend,  trägt  die 
Jahreszahl  1556.  Der  II.  Band  trägt  die  gleiche  Jahreszahl  und 
enthält  die  2.  Parte.  Im  III.  Bande  sind  die  3.,  4.,  5.,  6.  Parte  ver- 
einigt, wemi  auch  jede  mit  neu  beginnender  Blattbezifferung;  die 
Jahreszahl  der  Titelblätter  dieser  vier  letzten  Abtheilungen  ist  1560. 
Jede  einzelne  Parte  ist  mit  einer  besonderen  Widmung  versehen,  auf 
welche  gleichfalls  geachtet  wird  werden  müssen,  da  geschichtlich  Ver- 
werthbares  dort  sich  findet. 

Die  Parte  1  ist  wieder  dem  englischen  Edelmanne  Ricardo 
Ventvorth  zugeeignet,  von  dessen  derzeitigem  Aufenthaltsorte  aber- 
mals keine  Andeutung  sich  findet.  Tartaglia  beklagt  die  kostbare 
Zeit,  welche  er  durch  die  Cartelli  und  Risposte  verloren  habe,  jam- 
mert über  Aerger  und  Zeitverlust  in  Brescia  und  setzt  hinzu,  dass 
er  seit  zwei  Jahren  —  mithin  seit  1554  —  mit  eisernem  Fleisse  an 
eine  grosse  Arbeit  sich  gemacht  habe.  Schnelligkeit  habe  nothgethan, 
weil  er  befürchten  musste,  durch  Tod,  Krankheit  oder  sonstige  Zu- 
fälle wieder  gestört  zu  werden.  Jetzt  sei  er  mit  der  Arbeit 
fertig,  und  sie  sei  in  sechs  Abtheilungen  getheilt^).  So  schreibt  Tar- 
taglia am  23.  März  1556.  Nicht  anders  drückt  er  sich  am  3.  April 
1556  in  der  an  den  Grafen  L'Andriano  gerichteten  Widmung  der 
Parte  2  aus.  Er  habe  in  den  letzten  zwei  Jahren  einen  sechstheiligen 
Tractat  verfasst,  dessen  zweiter  Theil  hier  vorliege^).  Die  Wid- 
mungen der  vier  weiteren  Theile  hat  Tartaglia,  der,  wie  wir  uns 
erinnern,  im  December  1557  starb,  nicht  mehr  verfasst.  Sie  rühren 
vom  Verleger  Curtio  Trojano  deiNavo  her,  und  deren  erste  trägt 
die  Zeitangabe  des  1.  Januar  1560,  die  anderen  sind  nicht  datirt. 
Die  Widmung  der  Parte  6    enthält  die  Mittheilung,  der  Verfasser  sei 


*)  La  ho  ridutta  a  fine,  <&  questa  mia  cosi  longa  fatica  mi  e  parso  da  divi- 
dere  in  sei  paHi  distinte.  *)  Havendo  questi  duoi  anni  passati  composto  nn 

general  Trattato  di  numeri  &  misure,  ma  in  sei  parti  divisi  per  la  diversita  di 
lor  soggetti,  delle  quali  sei  parti  questa  e  Ja  seconda. 


518  66-  Kapitel. 

vor  Vollendung  dieser  Schlussabtheilung  vom  Tode  betroffen  worden, 
aber  so  weit  sei  das  Geschick  gütig  gewesen,  dass  es  ihn  nicht  weg- 
raffte, bevor  in  verschiedenen  Bruchstücken  und  vielen  Notizbüchern 
seine  Absichten  soweit  schriftlich  niedergelegt  waren,  dass  er  nur  noch 
in  einem  Bande  und  in  fortlaufender  Darstellung  zu  vereinigen  hatte, 

O  0  7 

was  auf  viele  Blättchen  in  lückenhafter  Form  geschrieben  war;  dieser 
Mühe  aber  konnte  Jeder  sich  unterziehen,  der  nur  massiges  Ver- 
ständniss  von  mathematischen  Dingen  besass^).  Ein  gewisser  Wider- 
spruch zwischen  diesen  drei  Aeusserungen  und  einem  Zwischensatze 
der  Parte  5,  in  welchem  auf  eine  noch  in  Aussicht  stehende  neue 
Algebra  verwiesen  ist^),  lässt  sich  nicht  leugnen,  aber  so  weit 
glauben  wir  mindestens  den  Worten  des  Verlegers  trauen  zu  müssen, 
dass,  als  Tartaglia  starb,  in  seinem  Nachlasse  nichts  w^eiter  sich  vor- 
fand, was  auf  Algebra  sich  bezog,  als  was  nachher  in  der  Parte  6 
des  General  Trattato  gedruckt  wurde.  Wir  berufen  uns  dafür  auf 
Tartaglia's  Testament  vom  December  1557.  Damals  waren  die  vier 
ersten  Abtheilungen  des  General  Trattato  im  Drucke  vollendet,  und 
Exemplare  derselben  waren  in  Tartaglia's  Besitz^),  über  welche  letzt- 
willig verfugt  wird.  Vom  schriftlichen  Nachlasse  ist  nicht  in  be- 
stimmten Worten  die  Rede,  aber  der  Verleger  Trojan  Navo  ist  aus- 
drücklich zum  Testamentsvollstrecker  ernannt^),  und  diese  Thatsache 
verstärkt  wesentlich  unseren  Glauben  an  die  Erklärung  dessen,  der 
sicherlich  alle  vorhandenen  Papiere  durchstöberte,  wie  er  sie  durch- 
stöbern musste.  Gab  doch  grade  dieser  Verleger  1565  aus  Tartaglia's 
Nachlasse  das  Werkchen  des  Jordanus  Nemorarius  De  Fondero- 
sitate  heraus^),  eine  Ausgabe,  welche  mit  ihren  46  Sätzen  zwar  nicht 
alle  50  Sätze  der  Handschriften  der  Oeffentlichkeit  übergab,  aber 
doch  weit  über  die  13  Sätze  hinausging,  welche  Peter  Apianus  1533 
bei  Petreius  in  Nürnberg  zum  Drucke  beförderte.  Und  eine  Nova 
Algebra,  verschieden  von  dem,  was  als  Parte  6  im  General  Trat- 
tato gedruckt  ist,  sollte  er  übersehen  haben?  Kaum  glaublich.  Tar- 
taglia's „neue  Algebra"  ist  aufzufassen,  wie  so  viele  Aeusserungen 
des    gleichen    Schriftstellers,    als    ein    auf   die    Zukunft    ausgestellter 


')  .  .  .  che  non  cel  tolse  iwima,  ch'egli  havesse  in  diversi  fragmenti  &  in 
molti  memoriali  scritta  tutta  intorno  a  tal  parte  l'intentione  sua  tanto,  che  non  li 
restava  a  far  altro  se  non  quello,  che  egli  haveva  in  molte  carte  scritto  S  con 
ragionamento  interrotlo,  racogliere  in  un  volume,  &  con  continuato  discorso,  fatica 
ch'ogni  mediocre  intendente  delle  3Iatematiche  poteva  condurla  a  fine.  ^)  Parte  5 
fol.  88  verso  1.  7  v.  u.:  si  narrara  nella  nostra  nova  Algebra.  ^)  3Ii  attrovo 
lihri  del  mio  general  trattato  de  numeri  et  miswe  pfl  2.da  ga  ^t  4a  parte. 
*)  Mio  commissario  et  executor  di  questo  mio  ultimo  testamento  lasso  it  sop(_2  M. 
Troian  Navo  lihrer.        *)  Gherardi  1.  c.  S.  96  Note  2. 


Tartaglia's  Schriften.     Cardano's  spätere  Schriften.  510 

Wechsel,  zu  dessen  Einlösung  keine  oder  doch  nur  geringe  Mittel 
bereit  lagen. 

Der  General  Trattato  ist  ein  ganz  vortreffliches  Lehrbuch  der 
Rechenkunst,  von  einer  Reichhaltigkeit,  welche  auch  hinter  der  der 
Summa  des  Paciuolo  in  keiner  Weise  zurücksteht,  von  grösster  Klar- 
heit und  sogar  einer  gewissen  Eleganz  der  Darstellung.  Natürlich 
ist  Vieles,  man  kann  getrost  sagen  das  Allermeiste,  der  Sache  nach 
alt  und  nur  in  der  Form  neu,  allein  auch  ganz  Neues,  uns  wenigstens 
aus  den  Schriften  keines  anderen  Verfassers  bekannt,  begegnet  an 
verschiedenen  Stellen  den  Blicken  des  aufmerksamen  Lesers.  Eine 
ganz  besondere  Neigung  besitzt  Tartaglia,  frühere  Schriftsteller  tadelnd 
zu  erwähnen,  während  er  ihre  Namensnennung  da,  wo  er  sich  ihnen 
streng  anschliesst,  ziemlich  regelmässig  unterlässt.  Ganz  besonders 
Paciuolo  und  Cardano  gegenüber  ist  diese  doppelte  Gewohnheit  auf- 
fällig. Wir  heben  nunmehr  Einzelheiten  hervor,  indem  wir  nach  der 
Reihenfolge  der  Abtheilungen  uns  richten. 

Parte  1.  Die  Campano'sche  Euklidübersetzung  nennt  das  Ver- 
vielfältigen unterschiedslos  bald  muUiplicare,  bald  ducere'^).  Das  hält 
Tartaglia  für  unrichtig.  MuJtiplicare  beziehe  sich  nur  auf  abstracte 
Zahlen,  und  der  kleinste  Multiplicator  sei  2,  ducere  dagegen  müsse 
bei  geometrischen  Quantitäten  gesagt  werden,  wie  bei  der  Verviel- 
fältigung von  Linien  mit  Linien  oder  von  Linien  mit  Oberflächen^). 
Ganz  ähnlich  sei  bei  der  entgegengesetzten  Operation  das  misurare, 
welches  bei  Raumgrössen  stattfinde,  von  dem  auf  Zahlen  sich  be- 
schränkenden parfAre  zu  unterscheiden^).  Diese  Begriffsbestimmungen 
auf  Brüche  angewandt  führen  dazu,  dass  bei  ihnen  als  an  sich  con- 
tinuirlichen  Grössen  nur  die  Ausdrücke  ducere  und  misurare  in  An- 
wendung kommen  sollten*).  Beim  Multipliciren  und  Dividiren  sind 
alle  die  zahlreichen  Regeln  gelehrt,  welche  dafür  bekannt  waren,  ins- 
besondere erscheint  das  partire  a  danda  d.  h.  das  Dividiren  unter- 
wärts^), welches  von  nun  an  gegen  das  alte  Dividiren  überwärts  sich 
siegreich  behauptet.  Tartaglia  lehrt  es  an  dem  Beispiele  912345  :  1987 
mit  dem  avenimento  (Quotient)  459  und  dem  avanzo  (Rest)  312. 
Die  Pratica  d.  h.  dasjenige  Verfahren,  welches  bei  den  deutschen 
Rechenmeistern  die  welsche  Praktik  hiess,  und  welches  insbesondere 
beim  Rechnen  mit  benannten  Zahlen  beliebt  war,  wird  aufs  Ausführ- 
lichste gelehrt^).  Für  das  Zurückführen  verschiedener  Brüche  auf 
den  kleinsten  Gemeinnenner,  beziehungsweise  für  die  Auffindung  der 


^)  Ducere  heisst  es  z.  B.  bei  der  Ausmessung  der  Rechtecke.   Vgl.  Kästner 
I,  294—295.  2)  General  Trattato,  Parte  1  fol.  17  verso.  ^)  Ebenda  fol.  27 

recto.       ^)  Ebenda  fol.  119  recto  und  verso.       ^)  Ebenda  fol.  35  recto  und  verso. 
^)  Ebenda  fol.  53  verso  bis  lOG  recto. 


520  &&■  Kapitel. 

kleinsten  ganzen  ZaM,  deren  Bruchtheile  von  gegebenem  Nenner 
ganzzahlig  ausfallen ,  ist  ein  besonderer  Name  angegeben,  accatare  ^) 
(wörtlich:  betteln,  borgen).  Tartaglia  lehrt,  wie  man  einen  Brod- 
tarif anfertigen  könne,  der  den  Veränderungen  des  Fruchtpreises  sich 
anpasse-).  Seine  Bemerkung,  daran  habe  noch  kein  Verfasser  einer 
Arithmetik  gedacht,  ist  gegenüber  den  Vorgängern,  von  welchen  wir 
wissen  (S.  478),  höchstens  für  Italien  keine  eitle  Ruhmredigkeit.  Die 
zeitliche  Entfernung  zweier  bestimmter  Tage  wird  durch  eine  Sub- 
traction  gefunden^),  die  derjenigen  von  benannten  Zahlen  nach- 
gebildet ist.  Die  Zeit  vom  17.  des  dritten  Monats  1552  bis  zum  23. 
des  ersten  Monats  1555  wird  z.  B.  nach  folgendem  leichtverständ- 
lichen Schema  berechnet: 

23  I        1555 

17         III        1552 

differentia        6         X  2 

Terminrechuung  d.  h.  Abtragung  verschiedener  an  verschiedenen  Tagen 
fälligen  Zahlungen  an  einem  mittleren  Tage  heisst  reccare  a  im  di^). 
Die  Rechnung  wird  so  geführt,  dass,  wenn  die  Zahlungen  z^,  z^y  •  ••  ^n 
nach   t^,  t^,  .  .  .  tn  Zeit  zu  leisten  waren,   die  Entfernung  T  des  mitt- 

leren  Tages  sich  durch    T  = j — ^-j , ergiebt.     Nicht 

uninteressant  ist  eine  Polemik  gegen  Paciuolo  und  Cardano  über 
Zinseszins  bei  Bruchtheilen  von  Jahren^),  eine  Polemik,  auf  welche  wir 
schon  (S.  325)  mit  dem  Bemerken  hingewiesen  haben,  es  handle  sich 
dabei  nicht  um  eigentlich  Mathematisches.  Die  Frage  heisst:  Was 
wird  aus  100  in  2%  Jahren  zu  20%  mit  Zinseszinsen?  Darüber  ist 
Tartaglia  mit  den  beiden  anderen  Schriftstellern  einig,  dass  100  zu 
20%  mit  Zinseszinsen   in    1  Jahre   zu   120,  in   2  Jaliren  zu  144,  in 

3  Jahren  zu  172-3-,  in  %  Jahre  zu  110  anwachse.     Den  Betrag  nach 

272  Jahren  berechnen  aber  Paciuolo  und  Cardano   vom  dritten  Jahre 

i  1 

rückwärts  mittels   des  Dreisatzes    110  :  100  =  172^-  :  x,   x  =  157--, 

o       '  11 ' 

Tartaglia  dagegen  vom  zweiten  Jahre  vorwärts  mittels  des  Dreisatzes 

100  :  110  =  144  :  ic,    a;=158-^-     Der   Zinseszins,    .sagt    er,    werde 

immer  vom  Gläubiger  auferlegt,  und  dieser  stelle  die  Bedingung  zu 
seinem  Vortheile,  welcher  demnach  bei  der  Rechnung  zu  wahren  sei. 
Auch  eine  Frage  der  Wahrscheinlichkeitsrechnung,  und  zwar  wieder 
die  Theilungsfrage   bei   unterbrochenen  Spielen  (S.  501),   wird  unter- 

^)  General    Trattato,  Parte  1  fol.  109  verso.  -)  Ebenda  fol.  171  recto. 

3)  Ebenda  fol.  182  recto.  ')  Ebenda  fol.  185  verso.  ^)  Ebenda  fol.  191 

verso  bis  192  verso. 


Tartaglia's  Schriften,     Cardano's  spätere  Schriften.  521 

sucht  ^).  Eine  streng  beweisbare  Auflösung  gebe  es  nicht,  weil  die 
Frage  mehr  nach  Recht  als  nach  Vernunftgründen  zu  behandeln  sei, 
la  risoluzione  di  una  teil  questione  e  piii  presto  yiiidickde  che  per 
ragione.  Am  wenigsten  Anstoss  errege  folgende  Theilung.  Das  Spiel 
soll  wieder  auf  s  Spiele  gehen,  und  s^,  s^  sind  die  von  beiden  Spielern 
erreichten  Gewinnspiele.  Der  Erste  ist  dem  Zweiten  um  s^  —  s.,  Ge- 
winne vor.     Da  er  bei  s  Gewinnen   den   ganzen  Einsatz  des  Gegners 

ausser  dem  eigenen  an  sich  zieht,   so  gebühren  ihm  jetzt ^-  von 

dessen  Einsatz,  während  Jenem  nur  ^ ~  desselben  bleibt.     Der 

Erste  behält  überdies  —  des  eigenen  Einsatzes,  und  da  beide  Einsätze 
als  gleich  vorausgesetzt  werden,  so  verhalten  sich  die  beiderseitigen 
Theile  wie  (s  +  s^  —  Sg)  :  (5  +  ^o  —  ^i)-  ß®i  ^  =  f^^?  %  =  ^^;  ^2  =  ^^ 
werden  die  Verhältnisszahlen  80  :  40  oder  der  Erste  nimmt  y ,  der 
Zweite  —    des  Gesammteinsatzes. 

Parte  2.  Sehr  verschiedenartige  Reihen  werden  der  Summi- 
rung  unterworfen,  unter  anderen  solche,  deren  Glieder  nach  dem 
Gesetze  wachsen,  dass  jedes  Glied  das  Doppelte  der  Summe  sämmt- 
licher  vorhergehender  Glieder  vorstellt^),  mithin  die  Reihe 

1  +  2  +  6  +  18  +  54  +  162  H . 

Ist  Sn  die  Summe  der  ersten  n  Glieder  dieser  Reihe,  so  ist  s„^  die 
Summe  der  ersten  2n — 1  Glieder  oder  «2«— 1  =  5„^-  Ein  Beweis 
ist  der  Behauptung  nicht  beigefügt,  lässt  sich  aber  leicht  erbringen. 
Weil  1  +  2  =  3  =  S2,  so  ist  das  dritte  Glied  2  •  3  und 

53  =  3  +  2.3  =  32-, 
ähnlicherweise  ist  s^  =  3^  -|-  2  •  3^  =  3^  und 

Sfi   O  .     ^2« — 1   '^"^         "  Ofi    . 

Die  Anzahl  aller  Versetzungen  aus  n  von  einander  verschiedenen 
Elementen^)  ist  1  •  2  •  3  •  •  •  n.  Die  arithmetischen  Reihen  auf  ein- 
ander folgender  Ordnung  werden  gebildet,  und  zwar  jede  auf  sechs 
Glieder,  deren  letztes  der  Bildungs weise  entsprechend  regelmässig  die 
Summe  sämmtlicher  Glieder  der  unmittelbar  darüber  stehenden  Reihe 
liefert^). 


^)  General  Trattato,  Parte  1,  fol.  265  verso.  ^)  Ebenda  Parte  2,  fol.  16 

verso.         ^)  Ebenda  fol.  16  verso.         *)  Ebenda  fol.  17  recto. 


522 


G6. 

Kapitel 

1   1 

1 

1 

1 

1 

1    2 

3 

4 

5 

6 

1    ?> 

r, 

10 

15 

21 

1    4 

10 

20 

35 

56 

1    5 

15 

35 

70 

126 

1    6 

•21 

56 

126 

252 

1    7 

28 

84 

210 

462 

1    8 

36 

120 

330 

792 

Auffallend  ist  der  Zweck,  der  mit  diesen  Reihen  sicli  verbindet.  Sie 
sollen  die  Anzahl  der  mit  1  bis  8  gewöhnlichen  sechsflächigen  Würfeln 
möglicher)  Würfe  zählen,  so  dass  es  bei  6  Würfeln  462  solcher  ver- 
schiedenen Würfe  gebe,  bei  8  Würfeln 

1  +  8  +  36  +  120  +  330  +  792  =  1287. 

Andere  Schriften  des  XVI.  Jahrhunderts  lassen  die  etwas  dunkle  Stelle 
verstehen  lernen.  Man  gab  damals  viel  auf  Würfel,  die  nicht  nur 
zu  Glücksspielen  verwandt  wurden,  sondern  auch  zu  regelmässiger 
Beantwortung  von  Fragen.  Bücher,  welche  in  deutschei:  Sprache 
diesem  Gegenstande  gewidmet  sind,  führen  den  Namen  Loossbuch. 
Ihrer  Beschreibung  ^j  entnehmen  wir  Folgendes.  Ist  nur  ein  I.  Würfel 
in  Gebrauch,  so  können  mit  demselben  sechs  von  einander  verschiedene 
Würfe  erzielt  werden.  Tritt  ein  IL  Würfel  hinzu,  so  mag  man  nur 
die  Würfe  als  verschieden  erachten ,  bei  welchen  II  nicht  weniger 
Augen  zeigt  als  I,  denn  der  Wurf  I  =:=  3  Augen,  II  =  1  Auge  war 
alsdann  in  der  Form  1  =  1  Auge,  II  =  3  Augen  schon  da,  ist  mit- 
hin kein  neuer  Wurf.     Der  verschiedenen  Würfe  mit  den  Würfeln  I 

und  II  sind  es  daher  6  +  5-f4-f3-f2-fl=^  =  21  oder  in 

der  Sprache  der  Combinatorik:  Die  Anzahl  der  mit  zwei  sechsflächigen 
Würfeln  möglichen  wesentlich  verschiedenen  Würfe  ist  gleich  der 
Anzahl  der  Combinationen  mit  Wiederholung  aus  6  Elementen  zur 
Classe  2.  Durch  Fortsetzung  der  gleichen  Betrachtung  erkennt  man, 
dass  mit  h  Würfeln  von  je  n  Flächen  so  viele  wesentlich  verschie- 
dene Würfe  möglich  sind,  als  durch  die  Anzahl  der  Combinationen 
mit  Wiederholung  aus  n  Elementen  zur  Classe  /.;  angegeben  ist,  mithin 

w(w  +  l)---(n-|-^-  — 1)  ,  .,6-7---13  ^^Q„ 
— ~^ — -, -•     Bei  n  =  h,  Jc  =  S  erscheint  -~^ 5-=  1287. 

Dieselbe  Zahl  ist  aber  auch  die  Summe  der  sechs  ersten  Glieder  der 
aus  den  Zahlen  1,  8,  36,  120,  330,  792  bestehenden  arithmetischen 
Reihe  7.  Ordnung,  und  Tartaglia's  Behauptung  ist  damit  bestätigt. 
Eine  Anwendung  dieser  Anzahl   der   wesentlich   verschiedenen  Würfe 


1)  Kästner  I,  226—241. 


Tartaglia's  Schriften.     Cardano's  spätere  Schriften.  523 

bei  Wahrscheinlichkeitsaufgabeu  ist  allerdings  unstatthaft,  weil  die 
Häufigkeit,  in  welcher  jeder  als  wesentlich  verschieden  bezeichnete 
Einzelwurf  vorkommt,  nicht  berücksichtigt  ist.  —  Näherungsweise 
Ausziehung  von  Quadratwurzeln  hatte  Cardano  in  der  Practica  Arith- 
meticae  generalis  von  1537  gelehrt  (S.  499).  Auch  Tartaglia  be- 
schreibt die  gleichen  Verfahrungsweisen-^),  indem  er  nicht  mit  Un- 
recht   die    eine,    welcher    in    fortgesetzter  Anwendung    von    ]/J.  rv)  a 

J^   ^2 

4-  ^-x besteht,  auf  die  alten  Araber  zurückführt,  während  er  für 

die  andere  —  Anhängung  von  Nullen  vor  der  Wurzelausziehung  — 
auf  Orontius  Finaeus  verweist.  Quadratwurzeln  aus  Brüchen  ^J  wer- 
den gewöhnlich,  j>«^  commmie,  durch  annähernde  Wurzelausziehung 
aus  Zähler  und  Nenner,  besser  aber  so  gefunden,  dass  man  dem  Bruche 
durch  Erweiterung  einen  quadratischen  Nenner  verschafft,  um  nur  im 
Zähler  einer  angenäherten  Wurzel  zu  bedürfen.  Eine  ganz  feine  Be- 
merkung hebt  hervor^),  dass  jede  angenäherte  Wurzelausziehung  einen 
Fehler  mit  sich  führe,  die  Einsetzung  solcher  Werthe  dürfe  also  immer 
erst  am  Ende  einer  ganzen  Rechnung  eintreten,  damit  die  Fehler  sich 
nicht  vervielfältigen.  Näherungsweise  Ausziehung  von  Kubikwurzeln^) 
haben  manche  Schriftsteller,  wie  Sacrobosco,  gar  nicht,  andere,  wie 
Cardano,  grundfalsch  gelehrt.  Michael  Stifel  hat  für  Wurzelaus- 
ziehungen Vortreffliches  geleistet,  nelle  estrattioni  delle  radici  rationali 
(('•  discrete  si  e  mostrato  molto  eccelente,  Näherungsverfahren  aber  nicht 
angegeben.  Tartaglia  behauptet  alsdann  1514,  das  wäre  demnach  im 
Alter  von  14  Jahren,  etwa  zur  gleichen  Zeit  als  er  Schreibunterricht 
nahm,  was  die  Glaubwürdigkeit  der  Behauptung  nicht  gerade  erhöht, 
gefunden  zu  haben,  dass  in  erster  Annäherung 

in  zweiter  Annäherung  yÄ  r\J  a.  -j- r-^ — g  zu  setzen  sei.    Cardano 

und  Ferrari,  heisst  es  an  einer  späteren  Stelle^),  hätten  aus  dem 
Werke  Stifel's  gelernt,  wie  man  auch  höhere  Wurzeln  zu  ziehen  habe, 
ein  eigentliches  Näherungsverfahren  fehle  jedoch  bei  Stifel,  so  dass 
dessen  Nachbeter  hier  rathlos  gewesen  seien  und  Fehler  über  Fehler 
machten.  Dem  Lobe  Stifel's,  dem  damit  verbundenen  Eingeständnisse, 
die  Arithmetica  integra  selbstverständlich  gelesen  zu  haben,  gegen- 
über musste  man  die  eiserne  Stirn  Tartaglia's  besitzen,  um  die  Er- 
findung der  Binomialcoefficienten,  deren  Bildungsgesetz 

^)  General  Trattato,  Parte  2,  fol,  19  verso  und  22  recto  (durch  einen  Druck- 
fehler sind  diese  Blätter  mit  25  und  28  bezeichnet).  ")  Ebenda  fol.  25  recto. 
^)  Ebenda  fol.  26  verso.  ^)  Ebenda  fol.  27  recto  bis  28  verso.  ^)  Ebenda 

fol.  42  recto  1.  16  sqq. 


524  66.  Kapitel. 


C)  + 


,Tcf  '  U  +  l/  U  +  1/' 
deren  Anwendung  zur  Ausziehung  von  Wurzeln  mit  beliebig  hohem 
Wurzelexponenten  ganz  unbefangen  für  sich  in  Anspruch  zu  nehmen  ^), 
ohne  bei  dieser  Gelegenheit  Stifel's  Namen  auch  nur  zu  erwähnen. 
Einen  Hauptbestandtheil  der  Parte  2  bildet  das  Rechnen  mit  Pro- 
portionen, wie  wir  es  von  früheren  arithmetischen  Schriftstellern  her 
zur  Genüge  kennen.  Vielleicht  zum  ersten  Male  bediente  sich  Tar- 
taglia  hier  des  Wortes  Dignität-),  welches  geraume  Zeit  der  Kunst- 
ausdruck für  Potenz  geblieben  ist.  —  Auch  zahlentheoretische  Bemer- 
kungen treten  auf,  darunter  solche  über  vollkommene  Zahlen^).  Tar- 
taglia  geht  dabei  von  der  ausgesprochenen,  irrigen  —  vermuthlich 
Stifel  (S.  435)  entnommenen  —  Meinung  aus,  2^''+^  —  1  sei  immer 
Primzahl,  mithin  auch  immer  2- "(2-"+^  — 1)  eine  vollkommene  Zahl. 
Beweislos  fügt  Tartaglia  hinzu,  alle  vollkommenen  Zahlen  mit  Aus- 
schluss der  6  Hessen  durch  9  getheilt  1  zum  Reste.  Wir  sind  diesem 
Satze  bei  Bovillus  (S.  385)  begegnet.  —  Dem  Rationalmachen  von 
Brüchen ,  deren  Nenner  Summe  oder  Differenz  zweier  irrationaler 
Grössen  ist,  wird  besonderes  Gewicht  beigelegt.  Dabei  ist  die  Vor- 
schrift ausgesprochen^),  welche  allein  das  blinde  Umhertasten  zu  einem 
verständigen  Verfahren  umzuwandeln  im  Stande  ist,  man  müsse  zu- 
nächst die  im  Nenner  auftretenden  Irrationalitäten  zu  Wurzelgrössen 

gleicher    Benennung    machen ,    also     z.  B.    -~ -3-  =  ^ ^^ 

]/5  -f  1/3  "|/25  +  y243 

243  25 

setzen;    dann    habe   man  mit   j^ ^ — ,    welches  immer   eine  auf- 

■|/243  4-  y25 

gehende  Division  darstelle,  den  Bruch  zu  erweitern. 

Parte  3  ist  geometrischen  Untersuchungen  gewidmet.  Für  einen 
Uebersetzer  des  Euklid,  wie  Tartaglia  es  war,  klingt  es  da  recht  auf- 
fallend, wenn  als  euklidische  Definitionen^)  angegeben  wird,  die  gerade 
Linie  sei  die  kürzeste  Ausdehnung  von  einem  Punkte  zum  andern, 
die  Ebene  die  kürzeste  Ausdehnung  von  einer  Linie  zur  anderen. 
Auf  Nachlässigkeit  eines  fremden  Herausgebers  kann  man  die  Schuld 
nicht  schieben ,  da  Tartaglia's  Testament  zeigt,  dass  der  Druck  von 
Parte  3   und  4  noch   während  seines  Lebens   vollendet  war    (S.  517). 


^)  General  Trattato ,  Parte  2 ,  fol.  69  recto :  Begola  generale  dal  presente 
auttor  ritrovata  da  sapere  in  tale  estrattioni  di  radici  in  infinito  piu  oltra  pro- 
cedere  nelle  altri  sequenti  specie.  Die  Tabelle  der  Binomialcoefficienten  steht 
fol.  69  verso  und  fol.  71  verso  und  an  letzterer  Stelle  auch  das  Bildungsgesetz. 
*)  Ebenda  fol.  138  verso:  Li  numeri  signalati  detti  qiiadri,  cubi,  censi  di  censi 
.  .  .  che  si  chiamano  dignita.  ^)  Ebenda  fol.  146  verso.  *)  Ebenda  Parte 

2,  fol.  153  recto.     ^)  Ebenda  Parte  3,  fol.  3  verso  und  fol.  4  verso. 


Tartaglia's  Schriften.     Cardano's  spätere  Schriften.  525 

Er  wird  mithin  selbst  für  diese  und  manche  andere  Versehen  ver- 
antwortlieh sein,  entschuldigt  durch  zunehmende  Kränklichkeit.  Nur 
so  ist  es  begreiflich,  dass  einmal  von  einem  Rhombus  mit  der  Seite  6 
und  den  Diagonalen  10  und  20  die  Rede  ist^),  als  ob  5  und  10  die 
Katheten  eines  rechtwinkligen  Dreiecks  mit  der  Hypotenuse  6  sein 
könnten,  während  an  einer  anderen  Stelle  des  folgenden  Abschnittes^) 
vollkommen  richtig  ein  Rhombus  von  der  Seite  13  und  den  Diago- 
nalen 10  und  24  besprochen  wird.  —  Die  durch  eine  Zeichnung  unter- 
stützte Beschreibung  des  squadro-') ,  jenes  von  Feliciano  (S.  481) 
genaimten  Winkelkreuzes  zur  Absteckung  senkrechter  Linien  auf  dem 
Felde,  dürfte  die  erste  sein,  welche  in  einem  Druckwerke  vorkommt. 
Die  Prüfung  dieser  Rechtwinkligkeit  durch  Wiederholung  des  Ver- 
fahrens, welches  nach  Drehung  der  Vorrichtung  um  90°  genau  die 
gleichen  Signalstangen  wie  vorher  als  richtig  aufgestellt  ergeben 
muss,  und  Anwendungen  des  Winkelkreuzes  werden  gelehrt.  Das 
Ausmessen  beliebig  begrenzter  Felder '^)  erfolgt  durch  Theilung  in 
geradlinige  Figuren  mittels  Hilfslinien,  die  man  auf  den  Feldern  selbst 
absteckt,  oder  bei  Unzugänglichkeit  der  Felder  um  diese  herum  zu 
legen  hat.  Weitere  im  Leben  nützliche  Aufgaben  beziehen  sich  auf 
Körperinhalte,  woraus  wir  die  Berechnung  des  Mauerwerkes  recht- 
winkliger und  kreisrunder  Thürme")  hervorheben.  Ist  d  die  Dicke, 
h  die  Höhe  der  Mauer,  Ua  und  «,•  der  äussere  beziehungsweise  innere 

U^  +  Wj 

Umfang,  so  ist  in  beiden  Fällen  der  Mauerinhalt   h  ■  d ^ ?  ^^' 

für  indessen  eine  Ableitung  nicht  gegeben  ist. 

Parte  4.  Hauptinhalt  dieser  Abtheilung  ist  Flächen-  und  Kör- 
perberechnung. Bei  der  letzteren  schliesst  sich  Tartagiia  anfangs  an 
Euklid,  später  an  Archimed  an,  welche  er  als  seine  Quellen  nennt. 
Bei  den  Flächenberechnungen  ist  auch  auf  andere  Schriftsteller  Rück- 
sicht genommen,  insbesondere  werden  L-rthümer  von  solchen  bemerkt^). 
Boethius  irrte,  indem  er  Dreiecksfläche  und  Dreieckszahl  mit  einander 
verwechselte;  Orontius  Finaeus  beging  mannigfache  geometrische  Irr- 
thümer;  Stifel's  Würfelverdoppelung  ist  falsch;  Bovillus  und  ebenso 
Albrecht    Dürer    haben    das   Quadrat    in    einen    flächengleichen  Kreis 

verwandelt,   indem    sie    diesem   --    der   Diagonale    zum    Durchmesser 

gaben  u.  s.  w.  Zeigt  schon  dieser  mehr  kritische  Abschnitt,  dass 
Tartaglia's    unleugbare    mathematische    Begabung    vielleicht    vorzugs- 


1)  General  Trattato,  Parte  3,  fol.  26  verso.  ')  Ebenda  Parte  4,  fol.  9  verso. 
3)  Ebenda  Parte  3,  fol.  24  recto.  *)  Ebenda  fol.  29  verso.  ^)  Ebenda  fol.  47 
verso.  •')  Ebenda  Parte  4,  fol.  5  recto,  19  recto  bis  20  recto,  21  recto,  22  recto 
und  verso. 


526  66.  Kapitel. 

weise  auf  geometrischem  Gebiete  lag,  so  gewinnt  diese  Auffassung 
fast  Gewissheit,  wenn  wir  zur  folgenden  Abtheilung  übergehen. 

Parte  ö.  Hier  sind  Auflösungen  von  durch  Zeichnung  erfüll- 
baren Aufgaben  unter  Anwendung  von  Lineal  und  Zirkel  mit  be- 
liebiger, mitunter  auch  mit  unveränderlicher  Zirkelöffnung  ^)  vereinigt, 
welche  nnsere  Achtung  vor  dem  Erfinder  auf  hohe  Stufe  bringen. 
Vielfach  giebt  Tartaglia  ganz  bestimmte  Zeitpunkte  an,  wann  er 
diese,  wann  er  jene  Auflösung  zu  Wege  gebracht  haben  will,  freilich 
ohne  diesen  Angaben  irgend  einen  äusseren  Beleg  hinzuzufügen,  so 
dass  wir  bei  der  wiederholt  erkannten  Unglaubwm-digkeit  Tartaglia's 
diesen  Zeitbestimmungen  kaum  Gewicht  beizulegen  haben.  Im  Jahre 
1530  z.  B.  will  er  die  Aufgabe  gelöst  haben,  in  ein  gleichseitiges 
Dreieck  ein  Quadrat  einzuzeichnen,  dessen  eine  Seite  auf  einer  Drei- 
eeksseite  liegen  sollte,  und  diese  Aufgabe  habe  er  alsdann  auf  den 
Fall  eines  ungleichseitigen  Dreiecks  erweitert^)  (Fig.  94).  Sei  Ijc  die 
grösste  Seite  des  Dreiecks  abc.  Man  ziehe  die  zu  ihr  senkrechte 
Höhe  ad  des  Dreiecks  und  ferner  in  den  End- 
punkten &,  c  die  Senkrechten  hf  und  ce,  beide 
von  gleicher  Länge  mit  bc.  Die  Geraden  fd, 
ed  schneiden  alsdann  ab^ac  in  1i,g,  und  diese 
Punkte  sind  zwei  Eckpunkte  des  Quadrates, 
dessen  zwei  andere  Eckpunkte  i,  l'  gefunden 
werden,  indem  man  von  h,  g  Senkrechte  hi,  gk 
auf  die  Grundlinie  bc  fällt.  Es  ist  Acge<^nagd 
und  A  bhfc\)  ahd.  Folglich  gc  :  ce  ==  ga  :  ad 
und  fb  :bh  ^  da  :  ah,  welche  letztere  Propor- 
tion wegen  fb  =  ce  auch  ce  :bh  =  da  :  ah  geschrieben  werden  kann. 
Vervielfacht  man  beide  Proportionen  mit  einander,  so  entsteht 
gc  :  bh  =  ga  :  ah  und  folglich  ist  gh  ||  bc.  Die  Rechtwinkligkeit  des 
Vierecks  ghiJc  ist  damit  bewiesen,  die  Gleichseitigkeit  bleibt  noch 
fraglich.     Nun  ist 

cd  :  ce  =^  dl' :  gl-,     db  :  bf  ^=  di :  ih 

oder  wegen  ce  =  bf  und  gJi  =  ih  auch  db  :ce  =  di:gh.  Vereinigung 
der  beiden  Proportionen  liefert  {cd  -\-  db)  :  ce  =  (dl-  +  di)  :  gl'  d.  h. 
bc  :  ce  ==  iJc :  glc.  Aber  bc  =  ce,  also  auch  ik  =  gl:  Die  nächste 
Aufgabe  verlangt  statt  des  eingezeichneten  Quadrates  ein  Rechteck, 
dessen    Seiten    im    Verhältnisse    von    1  :  2    stehen ,    und    dessen    eine 


')  Ausführliche  Auszüge  bei  W.  M.  Kutta,  Zur  Geschichte  der  Geometrie 
mit  coustanter  ZirkelöfFnung  in  Abh.  der  Kaiserl.  Leop.-Carol.  Deutschen  Aca- 
demie   der  Naturforscher.   Bd.  71  Nro.  3.  Halle  1897.  -)   General  Trattato, 

Parte  5,  fol.  18  reeto  und  verso. 


Tartaglia's  Schriften.     Cardano's  spätere  Schriften. 


grössere  Seite  auf  der  grössten  Dreiecksseite-  liege.  Der  einzige 
Unterschied  in  der  Zeichnung  gegen  vorhin  besteht  (Fig.  95)  darin, 
dass  die  Senkrechten  hf,  ce  in  den  Eud-  j^ 
punkten  der  Grundlinie  nicht  mehr  der 
ganzen,  sondern  der  halben  Grundlinie  gleich 
gemacht  werden.  Im  Uebrigen  ist  auch 
die  Beweisführung  bis  zur  Herstellung  der 
Proportion  bc:ce=  ilr.gh  buchstäblich  ab- 
zuschreiben, dann  heisst  es  weiter  hc  =  2cc, 

also  auch  ik  ==  2gli,  und  das  Verlangte  ist  erfüllt.  Die  Bedeutung 
dieser  zweiten  Aufgabe  besteht  darin,  dass  sie  die  Lösung  einer  dritten 
Aufgabe  vermittelt,  der  Aufgabe,  in  ein  gleichseitiges  und  gleichwink- 
liges Fünfeck  ein  Quadrat  derart  einzuzeichnen,  dass  dessen  vier  Ecken 
auf  ebensovielen  Fünfecksseiten  liegen.  Werden  (Fig.  9G)  die  Fünf- 
ecksseiten hc,  cd  bis  zum  Durchschnitte  in  g  verlängert,  werden  so- 
dann in  die  Dreiecke  ahg,  aeg  die  Rechtecke  JiilJi,  ilmii  mit  Seiten 


Fig.  97. 

im  Verhältnisse  von  1  :  2  eingezeichnet,  so  muss  liJcmn  das  verlangte 
Quadrat  sein.  Diese  Aufgabe  ist  die  sechste  von  denen,  welche  Fer- 
rari am  1.  Juni  1547  in  seinem  dritten  Cartello  stellte,  und  Tartaglia 
gab  die  Auflösung  schon  in  seiner  dritten  Risposta  am  9.  Juli  1547, 
allerdings  ohne  einen  Beweis  beizufügen,  doch  ist  nicht  denkbar,  dass 
er  zufällig  und  ohne  den  Grund  des  Verfahrens  einzusehen  auf  das- 
selbe verfallen  sein  sollte.  —  Unter  den  mit  unveränderter  Zirkel- 
öffnung zu  lösenden  Aufgaben  verlangt  die  erste:  eine  Strecke  in  eine 
beliebig  gegebene  Anzahl  gleicher  Theile  zu  theilen-^).  Um  die  End- 
punkte der  Strecke  werden  (Fig.  97)  mit  5em  gegebenen  Zirkel  Kreise 
gerissen  und  auf  denselben  Bögen  von  60'^  vom  Durchschnittspunkte 
der  Strecke  aus  aufgetragen,  auf  dem  einen  Kreise  nach  oben,  auf 
dem  anderen  nach  unten.  Die  Mittelpunkte  der  Kreise  verbindet  man 
^)  General  Trattato,  Parte  5,  fol.  22  verso. 


528  6G.  Kapitel. 

mit  den  so  auf  den  Kreisen  selbst  bestimmten  Punkten  durcli  Halb- 
messer, welche  einander  parallel  verlaufen,  und  welche  bis  zu  «facher 
z.  B.  dreifacher  Länge  verlängert  werden.  Die  Verbindungsgeraden 
der  entsprechenden  Punkte  auf  beiden  verlängerten  Halbmessern  schnei- 
den, wie  man  erkennt,  die  gegebene  Strecke  in  den  gesuchten  Punkten. 
Eine  ganze  Menge,  nämlich  67  von  den  im  Ganzen  75  in  den  eukli- 
dischen Elementen  gelösten  Aufgaben  werden  unter  gegenseitiger  Be- 
nutzung und  mit  unveränderter  Zirkelöffnung  behandelt^).  Wir  be- 
gnügen uns  damit,  die  Behandlung  der  beiden  ersten  Aufgaben  an- 
zudeuten. Erstens  sei  (Fig.  98)  über  einer  gegebenen  Strecke  al>  ein 
gleichseitiges  Dreieck  zu  zeichnen.  Von  a  aus  in  der  Richtung  gegen 
h  schneidet  man  mit  der  gegebenen  Zirkelöffnung  auf  der,  wenn  noth- 
wendig  verlängerten  ah  die  ad  ab,  und   ebenso   von  h  aus  die  bc  in 

a h 


der  Richtung  gegen  a.  üeber  dd  und  hc  die  gleichseitigen  Dreiecke 
ade,  hcf  zu  zeichnen  gelingt  sofort,  und  mit  diesen  Dreiecken  sind 
die  Seiten  hf,  ae  gegeben,  welche  beide  mit  ah  Winkel  von  60° 
bilden,  also  den  dritten  Eckpunkt  des  gesuchten  Dreiecks  ahg  als 
Durchschnittspunkt  besitzen.  Zweitens  sei  von  einem  Punkte  a  aus 
eine  Parallele  zu  einer  gegebenen  Geraden  hc  zu  ziehen.  Die  gege- 
bene Zirkelweite  reiche  (Fig.  99)  von  a  bis  zu  dem  Punkte  e  auf  hc. 
Man  zieht  ae  und  verlängert  um  ef  ^=  ae.  Dann  schneidet  man  von 
/■  aus  den  Punkt  g  der  hc  ein,  so  dass  fg  =  ef,  verlängert  um 
gh  =  fg  und  zieht  ah  als  die  gewünschte  Parallele.  Ist  die  Zirkel- 
weite so  gering,  dass  mit  ihr  von  a  aus  kein  Punkt  e  der  Geraden 
hc  getroffen  wird,  so  zieht  man  eine  ganz  beliebige  ae  und  wählt 
auf  ihr  einen ,  oder  wenn  nothwendig  mehrere  Zwischenpunkte 
a^ ,  Oo  .  .  . ,  die  alle  weniger  von  einander  und  zuletzt  von  e  entfernt 
sind,  als  die  gegebene  Zirkelweite,  worauf  man  Hilfsparallelen  zieht, 
bis  man  zuletzt  zu  derjenigen  Parallelen  gelangt,  welche  durch  a 
hindurchgeht. 


*)  Geltend  Trattato,  Parte  5,  fol.  64  recto  bis  81  recto. 


Tartaglia's  Schriften.     Cardano's  spätere  Schriften. 


529 


Fig.  100. 


Wir  stellen  diesen  geistreichen  Constructionen  Tartaglia's  eine 
von  denen  gegenüber,  die  Ferrari  im  October  des  Jahres  1547  ver- 
öffentlichte^). Von  dem  grösseren  Schenkel  eines  Winkels,  und  zwar 
vom  Scheitelpunkte  aus,  ein  Stück  abzuschneiden,  welches  dem  kleineren 
Schenkel  gleich  sei.  Zunächst  wird  (Fig.  100)  -^hac  durch  die  ad 
halbirt,  was  mit  jeder  Zirkelweite  möglich  ist,  ^ 

dann  wird  mit  der  gegebenen  Zirkelweite  he 
von  b  aus  der  Punkt  e  auf  der  ad,  von  e  aus 
durch  6/"=  he  der  Punkt  f  auf  der  ac  be- 
stimmt, so  ist  af  =  ah.  Diese  Construction 
versagt  allerdings,  wenn  die  Zirkelweite  he  klei- 
ner als  die  senkrechte  Entfernung  von  h  nach 
ad  ist.  Dann  wird  ^had  wiederholt  durch 
rtfZj,  vielleicht  auch  noch  -^had-^  durch  ad^ 
u.  s.  w.  halbirt  und  einzigweis  ah  =  ■  •  •  ^  af^ 
=  af\  =  af  hervorgebracht,  wo  fi,  f^,  •  ■  ■ 
Punkte  jener  Hilfslinien  sind.  Dass  Ferrari  sich  mehrfach  mit  der 
Geometrie  mit  unveränderter  Zirkel  weite  beschäftigte,  hat  auch  Car- 
dano  im  XV.  Buche  seines  Werkes  De  subtilitate  von  1550  bezeugt^). 

Die  Leistungen  Tartaglia's  auf  dem  gleichen  Gebiete  gehen  in- 
dessen um  einen  bedeutenden  Schritt  über  alles,  was  von  Anderen 
geliefert  wurde,  hinaus.  Er  war  der  Einzige,  welcher  auch  auf  Kegel- 
schnitte bezügliche  Aufgaben  mittels  unveränderter  Zirkelöänung  zu 
lösen  wusste^).  In  dem  gleichen  5.  Abschnitte,  aus  welchem  wir  wie 
aus  dem  3.  und  4.  nur  Geometrisches  berichten  konnten,  begegnet 
dem  Leser  sehr  unvermuthet  eine  Aufgabe  ganz  anderer  Art^).  Die 
Zahl  8  soll  in  zwei  Theile  zerlegt  werden,  welche  mit  einander  und 
überdies  mit  ihrer  Differenz  vervielfacht  das  grösstmögliche  Product 
hervorbringen;  eine  Aufgabe  aus  der  Lehre  von  den  Maximal- 
werthen  einer  Function  ist  also  gestellt  und,  fügen  wir  hinzu, 
richtig  gelöst.  Die  Regel,  sagt  Tartaglia,  sei  folgende:  Man  müsse 
8  halbiren,  das  Quadrat  der  HäKte  um  sein  Drittel  vermehrt  sei 
alsdann  das  Quadrat  der  Differenz  der  beiden  Theile.  In  Buchstaben 
kleidet  sich  die  Regel  folgendermassen.  Sei  a  als  Summe  der  beiden 
Theile  x  -\-  y  gedacht,  so  wird 


und 


a     1    -|  /a*  a         n  /a^ 


2. 


jy^^i 


1)  Cartello  V,  pag.  29.  ^)  Cardano  EI,  589—592.  ^)  Geyieral  Trat- 

tato,  Parte  5,  fol.  81  verso  bis  83  verso.        *)  Ebenda  fol.  88  verso. 
Caktoe  ,  Geschichte  der  Mathem.    n.    2.  Aufl.  '  34 


oBO  66.  Kapitel. 

im  gegebenen  Einzelfalle  a  =  8  sind  die  beiden  Theile  4  -f-  1/  5-  ? 
4  —  [/  ^ö  ■     Das   ist  vollständig  richtig,    denn   prüfen  wir  nach  dem 

heutigen  Verfahren  und  setzen  —  -{-  s  ,  — s  als  die  beiden  Theile, 

2 2  als  die  Differenz,  so  soll  2^/^  -f"  ^W-^  —  ^ j  ==  ^  —  2s^  zum 
Maximum  werden.     Das  bedingt  —  —  6/^  =  0  und 

ya^        iL  _L     ^  j_  l/^        _^ iL       l/"* 
12'     Y   '   ^~Y   '    F12'     Y~^~Y~Ki2" 

Wie  hat  aber  Tartaglia  die  Regel  gefunden?  Der  Grund,  sagt  er, 
hänge  von  der  „neuen  Algebra"  ab,  und  darunter  ist  wohl  die  Algebra 
der  kubischen  Gleichungen  verstanden.  Ein  sehr  geistreicher  Wieder- 
herstellungsversuch von  Tartaglia's  Verfahren  ist  folgender  ^).    Wenn 

^ 2^^  einen  Maximalwerth  m  besitzen  soll,  so  kommt  es  auf  die 

Auflösung  der  Gleichung  — 2^^  =  m  oder  ^^  +  y  =  x  -^  ^"-     ^" 

der  Ars  magna  des  Cardano  war  gelehrt  (S.  504),  dass  diese  Glei- 
chung mittels  y'^  =  -.  y  -\-  1^  gelöst  werde,   indem 


sei.    Der  grösste  Werth,  den  y  annehmen  darf,  so  dass  0  reell  bleibt, 

geht    aus r-    hervor ,    d.   h.    ist    w  =  ^ ,     und    dieser    liefert 

o  4  4  '  1/3 

5'  =  -~  =^  1/— ,  wie  oben.    Der  grösste  Werth  von  y  liefert  aber  m 

als   Maximum,    denn    m  =  2y^  —  Y?/=2y(?/-  —  yj    muss    mit    y 

gleichzeitig  wachsen,  also  auch  gleichzeitig   mit  y  seinen  grösstmög- 
lichen  Werth  erhalten. 

Parte  6.  Die  Algebra  bildet  die  letzte  Abtheiluug  des  General 
Trattato.  Jeder  Leser  wird  mit  besonderer  Begierde  dieser  Abtheilung 
sich  zuwenden,  denn  Tartaglia,  welcher  (S.  488)  Anderen,  d.  h.  Car- 
dano,  den  Vorwurf  machte,  sie  füllten  ihre  Bücher  mit  breitgetretenen 
Geschichten,  was  er  nicht  wolle,  wird  doch  diesem  Grundsatze  treu 
geblieben  sein,  wird  doch  Jahre  hindurch  Materialien  aufgespeichert 
haben,  von  welchen  er  wiederholt  versicherte,  dass  er  sie  besitze,  und 
wird  als  Ort  ihres  Erscheinens  die  letzte  Abtheilung  seines  grossen 


')  H.  G.  Zeuthen,  Notes  swr  Vhistoire  des  mathematiques.  II.  Tartalea 
contra  Carclanum.  Bulletin  de  l'Academie  Royale  des  Sciences  et  des  Lettres  de 
Danemark,  1893. 


Tartaglia's  Schriften.     Cardano's  ältere  Schriften.  531 

Handbuches  ausersehen  haben.  Jeder  Leser,  sagen  wir,  wird  mit 
solcher  Erwartung  an  Parte  6  herantreten,  wird  beim  Lesen  die 
grösste  Enttäuschung  empfinden.  Ausschliesslich  quadratische  Glei- 
chungen oder  solche,  die  auf  quadratische  sich  zurückführen,  wenn 
man  eine  Potenz  der  Unbekannten  als  neue  Unbekannte  wählt,  sind 
behandelt.  Dann  folgt  das  Rationalmachen  von  Gleichungen,  das 
Wegschaffen  von  Brüchen,  Wurzelausziehungen  aus  beiden  Seiten, 
schliesslich  56  Aufgaben  zur  Einübung  aller  Vorschriften,  aber 
wesentlich  Neues,  Dinge,  die  vor  dem  General  Trattato  nicht  auch 
schon  bekannt  gewesen  wären,  sucht  man  vergebens. 

Tartaglia's  schriftstellerische  Laufbahn  war  beendet.  Wir  haben 
das  Verdienstliche  aus  seineu  theils  während  seines  Lebens,  the'ils 
nach  seinem  Tode  erschienenen  Schriften  hervorgehoben.  Wir  haben 
wahrscheinlich  gemacht,  dass  in  Form  von  niedergeschriebenen  Notizen 
nichts  Weiteres  von  ihm  vorhanden  war.  Li  das  Lmere  seines  Geistes 
einzudringen,  zu  ermitteln,  welcherlei  grosse  oder  kleine  Entdeckungen 
dadurch  zu  Grunde  gingen,  dass  Tartaglia  sie  nicht  zu  Papier  brachte, 
ist  ein  Ding  der  Unmöglichkeit;  aber  denken  wir  uns  Tartaglia's 
Schriften,  so  wie  sie  im  Drucke  vorliegen,  seien  niemals  erschie- 
nen, so  bleibt  die  Mathematik  das,  was  sie  ist,  um  keinen 
einzigen  grösseren  und  fruchtbaren  Gedanken  ärmer.  Sogar 
mit  Bezug  auf  kubische  Gleichungen  gilt  diese  Wahrheit,  insofern 
deren  Behandlung  durch  Cardano  der  nachgelassenen  Schrift  Del  Ferro's 
hätte  entnommen  werden  können  und  dann  gleiche  Vervollkommnung 
durch  ihn  zu  erfahren  fähig  war,  wie  es  mit  den  Mittheilungen  Tar- 
taglia's erging.  Und  kommen  wir  auf  die  (S.  512)  gestellte  Frage 
zurück,  ob  Tartaglia  wirklich  fremde  Erfindungen  Cardano  als  seine 
eigenen  mitzutheilen  im  Stande  war,  so  müssen  wir  jetzt  dieselbe 
voll  und  ganz  bejahen.  Wir  glauben  nicht  an  eine  selbständige  Auf- 
lösung der  kubischen  Gleichung  durch  Tartaglia.  Ob  Cardano  frei- 
lich, ohne  dass  sein  Geist  durch  die  Begierde,  dem  Nebenbuhler  es 
zuvorzuthun,  zu  übermenschlicher  Anstrengung  angespornt  worden 
wäre,  alles  das  vollbracht  hätte,  was  er  wirklich  vollbrachte,  ist  eine 
andere  Frage,  und  hier  liegt  ein,  wenn  auch  sehr  mittelbares  Ver- 
dienst Tartaglia's  um  die  Entwickelung  der  mathematischen  Wissen- 
schaften vor.  Als  unmittelbares  Verdienst  haben  wir  nur  zu  bezeich- 
nen, dass  Tartaglia  in  seinem  General  Trattato  das  für  lange  Jahre 
unerreicht  beste  Handbuch  schuf,  fähig  und  bestimmt  Paciuolo's 
Summa  abzulösen  und  zu  verdrängen. 

Wir  haben  von  Vervollkommnungen  gesprochen,  welche  Car- 
dano zu  Tartaglia's  Mittheilungen  hinzufügte.  Schon  unser  Bericht 
über  die  Ars  magna  gestattet  diesen  Ausdruck,  aber  Cardano's  wissen- 


532  66.  Kapitel. 

schaftliclie  Thätigkeit  war  docIi  lange  nicht  beendigt,  und  wir  müssen 
nunmehr  seinen  mathematischen  Schriften  uns  zuwenden,  welche  er 
nach  1560  herausgab,  und  zu  denen,  welche  erst  nach  seinem  Tode 
aus  seinem  Nachlasse  an  die  Oeffentlichkeit  gelangten. 

Im  Jahre  1570  erschien  in  Basel  ein  stattlicher  Folioband,  welcher 
drei  Schriften  Cardano's  in  sich  vereinigte.  Die  erste  war  das  Opus 
novura  de  proportionibus,  die  zweite  ein  neuer  Abdruck  der 
Ars  magna  von  1545,  die  dritte  führte  den  nie  und  nirgend  er- 
klärten Titel  De  regula  Aliza,  der  durch  unrichtige  Transscription 
aus  dem  arabischen  Worte  dizzä  (schwierig  anzustellen,  mühselig, 
beschwerlich)  entstanden  sein  kann^),  und  alsdann  Regel  der  schwie- 
rigen Fälle  bedeuten  würde.  Die  Ars  magna  ist  nach  der  ersten 
Nürnberger  Ausgabe  schon  zur  Genüge  besprochen  worden,  wir  haben 
es  also  nur  mit  den  beiden  anderen  Schriften  zu  thun.  Aus  dem 
OjMS  tiovum  de  x>roportionihus^)  dürfte  Folgendes  zu  erwähnen  sein. 
Die  Schrift  ist  in  Sätze,  nicht  wie  andere  Cardanische  Werke  in 
Kapitel  getheilt.  Im  137.  Satze^)  sind  die  Binomialcoefficienten  als 
Erfindung  Michael  Stifel's  bezeichnet  und  genau  so  wie  in  dessen 
Ai'ithmetica  integra  zum  Abdrucke  gebracht.  Man  mag  hierin  eine 
Abfertigung  der  unbegründeten  Anmassungen  Tartaglia's  (S.  524)  von 
1556  erkennen.  Im  3.  Satze^)  sind  die  15  zweielementigen  Combi- 
nationen  aus  sechs  von  einander  verschiedenen  Elementen  der  Reihe 
nach  gebildet.  Im  170.  Satze  ^)  ist  als  Erfndung  in  Anspruch  ge- 
nommen, dass  die  Anzahl  sämmtlicher  Combinationen  aus  ti  von  ein- 
ander verschiedenen  Elementen  zu  allen  möglichen  Classen  von  der 
1.  bis  zur  nten  einschliesslich  durch  2"  —  1  ermittelt  werden.  Dieser 
Satz  veranlasst  uns  zu  einer  eigenthümlichen  Frage.  Michael  StifeP) 
führt  ihn  nämUch  schon  in  seiner  Arithmetica  integra  ausdrücklich 
als  dem  Cardano  angehörend  an.  Demnach  müsste  der  Satz  1544 
veröffentlicht  gewesen  sein,  was  nur  in  der  Arithmetik  von  1539  der 
Fall  sein  konnte,  wo  wir  aber  vergeblich  darnach  gesucht  haben. 
Auffallend  genug  ist  es  Cardano  genau  so  wie  uns  ergangen,  denn  er 
bemerkt  ausdrücklich  ^) :  Ich  habe  dieses  schon  anderwärts  gelehrt, 
glaube  aber  bei  der  Rechnung  mich  geirrt  zu  haben;  die  Stelle  selbst 
kann  ich  nicht  auffinden.  Der  70.  Satz^)  vergleicht  zwei  geometrische 
Progressionen  von  je  drei  GUedern  mit  einander  und  behauptet,  dass 
die  Glieder  der  einen  um  die  ausser  der  Reihe  benutzten  Glieder  der 


^)  Diese  Vermutliung   rührt   von  H.   Armin  Wittstein  her.  -;  Car- 

dano IV,  463 -GOl.  ^)  Ebenda  IV,  529.  ")  Ebenda  IV,  467.  =)  Ebenda 
IV,  5.57.  «)  Arithmetica  integra  fol.  101  recto:  De  regula  quadam  Hieronymi 
Cardani.  '')  Et  hoc  rdias  docui,  quanquain  credam  me  errasse  in  supptitatione 
num  locum  invenire  non  imssum.         *)  Cardano  IV,  4<J5. 


Tartaglia's  Schriften.     Cardano's  spätere  Scliriften.  533 

anderen  vermehrt  eine  arithmetische  Progression  liefern  können,  nicht 
aber  wenn  man  die  Glieder  so  zusammenfasse,  wie  ihre  Anordnung 
in  den  geometrischen  Progressionen  es  verlange;   aus  2,  4,  8  und  1, 

3     9.  9 

^, ,  -  könne  beispielsweise  die  arithmetische  Progression  2  -{-  1 ,  4  -f  - , 
8  -f-  .,   gebildet  werden.     Cardano's  Beweis  in  Buchstaben  umgesetzt, 

sonst  aber  unverändert,  ist  folgender.  Seien  a,  as,  as^  und  ß,  ß7], 
ßrf  die  gegebenen  Progressionen,  sei  zugleich  £  >  1  und  t;  >  1,  so 
kann  «  -f-  /3,  as  -{-  ßrj,  aa^  -\-  ßiq^  keine  arithmetische  Progression 
sein.     Wegen  der  für  £  und  ri  ausgesprochenen  Bedingung  ist 

af""'  —  «£  >  as  —  a , 

ßyf  —  ßri>  ßrj  -  ß 
und  durch  Addition 

(a,2  _|_  ß^2^  _  (-^,  _|_  ß^^  ->  ^^^  _|_  ^^-)  —  («  -f  ß). 

Ebensowenig  kann  aber  a  -\-  ßr}'^,  as  -{-  ßt],  as--\-  ß  eine  arith- 
metische Progression  sein.  Diesen  letzteren  Beweis  führt  allerdings 
Cardano  nicht  aus,  er  lässt  sich  aber  leicht  ergänzen: 

(«  +  ßv')  —  (««  +  ßv)  =  ßviv  -  1)  -  ci(s  -  1), 
{as  +  ßrj)  -  {as'  +  /3)  =  ß{rj  -  1)  -  as{s  -  1). 

Sollten  beide  Differenzen  einander  gleich  sein,  so  müsste 

/3(7j  -lf  =  -  a{s  -  ly 

oder  eine  Gleichung  zwischen  Positivem  und  Negativem  stattfinden. 
Dass  nämlich  Cardano  a,  s,  ß,  iq  sämmtlich  als  positiv  voraussetzt, 
geht  schon  aus  seinem  Beweise  des  ersten  Falles  hervor. 

Auch  Geometrisches  und  Mechanisches  kommt  in  dem  Opus  novum 
de  proportionibiis  vor.  Die  Sätze  159,  160,  161  stehen  in  innigem 
Zusammenhange^)  und  handeln  von  den  Winkeln,  welche  Kreisbögen 
mit  geraden  Linien  bilden.  Diese  Winkel  hatten  Campanus  (S.  104) 
Schwierigkeiten  bereitet,  aber  seither,  also  etwa  300  Jahre  lang,  hatte 
man  sich  nicht  weiter  darum  gekümmert.  Im  XVL  Buche  De  sub- 
tilitate^)  berührte  Cardano  den  Gegenstand.  Dann  ging  ein  fran- 
zösischer Geometer,  Peletier,  von  welchem  erst  im  XIV.  Abschnitte 
unseres  Buches  die  Rede  sein  wird,  wohin  nach  streng  eingehaltener 
Zeitordnung  auch  Cardano's  hierauf  zielende  Betrachtungen  gehören 
würden,  auf  den  Gegenstand  genauer  ein.  Dann  kamen  eben  die 
Cardano'schen  Untersuchungen  von  1570.  Der  Winkel,  welchen 
(Figur  101)    der   Kreisbogen    he    mit    der    Geraden    hc   bildet,    sagt 


1)  Cardano  IV,  543—546.         ^)  Ebenda  III,  600—601. 


534 


66.  Kapitel. 


Cardano,  kann  einem  geradlinigen  Winkel  a  nicht  gleich  sein.    Jeden- 
falls kann  man  nämlich   einen  zweiten   geradlinigen  Winkel  chd  =  a 

machen,  so  dass  entweder  hcl 
innerhalb  des  Winkelranmes 
che  fällt  oder  ausserhalb,  letz- 
teres wenn  etwa  -^chd'  =  a 
wäre.  In  beiden  Fällen  müsste, 
wenn  auch  -^  che  ^  a  wäre, 
der  Theil  gleich  dem  Ganzen 
sein.  Daraus  folgt  weiter,  dass 
ein  solcher  gemischtliniger 
Winkel  durch  eine  Gerade 
nicht  halbirt  werden  kann,  weil 
die  Halbirungsgerade  ihn  in  einen  geradlinigen  und  einen  wiederum 
gemischtlinigen  Winkel  zerlegen  würde,  die  einander  nicht  gleich  sein 
können.  Weiter  ist  gewiss,  dass  zwischen  zwei  einander  berührende 
Kreise  eine  Gerade  nicht  gezogen  werden  kann  (Figur  102).     Die  Be- 


Fig.  101. 


rührungslinie  cf  an  beide  Kreise  steht  auf  den  zusammenfallenden 
Halbmessern  ac  und  hc  senkrecht.  Jede  Gerade,  die  mit  cf  einen 
noch  so  kleinen  Winkel  in  der  Drehungsrichtung  gegen  ch  ein- 
schliesst,  liegt  innerhalb  des  Kreises  um  h,  also  nicht  zwischen  beiden 
Kreisen.  Dem  Winkel  zweier  gleichen,  sich  schneidenden  Kreise  ist 
ein  geradliniger  Winkel  allerdings  gleich  (Figur  103).  Sind  die  Sehnen 
hd,  he  einander  gleich,  so  ist  -^  dha=  ehe,  also  auch  -^dhe  =  ahc 
durch  gleichmässige  Veränderung  gleicher  Grössen.  Zwischen  zwei 
gerade  Linien,  welche  einen  Winkel  bilden,  kann  man  Kreisbögen  in 
beliebiger  Anzahl  einschalten,  denn  man  braucht  nur  den  geradlinigen 
Winkel  durch  irgend  eine  Gerade  zu  theilen  und  diese  Gerade  als 
Tangente  des  zu  zeichnenden  Kreises  im  Scheitelpunkte  des  Winkels 
zu  benutzen.  Schon  diese  Dinge  seien  alle  wahr,  aber  schwer  zu  begrei- 
fen, und  mit  ihnen  sind  die  Schwierigkeiten  keineswegs  abgeschlossen. 
Man  behauptet  z,  B.,  durch  fortgesetzte  Halbirung  einer  Grösse  müsse 
man  zu  einer  solchen  gelangen,   die  kleiner   sei   als   irgend   eine   ge- 


Tartaglia's  Pchrifton.     Cardano's  spätere  Schriften.  535 

gebeue  Grösse  und  diese  Wahrheit  versage  beim  geradlinigen  Winkel 
verglichen  mit  dem  Winkel,  Avelchen  der  Kreisbogen  mit  seiner  Be- 
rührenden bildet,  dem  angulus  contadus,  wie  Cardano  ihn  nennt, 
während  anderwärts  vom  Contingenzwinkel  gesprochen  zu  werden 
pflegte.  Eine  andere  Schwierigkeit  entsteht  (Figur  104)  bei  in  a  sieh 
berührenden  Kreisen  durch  Ziehen  der  Sehnen 
afd  und  age.  Der  geradlinige  Winkel  ead  ist 
gleich  dem  doppelt  krummlinigen  Winkel  gae, 
und  doch  ist  die  Basis  ge  des  letzteren  wesent- 
lich grösser  als  die  Basis  de  des  ersteren,  kann 
wenigstens  wesentlich  grösser  gemacht  werden 
dadurch,  dass  man  mit  agc  beliebig  nahe  an 
afd  heranrückt.  Die  Schwierigkeiten,  zumal  die 
der  Untheilbarkeit  des  Contingenzwinkels  (sei  es 
zwischen  Kreisbogen  und  Tangente,  sei  es  zwischen 

zwei  einander  berührenden  Kreisbögen)  beruhen  der  Hauptsache  nach 
darauf,  dass,  wenn  auch  der  Satz  richtig  ist,  ein  Vermindertes  müsse 
schliesslich  kleiner  werden  als  ein  Bleibendes,  hier  eine  Ausnahme 
eintritt,  weiF)  das  Bleibende  die  Krümmung  des  Kreises  ist,  das  sich 
Vermindernde  ein  bis  zum  Punkte  abnehmender  Winkel;  die  Krüm- 
mung des  Kreises  verhindere  mithin  rechtmässig  die  Theilung.  Wir 
kommen,  wie  gesagt,  im  folgenden  XIV.  Abschnitte  wiederholt  auf 
diese  Dinge  zu  reden  und  wollen  hier  nur  Cardano's  keineswegs  ein- 
wandfreie Aeusserungen  aufbewahren. 

Der  173.  Satz^)  des  Opus  novum  de  proportionibus ,  bei  welchem 
wir  noch  einen  Augenblick  verweilen,  lehrt  die  Herstellung  einer 
hin-  und  hergehenden  geradlinigen  Bewegung  durch  Drehungen.  Es 
sei,  erklärt  Cardano,  eine  Erfindung  des  Ferrari;  den  Beweis  aber 
habe  dieser  nicht  zu  führen  vermocht,  und  er  habe  denselben  dess- 
halb  ergänzt.  Der  196.  Satz^)  beschäftigt  sich  mit  dem  sogenannten 
Rade  des  Aristoteles  (Bd.  I,  S.  241).  Cardano  hilft  sich  mit  ziemlich 
weitläufigen  Redensarten  um  die  Sache  herum,  statt  dass  er  eine  Er- 
klärung für  das  nicht  abzuleugnende  Dilemma  gäbe.  Immerhin  ist 
diese  Betrachtung  gleich  der  vorerwähnten  über  gemischtlinige  Winkel 
geschichtlich  bemerkenswerth.  Mau  erkennt  das  erstmalig  wieder 
auftauchende  Bestreben ,  Fragen  der  Veränderung  zu  beantworten, 
neben  dem  Sein  auch  das  Werden  von  Raumgebilden  der  mathemati- 
schen Betrachtung  zu  unterwerfen. 


^)  cum  ergo  circuli  ciirvitas  maneat  et  angulus  tendat  in  punctum  perpetua 
diminutione,  necesse  est,  ut  curvitas  circuli  impediat  divisionem  rede.  ^)  Car- 
dano IV,  .560—561.         ^)  Ebenda  IV,  575-576. 


536  66.  Kapitel. 

Von  ungleicli  grösserer  Bedeutung  ist  die  Begula  ÄUza^).  Der 
letzte  Absatz  des  5.  Kapitels  dieses  Buches  spricht  sich  dahin  aus, 
es  sei  leicht,  einen,  auch  wohl  mehrere  Wurzelwerthe ,  aestimationes, 
zu  entdecken ,  wenn  die  Gleichungsconstante  eine  zusammengesetzte 
Zahl  sei;  sei  sie  dagegen  Primzahl,  so  sei  es  schwierig,  eine  einzige 
Wurzel  zu  finden").  Wenn  auch  nicht  in  klarsten  Worten  gesagt, 
ist  die  Entstehung  der  Gleichungsconstante  als  Product  der  Wurzel- 
werthe hier  mindestens  angedeutet,  und  das  17.  Kapitel  Quot  modis 
numerus  possit  produci  ex  non  numero^),  d.  h.  auf  wie  viele  Arten 
eine  ganze  Zahl  das  Product  irrationaler  Factoren  sein  kann,  mit 
Beispielen  wie 

(4  +  l/|)(3^-l/S)  =  io 

und  andere,  zeigt,  dass  wir  jene  Andeutung  richtig  verstehen.  Im 
46.  Kapitel^)  ist  eine  Gleichung  sechsten  Grades,  allerdings  eine  solche 
besonderer  Gestalt,  nämlich  x^  -f"  (^^^  ~\~  ^^^^^  ~h  <^*^  =  hx^,  dadurch 
zur  Auflösung  gebracht,  dass  Cardano  sie  als  Eliminationsergebniss 
zweier  Gleichungen  auffasst,  ein  so  neuer,  eigen thümlicher  Gedanke, 
dass  er  der  Hervorhebung  würdig  ist.     Setzt  man 

xy  =  a,     x^  +  2/^  +  x^xj  +  xf  =  l, 

so  entsteht  mittelst  y  =  —  die  vorgelegte  Gleichung,  aber  auch  eine 
andere  Behandlung  wird  zulässig.     Aus  xy  =  a  folgt 

2a{x-\-y)  =  2x^y-]r2xy^=(x-\-yy—x^—y'-''—xhj—xy^=(x-\-yy'  —  h 

und  daraus  (x  -\-  yY  ^^  2  a  {x  -\-  y)  -\-  h,  eine  Gleichung,  welche  nach 
X  -\-  y  aufgelöst  werden  kann;  da  überdies  das  Produkt  xy  =  a  be- 
kannt ist,  so  ist  auch  x  und  y  einzeln  als  bekannt  anzusehen.  Neben 
der  algebraischen  Auflösung  von  Gleichungen  ist  Cardano  auch  die 
geometrische  Construction  nicht  fremd,  welche  Wurzelwerthe  mittels 
Durchschnitten  von  Kegelschnitten  z.  B.  einer  Parabel  und  einer 
Hyperbel  bestimmen  lässt.  Weiss  er  doch,  dass  die  Griechen  schon 
dieses  Verfahren  übten,  wo  es  um  die  Aufgabe  der  Würfelverdoppelung 
sich  handelte,  und  dass  Eutokius  aus  älteren  Quellenschriften  das 
Wichtigste  überlieferte.  Er,  Cardano,  sei  über  diesen  einfachsten 
Fall  kubischer    Aufgaben    weit   hinausgegangen.      Insbesondere  steht 


')  Cardano  IV,  377 — 434.  Der  Erste,  der  dieses  ebenso  schwierige  als 
inhaltreiche  Buch  verstand,  war  Cossali,  Origine,  trasporto  in  Italia,  primi 
progressi  in  essa  äelV  Algebra  II  passim,  besonders  pag.  331,  415,  441 — 484. 
^  Ebenda  IV,  384 :  Quintum,  quocl  videmus  numerum  aequationis  si  sit  compositus, 
ut  18,  12,  24  facile  habere  aestimationeni  et  lylures  etiain ,  si  autem  x>rimus  diffi- 
cile  est  invenire  iinam  solam.         ^)  Ebenda  IV,  393.         *)  Ebenda  IV,  421 — 422. 


Tartaglia's  Schriften.     Cardano's  siiätevc  Schriften.  537 

die  Gleichung  .<;•'  +  1^^  =  1^^'^  dabei  im  Vordergründe^).  Den  vor- 
wiegend umfassendsten  Theil  des  Buches  Bc  regula  Alisa  hat  Car- 
dano  jedoch  der  Betrachtung  derjenigen  Fälle  gewidmet,  bei  welchen 
die  Formel  Del  Ferro's  unter  der  Kubikwurzel  Ausdrücke  auftreten 
lässt,  welche  selbst  Quadratwurzeln  aus  Negativem  enthalten,  und  dass 
er  dabei,  sowohl  wegen  der  noch  immer  fehlenden  allgemeinen  Sym- 
bolik, als  wegen  der  nur  sehr  langsam  von  der  griechischen  Gewohnheit 
der  Unterscheidung  aller  überhaupt  denkbarer  Sonderfälle  sich  los- 
reissenden  Methodik,  zahllose  Unterfälle  zu  beachten  sich  veranlasst 
sieht,  macht  gerade  die  Schwierigkeit  des  Buches  aus,  ganz  abgesehen 
davon,  dass  auch  nicht  wenige  Druckfehler  dem  Verständniss  im  Wege 
stehen^).  Wie  sehr  Cardano  das  Bewusstsein  hatte,  dass  hier  ein  Un- 
entbehrliches durch  ihn  geliefert  sei,  geht  aus  einer  Bemerkung  hervor, 
welche  dem  12.  Kapitel  der  Ars  magna  in  der  Basler  Ausgabe  hinzu- 
gefügt wurde,  in  welcher  er  den  Leser  für  die  hier  erwähnten  Fälle 
der  Unmöglichkeit  geradezu  auf  die  Regula  Alisa  verweist^). 

Wir  haben,  wie  schon  (S.  532)  gesagt  worden  ist,  auch  noch 
mathematische  Schriften  von  Cardano,  welche  in  seinem  Nachlasse 
aufgefunden  und  des  Druckes  würdig  erachtet  worden  sind.  Dazu 
gehört  das  (S.  499 — 500)  erörterte  Kapitel  De  numerorum  proprietatihus, 
das  ebenda  im  Vorbeigehen  genannte  Bruchstück  De  integris,  aber 
auch  Anderes,  welches  uns  jetzt  beschäftigen  soll.  Dem  Buche  I)e 
ludo  aleae^),  über  das  Würfelspiel,  entnehmen  wir,  dass  der  Verfasser, 
wie  er  von  der  Leidenschaft  des  Spieles  erfasst  war,  wie  er  von  den 
dabei  möglichen  Betrügereien  Kenntniss  besass,  auch  den  Fragen 
Beachtung  schenkte,  welche  mathematischer  Beantwortung  zugänglich 
sind.  Er  weiss  ganz  genau,  dass  mit  zwei  Würfeln  6  Paschwürfe 
und  15  ungleiche  Würfe  möglich  sind,  von  welchen  letzteren  aber 
jeder  doppelt  auftritt,  so  das  im  Ganzen  36  Würfe  vorhanden  sind. 
Er  weiss,  dass  bei  3  Würfeln  es  6  Dreipasche  giebt,  30  Zweipasche, 
deren  jeder  dreimal  vorkommt,  20  ungleiche  Würfe,  deren  jeder  sechs- 
mal vorkommt.  Die  Gesammtzahl  der  Würfe  ist  216.  Ob  er  diese 
richtigen  Zahlen  durch  Formeln,  ob  mindestens  theilweise  durch  Auf- 
zählung der  Einzelfälle  sich  verschafft  hat,  ist  nicht  gesagt,  doch  hat 
eben  wegen  dieses  Schweigens  das  letztere  viel  für  sich.  Für  zahl- 
reich angestellte  Versuche  spricht  jedenfalls  ein  Ausdruck,  der  das 
Zusammentreffen  von  Vermuthung  und  Ereigniss  bei  häufiger  Wieder- 


^)  Cardano  IV,   389 — 390,    Ca^jut  12:    De    modo    demonstrandi   geometrice 
aestimationem  cuhi  et  numeri  aequalium  quadratis.  ^)  So  ist  ebenda  IV,  384 

im  6.  Kapitel  der  Satz  T^  p  est,  T^  m  quadrata  nulla  est  iuxta  usum  communem 
dadurch  für  Viele  unverständlich  geworden,  dass  im  Drucke  das  Komma  nach 
est  fehlt.         ^)  Ebenda  IV,  251.         *)  Ebenda  I,  262—276. 


538  66.  Kapitel. 

lioluug  betrifft^)  und  damit  au  das  Gesetz  der  g rosse u  Zahlen 
der  späteren  Zeit  denken  lässt.  Noch  viel  deutlicher  spricht  aber 
Cardano  dieses  Gesetz  an  einer  anderen  Stelle  aus^).  Es  handelt  sich 
um  die  Wahrscheinlichkeit,  mit  2  Würfeln  n-m&l  nach  einander  grad 
zu  werfen,  und  dass  darauf  im  Verhältnisse  von  1  :  (2" —  1)  zu 
wetten  sei;  bei  unendlicher  Anzahl  der  Würfe  werde  das  Ergebniss 
mit  der  Erfahrung  übereinstimmen,  denn  die  Länge  der  Zeit  ist  es, 
welche  alle  Möglichkeiten  zeigt. 

Einem  Werke  Ars  magna  arithmeticae^)  hat  Cardano  selbst  einen 
hohen  Werth  beigelegt.  Es  umfasst  40  Sätze  und  daran  anschliessend 
ebensoviele  Aufgaben.  Es  werde,  sagt  der  Verfasser  in  der  Widmung 
an  den  Bischof  von  Burgo  Sancti  Sepulchri,  ein  Zeugniss  von  ewiger 
Dauer,  aeternum  testimonium,  für  die  Trefflichkeit  des  Mannes  abgeben, 
dem  es  zugeeignet  sei.  Nur  zwei  Dinge  seien  fremden  ürspninges 
und  ihrem  Erfinder  ausdrücklich  zugewiesen,  alles  Uebrige  gehöre 
ihm  selbst  an.  Jene  fremden  Erfindungen  sind  von  Ferrari  und 
beziehen  sich  auf  Gleichungen  o.  Grades  mit  allen  vier  Gliedern, 
deren  Erörterung  im  39.  Kapitel  vorgenommen  ist^)-,  sie  besagen,  dass 

x^  +  «^'^  +  Y  (.^^^3C  ==  h 
und 

x^  -(-  Y  a^x  =  ax^  -\-  h 

leicht  gelöst  werden  können.  Die  Meinung  ist  offenbar  die,  man 
solle  jenen  beiden  Gleichungen  die  Umformung  in 

geben  und  dann  die  Kubikwurzel  ausziehen.  Cardano  fügt  dann  eine 
ebenfalls  viergliedrige  Gleichung  4.  Grades:    x"^  -\-  a^ x^  =  2ax^  +  h^ 

hinzu''),  welche  durch  ■2:^  =  ii-il/T ^  erfüllt  werde.     Der  leicht 

zu  erkennende  Gedankengang  verlangte  die  Umwandlung  in 

{ax  —  x^y  =  h^ , 
woraus    die    Folgerung    ax  —  x^  ^  h    beziehungsweise    x^  -\-  h  =  ax 
gezogen  wurde,  welcher  die  gegebenen  Wurzelwerthe  genügen.     Dass 
Cardano   nicht  auch    (ic-  —  axy  =  ö'^,    x^  =  ax  -\-  h   zu  Hilfe  nahm, 

um  zn  x  =  - -^y  —  -\-  h   zu  gelangen,  ist  vielleicht  darin  begründet, 


*)  Cardano  I,  265:  Haec  igitur  cognitio  est  secundum  coniecttiram  et  pt'o- 
ximiorem,  et  non  est  ratio  recta  in  Ms.  Attamen  contigit,  quod  in  multis  circui- 
tibus  res  succedit  proxima  coniecturae.  ^)  Ebenda  I,  267:   In  infinito  numcro 

iactniim  id  contingere  proxime  necesse  est,  magnitudo  enim  circuitus  est  temporis 
longitndo,  (ptae  omiies  formas  ostendit.  ^)  Ebenda  IV,  303 — 376.  ■*)  Ebenda 
IV,  352—353.         ^)  Ebenda  IV,  356. 


Tartaglia's  Schriften.     Cardano's  spätere  Schriften. 


539 


dass  er  einem  wesentlich  negativen  Wnrzelwerthe  auszuweichen  wünschte, 
während  andererseits  gerade  bei  Cardano  eine  solche  Scheu  nicht  recht 
begreiflich  ist.     Weitaus  die  bedeutsamste  Bemerkung  findet  sich  im 
18.  KapiteP).     Sind   die  äussersten   Glieder,  heisst  es  dort,   einander 
gleich,  so  giebt  es  nur  eine  Wurzel,  und  diese  ist  immer  positiv  ohne 
Rücksicht  auf  den  Grad  der  Gleichung;   sind  dagegen  die  äussersten 
Glieder   Zwischengliedern    gleich,    so   giebt    es   immer   mehr   als    eine 
Wurzel,    und    in    diesem  Falle    kommen    auch  Unmöglichkeiten    vor. 
Als  Beispiele  des  ersten  Satzes  sind  angegeben: 
a.-2  =  3a;  +  10,     x^  +  3x  =  10,     x^  =  dx^  +  6 ,    x'-\-  3.r-  =  6 , 
a;3  =  4x'+10,    x''-\-10x  =  20,     ^^  +  3*'2  =  7a.- +  20, 
^3  =  3^2_|_7^_^20,  x-^  +  3x=^  +  7a;2=10,  x^-\-'dx^-{-lx'-  =  20x-\-W- 
als  Beispiele  des  zweiten  Satzes: 

a;2-j-10  =  8a;,   x^-{-10=6x%   :^-^-10  =  G.^•,   .^^  +  10  =  lOa;^' +  3a;, 
x^  +  ox^  +  10  =  2x'  +  bx. 

Diese  Beispiele  erklären,  was  an  dem  Ausdrucke  der  Sätze  dunkel 
geblieben  sein  mag.  Cardano  behauptet  hier,  allerdings  ohne  irgend 
einen  Beweis,  dass,  falls  eine  Gleichung  n-ten  Grades  auf  Null 
gebracht  nur  einen  Zeichenwechsel  der  Glieder  wahrneh- 
men lasse,  immer  eine  und  nur  eine  positive  Wurzel  vor- 
handen sei;  zweimaliger  Zeichenwechsel  sei  das  Kennzei- 
chen mehrerer  positiver  oder  lauter  imaginärer  Wurzeln; 
auf  vollständiges  oder  unvollständiges  Vorhandensein  der 
Gleichungsglieder  kommt  es  nicht  an.  —  Um  auch  ein  Beispiel 
von  in  diesem  Buche  enthaltenen  Aufgaben  vorzuführen,  wählen  wir 
die  37. 2)  (Figur  105).  Ein  bei  Ä  recht- 
winkliges Dreieck,  in  welchem  die  Höhe 
ÄD  gezogen  ist,  soll  aus  den  Angaben 
AB -\-  äC  =12,  BC—ÄD  =  6  ge- 
funden werden.  Nun  ist  bekannt  aus 
geometrischen  Gründen 

äB'-\-äC'  =  BC'' 
und    2AB-  AC  =  2BG-  AD.     Durch   Addition  beider  Gleichungen 
entsteht     {AB  +  AGf  =144  =  BG^  -^  2BC  ■  AB.      Nun    sei 
AB  =  x,    mithin  BG  =^  x  -\-  6,   so  nimmt  die  gefundene  Gleichung 


Fig.  105. 


^)  Cardano  IV,  323:  Septimum  notandum  est  quod  cum  fuerint  denomina- 
tiones  extremae  aequales  extremis,  scmper  aequatio  erit  una  tantiim  et  casus  possi- 
hilis,  quotquot  fuerint  denominationes.  Cum  vero  denominationes  intermediae  fuerint 
aequales  extremis  timc  semper  erunt  plures  aequationes  in  quaesito  et  casus  poterit 
cum  hoc  etiam  esse  impossibilis.         -)  Ebenda  IV,  372. 


540 


66.  Kapitel. 


die  Gestalt  an  3x- +  24ä;  +  36  =  144,  woraus  x  =  ÄD  =  yb2  —  4, 
x-{-Q  =  BC=  ]/52  +  2.  Ferner  AB'^  +  J.^^  =  ^BO^  =  56  +  V 832 
gemeinschaftlich  mit  AB-{-AC=12.  ^e\  AC=Q->^y,  AB=Q  —  y, 
so  geht  die  erstere  Gleichung  über  in   72  -|-  2?/^  z=  56  -f-  |/832  und 

y=Vy2m^,  also  ^C=6+l/]/2Ü8  — 8,  AB  =  Q  —  V'y2^^^ . 
Dieser  sehr  einfachen  Entwickelung  setzt  dann  Cardano  eine  doppelte 
Grenzbedingung  für  den  Unterschied  6  zwischen  BC  und  AD  hinzu. 
Er  müsse  kleiner  als  die  Summe  von  AB  und  AC  sein,  und  das 
liegt  auf  der  Hand,  denn  AB  -\-  AC^  BG,  also  um  so  mehr 
AB -\-  AC '>  BC  —  AB.      Ferner    aber    müsse    jener   Unterschied 

grösser  sein  als  die  Quadratwurzel  aus  —  vom  Quadrate  von  AB-\-  AC. 

Bei  der  Aufstellung  dieser  Grenze  kann  Cardano  etwa  folgenden  Ge- 
dankengang   eingeschlagen    haben    (Figur  106).     Die  Spitzen   sämmt- 

licher  über  BC  als  Hypotenuse  be- 
schriebener rechtwinkliger  Dreiecke 
liegen  auf  dem  Halbkreise  BA^A^C. 
Unter  ihnen  zeichnet  sich  das  gleich- 
schenklig rechtwinklige  Dreieck  BA^  C 
durch  folgende  Eigenschaft  aus:  Es 
hat  die  grösste  Höhe  AqDq  und  dess- 
halb  auch  den  grössten 'Flächeninhalt. 


BC 


aber  auch  durch 


AC 


iA-B 


Letzterer  wird   durch 

gemessen.  Somit  ist 
und  damit  zugleich  2AqB-AqC  ein  Maximum.  Weil  aber  A^B^" 
+  A^C^"  =  A^B^-  +  JiC'2  =  BC^-  constant  ist,  muss  des  Weiteren 
A^B'-  -\-AqC^  +  2A^B  •  ^ C  =  (^o-ß  +  A  Gf  ein  Maximum  sein, 
oder  die  Lage  von  A  in  A^  macht  das  Quadrat  der  Kathetensumme 
des    Dreiecks    ABC   zu    einem   Maxiraum.      Ferner    macht,    wie    wir 


schon 
ge- 


sagten,   die    gleiche    Lage    AqBq 


zu 


einem    Maximum,    also 


AqDq  zu  einem  Minimum,  so  dass  jedes  BC- 
sein    muss.      Nun    ist 


-AC^BC  —  A^D^ 

B  C=^-  —  A^+_A<^ 

folglich     um     so     gewisser 


BC-AD>y^^Y^'. 

Noch  andere  nachgelassene  mathematische  Schriften  des  Cardano 
sind  dem  Drucke  übergeben  worden,  aus  welchen  indessen  Auszüge 
zu  veranstalten  kaum  verlohnt.     Der  Sermo  de  x:>lus  et  mimis^)  würde 


1)  Cardanus  IV,  4.35—439. 


Tartaglia's  Schriften.     Cardano's  spätere  Schriften.  541 

vielleicht  trotz  seiner  Kürze  am  ersten  eine  Bemerkung  gestatten,  wenn 
diese  kleine  Schrift  nicht  bereits  unter  dem  Einflüsse  von  Bombelli's 
Algebra  verfasst  wäi-e,  von  welcher  im  folgenden  Abschnitte  die 
Rede  sein  wird.  Jene  Algebra  erschien  in  erster  Auflage  1572,  Car- 
dano  starb  1576;  der  Sermo  de  plus  et  minus  gehört  sonach  jedenfalls 
7Ai  dem  Letzten,  was  aus  seiner  Feder  stammte. 

Fassen  wir  nun  auch  den  Gesammteindruck  dessen  zusam-men,  was 
unsere  verschiedenen  Auszüge  aus  Cardanischen  Scliriften  uns  geliefert 
haben,  so  finden  wir  folgende  wesentliche  Dinge,  die  als  Cardano's 
und  Ferrari's  Eigenthum  gesichert  sind.  Für  Cardano  erhalten  wir: 
eine  näherungsweise  Auflösung  von  Grieichungen  höherer  Grade,  das 
Bewusstsein  des  Vorhandenseins  dreier  Wurzeln  einer  kubischen 
Gleichung,  die  Kenntniss  des  Zusammenhanges  des  Coefficienten  des 
quadratischen  Gliedes  in  der  kubischen  Gleichung  mit  der  Summe 
der  Wurzeln,  auch  im  Falle  gleicher  Wurzelwerthe,  die  Wegschaff'uug 
des  quadratischen  Gliedes  in  der  kubischen  Gleichung,  eine  Ahnung 
von  dem  Zusammenhange  der  Gleichungsconstanten  mit  den  Wurzeln, 
eine  Ahnung  von  dem  Zusammenhange  zwischen  dem  Zeichenwechsel 
innerhalb  einer  Gleichung  und  deren  Wurzeln,  das  Rechnen  mit 
Imaginärem,  erstmalige  richtige  Beantwortung  einzelner  Wahrschein- 
lichkeitsaufgaben, Herumtasten  an  geometrischen  Untersuchungeu, 
welche  das  Wesen  krummer  Linien  und  ihren  Gegensatz  gegen  Gerade 
betreflen.  Für  Ferrari  bleibt:  die  Auflösung  der  ein  kubisches  Glied 
nicht  enthaltenden  Gleichung  vierten  Grades,  die  Umsetzung  kreis- 
förmiger Bewegung  in  geradlinige.  Was  blieb  uns  für  Tartaglia? 
Grosse  geometrische  Gewandtheit,  eine  wirkliche  Methode  zum  Rational- 
machen von  Brüchen  mit  zweigliedrigem  Nenner,  einige  Reihen- 
betrachtungen, die  Lösung  einer  Maximalaufgabe,  neben  zahlreichen 
Aneignungen  fremdem  geistigen  Eigenthums,  worunter  wir  die 
Auflösung  von  des  quadratischen  Gliedes  entbehrenden  kubischen 
Gleichungen  zu  rechnen  schwerwiegende  Gründe  besassen. 

Wir  erachten  es  nicht  als  überflüssig,  zu  bekennen,  dass  die 
Werthschätzung,  welche  wir  sonach  Cardano  und  Ferrari  angedeihen, 
lassen  müssen,  und  welche  beide,  insbesondere  aber  Cardano,  unver- 
gleichbar höher  als  Tartaglia  stellt,  geradezu  im  Gegensatze  zu  der 
Auffassung  der  bisherigen  Geschichtsschreibung  sich  befindet^),  dass 
aber  die  weitverbreiteten  Irrthümer,  beziehungsweise  was  wir  für 
Irrthum  halten,  insgesammt  dem  Grundfehler  entstammen,  dass  man 
erst  die  Quesiti  des  Tartaglia  las  und  unter  deren  Einflüsse   erst   die 


^)  Gherardi,   an  welchen   wir  uns  mehrfach  anlehnten,  bildet  selbstver- 
ständlich eine  Ausnahme. 


542         66.  Kapitel.     Tartaglia's  Schriften.     Cardano's  spätere  Schriften. 

Ars  magna  des  Cardano,  während  die  Zeitfolge  der  Veröffentlichung 
das  umgekehrte  Verfahren  nothwendig  macht. 

Eine  kurze  Bemerkung  müssen  wir  uns  noch  gestattten,  bevor 
wir  diesen  XIII.  Abschnitt,  welcher  der  ersten  Hälfte  des  XVI.  Jahr- 
hunderts gewidmet  war,  abschliessen.  Schon  seit  Erfindung  der 
Buchdruckerkunst  begann  die  nationale  Abschliessung 
wissenschaftlicher  Bestrebungen  mehr  und  mehr  zu 
schwinden.  Im  XVL  Jahrhunderte  ist  sie  schon  nahezu  verwischt. 
Die  grossen  Druckereien  in  Paris,  in  Nürnberg,  in  Basel  haben  eine 
europäische  Bedeutung  angenommen.  Wir  haben  beispielsweise  Schriften 
des  Italieners  Cardano  an  allen  drei  Orten  in  die  Oeffentlichkeit  treten 
sehen.  Erleichtert,  um  nicht  zu  sagen  ermöglicht,  wird  solches  wissen- 
schaftliche Weltbürgerthum  durch  die  Einheit  der  wissenschaft- 
lichen Sprache.  Neue  Dinge  werden  ziemlich  ausschliesslich  in 
lateinischer  Mundart  veröffentlicht.  Damit  ist  aber  eine  andere  That- 
sache  eng  verbunden:  Schriften,  welche  in  dem  einen  Lande  ent- 
standen sind,  werden  verhältnissmässig  rasch  in  dem  anderen  Lande 
gelesen,  rufen  Nachahmung  oder  Widerspruch  hervor.  Orontius 
Finaeus  findet  in  Nonius  einen  geometrischen  Gegner,  während  Tar- 
taglia  ihn  wegen  seiner  Wurzelausziehungen  anführt.  Bouvelles  und 
Dürer  werden  in  Italien  gelesen.  Stifel  wird  von  Cardano  und 
Tartaglia  benutzt,  und  er  selbst  benutzt  Erfindungen  Cardano's.  Wir 
haben  dieses  schon  mit  Bezug  auf  solche  Stellen  der  Arithmetica 
integra  bemerkt,  welche  der  Arithmetik  Cardano's  von  1539  entlehnt 
sind.  Die  Regula  del  modo  übte  ihren  Einfluss  auf  die  allgemeine 
Regel  Stifel's  zur  Gleichungsansetzung  und  Auflösung,  Cardanische 
Gleichungsbeispiele,  welche  mittels  Addition  derselben  Glieder  auf 
beiden  Seiten  behandelt  werden,  bilden  den  Schluss  der  Arithmetica 
integra.  Aber  auch  die  Cardanische  Ars  magna  fand  in  Stifel  einen 
verständnissvollen  Leser,  und  der  Ausgabe  der  Rudolff"schen  Coss, 
welche  Stifel  1553  besorgte,  ist  ein  Anhang  beigefügt,  welcher  mit 
den  kubischen  Gleichungen  sich  beschäftigt,  welcher  Del  Ferro  als 
den  Erfinder  der  Auflösung  nennt.  Dass  Tartaglia,  den  Cardano  in 
der  Ars  magna  Del  Ferro  zur  Seite  stellte,  bei  Stifel  nicht  einmal 
genannt  ist,  wird  dahin  gedeutet  werden  müssen,  dass  Stifel  auch  von 
dem  Cardano-Tartaglia'schen  Streite  Kenntniss  erhalten  hatte  und  auf 
des  Ersteren  Seite  stand. 

Alle  diese  eingetretenen  Veränderungen  in  der  Geschichte  der 
Wissenschaften  werden  in  unserer  Darstellung  derselben  ihren  Wieder- 
schein erkennen  lassen  müssen. 


XIV.   Die  Zeit  von  1550—1600. 


Gl.  Kapitel. 

Geschichte  der  Mathematik.     Classikeransgabeii.     Geometrie. 
Mechanik. 

Die  zum  Schlüsse  des  vorhergehenden  Abschnittes  angedeuteten 
Verhältnisse  und  die  als  Folgen  derselben  nicht  mehr  von  Volk  zu 
Volk  zu  trennende  Entwickelung  der  Wissenschaften  nöthigen  uns, 
die  seither  von  uns  gebrauchte  geographische  Eintheilung  der  ein- 
zelnen Abschnitte  zu  verlassen.  Trennt  man  aber  nicht  mehr  von 
Volk  zu  Volk,  ist  es  eben  so  unmöglich  die  chronologische  Trennung 
von  Jahr  zu  Jahr,  oder  von  Jahrzehnt  zu  Jahrzehnt  vorzunehmen, 
weil  der  Jahrgang  des  Druckes  doch  nicht  übereinstimmt  mit  den  oft 
langen  Jahren  der  Vorbereitung,  und  weil  ferner  alsdann  Dinge  ver- 
schiedenster Gattung  neben  einander,  getrennt  dagegen  von  Ver- 
wandtem aufzutreten  drohen,  so  bleibt  nur  übrig,  den  Sl»off  nach 
dem  Inhalte  der  Schriften,  welche  wir  zu  nennen  haben, 
2U  ordnen.  Recht  mangelhaft  ist  allerdings  auch  diese  Anordnung. 
Ein  und  derselbe  Schriftsteller  wird  nicht  selten  an  verschiedenen 
Stellen  genannt  werden  müssen;  seine  eigene  Bedeutung  wird  mög- 
licherweise dabei  nicht  in  einem  richtigen  Lichte  erscheinen,  ins- 
besondere dann,  wenn  er  das  erste  Mal,  dass  er  auftritt,  uns  vielleicht 
grade  seine  schwächste  Seite  zukehrt.  Wir  hoffen  hier  dennoch  eine 
Abhilfe  treffen  zu  können  dadurch,  dass  wir  den  wirklich  bedeutenden 
Mathematikern  am  Schlüsse  eine  Zusammenfassung  widmen.  Lebens- 
schicksale derselben  in  so  engen  Grenzen,  als  die  Anlage  unseres 
Werkes  sie  fordert  und  gestattet,  werden  berichtet  werden,  wo  der 
Name  zuerst  erscheint. 

Wir  beginnen  mit  solchen  Schriftstellern,  welche  die  Geschichte 
der  Mathematik  selbst  zum  Gegenstande  ihrer  Forschung  machten. 

Petrus    Ramus^),    mit   französischem  Namen   Pierre    de   la 

')  Ch.  Wad dington:  Ramus,  sa  vie,  ses  ecrits  et  ses  opinions  (Paris  1855). 
—  Cantor  in  der  Zeitsclir.  Math.  Phys.  11,  354—359;  in,  133—143;  IV,  314— 
315.  —  L.  Am.  Sedillot,  Les  professeurs  de  mathematiques  et  de  physique 
generale  au  College  de  France  im  Bulletino  Boncompagni  Bd.  II  und  III  (1869 
—1870).     Ueber  ßamus  vergl.  II,  389—418. 

Cantoe,  Geschichte  der  Mathera.    11.     2.  Aufl.  35 


546  *j'^-  Kapitel. 

Ramee  (1515 — 1572),  gehörte  zu  den  einflussreichsten  Schriftstellern 
seiner  Zeit,  wozu  ihn  einestheils  Beziehungen  zu  hochgestellten  Per- 
sönlichkeiten, anderntheils  eine  ausgesprochen  streitbare  Geistesver- 
aulagung  machte,  welche  ihn  in  den  Vordergrund  von  lebhaften 
Kämpfen  stellte.  Mit  der  These  Quaecunque  ab  Äristotde  dida  essent 
commentitia  esse  warf  Ramus  153G  der  ganzen,  an  allen  Universitäten 
hochmächtigen  Aristotelischen  Schule  den  Fehdehandschuh  hin.  In 
den  Hörsälen  begann  das  geistige  Ringen,  aber  an  anderen  Kampf- 
plätzen und  mit  anderen  als  geistigen  Waffen  setzte  es  sich  fort,  bis 
die  auf  die  Nacht  des  St.  Bartholomäus  folgende  Nacht  Ramus  dem 
Dolche  der  Mörder  überlieferte.  Bis  1568  lebte  Ramus  in  Frankreich, 
meistens  in  Paris.  Dann  entzog  er  sich  den  ihm  dort  drohenden 
persönlichen  Gefahren  durch  eine  mit  königlicher  Erlaubniss  unter- 
nommene Reise  nach  Deutschland,  die  ausgesprochenermassen  wissen- 
schaftlichen Zwecken  dienen  sollte;  Strassburg,  Heidelberg,  Frankfurt 
am  Main,  Nürnberg,  Augsburg,  Basel  gehörten  zu  den  besuchten 
Städten.  Ueberall  war  Ramus  im  Dienste  der  von  ihm  vertretenen 
Sache  thätig,  überall  knüpften  sich  an  seinen  Aufenthalt  Streitigkeiten 
an.  Im  September  1570  kehrte  er  nach  Paris  zurück,  welches  er  nicht 
wieder  verliess.  Von  den  zahlreichen  Schriften,  welche  Ramus  verfasste, 
nennen  wir  an  dieser  Stelle  nur  eine  aus  3  Büchern  bestehende 
von  1567,  welche  der  Königin  Katharina  von  Medicis  gewidmet  war^), 
und  welche  später,  1569  und  häufiger,  wiederholt  gedruckt  wurde, 
als  die  3  ersten  von  31  Büchern  mathematischer  Untersuchungen, 
Scholae  mathematkae.  Diese  3  Bücher  stellen  eine  wirkliche  Geschichte 
der  Mathematik  dar,  natürlich  in  sehr  bescheidenen  Grenzen  vermöge 
der  äusserst  geringen  Mittel,  über  welche  man  .damals  noch  verfügte, 
aber  doch  mit  vorwiegender  Benutzung  solcher  Quellen,  welche  heute 
noch  als  zuverlässige  gelten.  Beispielsweise  hat  Ramus  offenbar  sehr 
viel  über  griechische  Mathematik  aus  Proklos  entnommen,  dessen 
Erläuterungen  zum  ersten  Buche  der  euklidischen  Elemente  seit  1533, 
wie  wir  wissen  (S.  406),  durch  Grynäus  griechisch  herausgegeben 
waren,  während  eine  1560  erschienene  lateinische  Uebersetzung  weiter 
unten  genannt  werden  wird.  Ramus  hat  jedenfalls  der  griechischen 
Ausgabe  sich  bedient,  da  er  wiederholt  den  griechischen  Wortlaut 
anführt.  Den  deutschen  Mathematikern  hat  Ramus  eine  fast  über- 
triebene Bewunderung  gezollt  und  sie  insbesondere  seinen  Landsleuten 
als  Muster  hingestellt.  Andrerseits  wendet  er  sich  freilich  auch  an 
deutsche  Fürsten  mit  der  Aufforderung,  Professuren  der  Mathematik 
an  ihren  Universitäten  zu  errichten,  und  schlägt  z.  B.  für  Heidelberg 


^)  P.  Hami  prooemium  mathcmaticum  in  tres  libros  distrihutum. 


Gescliiclite   der  Mathematik.     Classikerausgaben.     Geometrie.     Mechanik.      547 

ausdrücklich  Xyl  ander  als  geeignete  Persönlichkeit  vor,  einen  Gelehrten, 
der  uns  bald  beschäftigen  wird.  Der  Inhalt  der  Geschichte  der 
Mathematik  gliedert  sich  für  Ramus  in  vier  Perioden.  Er  unter- 
scheidet 1.  eine  chaldäische  Periode  von  Adam  bis  zu  Abraham; 
2.  eine  egyptische  Periode,  beginnend  von  Abraham,  der  die 
Mathematik  in  dieses  Land  brachte.  Beide  Perioden  zusammen  sind 
auf  vier  Seiten  abgehandelt.  3.  Die  griechische  Periode  von 
Thaies  bis  zu  Theon  von  Alexandrien  füllt  bei  Ramus  34  Seiten. 
4.  Die  neuere  Mathematik  werde,  hofft  Ramus,  einen  anderen 
Bearbeiter  finden. 

Ein  zweiter  Schriftsteller,  welcher  auf  geschichtliche  Unter- 
suchungen sein  Augenmerk  richtete,  war  Bernardino  Baldi  ^)  (1553 
bis  1617).  Er  ist  in  Urbino  geboren.  Sein  Familienname  war 
eigentlich  C  an  tagall  in  a,  während  der  Name  Baldi  sich  von  einem 
Urgrossvater  auf  ihn  vererbte.  Baldi  war  in  neuen  und  alten  Sprachen 
hochgelehrt;  er  sprach  z.  B.  französisch  und  deutsch  und  las  geläufig- 
arabisch.  In  der  Mathematik  war  er  Schüler  des  Commandinus, 
von  welchem  wir  noch  zu  reden  haben.  Im  Jahre  1586  zum  Abte 
von  Guastalla  gewählt,  beschäftigte  Baldi  sich  von  da  an  wesentlich 
mit  theologischen  und  kirchenrechtlichen  Fragen.  Seine  mathematisch- 
wissenschaftliche Thätigkeit  war  aber  damit  doch  nicht  abgeschlossen. 
Früqhte  derselben  sind  eine  Cronica  de'  Matematici  und  Vite  de' 
Matematid  aus  der  Zeit  bis  1596.  Erstere  erschien  1707  in  Urbino 
im  Drucke,  letztere  befanden  sich  handschriftlich  in  der  reichen 
Sammlung  des  Fürsten  Boncompagni  in  Rom;  eine  gewisse  Anzahl 
der  in  ihnen  enthaltenen  Lebensbeschreibungen  ist  veröffentlicht^). 
Leicht  hat  sich  Baldi,  welcher  zwölf  Jahre  sammelte,  dann  zwei  Jahre 
zur  eigentlichen  Niederschrift  verwandte,  seine  Aufgabe  nicht  gemacht. 
Wie  schwierig  sie  aber  für  ihn  war  und  blieb,  zeigt  schon  ein  Blick 
in  die  nach  der  Zeitfolge  geordnete  Mathematikerchronik.  Jordanus 
ist  ziemlich  richtig  auf  1250  angesetzt,  sein  Name  aber  Hemorarius 
geschrieben.  Leonardo  von  Pisa  dagegen  erscheint  mit  richtigem 
Namen  im  Jahre  1400.  So  ungewiss  war  damals  die  Kenntniss  von 
jenen  beiden  grossen  Männern.  Baldi  hat  seine  Arbeit  bis  in  die 
Zeit   fortgesetzt,    welcher    er    selbst    angehörte.      Tartaglia,    Ramus, 


^)  Affo,  Vitaßi Monsignore  Bernardino  Baldida  Urbino  {17S3). —  Kästner 
II,  129—142.  —  Libri  IV,  70—78.  ^)  BuUetino  Boncompagni  an  vielen  Stellen, 
welche  in  dem  Gesammtregister  der  XX  Bände  des  Bulletino  pag.  731  angegeben 
sind.  Vergl.  Bull.  Boncamp.  Bd.  V,  XII,  XIX,  XX.  Die  Vorrede  zu  den  Vite 
vergl.  XIX,  355 — 357.  Auf  der  letzten  Seite  die  Stelle:  Dodici  anni  ho  io  penato 
nel  raccogliere  da  varij  autori  la  materia  di  qiiesta  historia ,  e  quasi  in  due  ho 
dato  la  forma  che  si  vede  a  l'edifttio. 

35* 


548  67.  Kapitel. 

Clavius  kommen  noch  bei  ihm  vor,  Guidobaldo  del  Monte  ist  die 
letzte  bei  ihm  genannte  Persönlichkeit.  Bei  Ramus  sind  besonders  die 
Scholae  mathematicae  gerühmt,  welche  also  vermuthlich  auch  als 
mittelbare  Quelle  benutzt  wurden.  Die  Vite  behandeln  meistens  ältere 
Mathematiker,  hauptsächlich  Griechen,  dann  Araber,  doch  sind  auch 
spätere  Schriftsteller  nicht  vernachlässigt,  Campanus ^)  z.  B.,  der  in 
der  Chronik  auf  das  Jahr  1264  angesetzt  ist,  in  der  ausführlicheren 
Lebensbeschreibung  dagegen  unrichtig  auf  1200.  Die  einzelnen  Lebens- 
beschreibungen sind  selbst  genau  datirt,  so  die  des  Campanus  vom 
13.  October  1588.  Die  Chronik  dürfte  also  hier  die  spätere  Bearbeitung 
sein.  Um  so  auffallender  ist  es,  dass  die  Lebenszeit  nicht  ihr  ent- 
sprechend auch  in  den  Vite  richtig  gestellt  wurde. 

Ein  besonderes  Kapitel  aus  der  Geschichte  der  Mathematik  hat 
1557  und  in  verbessei-ter  Auflage  1569  der  bekannte  Nürnberger 
Humanist  Joachim  Camerarius  (1500 — 1574)  bearbeitet,  die  Lehre 
von  den  Zahlzeichen  und  vom  Rechnen^).  Der  sehr  umständliche 
Titel  sagt,  dass  die  griechischen  und  römischen,  sowie  die  sarra- 
cenischen  oder  indischen  Zahlzeichen  beschrieben  würden,  auch  die 
Anfänge  gi-iechischer  Logistik,  endHch  sei  ein  Ueberblick  über  die 
Arithmetik  des  Nikomachus  gegeben.  Das  Büchlein  ist  auch  heute 
noch  lesenswerth  und  enthält  manche  schätzbare  Einzelheiten. 

Matthäus  Hostus^),  ein  Sprachforscher  und  Münzenkundiger 
(1509 — 1587),  war  53  Jahre  lang  Professor  der  griechischen  Sprache 
in  Frankfurt  an  der  Oder.  Er  gab  1582  in  Antwerpen  eine  62  Seiten 
starke  Schrift  Bc  numeratione  emenäata  veterihns  Latinis  et  Graecis 
usüata  heraus,  welche  gleichfalls  heute  noch  lesenswerth  ist. 

Geschichtlichen  Arbeiten  nahe  verwandt  sind  die  Bemühungen 
der  Männer,  welche  Werke  des  Alterthums,  sei  es  im  Urtexte, 
sei  es  in  Uebersetzungen,  zum  ersten  Male  oder  neuerdings 
herausgaben. 

Wir  hätten  deren  eine  grosse  Menge  zu  nennen,  wenn  wir  Voll- 
ständigkeit anstrebten.  Wir  begnügen  uns  damit,  die  wichtigsten 
hervorzuheben.  Joachim  Camerarius,  von  dem  wir  erst  gesprochen 
haben,  gab  1549  die  beweislosen  Sätze  der  sechs  ersten  Bücher  der 
euklidischen  Elemente  griechisch  und  lateinisch  heraus.  Eine  Vorrede 
dazu  schrieb  Rhäticus.  Später  wurde  1577  die  gleiche  Ausgabe 
noch  einmal  aufgelegt  durch  Moritz  Steinmetz,  sogar  1724  noch 
einmal  durch  L.  F.  Weisse*). 

Pierre    Mondore''),    lateinisch  Petrus    Montaureus,    Biblio- 

^)    BuUetino    Boncompagni    XIX,  591—596.  ^)   Kästner,  I,  134—136. 

°)  Cantor,  Mathem.  Beitr.  z.  Kulturleb.  d.  Völker  S.  159,  Anmerkung  318. 
*)  Kästner  I,  345—348.         =)  Montucla  I,  564. 


Geschiebte   der  Mathematik.     Classikerausgaben.     Geometrie.     Mechanik.      549 

thekar  der  königlichen  Bibliothek  in  Paris,  veröffentlichte  1551  das 
zehnte  Buch  der  euklidischen  Elemente,  später  beabsichtigte  er 
Weiteres  folgen  zu  lassen.  Aber  sein  langes  Zurückhalten  brachte 
den  vorbereiteten  Schriften  den  Untergang,  In  der  Bartholomäusnacht 
wurde  Mondore  getödtet,  sein  Arbeitszimmer  geplündert.  Die  Hand- 
schriften seiner  Werke  wurden  vernichtet. 

Jean  de  la  Pene^),  ein  Professor  am  College  de  France,  der, 
1528  in  Aix  geboren,  1556  erstmalig  in  Folge  von  Wettbewerb  seine 
Lehranstellung  erhielt,  aber  schon  1558  im  Alter  von  kaum  30  Jahren 
starb,  gab  1557  die  Sphärik  des  Theodosius  griechisch  und  lateinisch, 
im  gleichen  Jahre  auch  ebenso  die  optischen  und  musikalischen 
Schriften  des  Euklid  heraus. 

Dasselbe  Jahr  1557  ist  das  Druckjahr  der  Ausgabe  der  euklidischen 
Elemente  durch  Jacques  Peletier  oder  Peletarius,  von  welcher 
wegen  der  Anmerkungen  weiter  unten  zu  reden  sein  wird  und  1557 
war  es  auch,  dass  Pasquier  Duhamel  (f  1565)  einen  Commeutar 
zu  der  Sandeszahl  des  Archimedes  herausgab^). 

Der  Zeitfolge  wenig  voraneilend  nennen  wir  eine  französische 
Euklidübersetzung  durch  Pierre  ForcadeP),  Buch  I  bis  V  seiner 
Euklidübersetzung  erschienen  1564,  Buch  VII  bis  IX  sodann  1566. 
Schon  vor  der  Euklidübersetzung  gab  Forcadel  1561  eine  französische 
Uebersetzung  der  Arithmetik  des  Gemma  Frisius  (S.  411),  den  er 
Gemme  Phrison  nannte,  und  nachmals  1570  wieder  eine  französische 
Uebersetzung  des  Algorithmus  demonstratus  (S.  63).  Forcadel  aus 
Beziers  gehörte  gleich  Jean  de  la  Pene  zu  den  Schülern  im  engeren 
Sinne  und  zu  den  Freunden  von  Ramus,  welcher  ihm  1560  zur  Er- 
langung der  mathematischen  Professur  am  College  de  France  behilflich 
war,  die  er  bis  zu  seinem  Tode  1573  inne  hatte.  Forcadel,  viel- 
gerühmt und  vielgetadelt,  lehrte  ausschliesslich  in  französischer  Sprache, 
und  zwar  1548  in  Lyon,  seit  1550  in  nicht  officieller  Stellung  in 
Paris.     Eine  Reise  in  Italien  fällt  vor  1561. 

Schon  1562  war  in  Deutschland  eine  deutsche  Euklidübersetzung 
erschienen,  welcher  wir,  sowie  einer  anderen  Uebersetzung  aus  der 
Feder  des  gleichen  Gelehrten,  uns  etwas  ausführlicher  zuwenden 
müssen.  Wilhelm  Holzmann,  weitaus  bekannter  unter  dem  Ge- 
lehrtennamen Xylander*),    ist   1532    in  Augsburg  als    Sohn   armer 


^)  Montucla  I,  564.  —  Sedillot  im  Bulletino  Boncompagni  11,  391  und 
422.         '-]  Poggendorff  I,  616.  ^)  Ebenda  I,  722.   —    L.  Am.  Sedillot, 

Les  professeurs  de  mathe'matique  et  de  physique  generale  ati  College  de  France 
im  Bulletino  Boncompagni  II,  424—427.  —  Fontes,  Pierre  Forcadel  lecteur  du 
Roy  es  Mathematiques  in  den  Memoires  de  VAcademie  des  sciences,  inscriptions 
et  helles-lettres  de  Toulouse.  9.  Se'rie,  T. VI  (1894),  VII  (1895),  VIII  (1896).     ^)  Freher, 


550  67.  Kapitel. 

Eltern  geboren  und  1570  als  Professor  der  aristotelischen  Logik  in 
Heidelberg  gestorben.  Diese  Stellung  nahm  er  seit  1502  ein,  nachdem 
er  vorher  vier  Jahre  Professor  der  griechischen  Sprache  gewesen  war, 
und  in  dem  letzten  dieser  vier  Jahre  überdies  mathematische  Vor- 
lesungen gehalten  hatte.  Einer  seiner  wenig  berühmten  Vorgänger 
in  diesem  letzeren  Fache  war  Marcus  Morsheime r,  welchen  wir 
nur  nennen,  weil  ein  1558  von  ihm  veröffentlichtes  Buch^)  das  erste 
zu  sein  scheint,  welches  über  Rechnungen  des  Rechtsverkehrs  in  den 
Druck  gegeben  wurde.  Als  Xylander  die  logische  Professur  über- 
tragen wurde,  welche  in  jeder  Beziehung  höhere  Ansprüche  befriedigte, 
als  die  untergeordnete  mathematische  Lehrthätigkeit  der  damaligen 
Zeit,  wurde  für  diese  Simon  Grynäus  der  Jüngere  (1539 — 1582) 
mit  dem  unverhältnissmässig  geringen  Jahresgehalte  von  fl.  60  nebst 
freier  Wohnung  angestellt,  der  Sohn  eines  Vetters  jenes  älteren  Simon 
Grynäus,  welcher  die  erste  griechische  Euklidausgabe  veranstaltet  hatte. 
Wilhelm  Xylander  also  hat  schon  1562  von  Heidelberg  aus  eine 
deutsche  Uebersetzung  der  euklidischen  Elemente  Buch  I  bis  VI  in 
Basel  drucken  lassen.  Vorangegangen  war  im  Drucke  eine  1556  von 
Augsburg  aus  veranstaltete  Ausgabe  der  Lehrbegriffe  des  Psellus  in 
griechischer  und  lateinischer  Sprache,  aber  die  Euklidübersetzung  war 
schon  vor  diesem  letztgenannten  Drucke  mindestens  begonnen,  denn 
in  der  Vorrede  zum  Euklid  sagt  „M.  Wilhelm  Holzmann  genannt 
Xylander,  Griechischer  Professor  des  Chiirf.  Studiums  in  Heydclherff" , 
er  habe  schon  vor  sieben  Jahren,  mithin  1555,  die  ersten  vier  Bücher 
Euklid's  aus  dem  Griechischen  ins  Deutsche  übersetzt  und  erläutert 
und  von  seiner  Hand  geschrieben  der  Augsburger  Stadtbehörde  über- 
geben, die  auch  solches  günstiglich  angenommen  und  in  sondern  Gnaden 
gegen  ihn  erkannt  haben.  Als  erste  Bearbeitung  in  einer  lebenden 
Volkssprache  ist  Xylander's  Euklid  merkwürdig  genug  und  mag  in 
Deutschland  durch  Verbreitung  geometrischen  Wissens  unter  Malern, 
Goldarbeitern,  Baumeistern,  für  welche  ausgesprochenermassen  die 
Uebersetzung  bestimmt  ist,  also  unter  demselben  Kreise,  für  welchen 
Albrecht  Dürer  einst  schrieb  (S.  459),  wirksam  gewesen  sein.  Die  arith- 
metischen Bücher  Euklid's  waren  schon  etwas  früher  in  deutscher 
Sprache  bekannt.  Hu*  Herausgeber  war  Johann  ScheybP),  lateinisch 
Scheubclius  (1494 — 1570).  Dessen  Veröffentlichung  von  1558  führt 
den  Titel:  Das  sibend,  acht  und  nennt  Buch  des  hochberühmbten  Mathe- 


Tlieatrum  vironim  eruditione  darorum  pag.  1471.  —  Kästner  I,  184,  279,  348. 
—  Zeitschr.  Math.  Phys.  III,  1.38—139.  —  Allgem.  Deutsehe  Biographie  XLIV, 
582—593  (Artikel  von  Fr.  Scholl). 

^)  Disputatio  juridica  de  rebus  mathematicis.     Basel  1558.  ^)  Poggen- 

dorff  IL  792. 


Geschiclitc  der  Matheuiatik.     Classikerausgaben.     Geometrie.     Mechanik.       551 

matici  Enclidis  Megareusis.  Der  Xylander'sebeii  Bearbeitung  der  ersten 
sechs  planimetrischen  Bücher  sind  nicht  allzuviele  Verdienste  nachzu- 
rühmen. Die  Beweise  z.  B.,  von  welchen  Xylander  wie  seine  Vor- 
gänger und  wie  noch  viele  Nachfolger  annahmen,  dass  sie  gar  nicht 
dem  Euklid  angehörten,  sondern  Zusätze  des  Theon,  des  Hypsikles, 
des  Campanus  seien,  die  er  unterschiedslos  nach  einander  aufzählt,  hat 
er  mitunter  weggelassen,  „flögen  auch  etiva  scJnverlich  von  Ungelehrteu 
hegriff'en  werden,  und  ein  einfältiger  deutscher  Liebhaher  dieser  Künste 
ist  ivold  zufrieden^  so  er  die  Sacke  versteht,  oh  er  wohl  die  Demonstra- 
tion nicht  weiss.''  Statt  der  Beweise  müssen  nicht  selten  Zahlen- 
beispiele dienen,  welche  Xylander  als  seinen  Zwecken  entsprechender 
ansah,  und  die  Beweise  und  Erklärungen,  die  er  giebt,  sind  zum  Theil 
überaus  kläglich.  Dass  auf  wirkliche  Schwierigkeiten,  wie  sie  z.  B. 
die  Lehre  von  den  Parallellinien  oder  von  den  Berührungen  bietet, 
nicht  mit  einer  Silbe  eingegangen  ist,  erscheint  demnach  nur  als 
selbstverständlich.  Ungleich  wichtiger  ist  eine  Veröffentlichung  Xy- 
lander's  aus  dem  Jahre  1575,  in  welcher  er  keinerlei  Vorgänger  be- 
sass,  vielmehr  einen  ungemein  schwierigen  Schriftsteller  des  Alter- 
thums  für  Europa  erstmalig  lesbar  machte:  seine  lateinische 
Diophantübersetzung^).  Wohl  hatte  Regiomontanus  (S.  263) 
Diophant's  Arithmetik  in  Italien  gesehen  und  ihren  hohen  Werth 
erkannt,  wohl  hatte  1572  ein  Italiener,  Bombelli,  der  uns  als  alge- 
braischer Schriftsteller  wieder  begegnen  wird,  in  Gemeinschaft  mit 
einem  anderen  Gelehrten,  Pazzi,  eine  Vaticanhandschrift  des  Diophant 
zu  übersetzen  angefangen  und  davon  sowie  von  dem  nachmaligen 
Scheitern  ihres  Unternehmens  in  einer  Vorrede  von  1572  Mittheilung 
gemacht^),  aber  Xylander's  Bemühungen  waren  davon  ganz  unab- 
hängig, und,  was  die  Hauptsache  ist,  sie  waren  erfolgreich.  Auf 
einer  Reise  nach  Wittenberg  wurde  Xylander  von  dortigen  Professoren 
auf  den  griechischen  Arithmetiker  aufmerksam  gemacht,  indem  er  bei 
ihnen  die  Abschrift  eines  Bruchstückes  zu  sehen  bekam.  Ein  ge- 
wisser Andreas  Dudicius  Sbardellatus,  Gesandter  des  römischen  Kaisers 
am  polnischen  Hofe,  wurde  ihm  als  Besitzer  eines  vollständigen  Codex 
genannt.  An  diesen  wandte  sich  Xylander,  erhielt  ohne  Verzug  die 
Handschrift  mit  der  dringenden  Ermunterung  zur  Herausgabe  und 
vollzog  die  Uebersetzung,  welche  1575  in  Basel  die  Presse  verliess. 
Ein  griechischer  Text  war  allerdings  nicht  mit  abgedruckt,  mancherlei 
Fehler  der  Uebersetzung  sind  später  nachgewiesen  worden,  allein  das 


^)  Nesselmann,  Algebra  der  Griechen  S.  279 — 280.  -i  Vergl.  S.  4  der 
nicht  paginirten  Vorrede  Agli  Lettori  in  der  Algebra  von  Rafael  Bombelli 
(Venedig  1572). 


552  67.  Kapitel. 

Eine  wie  das  Andere  findet  volle  Entscliuldigung  darin,  dass  dem 
Uebersetzer  nur  ein  einziger  Text  zur  Verfügung  stand.  Statt  Splitter- 
richterei  zu  üben ,  sollte  man  vielmehr  das  grosse  Verdienst  Xylan- 
der's  um  die  Neuentdeckung  des  geistreichen  Werkes  anerkennen, 
welches  alsbald  von  den  hervorragendsten  Geistern  insbesondere  in 
Frankreich  und  Belgien  studirt  wurde  und  ungeahnte  Früchte  trug. 
In  der  Xylander'schen  Diophantübersetzuug  findet  sich  auf  S.  9  und 
öfter  ein  Gleichheitszeichen  in  Gestalt  zweier  senkrechten  Parallel- 
striche II  .  Ueber  den  Ursprung  des  Zeichens  ist  nichts  angegeben. 
Vielleicht  war  in  Xylander's  griechischer  Vorlage  das  Wort  I'öol  durch 
zwei  L  abgekürzt,  während  eine  Pariser  Handschrift  bekanntlich  ein 
i  als  Abkürzungszeichen  dafür  benutzt  (Bd.  I,  S.  442).  Da  die  von 
Xylander  benutzte  Handschrift  mit  grosser  Wahrscheinlichkeit  die- 
jenige ist,  welche  gegenwärtig  als  Cod.  Guelferbytanus  Gudianus  1 
in  Wolfenbüttel  aufbewahrt  wird^),  so  möchte  es  sich  lohnen,  dort 
einmal  nachzusehen.  Jedenfalls  erkennt  man  aus  Xylander's  Zeichen, 
dass  das  von  Recorde  erfundene  damals,  also  18  Jahre  nach  dessen 
Veröffentlichung  (S.  479),  sich  noch  nicht  verbreitet  hatte.  Der  Dio- 
phant  ist  dem  Herzoge  Ludwig  von  Württemberg  zugeeignet.  Es 
wird  zwar  berichtet,  dieser  habe  die  Widmung  durch  ein  Geschenk 
von  500  Thalern  beantwortet,  doch  betrug  dasselbe  in  Wahrheit  nur 
50  Thaler,  so  dass  Xylander,  der  sich  fortwährend  in  Geldverlegen- 
heiten befand,  noch  in  dem  gleichen  Jahre  1575  oder  zu  Anfang  von 
1576  kurz  vor  seinem  Tode  sich  bei  der  Universitätsbehörde  um  ein 
Darlehen  von  50  Gulden  bewarb,  gegen  welches  er  sein  Silberzeug 
zu  verpfänden  sich  erbot. 

Zehn  Jahre  später  1585  gab  ein  belgischer  Mathematiker,  der 
uns  mehrfach  beschäftigen  wird,  Simon  Stevin'^),  eine  französische 
Bearbeitung  der  ersten  vier  Bücher  des  Diophant  heraus. 

Einer  ganz  eigenthümlichen  Behandlungsweise  des  VII.  Buches 
der  Euklidischen  Elemente  bediente  sich  1564  ein  gewisser  Johan- 
nes Sthen^)  aus  Lüneburg.  Philomathes  und  Orthophronius  imter- 
halten  sich  über  mathematische  Dinge,  und  bei  dieser  Gelegenheit 
werden  Erklärungen  und  Sätze  jenes  VII.  Buches  griechisch  angeführt. 
Die  lateinische  Uebersetzung  und  Erläuterung  folgt  jedesmal  unmittel- 
bar, aber  kein  Beweis.  Statt  dessen  dienen  vorzugsweise  Zahlen- 
beispiele. Auch  das  VIII.  und  IX.  Buch  wollte  Sthen  in  ähnlicher 
Weise  bearbeiten,  doch  scheint  er  nicht  dazu  gekommen  zu  sein. 


*)  P.  Tannery  im  11.  Bande  seiner  in  der  Bibliotheca  Teubneriana  erschie- 
nenen Diophantausgabe,  Prolegomena  pag.XXVIII — XXIX,  Nr.  11.  ^)  Quetelet 
pag.  159,  Note  1.         ^)  Kästner  I,  132—134. 


Geschichte   der  Mathematik.     Chissikerausgaben.     Geometrie.     Mechanik.      553 

Um  die  gleiche  Zeit  erschienen  1564  bis  1566  in  Strassburg  Ab- 
drücke und  Bearbeitungen  der  Euklidischen  Elemente  in  griechischer 
und  lateinischer  Sprache,  bei  deren  Zusammenstellung  Conrad  Dasy- 
podius  und  Christian  Herlinus  ^)  theilweise  zusammengewirkt 
hatten,  ersterer  in  weitesten  Kreisen  bekannt  durch  die  von  ihm  er- 
fundene und  ausgeführte,  sowie  1578  beschriebene  kunstreiche  Uhr 
im  Strassburger  Münster^).  Die  von  Dasypodius  allein  veranstalteten 
Abdrücke  enthalten  den  Euklidischen  Text  in  griechischer  und  latei- 
nischer Sprache  neben  einander.  Die  Bearbeitung  der  sechs  ersten 
Euklidischen  Bücher,  zu  welcher  Beide  in  der  Weise  sich  vereinigten, 
dass  Herlinus  Buch  I  und  V,  Dasypodius  Buch  H,  HI,  IV,  VI  über- 
nahm, lassen  alle  Folgerungen  in  der  Form  schulgerechter  Schlüsse 
erscheinen,  eine  wohl  ziemlich  zwecklose  Künstelei,  welche  aber  da- 
mals anders  beurtheilt  worden  sein  muss,  sonst  wäre  nicht  1571  eine 
neue  Auflage  möglich  gewesen. 

Als  einer  der  fleissigsten  Uebersetzer  und  Herausgeber,  wobei 
das  lobende  Beiwort  Geltung  behält,  auch  wenn  wir  den  Vergleich 
auf  Herausgeber  aller  Jahrhunderte  ausdehnen,  muss  Federigo  Com- 
mandino^)  (1509 — 1575)  von  Urbino  gerühmt  werden.  Schriften 
des  Ptolemäus,  des  Archimed,  des  ApoUonius,  des  Euklid,  des  Aristarch, 
des  Pappus,  des  Heron  hat  er  übersetzt,  und  diese  Bearbeitungen  er- 
schienen in  den  Jahren  1558  bis  1592,  also  bis  zu  17  Jahren  nach 
Commandino's  Tode.  Einzelne  dieser  Uebersetzungen ,  insbesondere 
die  des  Pappus,  sind  Jahrhunderte  lang  die  einzigen  geblieben,  welche 
überhaupt  vorhanden  waren,  und  sie  mussten  sogar  den  Urtext  er- 
setzen, welcher  noch  nicht  gedruckt  worden  war.  Neben  seiner 
mathematischen  Uebersetzungsthätigkeit   war  Commandino  auch  Arzt. 

Ein  griechisch  zwar  schon  in  Verbindung  mit  den  Euklidischen 
Elementen  durch  den  älteren  Grynäus  herausgegebener  Schriftsteller 
war  Proklus.  Seine  Uebersetzung  stellte  ein  venetianischer  Edelmann 
Francesco  Barozzi^),  lateinisch  Barocius  (etwa  1538  bis  nach 
1587)  sich  als  Aufgabe,  und  diese  Uebersetzung  erschien  1565.  Auch 
Schriften  von  Heron  hat  Barozzi  übersetzt,  wenngleich  diese  Ueber- 
setzungen sich  wegen  des  äusserst  mangelhaften  Zustandes  des  zu 
Grunde  liegenden  Textes  nicht  sehr  brauchbar  erweisen  konnten. 

Immer  blieb  noch  Euklid  der  meistbevorzugte  griechische  Schrift- 
steller,  wie    einige   Namen    bestätigen,    welche    wir  jetzt  zu   nennen 


1)  Kästner  I,  332—334.  ^)  Ebenda  II,  215— 221.  —  Wilhelm  Schmidt, 
Heron  von  Alexandrien,  Konrad  Dasypodius  und  die  Strassburger  astronomische 
Münsteruhr.  Zeitschr.  Math.  Phys.  XLH,  Supplementheft  S.  177—194.  ^)  Libri 
III,  118—121.  *)  Vossius   pag.  336. 


554  67.  Kapitel. 

haben.  Da  tritt  uus  der  sogeuaunte  Euklid  des  Candalla  gegen- 
über. Frauyois  de  Foix-Candale^)  (etwa  1502 — 1594)  war  aus 
königlichem  Blute,  wie  in  Distichen  gerühmt  wird,  welche  zu  Anfang 
der  Euklidausgabe  stehen.  Er  war  Bischof  im  südlichen  Frankreich 
und  trieb  Mathematik  aus  innerem  Drange.  Die  Ausgaben  der 
Euklidischen  Elemente  von  Campanus  und  von  Theon  —  unter  letzterem 
Namen  ist  die  von  Zamberti  verstanden  —  machten  ihn  stutzig.  Ent- 
weder müssen  der  Verschiedenheit  dieser  Ausgaben  gemäss  mehrere 
Euklide  gewesen  sein,  oder  des  einzigen  Schriftstellers  Werk  müsse 
vielfache  Veränderung  erlitten  haben.  Dann  war  aber  eine  Wieder- 
herstellung geboten,  und  dieser  Aufgabe  unterzog  sich  Candale  oder 
Flussates,  wie  sein  Name  (von  Foix  abgeleitet)  sich  gleichfalls 
geschrieben  findet.  Unter  dem  Eigenen,  welches  Candale  bei  dieser 
Bearbeitung  bot,  nennen  wir  seine  Bemerkung  zu  Euklid  III,  16. 
Der  Berührungswinkel,  sagt  er,  sei  von  anderer  Art  als  ein  gerad- 
liniger, also  kein  Wunder,  dass  er  kleiner  sei  als  jeder  geradlinige, 
und  dass  es  doch  unter  den  Berührungswinkeln  immer  kleinere  und 
kleinere  gebe.  Die  Art  des  Berührungswinkels  sei  eben  kleiner 
als  die  des  geradlinigen,  wie  die  grösste  Mücke  kleiner  sei  als  das 
kleinste  Kameel.  Candale  hielt  sich  bei  einer  Bearbeitung  von 
einiger  Freiheit  für  berechtigt,  den  Elementen  neue  Bücher  eigener 
Erfindung  über  regelmässige  Körper  hinzuzufügen.  Der  erste  Ab- 
druck von  1566  enthält  ein  solches  Zusatzbuch,  der  zweite  von 
1578  deren  drei.  Unter  den  neuen  Körpern  ist  einer  durch  6  Qua- 
drate und  8  Dreiecke,  ein  anderer  durch  20  Dreiecke  imd  12  Fünf- 
ecke begrenzt.  Exodaedron  und  Icosidodecacdron  sind  die  Namen, 
welche  für  jene  Körper  vorgeschlagen  sind. 

Das  Jahr  1570  ist  das  Druckjahr  des  ersten  englischen  Euklid^). 
Sir  Henry  Billingsley  war  der  Uebersetzer.  Als  Gehilfe  diente 
ihm  dabei  eine  ungleich  interessantere  Persönlichkeit,  zu  welcher  wir 
uns  wenden. 

John  Dee^)  (1527 — 1608)  verliess  England  schon  mit  21  Jahren. 
Er  lehrte  1549  in  Löwen,  1550  in  Paris.  Seine  Zuhörer,  meist  älter 
als  er  selbst,  waren,  wie  er  erzählt,  so  zahlreich,  dass  kein  geschlossener 
Raum  sie  fasste;    ein  Theil   drängte  sich  von  aussen  an  die  Fenster, 


^)  Kästner  I,  313 — 324.  —  Poggendorff  I,  764  unter  dem  Namen 
Fhissates.  P.  Tannery  in  dem  Bulletin  Barhoux  XXVIII,  59  (1893)  macht  da- 
rauf aufmerksam,  dass  die  Linie  Foix-Candale  ihren  Namen  von  der  englischen 
Grafschaft  Kendal  entnommen  habe,  mit  welcher  ihr  Gründer  belehnt  worden 
war.  -)  Ball,  WMorij  of  mathematics  at  Cambridge  pag.  22 — 23.  ^)  Kästner 
n,  46—47  und  I,  •272.  —  Encyclopaedia  Britannica  (ed.  IX)  VII,  22.  —  Ball  1.  c. 
pag.  19—21. 


Geschichte  der  Mathematik.     Classikerausgahen.     Geometrie.     Mechanik.       555 

um  so  bestmöglich  hören  luul  sehen  zu  können.  Eine  Berufung  nach 
Oxford  lehnte  er  1554  ab.  Mit  dem  Beginne  der  Regierung  von 
Königin  Elisabeth,  also  etwa  1558,  trat  dagegen  Dee  in  königliche 
Dienste.  Im  Jahre  1564  begab  er  sich  nach  Deutschland  zu  Kaiser 
Maximilian  IL,  dem  er  eine  Schrift  zugeeignet  hatte.  1570  erschien 
Dee  in  Urbino  bei  Commandino.  Er  brachte  die  Uebersetzung  der 
Euklidischen  Schrift  von  der  Theilung  der  Figuren  mit  (Bd.  I,  S.  272), 
deren  arabische  Bearbeitung  durch  Mohammed  Bagdadinus  er  um 
1563  in  der  Bibliotheca  Cottoniana  ^)  aufgefunden,  übersetzt  und  als 
euklidisch  erkannt  hatte,  ein  Beweis  für  Dee's  Sprachkenntnisse  wie 
nicht  minder  für  sein  umfassendes  Wissen  in  mathematisch-geschicht- 
licher Beziehung.  Der  Druck  des  Werkchens  wurde  1570  durch  Dee 
und  Commandino  gemeinschaftlich  veranstaltet  und  erfolgte  1703  auf's 
Neue  in  der  von  David  Gregory  besorgten  Gesammtausgabe  der 
Euklidischen  Werke.  Dee's  Wanderleben  führte  ihn  auch  1571  nach 
Lothringen,  1578  wieder  nach  Deutschland,  dazwischen  wiederholt 
nach  England,  1583  nach  Polen  und  Böhmen,  wo  er  viel  mit  Alchymie 
sich  beschäftigte  und  in  Folge  dessen  bei  Kaiser  Rudolf  IL  in  grosser 
Gunst  stand.  Zuletzt  lebte  er  in  England  in  Noth  und  Zurück- 
gezogenheit, weil  er  um  einiger  mechanischer  Kunstwerke  willen,  die 
er  angefertigt  hatte  und  in  Folge  einer  sehr  auffälligen  Tracht,  die 
er  anzulegen  sich  gewöhnt  hatte,  für  einen  Zauberer  gehalten  und  von 
Jedermann  gemieden  wurde. 

Die  lateinische  Ausgabe  der  euklidischen  Elemente 
von  Clavius  gehört  dem  Jahre  1574  an  und  wurde  1589,  1591, 
1603,  1607,  1612  neu  aufgelegt.  Christoph  Clavius^),  ursprünglich 
Schlüssel,  ist  1537  in  Bamberg  geboren.  Er  war  Mitglied  des 
Jesuitenordens  und  lehrte  14  Jahre  lang  Mathematik  in  dem  Collegium 
seines  Ordens  in  Rom.  Dort  starb  er  1612.  Weiten  Kreisen  ist  er 
bekannt  als  einer  der  Mitarbeiter  an  dem  Werke  der  Kalender- 
verbesserung, zu  welchem  Papst  Gregor  XIII.  ihn  beizog.  Die 
zahlreichen  neuen  Auflagen,  in  welchen  sein  Euklid  gedruckt  werden 
musste,  beweisen  die  hohe  Anerkennung,  welche  dieses  Werk  fand, 
und  selten  ist  eine  solche  Anerkennung  in  gleich  hohem  Maasse  ver- 
dient gewesen.  Clavius  hat  in  einem  umfang-  und  inhaltreichen 
Bande  vereinigt,  was  die  früheren  Herausgeber  und  Erklärer  da  imd 
dort  zerstreut  mitgetheilt  hatten.  Er  hat  bei  dieser  Sammlung  scharfe 
Kritik  geübt,  alte  Irrthümer  aufgedeckt  und  vernichtet.    Er  ist  keiner 


^)  Von  Sir  Robert  Cotton  angelegt,  wurde  diese  Sammlung  1700  Staats- 
eigenthum  und  befindet  sich  gegenwärtig  im  Britischen  Museum  in  London. 
^)  Allgem.  deutsche  Biogi-aphie  IV,  298 — 299,  Artikel  von  Bruhns. 


556  67.  Kapitel. 

einzigen  Schwierigkeit  aus  dem  Wege  gegangen.  Er  hat  vielfach 
eigene  Erläuternngsversuche  mit  Glück  gewagt.  Nur  wenige  Einzel- 
heiten wollen  wir  hervorheben.  Ob  wir  gleich  das  Erste,  welches 
wir  erwähnen,  die  Benutzung  des  Wortes  fluere  bei  der  Beschrei- 
bung der  Entstehung^)  von  Linien  und  Oberflächen  mittels  fliessen- 
der  Punkte  und  Linien  Clavius  zuschreiben  dürfen ,  ist  bei  der 
grossen  Aehnlichkeit  seiner  Ausdrucksweise  mit  der  von  Petrus 
Philomeui  von  Dacien  (S.  91)  gebrauchten  fast  zweifelhaft.  Die 
Parallelen theorie  sucht  Clavius -)  auf  folgende  beide  Sätze  zu  stützen: 
1.  Eine  Linie,  deren  einzelne  Punkte  gleich  weit  von  einer  derselben 
Ebene  mit  ihr  augehörenden  Geraden  abstehen,  ist  gerade.  2.  Wenn 
eine  Gerade  längs  einer  anderen  Geraden  so  hingeschoben  wird,  dass 
beide  fortwährend  einen  rechten  Winkel  mit  einander  bilden,  so  be- 
schreibt auch  der  andere  Endpunkt  der  verschobenen  Geraden  eine 
Gerade.  Bei  Clavius^)  dürfte  als  einem  der  Ersten  die  jetzt  wohl 
allgemein  angenommene  Ansicht  ausgesprochen  sein,  dass  die  Ent- 
stehung des  pythagoraeisches  Lehrsatzes  eine  zahlentheoretische  von 
der  Gleichung  3-  +  4-  =  5^  aus  war,  und  dass  erst  in  zweiter  Linie 
die  Verallgemeinerung  desselben  auf  jedes  rechtwinklige  Dreieck 
stattfand.  Der  Irrthum,  dass  Euklid  von  Megara  Verfasser  der  Elemente 
gewesen  sei,  wird  von  Clavius  endgiltig  abgethan,  während,  wie  wir 
noch  sehen  werden,  der  andere  Irrthum,  als  wenn  nur  die  Lehrsätze 
von  Euklid,  die  Beweise  dagegen  von  Theon  herrührten,  bereits  1559 
durch  Buteo  beseitigt  war.  Unter  den  Prolegomena  genannten  Vor- 
bemerkungen findet  sich  ein  Abschnitt  über  die  Persönlichkeit  des 
Euklid,  und  in  diesem  ist  ausdrücklich  des  Gegensatzes  gedacht, 
welcher  zwischen  den  Berichten  des  Proklos  und  des  Valerius  Maximus 
obwaltet,  und  ist  die  Entscheidung  im  Sinne  des  Proklos  getroffen: 
unser  Euklid,  der  so  scharfsinnige  Geometer,  ist  ein  durchaus  Anderer 
als  der  Philosoph  von  Megara*).  Davon,  dass  Euklid  die  Beweise 
nicht  selbst  verfasst  haben  sollte,  ist  bei  Clavius  nur  so  weit  die 
Rede,  als  er  es  durchaus  verwirft^).  Dagegen  ist  nach  den  Axiomen 
und  unmittelbar  vor  dem  Satze  I,  1  ausdrücklich  gesagt^),  es  seien 
Unterschiede  zwischen  der  theonischen  Ueberlieferung,  traditw  TJwonis, 
und  der  von  Campanus  befolgten  arabischen  Ueberlieferung,  ordo  quem 
Campanus  ex  traditiotie  Ardbum  est  secutus,  vorhanden,   welche  man 


*)  Euclidis  Elementa  ed.  Clavius.  Köln  1591  (IIl.  ed.)  pag.  2  und  pag.  3. 
^)  Ebenda  pag.  50—51.  Vergl.  Stäckel  und  Engel,  Die  Theorie  der  Parallel- 
linien von  Euklid  bis  auf  Gauss  (Leii^zig  1895)  S.  17 — 18.  ^  Clavius  1.  c. 
pag.  85.  *)  Itaque  Euclides  noster ,  Geometra  aeutissimus,  ab  ilJo  Megareo 
Philosopho  longe  alius  est.  ^)  Clavius  1.  c.  II,  pag.  191.  ®)  Ebenda  I, 
pag.  19. 


Geschichte  der  Mathematik.     Classikerausgaben.     Geometrie.     Mechanik.      557 

kennen  müsse,  wenn  man  nicht  durch  Verweisungen,  welche  bald  die 
eine,  bald  die  andere  Ausgabe  berücksichtigen,  in  Verwirrung  gerathen 
solle.  Desshalb  ist  jeder  Satz  des  Clavius  mit  doppelter  Bezifferung  ver- 
sehen, einer  im  Texte  fortlaufenden  nach  Theon,  einer  Randbezifferung 
nach  Campanus,  d.  h.  also  nach  den  Arabern,  und  grade  die  dadurch  in 
leichter  Weise  ermöglichte  Vergleichung  der  einander  entsprechenden 
Ordnungszahlen,  welche  gestattet,  ohne  Mühe  zu  erkennen,  ob  ein 
mittelalterlicher  Schriftsteller  nach  dem  arabischen  oder  nach  dem 
griechischen  Euklid  seine  geometrischen  Kenntnisse  sich  erworben 
habe,  lässt  die  Ausgaben  von  Clavius  noch  heute  für  geschichtliche 
Untersuchungen  das  Beiwort  der  Unentbehrlichkeit  verdienen. 

Von  einer  spanischen  Uebersetzung  ^)  der  6  ersten  Bücher  der 
euklidischen  Elemente,  welche  1576  in  Sevilla  gedruckt  wurde,  ist 
uns  nur  der  Name   des  Uebersetzers  Rodrigo    Zamorano   bekannt. 

Ein  Neapolitaner  Giuseppe  Auria-)  übersetzte  auf  Grundlage 
einiger  im  Vatican  befindlichen  Codices  geometrisch -astronomische 
Schriften  des  Theodosius,  welche  1587  und  1588  gedruckt  wurden. 
Eine  Diophantübersetzung  ins  Lateinische  soll  ebenderselbe  an- 
gefertigt haben ,  über  deren  handschriftliches  Vorhandensein  be- 
richtet wird. 

Baldi,  der  gelehrte  Abt  von  Guastalla  (S.  547),  übersetzte  die 
Automaten  des  Heron  und  gab  sie  1589  im  Drucke  heraus.  Die 
Origiualhandschrift  dieser  Uebersetzung  ist  im  Besitze  Libri's^),  eines 
Liebhabers  solcher  Schriftstücke,  der  sie  zu  beurtheilen  verstand, 
gewesen.  Nach  seiner  Aussage  wäre  die  Ausführung  der  Feder- 
zeichnungen zu  den  Figuren  von  wunderbarer  Vollendung  gewesen, 
wodurch  der  Bericht  an  Glaubwürdigkeit  gewinnt,  dass  Baldi  eben- 
soviele  Begabung  als  Neigung  zur  Malerei  besessen  habe  und  nur  mit 
Gewalt  von  seinen  Lehrern  abgehalten  worden  sei,  sich  der  Kunst  zu 
widmen^).  Auch  Heron's  Schrift  über  Wurfgeschosse  hat  Baldi  über- 
setzt, doch  fand  diese  erst  IGIG  Veröffentlichung^). 

Ein  für  die  damalige  Zeit  hochmerkwürdiges  Druckwerk  ist  die 
arabische  Bearbeitung  der  euklidischen  Elemente  von  Nasir  Eddin 
(Bd.  I,  S.  735),  welche  1594  in  Rom  erschien^).  Es  wird  berichtet, 
dass  Baldi  grade  dieses  Buch  mit  Vorliebe  in  den  Nachmittagsstunden 
gelesen  habe'^). 

Als  letzten  Uebersetzer  von  Schriften  des  Alterthums  nennen  wir 
einen  Mann,  der  seiner  Lebenszeit  nach  schon  wesentlich  früher  hätte 

^)  Kästner  I,  263.  *)  Montucla  I,  564.  —   Diophant  übersetzt  von 

Otto    Schulz    (Berlin    1822\    Vorbericht    S.  XLH— XLIH.  »)   Libri  IV,  72. 

*)  Ebenda  IV,  70.  »)  Ebenda   IV,  77,  Notel.  ")  Kästner  I,  367  flgg. 

^)  Libri  IV,  75. 


558  C'''-  Kapitel. 

erwähnt  werden  müssen,  und  dessen  Bearbeitungen  eine  ganze  Anzahl 
anderweitiger  Bemühungen  überflüssig  gemacht  hätten ,  wenn  sie 
rechtzeitig  zum  Drucke  gegeben  worden  wären.  Francesco  Mau- 
rolico^)  (1494 — 1575)  von  Messina  war  wie  Keiner  befähigt  grade 
solchen  Arbeiten  sich  zu  widmen.  Sein  Vater,  ein  byzantinischer  Arzt, 
war  vor  den  Türken  fliehend  nach  Sicilien  gekommen  und  unter- 
richtete selbst  den  hoffnungsvollen  Sohn  in  Naturwissenschaften  und 
Astronomie  sowie  in  der  griechischen  Sprache,  die  überdies  in  Sicilien 
keineswegs  ausgestorben  war.  Francesco  Maurolico,  mit  latinisirtem 
Namen  Maurolycus,  auch  wohl  Maroli  genannt,  wurde  Geistlicher, 
seine  wissenschaftliche  Thätigkeit  aber  griä"  nach  allen  Fächern  über. 
Die  blossen  Titel  der  von  ihm  theils  vollendeten,  theils  geplanten 
Werke  füllen  ganze  Seiten.  Die  Stadt  Messina  ernannte  ihn  zu  ihrem 
Geschichtsschreiber.  Physikalische  und  besonders  meteorologische  Be- 
obachtungen, welche  er  anstellte,  gaben  ihm  unter  den  Physikern 
einen  ehrenvollen  Platz.  Dabei  fand  er  noch  Zeit,  die  Festungsbauten 
von  Messina  bei  ihrer  Herstellung  zu  überwachen,  schrieb  er  zahl- 
reiche, handschriftlich  vorhandene  und  in  unserer  Zeit  gedruckte 
mathematische  Abhandlungen.  Für 's  Erste  haben  wir  es  nur  mit 
seinen  Uebersetzungen  zu  thun.  Nur  ein  Sammelband  ist  1558  bei 
Maurolico's  Lebzeiten  erschienen.  Seinen  Inhalt  bilden  die  Sphärik 
des  Theodosius,  die  des  Menelaus,  eine  eben  solche  von  Maurolico 
selbst,  das  Buch  des  Autolykus  von  der  bewegten  Kugel,  Theodosius 
über  die  bewohnte  Erde,  die  Phaenomena  des  Euklid.  Nur  seltene 
Exemplare  dieses  Bandes  haben  sich  erhalten-).  Noch  im  XVI.  Jahr- 
hunderte, aber  erst  nach  dem  Tode  des  Uebersetzers,  erschienen  1591 
die  euklidischen  Phaenomena  abermals.  Die  beiden  wichtigsten  Ueber- 
setzungen blieben  dagegen  fast  ein  volles  Jahrhundert  der  Oeffent- 
lichkeit  vorenthalten.  Die  Kegelschnitte  des  Apollonius  erschienen  1654. 
Maurolico  hat  hier  erstmalig  einen  Versuch  gewagt,  der  später  viel- 
fach den  Scharfsinn  der  Mathematiker  in  Bewegung  setzt,  den  einer 
sogenannten  Restitution.  Nur  4  Bücher  Kegelschnitte  haben 
griechisch  sich  erhalten.  Maurolico  stellte  nun  nach  den  ziemlich 
dürftigen  Angaben  über  den  Inhalt  der  folgenden  Bücher,  welche 
da  und  dort  vorkommen,  diese  wieder  her,  allerdings  ein  missglückter 
Versuch,  wie  sich  herausstellte,  als  im  XVII.  Jahrhunderte  wenigstens 
das  5.,  6.  und  7.  Buch  in  arabischer  Bearbeitung  aufgefunden  wurden, 


1)  Kästner  II,  64—74.  —  Libri  III,  102—118;  IV,  241.  —  F.  Napoli  im 
BuUetino  Boiwompagni  (1876)  IX,  1—22.  -)  Hultsch,  Vorrede  zur  Ausgabe 

des  Autolykos  (Leipzig  1885)  pag.  XVI,  Note  17:  Mawolyci  libri  quamvis  typis 
olim  expressi  exempla  nunc  multo  rariora  sunt  quam  Autolyci  Codices  Graeci 
manu  scripti. 


Geschichte   der  Mathematik.     Classikeraiisgaben.     Geometrie.     Mechanik.      559 

aber  immerhin  Interessantes  bietend^  insbesondere  wo  es  um  grösste 
und  kleinste  Werthe  sich  handelt,  welche  gewisse  mit  den  Kegel- 
schnitten in  Verbindung  stehende  Strecken  annehmen,  eine  Gattung 
von  Untersuchungen,  welche  den  Inhalt  des  fünften  Buches  bildet. 
Am  hervorragendsten  ist  die  Archimedübersetzung  Maurolico's,  der 
sich  unter  den  Zeitgenossen  schon  den  Namen  des  zweiten  Archi- 
med  erworben  hatte.  Erst  1670  begann  man  den  Druck  dieser  Be- 
arbeitung, welcher  nach  mannigfachen  Zwischenfällen  gar  erst  1685 
in  Palermo  vollendet  wurde. 

Wir  haben  eine  ziemlich  grosse  Anzahl  von  Schriftstellern  aller 
Länder  genannt,  welche  Uebertragung  der  Werke  griechischer  Mathe- 
matiker bald  ins  Lateinische,  bald  in  die  lebenden  Sprachen  sich  an- 
gelegen sein  Hessen,  und  wir  haben,  wie  wir  (S.  548)  es  aussprachen, 
nicht  einmal  auf  Vollständigkeit  in  dieser  Beziehung  gesehen.  Die 
Wirkung  aller  dieser  Veröffentlichungen  blieb  nicht  aus.  Mit  der 
Vervielfältigung  der  Mittel  geometrische  Kenntnisse  zu  erwerben 
wnchs  die  Verbreitung  dieser  Kenntnisse,  mit  dieser  deren  Werth- 
schätzung.  Hatte  man  lange  genug  den  ersten  Unterricht,  so  weit 
er  überhaupt  Mathematisches  enthielt,  auf  das  Rechnen  beschränkt, 
so  drängte  jetzt  die  Geometrie  sich  vor.  Von  Heinrich  von  Navarra, 
dem  nachmaligen  Heinrich  IV.  von  Frankreich,  und  von  dessen  Freund 
Coligny  wissen  wir,  dass  sie  als  Knaben  hauptsächlich  zwei  Werke 
zu  lesen  bekamen,  Plutarch's  Lebensbeschreibungen  und  Euklid's 
Elemente^).  Schriftsteller  über  Geometrie  traten  auf,  in  erster 
Linie  jene  Uebersetzer  selbst,  welche  nicht  immer  sich  damit  begnüg- 
ten, nur  das  Alte  in  neuer  Sprache  wiederzugeben,  welche  vielmehr 
es  liebten,  in  Gestalt  von  Erläuterungen  von  dem  Ihrigen  hinzuzu- 
thuu.  Die  Lehre  vom  Contingenzwinkel  bot  zu  solchen  eigenen 
Gedanken  reichlich  Gelegenheit.  Mit  ihr  hat  sich,  wie  wir  (S.  554) 
beiläufig  erwähnten,  Candale  einigermassen  beschäftigt.  Cardano's 
Auffassung,  hauptsächlich  in  dem  Opus  novum  de  proportionibus  nieder- 
gelegt, haben  wir  (S.  533—535)  vorgreifend  geschildert,  als  wir 
die  Gesammtthätigkeit  dieses  geistreichen  Mannes  darlegten.  Damals 
nannten  wir  Peletier  als  den  Vertreter  einer  anderen  Meinung, 
welche  er  in  einer  Eukhdausgabe  aussprach;  als  wir  jedoch  (S.  549) 
jener  Euklidausgabe  von  1557  gedachten,  verwiesen  wir  auf  später, 
um  von  den  Anmerkungen  zu  reden,  worunter  wir  eben  das  auf  den 
Contingenzwinkel  Bezügliche  verstanden.  Wir  wollen  jetzt  diese  Zu- 
sage erfüllen,  indem  wir  an  den  ausführlichen  Bericht  uns  anlehnen, 


')  De  Jouy,    Lliermite  en  province.     Le  Berceau  de  Henry  IV.    No.  XIV. 
28.  Juni  1817  ed.  Mozin  II,  77. 


560  G7.  Kapitel. 

welchen  Clavius  in  seiner  Euklidausgabe  gegeben  bat  ^).  Darnach 
hat  Peletier  die  Schwierigkeit  dadurch  zu  heben  versucht,  dass  er 
den  Contingenz Winkel  gar  nicht  als  einen  Winkel  betrachtete,  er  sei 
ein  Nichts,  und,  was  genau  damit  übereinstimmt,  der  Winkel,  welchen 
der  Kreis  mit  dem  Durchmesser  bilde,  sei  von  dem  rechten  Winkel 
nicht  im  mindesten  verschieden.  Clavius  seinerseits  meint,  wenn 
dem  so  wäre,  würde  eine  Schwierigkeit  überhaupt  niemals  vorhanden 
gewesen  sein,  denn  der  Euklidische  Satz  III,  16  besage  dann  nur, 
dass  das  Nichts  kleiner  sei  als  ein  spitzer  Winkel,  und  das  bedürfe 
nicht  erst  eines  Beweises.  Man  komme  vielmehr  nur  so  über  die 
Sache  hinaus,  dass  man  mit  Cardano  (er  hätte  hinzufügen  können 
auch  mit  Candale,  den  er  in  der  That  an  einer  Stelle^)  neben  Car- 
dano nennt)  den  Contingenzwinkel  zwar  für  ein  Etwas,  für  einen 
Winkel,  aber  für  einen  Winkel  anderer  Art,  als  der  geradlinige  sei, 
erkläre.  Ein  Grund,  welchen  Peletarius  scharfsinnig 
genug  für  seine  Meinung  anführte,  war  folgender:  Die 
Winkel,  welche  (Figur  107)  concentrische ,  immer 
grösser  werdende  Kreise  mit  dem  allen  gemeinsamen 
Durchmesser  bilden,  werden  vom  kleineren  zum  grösse- 
ren Kreise  verglichen  jedenfalls  nicht  kleiner,  denn 
sonst  könnte,  wenn  man  den  äusseren  Halbkreis  längs 
des  Durchmessers  bis  zur  Berührung  mit  dem  inneren 
Halbkreise  verschiebe,  sein  mit  dem  Durchmesser  ge- 
bildeter Winkel  den  des  kleinereu  Halbkreises  mit 
y.    jjj^  demselben    Durchmesser   nicht    umschliessen.     Grösser 

können  jene  Winkel  aber  auch  nicht  werden,  weil  sie 
sonst  bei  fortwährendem  Wachsen,  dem  niemals  ein  Ende  gesetzt 
zu  werden  brauche,  schliesslich  einmal  grösser  als  ein  rechter  Winkel 
werden  würden,  was  unmöglich  sei.  Folglich  seien  alle  jene  Winkel 
thatsächlich  gleich  und  der  bei  der  erwähnten  Verschiebung  auftre- 
tende Contingenzwinkel  sei  der  Unterschied  ganz  gleicher  Grössen, 
mithin  Nichts.  Clavius  fühlte  die  Stärke  des  ersten,  die  Schwäche 
des  zweiten  Theils  dieser  Beweisführung  und  entgegnete,  es  sei  ein- 
fach nicht  wahr,  dass  bei  fortwährender  Vergrösserung  eines  Winkels 
die  Grösse  des  rechten  Winkels  erreicht  oder  gar  übertroffen  werden 
müsse.  Man  denke  sich  nur  (Figur  108)  den  geradlinig  rechten  Winkel 
BAF.  Ziehe  man  AG,  so  weiche  CAF  von  dem  rechten  Winkel 
um  den  spitzen  Winkel  CAB  ab;  aber  man  könne  auch  AB,  AE 
und  unendlich  viele   andere   Gerade  ziehen,   deren   mit  AF  gebildete 


')    Euclidis   Ekmenta   ed.    Clavius,    Köln    1591    (ed.  III)    pag.  133— 14£ 
*)  Ebenda  pag.  144. 


Geschichte   der  Mathematik.     Classikerausgaben.     Geometrie     Mechanik.      561 

Winkel  grösser  und  grösser  werden,  ohne  jemals  den  rechten  Winkel 
7A\   erreichen.     Alle   übrigen  Gründe,   welche  von  beiden  Seiten,    und 

zwar,   wie  es  in  der  Regel  der  Fall  zu  sein    j^ * 

pflegt,  mit  um  so  grösserer  Heftigkeit  und 
Hartnäckigkeit,  je  weniger  schliesslich  bei 
dem  Streite'  herauskam,  ins  Gefecht  geführt 
wurden,  waren  von  ähnlicher  Art.  Wichtig 
erscheint  der  Begriff  der  Grenze,  welcher 
eine     fortwährend    wachsende     Grösse     sich  ^.    ,,^„ 

F:g.  108. 

nähert,    ohne  sie   zu   überschreiten,    wichtig 

der  Begriff  der  Krummlinigkeit,  der  als  zur  geraden  Linie  gegensätz- 
lich sich  bemerklich  macht,  wie  er  auch  von  der  einen  oder  von  der 
anderen  Partei  aufgefasst  wurde.  Wir  sprechen  von  der  einen  und 
von  der  anderen  Partei,  weil  der  Streit  nicht  zwischen  den  bis  hier- 
her genannten  Persönlichkeiten  zu  Ende  geführt  wurde.  Noch  Ströme 
von  Tinte  wurden  vergossen,  bis  erst  im  XVII.  Jahrhunderte  der 
Streit  über  den  Contingenzwinkel  aufhörte,  nicht  weil  eine  Partei 
sich  als  besiegt  zugestand,  sondern  weil  im  Streite  über  das  Unend- 
lichkleine ein  noch  mehr  zu  logischen  Spitzfiudeleien  herausfordern- 
der Gegenstand  auftauchte. 

Das  von  uns  erwähnte  Erwachen  geometrischer  Neigungen  zeitigte 
auch  fruchtbarere  Untersuchungen  als  solche  über  den  Contingenz- 
winkel. Peletier  hat  1573  eine  kleine  Schrift  De  Vusage  de  la  geo- 
metrie  dem  Drucke  übergeben.  Neben  Flächenberechnuugen  ist  auch 
ein  Distanzmesser^)  beschrieben,  auf  dessen  Erfindung  Peletier  sich 
sehr  viel  zu  gute  that,  dessen  genaue  Einrichtung  wir  aber  der  uns 
zur  Verfügung  stehenden  etwas  sehr  undeutlichen  Beschreibung  nicht 
zu  entnehmen  vermögen. 

Ein  geistvoller  Geometer  war  Johannes  Buteo^)  oder  Borrel 
(1492 — 1572).  Er  ist  in  Charpey  in  der  Dauphinee  geboren,  wess- 
halb  er  in  den  Ueberschriften  mitunter  Delphinaticus  heisst.  Er  ge- 
hörte dem  Mönchsorden  des  heiligen  Antonius  an.  Seine  mathema- 
tischen Studien  hat  er  unter  Orontius  Finaeus  gemacht,  was  ihn  aber 
nicht  abhielt,  gegen  dessen  vermeintliche  Kreisquadratur  aufzutreten. 
Gedruckt  sind  von  ihm  Opera  geometrica  1554,  De  quadratura  circuli 
mit  einem  Anhange  Amiotationes  in  errores  interpretwm  Euclidis  1559 
und  eine  Logistica  1559.    In  der  Logistik  sollen  sämmtliche  mit  vier 

1)  Kästner  I,  653 — 655.  Brieflicher  Mittheilung  von  H.  Ambros  Sturm 
zufolge  ist  in  einem  Antiquariatskataloge  Peletarius,  Be  usu  geometriae  Über, 
Paris  1571,  angezeigt  gewesen,  vielleicht  gleichen  Inhaltes  mit  der  jüngeren 
französischen  Ausgabe.  ^)  Montucla  I,  574 — 575.  —  Kästner  I,  468 — 476. 

—  Nouvelle  BiograpMe  universelle  VII,  898 — 899. 

Cantor  ,  GeacMchto  der  Mathem.    U.     2.  Aufl.  36 


562  67.  Kaijitel. 

Würfeln  überhaupt  mögliche  Würfe  aufgezählt  und  Schlüssel  mit 
Buchstabenversetzungen  beschrieben  sein,  Aufgaben  von  der  Art  derer, 
mit  welchen  Cardano  und  Tartaglia  sich  beschäftigten.  Die  Opera 
geometrica  sind  einzelne  Abhandlungen  von  sehr  gemischter  Natur, 
welche  nur  zu  einem  Bande  zusammengestellt  sind.  Vieles  ist  anti- 
quarischen Inhaltes,  bildet  also  gewissermassen  geometrische  Erläu- 
terungen zu  römischen  Schriftstellern.  Buteo  hat  z.  B.  muthmasslich 
nach  Valla  (S.  345)  auf  jene  Stelle  des  Quintilian  aufmerksam  ge- 
macht, welche  unrichtige  Flächenberechnungen  betrifft.  Ferner  sind 
römische  Gesetze  an  der  Hand  der  Geometrie  geprüft.  Ein  Beispiel 
eigener  Erfindungsgabe  Buteo's  liefert  die  Abhandlung  Ad  prohlonn 
cubi  duplicandi.  StifeFs  Würfelverdoppelung  wird  darin  mit  Recht 
getadelt,  damit  aber  ein  sehr  ungerechtfertigter  Spott  über  die  bar- 
barische Schreibweise  der  ganzen  Arithmetica  integra  verbunden^) 
und  insbesondere  eine  näherungsweise  Würfelverdoppelung  mittels 
Zirkel  und  Lineal  gelehrt.  Sie  besteht  in  Folgendem.  Sei  ein 
Würfel  von  der  Seite  a,  also  dem  Körperinhalte  a^  gegeben,  so  ist 
es  leicht,  durch  Aneinandersetzung  zweier  solcher  Würfel  ein  Paral- 
lelopipedon  von  dem  Körperinhalte  2a^  zu  erhalten,  dessen  Höhe  a 
ist,  während  die  Grundfläche  aus  einem  Rechtecke  von  den  Seiten 
a  und  2  a  besteht.  Diesen  Körper  will  Buteo  nach  und  nach  in 
einen  Würfel  verwandeln.  Zunächst  verwandelt  er  die  Grundfläche 
in  ein  Quadrat  von  der  Seite  ay2,  und  legt  er  nun  den  neuen 
Körper,  welcher  immer  noch  den  Körperinhalt  2a^  besitzt,  auf  eine 
Seitenfläche,  so  ist  «]/2  die  Höhe  des  neuen  Parallelopipedons,  dessen 
rechteckige  Grundfläche  die  Abmessungen  a  und  «■|/2  besitzt.  Diese 
Grundfläche  verwandelt  sich  in  ein  Quadrat  von  der  Seite  a}/2,  und 
ein  erneutes  Umlegen  des  entstandenen  Körpers  zeigt  ilm  in  Form 
eines  Parallelopipedons  von  der  Höhe  a]/2  mit  der  Grundfläche,  welche 
durch  das  Rechteck  der  Seiten  «]/2  und  ay2  gebildet  ist.  Es  ist 
leicht  ersichtlich,  dass  man  in  ganz  ähnlicher  Weise  von  dem  jetzt 
bekannten  dritten  Parallelopipedou  zu  einem  vierten,  von  diesem 
weiter  gelangen  kann.  Das  siebente  Parallelopipedou  hat  Abmessungen, 

welche  durch  a  ■  2^'^ ,  a  •  2^^ ,  a  ■  2^^  in  heutiger  Schreibweise  dar- 
gestellt werden,  und  hier,  sagt  Buteo,  sei  die  Ungleichheit  nicht  mehr 
merklich:  was  aber  nicht  in  die  Sinne  falle,  hindere  beim  Gebrauche 


^)  In  libro  cui  titulum  fecit  Arithmetica  integra,  uhi  etiam  multa  super  geo- 
metricis  inculcavit,  ah  Euclide  (ut  ipse  iactat)  omissa.  Cuius  propositiones  inquit 
non  sioit  evangelium  Christi.  Huiusmodi  autem  Arithmetica  muUiplici  rerum  ver- 
borumque  harharie  tantum  inter  alias,  quascunque  legerim,  capiit  extulit  omnes  (ut 
cum  poeta  dicam)  Quantum  lenta  sölent  inter  vihurna  cupressi. 


Geschichte   der  Mathematik.     Classikerausgaben.     Geometrie.     Mechanik.      563 

nicht,  und  vou  diesem  Gedanken  hätten  auch  Archimed  und  Ptole- 
mäus  bei  der  Kreisrechnung  Gebrauch  gemacht.  Nach  diesem  Aus- 
spruche weiss  man  schon,  was  man  von  Buteo's  De  quadratura  cir- 
ciili  zu  erwarten  hat,  Anerkennung  näheruugsweiser,  Widerlegung 
vermeintlich  genauer  Kreisquadraturen.  Die  beiden  Bücher,  in  welche 
jene  Schrift  zerfällt,  erfüllen  diese  Erwartung.  Das  erste  Buch  ist 
vorzugsweise  den  Arbeiten  Archimed's  und  seiner  Vorgänger  gewidmet. 
Mit  vollendeter  Klarheit  weiss  Buteo  Archimed's  Ziel  und  Verfahren 
darzustellen,  aber,  was  noch  mehr  heissen  will,  er  wird  auch  dem 
vielverketzerten  Bryson  (Bd.  I,  S.  191)  gerecht^).  Wenn  man  nur 
sage,  das  dem  Kreise  flächengleiche  Quadrat  sei  irgend  ein  mittleres, 
quadraiiun  medium  idcimque,  zwischen  Sehnen-  und  Tangentenvieleck, 
so  sei  damit  eine  Wahrheit  ausgesprochen.  Nach  der  Auseinander- 
setzung der  archimedischen  Untersuchung  ist  unter  der  Ueberschrift 
Quemadmodum  et  alii  ad  dimensioncm  limites  vero  propiores  inveniantur^), 
d.  h.  wie  auch  andere  der  Wahrheit  näherkommende  Grenzen  für  die 
Ausmessung  gefunden  werden,  gezeigt,  dass  allerdings  genauere  Ver- 

hältuisszahlen  als  3-  und  3^  gefunden  werden  können,  aber  nur  auf 

Kosten  der  Bequemlichkeit  der  Rechnung,  weil  mit  viel  grösseren 
Zahlen  alsdann  umgegangen  werden  müsse.    Hierher  gehört  das  ptole- 

mäische  3—  (Bd.  I,  S.  394).    Aus  dem  zweiten  Buche  erwähnen  wir, 

dass  7t  =  yi0  den  Arabern  zugeschrieben  wird^).  Ferner  ist  der  so- 
genannten Quadratur  des  Campanus  (S.  101)  gedacht"*).  Es  sei  un- 
möglich der  Verfasser  dieses  Schriftchens  derselbe  Campanus,  wel- 
cher durch  seine  Uebersetzung  der  euklidischen  Elemente  aus  dem 
Arabischen  und  durch  seine  Anmerkungen  und  Zusätze  zu  denselben 
sich  so  sehr  verdient  gemacht  habe.  Sodann  widerlegt  Buteo  mit 
ziemlichem  Geschicke  verschiedene  Quadraturen,  die  wir  nebst  ihren 
Urhebern  Nicolaus  von  Cusa,  Orontius  Finaeus,  Dürer,  Bovillus  bereits 
kennen.  Dem  zweiten  Buche  folgt  noch  der  Anhang  Annotationes 
in  errares  interpretum  Euclidis.  In  ihm  ist,  wie  (S.  556)  schon  er- 
wähnt wurde,  in  ausführlicher  Untersuchung^)  und  unter  Zuziehung 
der  einschlagenden  Quellen,  welche  Buteo  vollständig  beherrscht,  der 
Nachweis  geliefert,  dass  Euklid  selbst  und  nicht  Theon  der  Verfasser 
der  in  den  Elementen  mitgetheilten  Beweise,  und  Theon  nur  Heraus- 
geber gewesen  sei. 

Unter  die  Schriftsteller  über  Geometrie  ist  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  auch  Ramus  zu  zählen,  dessen  Scholae  mathematicae  von  1569 


^)  De  quadratura  circuU   (Lugduni  1559)  pag.  14.  ^  Ebenda  pag.  63. 

3)  Ebenda  pag.  106.         ^)  Ebenda  pag.  107.         ^j  Ebenda  pag.  209—212. 


564  6'-  Kapitel.  " 

(S.  546)  sich  über  nahezu  alle  Theile  der  Mathematik  verbreiten  und 
dadurch  ihrem  Verfasser  mehr  als  nur  einen  Platz  in  unserer  Zu- 
sammenstellung sichern  zu  müssen  scheinen.  Führen  wir  Einiges 
hierher  Gehörende  an.  Vom  8.  Buche  der  Scholae  mathematicae  an, 
welches  die  Sätze  des  I.  Buches  der  euklidischen  Elemente  zu  er- 
läutern bestimmt  ist,  kommen  wiederholt  Figuren  vor.  Bald  sind 
dieselben  ohne  jede  Bezeichnung,  bald  führen  sie  in  altgewohnter 
Weise  Buchstaben,  die  den  einzelnen  Punkten  als  Benennung  dienen^). 
Auffallend  ist  dabei  die  Reihenfolge  der  Buchstaben.  Während  früher 
entweder  die  griechische,  beziehungsweise  die  arabische,  oder  die  latei- 
nische Reihenfolge,  also  entweder  a,  h,  g  oder  a,  h,  c  u.  s.  w.  üblich 
war,  entfernt  Ramus  sich  von  beiden.  Er  benutzt  zunächst  immer 
die  Selbstlauter  a,  e,  i,  o,  u,  y,  und  nur  wenn  mehr  als  sechs  Punkte 
der  Bezeichnung  bedürfen,  treten  auch  Mitlauter  auf,  zuerst  s,  dann 
r,  t,  l,  m  u.  s.  w.  Einen  Grund  für  die  Abweichung  von  der  ein- 
gebürgerten Uebung  giebt  Ramus  nicht  an.  Wir  halten  es  für  müssig, 
unsererseits  nach  einem  solchen  zu  suchen;  die  Thatsache  selbst  schien 
uns  aber  erwähnenswerth,  weil  bei  der  grossen  Verbreitung  der 
Schriften  des  Ramus  insbesondere  unter  den  Anhängern  der  kirch- 
lichen Reformation  hier  vielleicht  der  Ursprung  einer  anderweitigen 
Bezeichnung  liegt,  von  welcher  wir  im  69.  Kapitel  zu  reden  haben. 
Aber  suchen  wir  Bemerkenswertheres  auf  In  der  Bewunderung  Euklid's 
stimmten  und  stimmen  alle  Schriftsteller  überein,  welche  mit  seinen 
Elementen  sich  beschäftigt  haben.  Ramus  theilt  kaum  die  Bewun- 
derung der  Elemente,  geschweige  denn  die  Euklid's-).  Man  müsse 
gleich  Proklos  von  der  Sucht,  Euklid  immer  nur  loben  zu  wollen, 
ergriffen  sein,  um  gegen  die  grossen  methodischen  Fehler,  welche  er 
sich  zu  Schulden  habe  kommen  lassen,  blind  zu  sein.  Die  Arithmetik 
gehe  ihrem  Begriffe  nach  der  Geometrie  voraus,  Euklid  drehe  die 
Reihenfolge  um.  Ferner  stelle  Euklid  eine  ganze  Anzahl  von  Defi- 
nitionen an  die  Spitze,  und  das  sei  vollends  verkehrt.  Die  Natur 
hat  nicht  einen  Wald  dadurch  hervorgebracht,  dass  sie  am  An- 
fange die  Wurzeln  aller  Bäume  steckte,  der  Architekt  nicht  dadurch 
eine  Stadt,  dass  er  am  Anfange  alle  Fundamentirungen  vornahm. 
Jedem  folgenden  Baume  gab  die  Natur  seine  Wurzeln,  jedem  Ge- 
bäude der  Baumeister  seine  Grundmauern.  So  musste  Euklid  das 
Dreieck  definiren,  wo  die  Lehre  von  den  Dreiecken  beginnt,  das 
Vieleck,  wo  von  Vielecken  gehandelt  wird,  und  denselben  Weg 
überall  bei  den  Anfängen  einschlagen.  Das  X.  Buch  vollends,  welches, 
wie  wir  (S.  549)  gesehen  haben,   durch  Mondore  besonders  heraus- 

')   Scholae  mathematicae  (ed.  Frankfurt  1G27)  pag.  174,  17G,  179,  180,  183 
und  Läufiger.         -)  Ebenda  pag.  96 — 98. 


Gescliiebte  der  Mathematik.     Classikerausgaben.     Geometrie.     Mechanik.      565 

gegeben  und  dadurch  bevorzugt  worden  wai-,  ist  für  Ramus  eine  Qual^). 
Kein  Theil  der  Geometrie  erscheint  ihm  unnützer,  keiner  überladener 
mit  Vorschriften  und  Lehrsätzen;  es  ist  ihm  zweifelhaft,  ob  überhaupt 
diese  Spitzfindeleien  berechtigt  sind,  innerhalb  einer  wahren  Beschäf- 
tigung mit  der  Geometrie  eine  Stelle  einzunehmen.  Er  selbst  habe 
das  X.  Buch  mit  Eifer  und  Genauigkeit  durchforscht,  aber  kein  an- 
deres Urtheil  fällen  können,  als  dass  in  ihm  ein  Kreuz  für  edle 
Geister  errichtet  sei.  Um  alle  Beschwerden  des  Ramus  gegen  Euklid 
vereinigt  zu  sehen ,  greifen  wir  über  die  eigentlich  geometrischen 
Bücher  hinaus  und  sehen  zu,  was  er  von  den  arithmetischen  Büchern 
sagt.  Ihnen  wird  der  Mangel  an  Brauchbarkeit  durchweg  vorgeworfen 
und,  um  eiu  bestimmtes  Beispiel  ins  Auge  zu  fassen,  der  Satz  IX,  20 
von  der  Unendlichkeit  der  Anzahl  der  Primzahlen  als  zu  speciell  ge- 
tadelt. Von  allen  Zahlengattungen  gebe  es  unendlich,  viele,  zusam- 
mengesetzte, gerade,  ungerade"^),  vollkommene  u.  s.  w.  Man  müsse 
desshalb  als  allgemeine  Forderung  aufstellen,  dass  jede  Anzahl  ins 
Unendliche  wachse  und  nicht  Sonderbeweise  führen.  Diese  Auszüge, 
welche  wir  hier  vereinigt  haben,  lassen,  so  kurz  sie  gewählt  wurden, 
Ramus  als  das  erkennen,  als  was  wir  ihn  früher  schilderten,  als  streit- 
baren und  streitsüchtigen  Dialektiker.  Theoretische  Feinheiten  richtig 
zu  würdigen  war  seine  Sache  nicht,  und  strengen,  nach  seiner  Meinung 
ganz  unnöthigen  Beweisführungen  der  Geometrie  zog  er  gewöhnliches 
Rechnen  vor,  wie  es  von  den  Kaufleuten  der  Strasse  St.  Denis  in 
Paris  zu  erlernen  war,  die  zu  besuchen,  und  mit  denen  für  ihn  lehr- 
reiche Gespräche  zu  führen  für  Ramus  ein  Genuss  war^).  So  ent- 
ziehen sich  die  Scholae  mathematicae  fast  vollständig  der  Erwähnung 
in  einem  der  Geschichte  der  Mathematik  gewidmeten  Werke,  und 
mau  findet  es  begreiflich,  dass  Mathematiker,  welche  einen  auch  nur 
flüchtigen  Blick  hineinwarfen,  nicht  Neigung  empfanden,  ein  Werk 
zu  studiren,  dessen  drei  ersten  Bücher  allein  von  Wichtigkeit  ge- 
wesen wären,  weil  sie,  wie  wir  (S.  546)  sagten,  für  ihren  geschicht- 
lichen Inhalt  Quellen  verwertheten,  denen  heute  noch  das  Lob  der 
grössten  Zuverlässigkeit  gespendet  werden  muss.  Ob  eine  von  Ramus 
verfasste  Geometrie,  welche  1577  nach  seinem  Tode  im  Drucke  er- 
schien, sich  von  den  Mängeln  frei  zu  halten  wusste,  welche  ihr 
Urheber  Euklid  vorzuwerfen  liebte,  ob  sie  dadurch  so  viel  besser  war, 
wissen  wir  nicht. 

Ein   wirklicher  Geometer  war   Giovanni  Battista  Benedetti 
oder    Benedictis    (1530 — 1590),    Philosoph    und  Mathematiker    des 


^)  Scholae  mathematicae  (ed.  Frankfurt  1627)  pag.  252.     -)  Ebenda  pag.  250. 
^)  Ebenda  pag.  52. 


566  67.  Kapitel. 

Herzogs  von  Savoyen.  In  Venedig  geboren,  nennt  er  sich  bis  zu 
einem  gewissen  Grade  Schüler  des  Tartaglia^).  Es  sei  billig  und 
recht,  Jedem  das  Seine  zu  geben,  und  desshalb  sage  er,  dass  Tar- 
taglia  ihm  die  vier  ersten  Bücher  des  Euklid,  aber  auch  nur  diese 
erklärt  habe.  Alles  übrige  habe  er  mit  eigener  Mühe  und  Arbeit 
untersucht,  denn  für  den  Wissbegierigen  sei  nichts  schwer.  So  drückt 
sich  Benedetti  in  der  Vorrede  zu  einem  1553  gedruckten  Werke  ^)  aus, 
welches  er  demnach  mit  23  Jahren  vollendet  hatte.  Der  Inhalt  ist 
eine  vollständige  Auflösung  der  Aufgaben,  welche  in  den  euklidischen 
Elementen  vorkommen,  sowie  anderer  unter  Anwendung  einer 
einzigen  Zirkelöffnung.  Da  wir  diesen  Gegenstand  wiederholt 
als  italienische  Liebhaberei  bezeichnet  haben,  so  ist  es  nicht  über- 
flüssig, die  Jahreszahlen  der  einzelnen  Veröffentlichungen  ins  Gedächt- 
niss  zurückzurufen.  Die  Cartelli  und  Risposte  sind  von  1547  bis 
1548  erschienen,  und  in  ihnen  konnte  Benedetti,  welcher  mit  18  Jahren 
für  ein  Wunder  galt^),  Aufgaben  dieser  Gattung  von  seinem  Lehrer 
gestellt,  von  Ferrari  gelöst  finden.  Auch  Cardano's  De  svibtilitate 
von  1550  kann  die  Neigung  gestachelt  haben,  die  Geometrie  mit 
bleibender  Zirkelöffnung  zu  fördern.  Die  Auflösungen  Tartaglia's 
dagegen  erschienen  erst  1560  im  Drucke,  und  wenn  eine  Einwirkung 
vorhanden  war,  so  kann  sie  nicht  von  Tartaglia  auf  Benedetti  statt- 
gefunden haben,  sondern  nur  umgekehrt.  Die  Auszüge  aus  dem  Be- 
nedetti'schen  Werke*),  welche  unserem  Berichte  zu  Grunde  liegen, 
zeigen  indessen  keine  Aehnlichkeit  des  Ganges  weder  mit  Ferrari  noch 
mit  Tartaglia,  und  auf  den  Gang,  das  heisst  auf  die  Reihenfolge  der 
behandelten  Aufgaben,  deren  jede,  sobald  sie  selbst  gelöst  ist,  bei 
Lösung  der  folgenden  Aufgaben  dienen  kann,  kommt  es  natürlich 
hauptsächlich  an.  Die  fünf  ersten  Aufgaben  Benedetti's  sind:  1.  Auf 
einer  Linie  in  einem  bestimmten  Punkte  derselben  eine  Senkrechte 
zu  errichten.  2.  Eine  Strecke  um  ein  ihr  gleiches  Stück  zu  ver- 
längern, sofern  die  Strecke  kleiner  ist  als  die  gegebene  Zirkelöffnung. 
3.  Das  Gleiche  zu  leisten,  sofern  die  Strecke  grösser  als  die  gege- 
bene Zirkelöffnung  ist.  4.  Eine  gegebene  Strecke  zu  halbiren.  5.  Von 
einem  gegebenen  Punkte  auf  eine  gegebene  Gerade  eine  Senkrechte 
zu  fällen.  Wir  führen  nur  die  Auflösung  der  letzteren  Aufgabe  an, 
um  ein  Beispiel  von  Benedetti's  Verfahren  zu  geben  (Figur  109). 
Von  d  soll  eine  de  senkrecht  zu  cf  gezogen  werden.     Man  zieht  von 


^)  Libri  III,  123  Note  1.  -)  Benedictis,  De  resolutione  omnium  Eucli- 
dis  problematum  aliorunique  nna  tantummodo  circuli  data  apertura.  Venedig 
1553.  ^)  Libri  III,  123  Note  2  beruft  sich  für  diesen  Ausspruch  auf  Mazzu- 
chelli,  Scrittori  d'Italia  tomo  n,  part.  2,  pag.  218.  *)  Ebenda  HI,  266—271. 


Geschichte   der  Mathematik.     Classikerausgaben.     Geometrie.     Mechanik.      567 


Fig.  109. 


einem  Punkte  /"  der  gegebenen  Geraden  aus  die  fd  und  verlängert 
sie  gemäss  2.  oder  3.  um  da  =  fd.  Dann  zieht  man  von  a  aus  ac 
nach  einem  zweiten  Punkte  c  der  gegebenen 
Geraden  und  halbirt  ac  gemäss  4.  in  h.  Die 
nun  gezogene  hd  ist  somit  der  cf  parallel, 
und  wird  gemäss  1.  die  de  senkrecht  zu  bd 
gezogen,  so  ist  de  auch  senkrecht  zu  cf. 
Ein  zweites  Werk  Benedetti's  führt  die  Ueber- 
schrift  Specidationes  diversae  und  ist  1585 
gedruckt.  Die  im  Titel  ausgesprochenen  ver- 
schiedenen Untersuchungen  sind  in  der  That 

verschiedenartig^).  Sechs  Abschnitte  enthalten  arithmetische  Sätze, 
Perspective,  Mechanik,  Proportionen,  Streitfragen,  Briefe.  Unter  den 
arithmetischen  Sätzen  findet  sich  der  Beweis  der  Vertäu schbarkeit 
der  Factoren  eines  Productes,  welche  bis  dahin  zwar  wohl  verschie- 
dentlich bemerkt,  aber  noch  nie  als  eines  Beweises  bedürftig  gefun- 
den worden  war.  In  eben  diesem  Abschnitte  sind  algebraische  Auf- 
gaben durch  geometrische  Betrachtungen  gelöst,  während  man  sonst 
umgekehrt  vorzog,  die  Auflösung  geometrischer  Aufgaben  durch  Zu- 
rückftthrung  derselben  auf  Gleichungen  zu  erreichen.  Seien  beispiels- 
weise   drei  Unbekannte    x,  y,  z    aus    den    Gleichungen   x  -\-  y  =  50, 

50  +  70  —  60 


y-\-  2=  70,  z-\-x==  60  zu  bestimmen.     Durch  y 


30 


weit  ist  freilich  von  Geometrie  keine  Rede,  aber  nachträglich  zeigt 
Benedetti  an  einer  Zeichnung  die  Richtigkeit  der  Rechnung  (Figur  110). 
Dem  Dreiecke  ahc  ist  der  Kreis  eoii  eiubeschrieben  und  jede  Seite  ist 
die   Summe   zweier  Unbekannten,    welche   als    die   Entfernungen    der 


Eckpunkte  des  Dreiecks  von  den  Berührungspunkten  des  Kreises  auf- 
gefasst  werden.  Man  sieht  hier  deutlich,  wie  die  eine  Unbekannte 
doppelt  übrig  bleibt,  wenn  man  eine  Seite  von  der  Summe  der  beiden 


')  Libri  III,  124—131,  258—265,  272—276. 


568  67.  Kapitel. 

anderen  abzieht.  Eine  zweite  Aufgabe,  die  Gleichung  xr'  -f-  Ax  =  B- 
oder  (A  -f-  x)x  =  B^,  wird  geometrisch  folgendermassen  gelöst 
(Figur  111).  Die  Stücke  ef  =  A,  de  =  B 
werden  unter  rechtem  Winkel  an  einander  ge- 
setzt. Dann  wird  ef  in  a  halbirt  und  um  a 
als  Mittelpunkt  mit  ad  als  Halbmesser  ein 
Kreis  beschrieben,  bis  zu  dessen  Durchschnitt 
in  h  und  c  die  ef  nach  beiden  Seiten 
verlängert  wird.  Offenbar  ist  he  =  fc  =  x. 
Hier  vermuthlich  ist  die  Aufgabe  gelöst,  mit 
vier  gegebenen  Strecken  als  Seiten  ein 
Sehnenviereck   zu   zeichnen^). 

Bevor  wir  über  den  Abschnitt  der  Speculationes  diversae  berichten, 
welcher  der  Mechanik  gewidmet  ist,  müssen  wir  zurückgreifend 
eines  Schriftstellers  gedenken,  der  auf  diesem  Grebiete  Benedetti's  Vor- 
gänger war. 

Guidobaldo  del  Monte-)  (1545 — 1607)  war  ein  hochangesehener 
Edelmann  aus  Pesaro.  Er  hatte  erst  beabsichtigt,  sich  dem  Studium 
zu  widmen,  dann  focht  er  gegen  die  Türken,  später  hat  er  als  In- 
spector  der  Festungen  Toscanas  seinem  Vaterlande  gedient;  zuletzt 
erfreute  er  sich  auf  seinen  Gütern  einer  wissenschaftlich  ausgefüllten 
Zurückgezogenheit.  In  seiner  Mechanik  von  1577  ist  das  Gesetz  ent- 
halten, dass  Last  und  Kraft  zu  einander  im  umgekehrten 
Verhältnisse  der  Räume  stehen,  welche  sie  in  derselben  Zeit 
durchlaufen,  aber  über  die  Anwendung  beim  Flaschenzuge  ging 
Del  Monte  nicht  hinaus,  die  Lehre  von  der  schiefen  Ebene,  vom  Keil, 
von  der  Schraube  hat  er  nicht  verstanden^),  1579  wurde  die  Theoria 
planisphaerorium  gedruckt.  In  ihr  sind  mancherlei  Constructionen 
gelehrt,  welche  nicht  ohne  Interesse  sind^);  die  Quellen,  welchen  sie 
entstammen,  scheinen  nicht  genannt  zu  sein.  Dort  findet  man  die 
Beschreibung  der  Ellipse  durch  einen  Punkt  einer  Strecke,  welche 
mit  ihren  Endpunkten  auf  den  Schenkeln  eines  Winkels  sich  ver- 
schiebt, wie  Proklus  sie  kannte  (Bd.  I,  S.  466),  die  von  den  drei 
Brüdern  beschriebene  Gärtnerconstruction  der  Ellipse  (Bd.  1,  S.  690) 
u.  s.  w.  Andere  Schriften  Del  Monte's  sind  durch  Auszüge  zu  wenig 
bekannt,  als  dass  wir  uns  ein  Urtheil  darüber  bilden  könnten,  wie 
weit  eine  Geschichte  der  Mathematik  bei  denselben  zu  verweilen  hat. 
Und  nun  kehren  wir  zu  Benedetti's  Werk  von  1585  zurück.    In 


1)  Chasles,    Aperrii   Jiist.    443   (deutscli  496).  -)  Libri  IV,  79—84. 

')  Lagrange,  Analytische  Mechanik  (deutsch  von  Servus).  Berlin  1887,  S.  17 
und  8.  *)  Vergl.  Chasles,  Äpergu  hist.  98  (deutsch  95)  mit  Les  Oeuvres  mathe- 
mathiqiies  de  Simon  Stevin  (Leyden  1634),  pag.  347 — 348. 


Geschichte   der  Mathematik.     Classikerausgabeu.     Geometrie.     Mechanik.      509 

dem  mechanischen  Abschnitte  ist  die  Wirkungsweise  des  Keils  und 
des  Flaschenzuges,  so  wie  auch  die  des  Winkelhebels  richtig  ver- 
standen. Wenn  Benedetti  sagt,  dass  die  Grösse  eines  beliebigen  Ge- 
wichtes oder  die  bewegende  Kraft  in  Beziehung  auf  eine  andere 
Grösse  durch  den  Nutzen,  heneficio,  der  Senkrechten  erkannt  werde, 
die  vom  Mittelpunkte  der  Wage  auf  die  Linie  der  Neigung  gezogen 
seien,  so  ist  damit  die  Grundlage  der  gegenwärtigen  Lehre  von 
den  Momenten  ausgesprochen^).  Benedetti  hat  ferner  erkannt,  dass 
ein  auf  gezwungener  Bahn  sich  bewegender  Körper,  ^vem\  er  frei- 
gelassen werde,  die  Richtung  der  Bei-ührungslinie  einschlage^).  Li 
den  Streitschriften,  welche  gegen  Aristotelische  Lehren  gerichtet  sind, 
wendet  sich  Benedetti  unter  Anderem  der  von  Aristoteles  geleugneten, 
ununterbrochen  auf  einer  begrenzten  Strecke  fortdauernden  Bewegung 
zu^).  Aristoteles  hatte  nämlich  in  seiner  Physik  (VIII,  8  pag.  262a) 
darauf  hingewiesen,  dass  der  Körper  am  Ende  der  Strecke  angelangt 
nothwendig  anhalten  müsse,  bevor  er  den  gleichen  Weg  zurückmache, 
dass  also  ein  Augenblick  der  Ruhe  die  Bewegung  unterbreche.  Bene- 
detti widerlegte  die  Behauptung  dadurch,  dass  er  die  hin-  und  her- 
gehende geradlinige  Bewegung  von  einer  in  gleichbleibendem  Sinne 
andauernden,  also  nie  unterbrochenen  kreis- 
förmigen Bewegung  abhängig  machte,  mit- 
hin bis  zu  einem  gewissen  Grade  einer  1570 
veröffentlichten  von  Ferrari  gemachten  Er- 
findung (S.  535)  sich  bediente  (Figur  112). 
Der  Punkt  Ä,  welcher  den  Kreisumfang 
AN ü  im  Sinne  des  Zeigers  einer  Uhr  durch- 
läuft, ist  in  jeder  seiner  Lagen  mit  dem 
Punkte  B  geradlinig  verbunden.  NB  und 
ÜB  sind  die  Grenzlagen  dieser  Geraden,  jede 
andere  Lage  schneidet  die  Strecke  CD  in 
irgend  einem  Punkte  T,  und  während  A 
einen  ganzen  Kreisumlauf  vollzieht,   bewegt  p. 

sich  T  unterbrechungslos  erst  von  C  nach  D, 

dann  zurück  von  IJ  nach  C.  Eine  zweite  gleichfalls  geometrische 
Betrachtung  Benedetti's  wendet  sich  gegen  die  Aristotelische  Behaup- 
tung, auf  einer  endlichen  geraden  Strecke  sei  eine  unendliche  Bewe- 
gung nicht  denkbar.  Die  Gerade  CB  (Figur  113,  S.  570)  drehe  sich  im 
Sinne  des  Zeigers   einer  Uhr  um   C,   so   dass   sie  die  Gerade  BR  in 


^)  Dühring,  Kritische  Geschichte  der  allgemeinen  Principien  der  Mechanik 
(Berlin  1873)  S.  17.  -)  Montucla  I,  693—694.  '■")  Lasswitz,  Geschichte 

der  Atomistik  vom  Mittelalter  bis  Newton  (Hamburg  und  Leiijzig)  II,  14—18, 


570  67.  Kapitel. 

einem  von  R  sich  weiter  und  weiter  entfernenden  Punkte  A  schneidet. 
Zugleich  schneidet  sie  alsdann  die  RX,  welche  als  Senkrechte  die 
beiden  Parallelen  BR  und  CX  verbin- 
—  det,  in  einem  Punkte  I,  und  dieser 
Punkt  I  durchläuft  die  endliche  Strecke 


B  RA 


RX,  während  A  auf  der  Strecke  BR 
Qr   j^  einen  unendlichen  Weg  zurücklegt,  mit- 

Fig.  113.  hin  vollzieht   sich  hier   eine   unendliche 

Bewegung  auf  RX. 

Es  ist  der  Anfang  einer  geometrisch  begründeten  Mechanik,  der 
sich  in  diesen  Betrachtungen  enthüllt.  Die  Mechanik  hört  allmälig 
auf,  blosse  Erfahrungssätze  zu  sammeln,  oder,  was  noch  schlimmer 
war,  philosophisch  abgeleitete  Behauptungen  in  die  Welt  zu  schleudern, 
unbekümmert  darum,  ob  sie  zur  Erfahrung  passen  oder  ihr  wider- 
sprechen. Die  Mechanik  beginnt  ein  Kapitel  der  Mathematik 
zu  werden. 

Der  Mechanik  und  der  Geometrie  gemeinschaftlich  gehören  Unter- 
suchungen an,  welche  Maurolycus  und  Commandinus  unabhängig 
von  einander  anstellten,  und  in  deren  Veröflfentlichung  Commandinus, 
ähnlich  wie  bei  den  Uebersetzungsarbeiten,  seinem  Vorgänger  den 
Rang  ablief.  Es  handelt  sich  um  Schwerpunktsbestimmungen. 
Seit  Archimed  fBd.  I,  S.  308 — 309)  solche  wiederholt  vornahm,  seit 
Pappus  (Bd.  I,  S.  421)  darauf  zurückkam,  war  der  Gegenstand  lange 
Jahrhunderte  hindurch  fast  unberührt  geblieben,  bis  Lionardo  da 
Vinci  (S.  302)  den  Schwerpunkt  einer  Pyramide  mit  dreieckiger 
Basis  entdeckte.  War  er  durch  das  Studium  Archimedischer  Schriften 
dazu  geführt  worden,  diese  Aufgabe  sich  zu  stellen?  Wir  möchten 
es  fast  annehmen.  Jedenfalls  traten  Schwerpunktsaufgaben  in  den 
Vordergrund,  als  man  in  Folge  des  Erscheinens  neuer  mit  reichhaltigen 
Erläuterungen  versehener  Ausgaben  der  griechischen  Classiker  die 
Bedeutung  dieser  Aufgaben  zu  würdigen  lernte,  und  es  ist  nichts 
weniger  als  Zufall,  dass  die  Herausgeber  des  Archimed  und  des  Pappus 
zu  den  ersten  Schriftstellern  gehören,  welche  wieder  an  Schwerpunkts- 
bestimmungen sich  versuchten^).  Maurolycus  fand  1548  den  Schwer- 
punkt der  Pyramide,  des  Kegels,  des  Umdrehungsparaboloids,  er  ver- 
werthete  die  Kenntniss  desselben  zur  Raumbestimmung  jener  Körper 
ähnlich  wie  Pappus  es  gethan  hatte.  Gedruckt  wurden  allerdings 
alle  diese  Dinge  erst  1685  in  der  Archimedausgabe  des  Maurolycus, 
nachdem  die  Wissenschaft  in  gewaltigen  Schritten  diese  ersten  Ziel- 
punkte längst  und  weit  hinter  sich  gelassen  hatte,  angekündigt  waren 


»)    Libri  HI,  115—116. 


Clescliichte   der  Mathematik.     Classikerausgabeii.     Geometrie.     Mechanik.      571 

sie  in  deu  Opuscida  mathematica  des  Maurolycus  von  1575.  C om- 
ni an  dinus  dagegen  gab  seine  fast  gleichinhaltliche  Schrift  De  centro 
gravitatis  solidorum  schon  1565  alsbald  nach  der  Fertigstellung  im 
Drucke  heraus. 

Eine  Stelle  der  Opuscnla  matliematica  des  Maurolycus  hat  Be- 
achtung gefunden^),  in  welcher  man  eine  Art  von  geometrischer 
Dualität  erkennen  wollte.  Man  kann  allenfalls  diese  Benennung 
gebrauchen,  muss  sich  aber  ja  davor  hüten,  mehr  aus  diesem  Namen 
herauslesen  zu  wollen,  als  Maurolycus  bei  der  Sache  dachte.  Dieser 
sagt  nämlich,  der  Würfel  sei  ein  Würfel  mit  6  Flächen  und  8  Ecken, 
das  Octaeder  ein  solcher  mit  6  Ecken  und  8  Flächen,  sie  entsprächen 
einander  durch  Correlation,  unde  haec  sihi  invicem  correlativa  sunt. 
Ebenso  seien  Ikosaeder  und  Dodekaeder  correlative  Körper,  weil  das 
Ikosaeder  20  Flächen  und  12  Ecken,  das  Dodekaeder  20  Ecken  und 
12  Flächen  besitze.  Das  Tetraeder  mit  4  Flächen  und  4  Ecken  habe 
keinen  correlativen  Körper,  es  entspreche  sich  selbst,  ipstun  enim  met 
sihi  respondet. 

Von  den  uns  als  üebersetzer  bekannt  gewordenen  Schriftstellern 
verdient  auch  Barozzi  als  Geometer  genannt  zu  werden.  Er  hat 
1586  einen  Band  veröffentlicht,  welcher  von  den  Asymptoten  handelt^). 
Verdienstlich  ist  daran  die  umfassende  Literaturkenntniss  des  Ver- 
fassers. Griechen  (Apollonius,  Pappus,  Eutokius),  neuere  Schriftsteller 
(Orontius  Finaeus,  Werner,  Cardano,  Peletarius),  jüdische  Philosophen 
aus  verschiedenen  Jahrhunderten  hat  er  gelesen,  und  er  giebt  sich 
die  mitunter  recht  überflüssige  Mühe,  ihre  philosophischen  Zweifel  zu 
erörtern.  Dagegen  hat  er,  so  weit  er  in  dieser  ersteren  Beziehung 
ausgreift,  seinen  eigentlichen  Gegenstand  zu  eng  gefasst.  Nur  die 
Asymptoten  der  Hyperbel  sind  betrachtet.  Dass  es  auch  andere 
krumme  Linien  mit  geradlinigen  Asymptoten  gebe,  wie»  z.  B.  die 
Conchoide  (Bd.  I,  S.  335)  ist  mit  keinem  Worte  angedeutet,  und  noch 
weniger  ist  natürlich  von  allgemeinen  asymptotischen  Eigenschaften 
die  Rede. 


68.  Kapitel. 

Fortsetzung  der  (reometrie  und  Mechanik.     Cyclometrie  und 
Trigonometrie. 

Wir  müssen  noch   einen  Schriftsteller  nennen,   welcher  auf  den 
beiden    hier    in    unserer  Darstellung    vereinigten    Gebieten    der    Geo- 

')  J.  H.  T.  Müller  in  Grunerfs  Archiv  der  Mathematik  und  Physik  XXXIV, 
1—6.         ^)  Kästner  n,  94—98. 


572  68.  Kapitel. 

metrie   und  Meclianik   sich   grosse  Verdienste    erworben   hat:    Simon 
Stevin^j. 

Er  ist  1548  in  Brügge  geboren,  1620  in  Leiden  oder  im  Haag 
gestorben.  Er  begann  als  Kaufmann  in  Antwerpen  und  setzte  ver- 
muthlich  diese  Beschäftigung  auf  Reisen  in  Polen,  Dänemark,  dem 
ganzen  nördlichen  Europa  fort.  Später  stand  Stevin  in  nahen  Be- 
ziehungen zu  Moritz  von  Oranien,  der  ebenso  ausseramtlich  auf  seineu 
Kath  hörte,  als  ihm  amtliche  Stellungen  zuwies.  Man  weiss  von  einer 
Anstellung  Stevin's  als  Vorstand  des  Waterstaet  (Oberwasserbaumeister) 
und  von  einer  solchen  als  Generalquartiermeister.  Ein  von  Stevin 
zuerst  ausgesprochener,  dann  von  den  Zeitgenossen  viel  bewunderter 
und  "weitergesponnener  Gedanke  ist  der  von  dem  „weisen  Jahrhun- 
derte" ^).  Vor  undenklichen  Zeiten  habe,  behauptet  er,  das  Men- 
schengeschlecht ein  allumfassendes  Wissen  besessen,  von  welchem 
mehr  und  mehr  verloren  ging,  und  welches  erst  allmälig  wieder  er- 
worben werden  müsse,  damit  dereinst  ein  zweites  weises  Jahrhundert 
erscheine.  Stevin  war  Niederländer  durch  und  durch  und  schrieb 
vorzugsweise  in  seiner  niederdeutschen  Muttersprache,  welche  er  für 
diejenige  erklärte,  die  vermöge  ihres  Reichthums  an  einsilbigen  leicht 
zusammensetzbaren  Stämmen  sich  vorzugsweise  zur  Weltsprache  eigne  ^ j. 
Freilich  fügte  er  sich  der  Thatsache,  dass  die  von  ihm  erwünschte 
Allgemeinverständlichkeit  des  Niederdeutschen  nicht  entfernt  vorhan- 
den war,  und  übersetzte  theils  selbst  seine  Schriften  nachmals  ins 
Französische,  theils  Hess  er  es  zu,  dass  sie  ins  Lateinische  übersetzt 
wurden.  Zuerst  scheinen  1584  Zinstafeln  im  Drucke  erschienen  zu 
sein,  dann  1585  ein  Band,  welcher  die  Arithmetik,  die  vier  ersten 
Bücher  des  Diophant,  die  praktische  Arithmetik  und  eine  Schrift  mit 
dem  Titel  La  Disme  in  sich  schloss.  Demselben  Jahre  1585  gehören 
fünf  Bücher  geometrischer  Aufgaben  an.  Im  Jahre  1586  folgten 
einige  Bücher  mechanischen  Inhaltes.  Sehr  mannigfaltig  sind  die  Ily- 
ponuwmata  mathematica,  welche  Snellius  ins  Lateinische  übersetzt 
hatte,  und  welche  in  dieser  letzteren  Sprache  1608  gedruckt  wurden. 
Die  Trisfonometrie  Stevin's  fand  1628  einen  Uebersetzer  in  die  deutsche 


^)  Kästner  III,  392— 418.  —  Steichen,  Memoire  sur  Ja  vie  et  les  travaux 
de  Simon  Stevin  (Bruxelles  1846).  —  Quetelet  pag.  144—168.  —  Bierens  de 
Haan,  Bouwstoffen  Toor  de  geschiedenis  der  wis-  en  natuurkundige  wetenschappen 
in  de  Nederlande  II,  183—229  und  440—445.  —  AUgem.  deutsche  Biographie. 
XXXVI,  158—160.  Die  Werke  Stevin's  wurden  von  Albert  Girard  1634 
m  einem  starken  Foliobande  im  Drucke  herausgegeben,  den  wir  als  Stevin 
citiren.j  Zwei  Schriften  (über  Musik  und  über  Mühlen)  hat  Bierens  de  Haan 
neu  aufgefunden  und  1887  I.e.  pag.  231— 360  zum  Abdrucke  gebracht.  ^  Stevin 
pag.  106  (Gcogi-aphie,  Definition  VI).         ^)  Stevin  pag.  114  sqq. 


Fortsetzung  der  Geometrie   u.  Mechanik.     Cyclometrie  n.  Trigonometrie.       573 

Sprache  in  Daniel  Schwenter^),  der  uns  im  71.  Kapitel  bekannt 
werden  wird.  Noch  späteren  Datums  sind  Schriften  Stevin's  über 
die  Befestigungskunst,  welche  unter  den  Fachmännern  nicht  minder 
berühmt  sind,  als  die  demselben  Gegenstände  gewidmeten  Unter- 
suchungen Dürers  (S.  468).  Auch  bei  Stevin  sind  bahnbrechende 
Gedanken  ausgesprochen,  von  welchen  hier,  wo  wir  mit  einfacher 
Namensnennung  uns  begnügen  müssen,  der  der  Vertheidigung  mittels 
Schleussenwerke  erwähnt  werden  darf,  weil  er  Stevin  in  seiner 
doppelten  Eigenschaft  als  Wasser-  und  Festungsbaumeister  kenn- 
zeichnet. 

Die  eigentlich  mathematischen  Schriften  Stevin's  nöthigen  uns, 
ihm  mehrfach  unsere  Aufmerksamkeit  zuzuwenden.  Fürs  Erste  haben 
wir  es  mit  seinen  geometrischen  und  mechanischen  Werken  zu  thun, 
wobei  aber  eine  Schwierigkeit  auftritt.  Die  weitaus  verbreiteste  Aus- 
gabe von  Stevin's  Werken  ist  die  französische  Uebersetzung  durch 
Albert  Girard,  welche  nach  Stevin's  Tode  vorbereitet  erst  1634 
nach  Girard's  Tode  herauskam.  Bei  der  an  Unauffindbarkeit  grenzen- 
den Seltenheit  der  früheren  Drucke  ist  es  uns  unmöglich  zu  bestimmen, 
wie  weit  in  dieser  Girard'schen  Gesammtausgabe,  abgesehen  von  Zu- 
sätzen des  Herausgebers,  welche  durch  Beisetzung  von  dessen  Namen 
als  solche  gekennzeichnet  sind,  noch  Veränderungen  eintraten.  Ob 
z.  B.  die  fünf  Bücher  geometrischer  Aufgaben  von  1585  in  den  sechs 
Büchern  De  la  pmdique  de  Geometrie  unserer  Ausgabe  enthalten  sind, 
lässt  sich  nicht  entnehmen.  Unwahrscheinlich  ist  es  nicht,  aber 
denkbar  wäre  auch,  dass  jene  erste  geometrische  Schrift  für  uns  gänz- 
lich verloren  gegangen  wäre.  Die  letztere  Möglichkeit  beruht  darauf, 
dass  in  der  lateinischen  Ausgabe  von  1605—1608,  welche  in  manchen 
Dingen  von  der  französischen  Ausgabe  sich  unterscheiden  soll,  und 
welche  namentlich  eine  Abtheilung  De  miscellaneis  besitzt,  welche 
dort  ganz  fehlt  ^),  auch  ein  Verzeichni.ss  von  Schriften  sich  findet, 
welche  hätten  abgedruckt  werden  sollen,  aber  vom  Herausgeber  noch 
nicht  druckfertig  gestellt  werden  konnten  und  desshalb  vorläufig 
zurückgelegt  wurden  ■"').  Allerdings  sind  die  Prohlemata  geometrica 
weder  in  den  Miscellaneis  noch  in  dem  Verzeichnisse  fehlender  Stücke 
enthalten,  und  damit  ist  für  die  erstere  Möglichkeit  eine  Stütze  ge- 
wonnen, welche  durch  einen  Ausspruch  des  Adriaen  van  Roomen 
von  1593  wesentlich  verstärkt  wird.  Dieser  berichtet  nämlich^)  von 
einem  umfassenden  geometrischen  Werke  Stevin's,  an  welchem  derselbe 
arbeite,  nachdem  er  1583 (?)  eine  Probe  davon  in  den  fünf  Büchern 
Aufgaben  gegeben  habe. 

1)  Wertheim  brieflich.  '^  Kästner  III,  407.  ^)  Ebenda  III,  410—411. 
*)  Quetelet  pag.  1G7,  Xote  1. 


574  6*^-  Kapitel. 

Die  französische  Ausgabe  besteht  aus  sechs  Theileu,  von  welchen 
der  I.  eine  besondere  Seitenzählung,  S.  1^222,  besitzt,  während  die 
Theile  II  bis  VI  gemeinschaftlich  einer  neuen  Seiteubezeichnnng, 
S.  1 — 678,  unterworfen  sind.  Das  Ganze  bildet  mithin  einen  sehr 
starken  Folioband  von  900  Seiten.  Die  durch  zweifache  Seitenzählung 
angedeutete  wesentliche  Zweitheilung  des  ganzen  Bandes  ist  darauf 
zurückzuführen,  dass  in  der  vor  S.  1  des  I.  Theils  sich  befindenden 
Inhaltsübersicht  die  Theile  II  bis  V  als  3Iemoires  mathematiques  du 
Prince  Maurice  de  Nassau  (Accente  sind  im  Drucke  nur  äusserst 
selten  angegeben)  bezeichnet  sind,  denen  dann  mit  den  einführenden 
Worten  et  ajn-es  les  susdites  Menioires  der  VI.  Theil  folgt.  Natürlich 
ist  nicht  gemeint,  die  Theile  II  bis  V  seien  von  Moritz  von  Nassau 
verfasst.  Dem  widerspricht  schon  die  Thasache,  dass  in  ihnen  die  mecha- 
nischen Schriften  inbegriffen  sind,  welche  Stevin  1586  unter  eigenem 
Namen  veröffentlichte.  Die  Meinung  ist  vielmehr  die,  es  seien  hier 
Ai-beiten  vereinigt,  welche  für  jenen  Fürsten  bestimmt  waren,  und 
auf  deren  Niederschrift  er  einen  gewissen  Einfluss  ausübte,  welcher 
da  und  dort  durch  die  Bemerkung,  solches  rühre  vom  Prinzen  her, 
hervorgehoben  ist.  Wie  weit  diese  Bemerkungen  selbst  auf  der  Wahr- 
heitsliebe Stevin's,  wie  weit  sie  auf  seiner  höfischen  Gewandtheit  be- 
ruhen, das  zu  ermitteln  ist  unmöglich.  Der  I.  Theil  enthält  Arith- 
metisches und  Algebraisches,  der  IL  Theil  mathematische  Kosmographie, 
der  III.  Theil  die  oben  erwähnten  sechs  Bücher  praktischer  Geometrie, 
der  IV.  Theil  Mechanisches,  der  V.  Theil  Optisches,  der  VI.  Theil  auf 
das  Kriegswesen  bezügliche  Schi-iften. 

Dem  III.  Theile,  zu  welchem  wir  uns  näher  wenden,  ein  ganz 
allgemeines  Lob  zu  spenden,  ist  nicht  viel  Veranlassung.  Die  prak- 
tische Geometrie  Stevin's  ist  unzweifelhaft  ein  durch  seine  An- 
lage eigenthümliches  Werk,  aber  darum  noch  kein  weit  hervorragendes. 
Die  Eigeuthümlichkeit  besteht  darin,  dass  Stevin  bestrebt  ist,  der 
Geometrie  eine  arithmetische  Anordnung  zu  geben.  In  der  Arithmetik 
lernt  man  zuerst  die  Zahl  aussprechen,  dann  führt  man  mit  der  Zahl 
die  vier  einfachen  Rechnungs verfahren  des  Addirens,  Subtrahirens, 
Multiplicirens,  Dividirens  aus,  dann  kommen  die  Proportionsrechnungen. 
Dem  entsprechend  lehrt  die  Geometrie  zuerst  die  einzelnen  Raum- 
gebilde kennen,  welche  später  den  Rechnungsverfahren  unterworfen, 
zuletzt  in  Verhältniss  zu  einander  gebracht  werden.  In  das  Bereich 
des  Keunenlernens  einzelner  Raumgebilde  zieht  aber  Stevin  Auf- 
gaben, welche  man  nicht  leicht  dort  suchen  wird.  Wir  nennen 
deren  zwei  auf  die  Ellipse  bezügliche,  deren  Auflösungen  Stevin 
selbst  anzugehören  scheinen:  die  punktweise  Zeichnung  einer  Ellipse, 
deren  beide  Axen  gegeben  sind,  und  die  Auffindung  der  kleinen  Axe, 


Fortsetzung   der  Geometrie   u.  Mechanik.     Cyclometrie  u.  Trigonometrie. 


Fig.  114. 


wenn  die  grosse  Axe  und  ein  EUipsenbogen  gegeben  sind^)  (Figur  114). 
Die  halbe  kleine  Axe  wird  als  Verlängerung  der  grossen  Axe  gezeich- 
net, ausserdem  eine  ihr  gleiche  Senkrechte 
in  dem  Punkte  errichtet,  wo  beide  Axen 
Bneinanderstossen  und  aus  dem.  gleichen 
Punkte  als  Mittelpunkt  mit  der  halben 
kleinen  Axe  als  Halbmesser  ein  Kreis- 
quadrant beschrieben.  Den  wagrechten  Halb- 
messer des  Kreisquadranten  und  ebenso  die  halbe  grosse  Axe  theilt 
man,  jede  dieser  Strecken  für  sich,  in  eine  gleiche  Anzahl,  etwa  vier 
gleiche  Theile  und  nennt  diejenigen  Theilpunkte  einander  entsprechend, 
welche  von  dem  mehrgenannten  Aneinanderstossungspunkte  der  grossen 
und  halben  kleinen  Axe  nach  rechts  und  links  gezählt  die  gleich- 
vielten  sind.  In  allen  Theilpuukten  werden  Senkrechte  errichtet, 
auf  den  Theilpuukten  der  halben  kleinen  Axe  bis  zum  Durchschnitte 
mit  dem  beschriebenen  Kreisquadranten.  Die  Senkrechten  in  den 
Theilpuukten  der  halben  grossen  Axen  macht  man  den .  nunmehr 
schon  abgegrenzten  Längen  der*  Senkrechten  in  den  entsprechenden 
Theilpuukten  gleich,  so  sind  dadurch  Punkte  der  Ellipse  gegeben. 
Für  die  zweite  Aufgabe  beruft  sich  Stevin  auf  einen  Satz,  welchen 
Guido  Ubaldus,  also  offenbar  Guidobaldo  del  Monte,  bewiesen 
habe,  und  der  dahin  zielt,  dass  wenn  von  einem  Punkte  G  der  kleinen 
Axe  (Figur  115)  nach  einem  Punkte  / 
der  Ellipse  die  Gl  der  halben  gi-ossen 
Axe  gleich  gezeichnet  wird,  das  Stück  HI 
dieser  Geraden  der  halben  kleinen  Axe 
gleich  sein  muss  und  umgekehrt^).  Kennt 
man  also  die  grosse  Axe,  so  zieht  man 
in  deren  Mitte  senkrecht  die ,  Richtung 
der  kleinen  Axe,  schlägt  von  einem  Punkte  I 

des  gegebenen  Ellipsenbogens  mit  der  halben  grossen  Axe  einen  Kreis- 
bogen, der  die  Richtung  der  kleinen  Axe  in  G  schneidet  und  misst 
auf  IG  das  Stück  IH  bis  zum  Durchschnitte  mit  der  grossen  Axe, 
so  ist  dadurch  die  halbe  kleine  Axe  bestimmt.  Bei  der  Definition 
der  Körper  sind  Körpernetze  gezeichnet^),  wie  Dürer  sie  auch  her- 
gestellt hat  (S.  466).    Für  das  Paralleltrapez  ist  der  Name  hace  (Axt) 


Fig.  115. 


^)  Stevin  n,  348 — 349.     Unter  I,   beziehungsweise  II,    verstehen  wir  die 
beiden  Paginirungen,  von  welchen  im  Texte  die  Rede  war.  ^)  Die  Wahrheit 

dieses  Satzes  beweist  sich  leicht  wie  folgt:    IH :  HM  =  GH :  HC,  also 

IH{CM—3IH)  =  GH-3IH,  IHCM=IGMH,  IG^=\~ji^)  =pL^2  =  "'- 
3;  Stevin  II,  359. 


576  68.  Kapitel. 

statt  des  gebräuchlicheren  mensa  (Tisch)  in  Vorschlag  gebracht^). 
Beim  Addiren  von  Linien,  welches  ebenso  wie  das  von  Flächen  und 
auch  das  von  Körpern  gelehrt  wird,  ist  eines  der  vorgeführten  Bei- 
spiele die  Addition  zweier  Kreisperipherien  ^),  welche  durch  die  Peri- 
pherie eines  neuen  Kreises  dargestellt  werde,  dessen  Halbmesser  die 
Summe  der  Halbmesser  der  beiden  gegebenen  Kreise  sei.  Unter  dem 
Begriffe  des  Theilens  von  Flächen  behandelt  Steviu  die  Aufgabe,  die 
Zähne  eines  kleinen  Rades  einzuschneiden^).  Man  befestigt  das  künf- 
tige Rädchen  in  dem  Mittelpunkte  einer  sehr  viel  grösseren  kreis- 
runden Platte,  deren  Umfang  man  in  die  vorgeschriebene  Anzahl  von 
Theilen  theilt.  Dann  zieht  man  Halbmesser  nach  allen  Theilpunkten, 
wodurch  die  kleinere  Scheibe  mit  getheilt  wird.  Fehler  seien  auch 
bei  der  Theilung  des  grossen  Kreises  unvermeidlich,  aber  verkleinert 
werden  sie  unmerklich,  la  faute  se  trouve  du  taut  insensihJe  en  Ja  petite 
plaque.  Auch  Figuren  mit  einspringenden  Winkeln  werden  der  Thei- 
lung unterworfen*).  Dabei  ist  die  Bemerkung  gemacht,  welche  als 
Definition  solcher  Figuren  gelten  kann,  man  müsse  darauf  achten, 
dass  eine  Gerade,  welche  dieselbe  in  zwei  Theile  zerlege,  wirklich 
nicht  mehr  als  zwei  Theile  hervorbringe. 

Ungleich  wichtiger  als  Stevin's  geometrische  Leistungen  sind  seine 
Verdienste  innerhalb  der  3Iechanik,  welche  wir  hier  im  Verein  mit 
jenen  behandeln.  Stevin  war  es,  der  das  Gesetz  des  Gleichge- 
wichtes auf  der  schiefen  Ebene  entdeckte  (Figur  116).  Das 
Dreieck  AGB  stehe  senkrecht  auf  einer 
Ebene,  welche  die  Grundlinie  J. 6' unterstützt^). 
Die  Seite  JBC  sei  halb  so  gross  als  die  BA. 
Man  legt  eine  Kette  von  in  gleichen  Entfer- 
nungen von  einander  aufgereihten  gleichen 
Kugeln  um  das  Dreieck,  so  dass  zwei  Kugeln 
längs  BC,  vier  längs  BA  hängen,  fünf  nach  unten  einen  Zug  ausüben. 
Das  ganze  System  ist  nun  offenbar  im  Gleichgewichte,  weil  sonst  in 
einem  Drehungssinne  oder  in  dem  entgegengesetzten  eine  niemals 
aufhörende  Bewegung  eintreten  müsste,  was  widersinnig  ist,  et  ainsi 
ce  mouvement  naurait  aucune  fin,  ce  qui  est  absurde.  Die  fünf  unten 
hängenden  Kugeln  halten  sich  aber  bei  dem  gleichmässigen  Zuge 
den  sie  ausüben,  gegenseitig  im  Gleichgewichte  und  können  daher 
entfernt  werden,  dann  bleibt  noch  immer  Gleichgewicht  zwischen  den 
vier  Kugeln  auf  AB  und  den  zwei  Kugeln  auf  BC.  Die  vier  Kugeln 
können  dabei   in   eine  und  ebenso  die  zwei    in  eine  vereinig-t  werden. 


»)  Stevin  II,  37.3.       ^  Ebenda  E,  389.       ^)  Ebenda  U,  403.       *)  Ebenda 
II.  405  und  411.         '^)  Ebenda  II.  448. 


Fortsetzung  der  Geometrie  u.  Mechanik.     Cyclometrie  u.  Trigonometrie.       57t 

wenn  nur  ihre  Gewichte  den  Geraden  AB,  BC  proportional  bleiben. 
Weiter  wird  alsdann  die  BC  senkrecht  gedacht  und  durch  ein  Seil 
um  eine  Rolle  bei  B,  an  welchem  ein  Gewicht  hängt,  ersetzt,  so  wird 
in  dieser  Form  das  Gesetz  des  Gleichgewichtes  der  schiefen  Ebene 
vollends  klar^).  Aber  Stevin  geht  noch  einen  grossen  Schritt  weiter: 
er  erkennt  das  Gleichgewicht  zwischen  drei  Kräften,  welche  den  Seiten 
eines  Dreiecks  parallel  und  proportional  sind"),  er  führt  damit  zu- 
gleich in  die  Mechanik  die  Uebung  ein,  Kräfte  nach  Richtung 
und  Grösse  durch  gerade  Linien  zu  versinnlichen,  wodurch 
die  Mechanik  vollends  eine  geometrische  Wissenschaft  wird. 

Noch  hervorragender  steht  Stevin  in  der  Geschichte  der  Hydro- 
statik da,  wo  er  durch  das  sogenannte  hydrostatische  Para- 
doxon^) den  ersten  gewaltigen  Fortschritt  seit  Archimed  und  über 
das  von  Jenem  Geleistete  hinaus  vollbrachte.  Mit  jenem  Namen  hat 
man  den  Satz  belegt,  dass  jede  Avie  immer  geformte  Flüssigkeitssäule 
auf  ihre  Grundlage  einen  dem  Producte  der  Höhe  in  die  Basis  der 
Säule  proportionalen  Druck  ausübe.  Stevin's  Beweis  ist  folgender. 
Zuerst  zeigt  er,  dass  ein  fester  Körper,  welcher  einer  Flüssigkeit 
parigrave  ist  —  gleiche  Dichtigkeit  mit  ihr  hat  —  an  jedem  Orte  der 
Flüssigkeit,  wo  er  nur  eingetaucht  wird,  in  Ruhe  verbleibt.  Ein  ■ 
gerader  Flüssigkeitscylinder  drückt  ferner  seine  Grundlage  mit  dem 
ganzen  Gewichte,  welches  dem  Producte  aus  Höhe  in  Basis  propor- 
tional ist.  Eine  Veränderung  kann  an  dieser  Wahrheit  nicht  statt- 
finden, wenn  nach  dem  Vorhergehenden  ein  parigraver  Körper  be- 
liebiger Form  eingetaucht  wird,  und  ebensowenig,  wenn  man  sich 
diesen  Körper  am  Rande  des  Gefässes  befestigt  denkt,  so  dass  er  mi.t 
dem  Gefässe  eins  wird,  und  nur  die  beliebig  geformte  Flüssigkeits- 
säule übrig  bleibt.  Der  Seitendruck  der  Flüssigkeiten  wird 
demnächst  untersucht  und  dabei  eine  Methode  angewandt,  welche, 
wenn  auch  Archimed  offenbar  nachgebildet,  doch  von  hervorragendster 
Bedeutung  ist,  insofern  sie  zum  ersten  Male  uns  wieder  begegnet^). 
Die  gedrückte  Seitenwand  wird  in  kleine  Flächentheilchen  zerlegt, 
und  da  zeigt  sich,  dass  jedes  Flächentheilchen  einem  Drucke  ausgesetzt 
ist,  welcher  zwischen  zwei  Grenzen  liegt,  d.  h.  grösser  ist  als  ein  ge- 
wisser kleinster  Druck,  kleiner  als  ein  anderer  grösster  Druck,  dass 
ferner  jene  als  Grenzen  auftretenden  Druckgrössen  wie  die  Gewichte 
ein-  und  umschriebener  Körper  sich  verhalten.  Darin  fährt  Stevin 
aber  fort:  Que  si  on  divisait  le  fond  ÄCDE  en  plus  de  4  parties 
egales,  soit  en  8;    il  appert  que   les   corps   inscrifs   et  circonscrits   ne 


0  Stevin  II,  449  Corollaire  IV.     -)  Ebenda  II,  449  Corollaire  VI.     ^)  Eben- 
da II,  488  Corollaire  11.  *)  Ebenda  II,  488  sqq.  Theoreme  IX. 
Cantok,  Geschichte  der  Mathem.   11.    2.  Aufl,  37 


578  (58.  Kapitel. 

differoyent  que  de  la  moitie  de  la  difference  precedente;  et  est  manifeste 
qu'on  poiirroit  partir  le  fond  en  tant  de  pariies  egales  que  la  difference 
des  Corps  inscrits  et  circonscrits  ä  la  demi-colomne,  differeroyent  moins 
qu'aucun  corps  donne',  si  petit  puisse-il  estre.  Es  ist  nicht  zu  ver- 
kennen, dass  hier  ein  Grrenzüb ergang  vorgenommen  ist  auf  Grundlage 
der  Zerlegung  eines  Flächenstückes  in  mehr  und  mehr,  kleinere  und 
kleinere  Flächentheilchen ,  und  bei  der  grossen  Wichtigkeit  der  spä- 
teren Entwickelung  grade  dieser  Betrachtungsweise  erscheint  es  wün- 
schen-swerth  hervorzuheben,  dass  diese  Untersuchungen  Stevin's  zuerst 
1608  in  der  lateinischen  Ausgabe  der  Hyponmemata  mathematica  in 
deren  dritten  Bande  gedruckt  wurden. 

Die  Schwimmfähigkeit  beladener  Schilfe  untersuchend  kam  Stevin 
zu  den  Sätzen^),  dass  der  Schwerpunkt  des  Schiffes  tiefer  als  der 
Schwerpunkt  des  verdrängten  Wassers  sich  befinden  müsse,  und  dass 
ein  Umschlagen  des  Schiffes  um  so  leichter  zu  befürchten  stehe,  je 
höher  sein  Schwerpunkt  liege.  Wenn  auch  nicht  deutlich  ausgesprochen, 
lag  darin  die  Unterscheidung  des  labilen  von  dem  stabilen  Gleich- 
gewichte wenigstens  angedeutet. 

Bei  seinen  Zeitgenossen  war  Stevin  viel  bewundert  wegen  der 
Erfindung  eines  mit  Segeln  versehenen  Wagens,  der  um  das  Jahr 
1600  auf  dem  Strande  zwischen  Scheweningen  und  Fetten  seine  Frobe- 
fahrt  machte.  Der  Wägen,  dessen  kleineres  Modell  man  1802  in 
Scheweningen  noch  auf  bewahi-te,  war  mit  28  Fersonen  besetzt.  Frinz 
Moritz  selbst  lenkte,  und  die  alleinige  Kraft  des  Windes  trieb  das 
Fuhrwerk  14  Wegstunden  weit  mit  solcher  Geschwindigkeit,  dass  kein 
Fferd  mitkommen  konnte").     Soviel  zunächst  über  Stevin. 

Den  geometrischen  und  mechanischen  Betrachtungen  gleichmässig 
verwandt  ist  die  Herstellung  gewisser  Vorrichtungen,  welche 
in  das  Ende  des  XVI.  Jahrhunderts  fäUt. 

Commandinus  soll  einen  doppelten  Zirkel  mit  beweglichem 
Scharnier  und  veränderlichen  Zirkelstangen  erfunden  haben^),  welcher 
dazu  diente,  eine  gegebene  Strecke  in  eine  Anzahl  von  gleichen  Theilen 
zu  theilen. 

Barozzi  hat  einen  Kegelschnittzirkel  eigener  Erfindung  be- 
schrieben*). Ob  freilich  die  Erfindung  eine  ganz  selbständige  war, 
oder  ob  Barozzi  auf  irgend  eine  Weise  Kenntniss  von  arabischen  Vor- 
arbeiten (Bd.  I,  S.  707)  erhalten  hatte,  müssen  wir  dahingestellt  sein 
lassen.     Jedenfalls   ist  Barozzi's  Vorrichtung  denen   der  Araber   sehr 


1)  Stevin  II,  512—513.  -)  Quetelet  pag.  155—156.  ^)  Libri  III, 

121.  *)  Kästner  II,  98.    —    A.  von  Braunmühl,    Notiz    über    die    ersten 

Kegelschnittzirkel.     Zeitschr.   Math.  Phys.  XXXV,   Histor.-Iiterar.  Abthlg.  S.  161 
—165. 


Fortsetzung   der  Geometrie  u.  Mechanik.     Cyclometvie  u.   Trigonometrie.       579 


ähnlicli.  Die  Beschreibung  findet  sich  in  dem  Buche  über  Asymptoten 
und  kennzeichnet  die  Vorrichtung  als  eine  solche,  welche  den  Kegel- 
schnitt als  Durchschnitt  einer  Ebene  mit  einem  Ki-eiskegel  entstehen 
lässt.  Die  eine  Zirkelstange  enthält  nämlich  ein  Röhrchen,  in  wel- 
chem ein  Stift  derartig  verschiebbar  ist,  dass  er,  während  das  Röhr- 
chen einen  Kegelmantel  beschreibt,  fortwährend  mit  der  Zeichnungs- 
ebene in  Berührung  bleibt  und  auf  ihr,  je  nach  der  Stellung  des 
Zirkels,  diesen  oder  jenen  Kegelschnitt  hervorbringt.  Nach  seinem 
Instrumente  hat  dann  Barozzi  noch  ein  zweites  beschrieben,  welches 
ungefähr  auf  dem  gleichen  Grundgedanken  beruht,  und  welches  von 
einem  anderen  Italiener  Giulio  Thiene^)  erfunden  worden  ist. 

Ein  Professor  Hommel  (1518—1562)  in  Leipzig  bediente  sich^) 
des  sogenannten  Transversalmaassstabes  (Figur  117),  bei  welchem 
durch  Trausversallinieu,  die  von 
dem  oberen  Rande  des  Maass- 
stabes gegen  den  unteren  ge- 
neigt gezeichnet  sind,  die  Mög- 
lichkeit gegeben  ist,  auch  solche 
Längen  abzumessen,  welche  in 
Gestalt  von  Bruchtheilen  der 
kleinsten  in  Anwendung  kom- 
menden Maasseinheit  sich  aus- 
drücken. Dass  er  in  Levi  ben  Gerson  (S.  289)  einen  Vorgänger  hatte, 
war  ihm  vermuthlich  unbekannt. 

Eine  ähnliche  Aufgabe  hatte,  wie  wir  uns  erinnern,  Nonius  sich 
gestellt  (S.  389),  eine  ähnliche  löste  Clavius^').  Allerdings  fällt  die 
Veröffentlichung  der  von  Clavius  ersonnenen  Vorrichtung  schon  in 
den  Anfang  des  XVII.  Jahrhunderts,  aber  unsere  Leser  sind  daran 
gewöhnt,  dass  wir  die  Zeitgrenzen  nicht  genau  einhalten  können. 
Clavius  verlangt,  mau  solle  einen  Maassstab  in  100  oder,  wenn  seine 
Länge  es  gestattet,  in  1000  gleiche  Theile  theilen.  Auf  einem  be- 
sonderen Stäbchen  werde  die  Länge  von  11  Theilen  aufgetragen  und 
selbst  in  10  gleiche  Theile  getheilt.  Jedes  Theilchen  des  Hilfsmaass- 
stabes  beträgt  also  11  Tausendstel  des  ursprünglich  100  theiligen,  be- 
ziehungsweise 11  Zehntausendstel  des  ursprünglich  lOOOtheiligen 
Maassstabes,  und  durch  Verschiebung  längs  dem  ursprünglichen  Maass- 
stabe kann  eine  Messung  auf  ~  der  dortigen  kleinsten  Längeneinheit 


,  \  \  \  \  \  \  \  \ 

\  \   \      MIM 

M      1       M   \   1 

\        \     w  \\ 

\  \         M  M  M. 

M  M  M  MM  1 

M  M  M  M  M 

\  M  M  M  M  1 

\  1  M  M      \\\ 

\  \  \   \   \  \      IM 

Fig.  117. 


')  Ueber  ihn  vergl.  Lampertico,  Di  Giulio  Thiene  uome  cl'arme  e  di 
scienza  del  Secolo  XFJin  den  Atti  des  R.  Instituto  Veneto  für  1891.  -)  Kästner 
II,  355.  3)  Breusing,  Nonius  oder  Vernier?   in  den  Astronomischen  Nach- 

richten von  1880  Nr.  2289  (Band  XCVI,  S.  129—134). 

37* 


580  <^8.  Kapitel. 

genau  vorgeuommeu  werden.  Das  Neue  und  Wichtige  bei  dieser 
Einrichtung  ist  die  Auftragung  der  Hilfstheilung  auf  ein  frei 
bewegliches  Stäbchen,  welche  von  da  an,  wenn  auch  nicht  so- 
fort, Regel  und  stete  Uebung  geworden  ist.  Clavius  veröffentlichte 
seine  Erfindung  1606  in  seiner  Geometria  practica,  und  in  einer  zweiten 
Schrift,  Astrolahium,  hat  er  sie  auch  auf  Winkelablesungen  ausgedehnt. 
Ein  in  einzelne  Grade  abgetheilter  Kreisquadrant  dient  zur  Ablesung 
von  einzelnen  Winkelminuteu,  sofern  ein  Hilfsbogen  von  6P  in  60 
gleiche  Theile  getheilt  zum  Anlegen  vorbereitet  ist.  Die  Geometria 
practica  verdient  vollauf  das  Lob,  welches  in  den  Worten  ausgesprochen 
ist^),  sie  sei  „das  Muster  eines  Lehrbegriffes  der  praktischen  Geo- 
metrie, vollkommen  für  ihi-e  Zeit".  Das  Werk  ist  in  acht  Bücher 
getheilt.  Das  1.  Buch  enthält  die  Beschreibung  von  zu  Längen-  und 
Winkelmessungen  nöthigen  Vorrichtungen  und  die  trigonometrische 
Berechnung  von  Dreiecken.  Die  eigentliche  Feldmessung  ist  im  2. 
und  3.  Buche  gelehrt.  Das  4.  Buch  bringt  Inhaltsformelu  für  ebene 
Figuren,  das  5.  Buch  solche  für  Raumkörper,  wobei  die  archimedische 

22 
Verhältnisszahl  -^  als  genügend  benutzt  wird.  Das  6.  Buch  löst  allerlei 

Theilungsaufgaben,  sowie  solche,  welche  auf  Vergrösserung  von  Raum- 
gebilden in  gegebenem  Verhältnisse  sich  beziehen.  Die  Würfelver- 
doppelung bildet  einen  besonderen  Fall  der  letzteren  Aufgabe,  und 
Clavius  bedient  sich  bei  ihr  der  von  griechischen  Schriftstellern  zu 
gleichem  Zwecke  benutzten  krummen  Linien.  Im  Anschlüsse  an  die 
Würfelverdoppelung  erscheint  die  Lehre  von  den  Wurzelausziehungen, 
um  die  vorher  geometrisch  gelösten  Aufgaben  auch  rechnerisch  be- 
wältigen zu  können.  Das  7.  Buch  bezeichnet  sich  als  das  von  den 
isoperimetrischen  Figuren  und  Körpern  nebst  einem  Anhange  von 
der  Quadratrix.  In  dem  ziemlich-  umfangreichen  8.  Buche  sind  sehr 
verschiedene  geometrische  Aufgaben  vereinigt.  Dort  sind  z.  B.  auch 
einige  von  den  Näherungsconstructionen  besprochen,  welche  Dürer 
gelehrt  hat  ('S.  462),  und  welche  unter  Handwerkern  weit  verbreitet 
waren.  Trigonometrische  Rechnung  führt  im  29.  Satze  dieses  Buches 
zur  Auffindung  der  Winkel  in  dem  mit  fester  Zirkelöffnung  her- 
gestellten gleichseitigen  Fünfecke,  und  damit  zum  Nachweise,  dass 
von  genauer  Gleichwinkligkeit  hier  nicht  die  Rede  sein  könne.  Im 
30.  Satze  wird  die  Auffindung  der  Siebenecksseite  als  halbe  Drei- 
ecksseite gelehrt,  aber  in  einer  anderen  Ausdrucks  weise  und  unter 
Berufung  auf  Carolus  Marianus  Cremonensis,  eine  Persönlich- 
keit,  die  damals  bekannter   gewesen  sein   muss,  als  sie  gegenwärtig 


1)  Kästner  III,  287. 


Fortsetzung   der  Geometrie   u.  Mechanik.     Cyclometi'ie   u.  Trigonometrie.      581 


ist.     Seine  Vorschrift  verlaugt  ^),  dass  mau  (Fig.  118)  den  Halbmesser 
I)Ä  des  Kreises,  in  welchen  das  regelmässige  Siebeneck  eingezeichnet 

werden     soll,     um      ÄE  =    ^-^J^     verlängere. 

Dann  soll  mau  um  E  mit  EB  =  DA  als  Halb- 
messer einen  neuen  Kreis  beschreiben,  welcher 
den  ersten  in  B  schneide,  so  sei  AB  die  Sie- 
benecksseite. Die  Rechnung  liefert  DE=^—j 
wenn  BE  =  BD  =  r.  Ist  BG  ±  DE,  so 
folgt  weiter  DG  ^=^  GE  =^  und 


BE'  —  GE' 


BG' 
Ferner  ist 
AB'  =  BG'-j-AG' 


39  r 


64 


Fig.  118. 


BG'-\-{DA  —  DGy 


39  r- 


+  r 


64      '    V  8/  4 

also  AB  =^  ^y?» ,  und  das  ist  die  Hälfte  der  Seite  des  regelmässi- 
gen Sehnendreiecks.  Den  Schluss  des  ganzen  Werkes  bildet  eine 
Tafel  der  Quadrate  und  Würfel  aller  ganzen  Zahlen  von  1  bis  1000 
und  eine  Anweisung,  wie  man  bei  Ausziehung  von  Quadrat-  und 
Kubikwurzeln  diese  Tafel  mit  Vortheil  anwenden  könne.  So  weit  die 
Tafel  Kubikzahlen  enthielt,  war  sie  die  von  grösster  Ausdehnung, 
welche  noch  veröffentlicht  worden  war  und  blieb  es  auch  für  lange 
Zeit.  Die  Tafel  der  Quadratzahlen  aber  war  schon  vor  ihrem  Er- 
scheinen durch  die  Tahnla  tetragonica  von  1592  des  italienischen 
Astronomen  Magini  (1555 — 1615)  weit  überboten''').  Auf  24  Blättern 
enthält  diese  die  Quadrate  der  Zahlen  von  1  bis  100100. 

Hätten  wir  streng  die  Zeitfolge  eingehalten,  so  wäre  vor  Clavius 
ein  anderer  ganz  tüchtiger  Geometer  zu  nennen  gewesen.  Simon 
Jacob  ^)  ist  in  Coburg  geboren  und  1564  in  Frankfurt  am  Main 
gestorben.  Er  verfasste  ein  Rechenbuch  nebst  Geometrie  als  zweite 
Bearbeitung  eines  bloss  der  Rechenkunst  gewidmeten  Werkes  und 
schrieb  1552  die  Vorrede  dazu.  Der  Druck  begann  1557,  wurde  aber 
unterbrochen.  Als  der  Verfasser  dann  1564  starb,  besorgte  sein 
Bruder  Pancraz  Jacob  1565  die  neue  Ausgabe,  welche  selbst  wieder- 
holt  gedruckt   wurde.     In    dem   dritten,   treometrischen  Theile  ist    im 


^)  Auf  das  Verfahren  des  Cremonesers  hat  S.  Günther,  Zeitschr.  Math. 
Phys.  XX,  Hist.-literar.  Abthlg.  S.  116  aufmerksam  gemacht,  dann  H.A.J.  Press- 
land, On  the  history  and  degree  of  certain  geometrical  approximations  in  den 
Proceedings  of  the  Edinburgh  Mathematical  Society  Vol.X.  ^i  J.  W.  L.  Glaisher, 
Report  of  the  Committee  of  mathematical  tables.  London  1873,  pag.  26.  ^)  Allgem. 
deutsche  Biographie  XIII,  559. 


582  68.  Kapitel. 

59.  Satze  angegeben,  die  Seiten  25,  33,  60,  16  in  der  genannten 
Reihenfolge  aneinander  gefügt  bildeten  ein  Sehnenviereck  im  Kreise 
vom  Durchmesser  65,  die  beiden  Diagonalen  seien  52  und  39.  Wie 
Jacob  zu  diesen  Zahlen  gekommen  ist,  hat  er  mit  keinem  Worte 
angedeutet.  Erwähnenswerth  mag  aber  auch  erscheinen,  dass  das 
Wort  corauscus,  eine  andere  Form  für  cormisfns,  erklärt  wird  als 
„eine  Linie,  so  mit  dem  Basi  Parallel  oder  gleichweitig  ist". 

Wenzel  Jamitzer^)  (1508 — 1586),  dessen  Name  auch  in  den 
Schreibweisen  Jamnitzer  und  Gamiczer  vorkommt,  ein  geschickter 
Goldschmied  zur  Nürnberg,  hat  1568  Abbildungen  zahlreicher  geo- 
metrischer Körper  der  Oefifentlichkeit  übergeben.  Hat  die  Sammlung 
gleich  mehr  künstlerisches  als  geometrisches  Interesse,  so  darf  doch 
vielleicht  bemerkt  werden,  dass  in  ihr  auch  Zeichnungen  von  Stern- 
polyedern vorkommen,  den  ersten,  welche  nachgewiesen  worden  sind. 

Eine  ganz  andere  Persönlichkeit  als  diejenigen,  welchen  wir  die 
letzten  Seiten  gewidmet  haben,  war  Franciscus  Vieta^),  der  grösste 
französische  Mathematiker  des  ganzen  XVI.  Jahrhunderts.  Fran^ois 
Viete  Seigneur  de  la  Bigotiere  ist  1540  in  Fontenay-le-Comte 
in  Poitou  geboren,  1603  in  Paris  gestorben.  Er  gehörte  einer  katho- 
lischen Familie  an  und  starb  als  Katholik.  Da  er  unzweifelhaft  eine 
Reihe  von  Jahren  hindurch  zu  den  Hugenotten  gehört  hat,  so  muss 
eine  zweimalige  Glaubensänderung  bei  ihm  angenommen  werden. 
Vieta  widmete  sich  der  Rechtsgelehrsamkeit  und  begann  nach  in 
Poitiers  vollendetem  Studium  seine  Laufbahn  als  Rechtsanwalt  in 
seiner  Vaterstadt,  eine  Stellung,  welche  er  jedoch  1567  freiwillig 
wieder  aufgab.  Als  er  später  Parlamentsrath  in  Rennes  geworden 
war,  vertrieben  ihn  die  aus  Religionszwistigkeiten  entstandenen  Un- 
ruhen, und  Herzog  von  Rohan,  der  bekannte  Führer  der  Hugenotten, 
nahm  Vieta  unter  seinen  persönlichen  Schutz.  Auf  seine  Empfehlung 
hin  wurde  Vieta  1589  Maitre  des  requetes,  Berichterstatter  über  Bitt- 
schriften. Nachdem  Heinrich  von  Navarra  als  König  Heinrich  IV. 
den  Thron  bestiegen  hatte,  wurde  Vieta  1589  Parlamentsrath  in 
Tours,  später  Mitglied  des  königlichen  geheimen  Raths.  Vieta's  Tod 
wird  von  dem  Herausgeber  seines  Nachlasses  als  ein  plötzlicher  be- 
zeichnet, praecix)iti  et  immaturo  autoris  fato  ^),  Näheres  ist  aber  nicht 


*)  Doppelmayr  S.  160  und  205.  —  Kästner  II,  19—24.  —  Günther, 
Vermischte  Untersuchungen  zur  Geschichte  der  mathematischen  Wissenschaften 
S.  35—36.  —  Allgemeine  Deutsche  Biographie  XIII,  691—692.  Artikel  von 
R.  Bergau.  *)  Kästner  III,  37 — 38  und  162 — 175.  —  Notwelle  Biographie 

universelle  (Paris  1866)  XLVI,  135—137.  Die  1646  veranstaltete  Ausgabe  von 
Vieta's  Werken  citiren  wir  als  Vieta  mit  nachfolgender  Seitenzahl.  ^)  Vieta 
pag.  83. 


Fortsetzung   der  Geometrie  u.  Mechanik.     Cyclometrie   u.  Trigonometrie.       583 

bekannt.  Von  Vieta's  amtlicher  Thätigkeit  wird  nur  eine  verdienst- 
liche Leistung  berichtet:  in  Tours  sei  es  ihm  gelungen,  den  Schlüssel 
zn  einer  aus  mehr  als  500  Zeichen  bestehenden  Geheimschrift  zu 
ermitteln,  deren  die  mit  Frankreich  auf  feindlichem  Fusse  stehende 
spanische  Regierung  sich  bediente,  wodurch  alle  aufgefangenen  De- 
peschen plötzlich  leicht  verständhch  wurden.  Schriftsteller  war  Vieta 
nur  auf  mathematischem  Gebiete  und  zwar  in  äus.serst  fruchtbarer 
Weise.  Er  liess  seit  1571,  besonders  aber  seit  1591,  zahlreiche  Ab- 
handlungen und  Bücher  auf  eigene  Kosten  drucken  und  verschickte 
sie  an  Fachgenossen  aller  Länder.  Dabei  kamen  ihm  seine  günstigen 
Vermögensverhältnisse  zu  statten.  In  dieser  Beziehung  wird  erzählt, 
es  hätten  sich  20000  Thaler  in  klingender  Münze  neben  seinem  Sterbe- 
bette vorgefunden.  Für  den  guten  Gebrauch,  welchen  er  von  seinen 
Geldmitteln  zu  machen  wusste,  und  nicht  minder  für  die  Milde  seines 
Charakters  zeugt  die  Thatsache,  dass  er  zwischen  1600  und  1001 
einen  wissenschaftlichen  Gegner,  Adriaen  van  Roomen,  einen  Monat 
lang  als  Gast  bei  sich  beherbergte  und  ihm  alsdann  die  Rückreise 
bezahlte^).  Vieta's  Schriften  wurden  gemäss  der  erwähnten  Art  ihrer 
Verbreitung  rasch  bekannt,  gingen  aber  auch  rasch  verloren,  und^so 
war  bereits  1646  Franciscus  van  Schooten,  der  eine  Gesammt- 
ausgabe  der  Vieta'schen  Abhandlungen  veranstaltete,  nicht  mehr  im 
Stande,  sie  sämmtlich  beizubringen.  Wir  werden  sehen,  dass  muth- 
masslich  wenigstens  einige  wesentliche  Verluste  zu  beklagen  sind. 
Dazu  gehört  bereits  der  Canon  mathematicus  von  1579.  Es  war  ein 
Tabellenwerk ^),  welches  die  Sinus,  Tangenten  und  Secanten  aufein- 
anderfolgender Winkel,  noch  verschiedene  andere  Tafeln  und  eine 
ebene  und  sjihärische  Trigonometrie  enthielt.  Zahllose  Druckfehler 
entstellten  das  Werk,  und  deshalb  zog  Vietä  alle  Exemplare,  deren 
er  habhaft  werden  konnte,  zurück  und  vernichtete  sie.  In  Folge  dessen 
gehört  Vieta's  Canon  von  1579  zu  den  grössten  Seltenheiten'^),  und 
noch  weniger  bekannt  ist  ein  Abdruck,  welcher  1609,  also  nach 
Vieta's  Tode,  veranstaltet  wurde'^).  In  dem  Canon  findet  sich  eine 
entschiedene  Absage  an  die  Sexagesimalbrüche  zu  Gunsten  der  Deci- 
malbrüche.  Letztere  sind  meistens  durch  kleinere  Typen  von  den 
ganzen    Zahlen    unterschieden,    zuletzt    ausser    durch    kleinere    Typen 


^)  So  berichtet  der  franzö.sische  Geschichtsschreiber  De  Thou  im  129.  Buche 
seiner  Geschichte,  aus  welchem  ein  Auszug  der  Gesammtausgabe  von  Vieta's 
Werken  vorgedruckt  ist.  *)  Montucla  I,  610—611.  ^)  Ein  Exemplar  findet 
sich  in  der  Landesbibliothek  zu  Kassel.  Vergl.  Hunrath  in  Zeitschr.  Math. 
Phys.  XXXVni,  Histor.-literar.  Abthl.  S.  25.  ■  *)  Ein  Exemplar  findet  sich  in 
der  königlichen  Bibliothek  zu  Stockholm.  Vergl.  G.  Eneström  in  der  Biblioth. 
mathem.  1892  S.  92. 


584  68.  Kapitel. 

noch  durch  einen  sie  von  den  ganzen  Zahlen  trennenden  senkrechten 
Strich,  den  Vorgänger  des  später  eingeführten  Pünktchens^).  Die 
Gesammtausgabe  von  1646  enthält  die  in  ihr  gesammelten  Schriften 
nicht  in  der  Zeitfolge  ihres  Erscheinens  geordnet,  auch  nicht  inner- 
halb der  sachlich  zusammengehörenden  Abhandlungen  ist  diese  Zeit- 
folge genau  eingehalten,  und  ebensowenig  unterstützen  Datirungen 
die  Uebersicht;  man  ist  vielmehr  genöthigt,  aus  anderen  bibliogra- 
phischen Schriften  die  Angaben  zu  entnehmen,  wann  die  einzelnen 
Stücke  erstmalig  gedruckt  worden  sind-). 

Zunächst  haben  wir  es  mit  Vieta  als  Geometer  zu  thun  und 
haben  desshalb  mit  zwei  Abhandlungen  zu  beginnen,  welche  1593 
zuerst  im  Drucke  erschienen:  Effedionum  geometricarum  canonica 
recensio^)  und  Supplementum  Geometriae^).  Die  erstere  Schrift  ist 
das,  was  man  heute  algebraische  Geometrie  zu  nennen  pflegt, 
d.  h.  eine  Zusammenstellung  derjenigen  mit  Zirkel  und  Lineal  aus- 
führbaren Constructionen,  welche  dazu  dienen,  gewisse  Rechnungs- 
operationen, z.  B.  Auffindung  des  geometrischen  Mittels  zwischen 
zwei  gegebenen  Werthen,  Auffindung  des  vierten  Gliedes  einer  Pro- 
portion, von  welcher  drei  Glieder  bekannt  sind  u.  s.  w.,  durch  Zeich- 
nung auszuführen.  Das  war  freilich  keineswegs  neu.  Fast  jede  der 
in  den  Effectiones  geometricae  beschriebenen  Constructionen  ist  bereits 
in  den  Euklidischen  Elementen  gelehrt  oder  stützt  sich  unmittelbar 
auf  dort  Gelehrtes,  und  wenn  auf  ganz  neuerdings  Veröffentlichtes 
Rücksicht  genommen  werden  will,  so  hat  Benedetti  in  seinen  Spe- 
culationes  diversae  von  1585  (S.  567)  Aehnliches  behandelt.  Aber 
neu  war  die  Zusammenstellung  dieser  Aufgaben,  ihre  Vereinigung 
in  der  bestimmten  Absicht,  rechnerisch  erhaltene  Ausdrücke  geome- 
trisch zu  ermitteln,  und  darin  lag  ein  bemerkenswerther  Fortschritt. 
Zirkel  und  Lineal  genügen  aber  entfernt  nicht,  alle  Aufgaben  zu 
lösen.  Sie  reichen  schon  bei  solchen  nicht  aus,  die  wir  kubische 
Aufgaben  nennen,  weil  sie  in  Gleichungsgestalt  vorgelegt  zum  dritten 
Grade  sich  erheben.  Dazu  kann  man  sich  dann  verschiedener  Curven 
bedienen,  z.  B.  der  nikomedischen  Conchoide,  welche  die  Aufgabe 
löst,  von  einem  gegebenen  Punkte  aus  eine  Gerade  so  zu  ziehen,  dass 
deren  zwischen  zwei  gegebenen  Linien  liegendes  Stück  eine  gegebene 
Länge  besitze;  auch  Archimed  zählte  die  Ausführung  dieses  Ver- 
langens zu  den  erfüllbaren  Forderungen^).    Mit  Constructionen  solcher 


1)  Hunrath  1.  c.  S.  26.  ^)  Wesentliche  Dienste  leistet  z.  B.  J.  G.  Th. 

Graesse,  Tresor  de  Iwres  rares  et  pre'cieux  ou  Nouveau  Dictionnaire  Bibliogra- 
phique.  3)  Vieta  pag.  229—239.  ^)  Ebenda  pag.  240—257.  ")  Ebenda  pag.  240: 
Et  opus  nie  videtwr  absolvisse  Nicomedes  siia  conchoide  ....  Postidatum  autem 
omnino  admisit  Ärchimedes. 


Fig.  119. 


Fortsetzung   der  Geometrie   u.  Mechanik.     Cyclometrie   u.  Trigonometrie.      585 

Art  hat  es  das  Supplementum  Geomefriae  zu  thun.  Iin  9.  Satze  des- 
selben ist  z.  B.  die  Dreitheilimg  eines  Winkels  in  der  Weise  voll- 
zogen, dass  man  (Figur  119)  den  zu 
theilenden  Winkel  DBE  als  Centri- 
winkel  eines  Kreises  zeichnet,  den 
einen  Schenkel  DB  bis  zum  zweiten 
Durchschnitte  C  mit  dem  Kreise  und 
darüber  hinaus  verlängert  und  alsdann 
vom  Endpunkte  E  des  anderen  Schen- 
kels nach  dem  verlängerten  ersten 
Schenkel  DB  eine  Gerade  EF  zieht, 
deren  jenseits  des  Kreises  gelegenes 
Stück  GF  dem  Kreishalbmesser  BE  gleich  sei.  Der  Winkel  bei  F 
ist  alsdann  ein  Drittel  des  zu  theilenden  Winkels.  Vieta's  Construc- 
tion  ist  nicht  die  des  Nikomedes  (Bd.  I,  S.  337),  sondern  diejenige  des 
Archimed  (Bd.  I,  S.  284).  Nun  ist  aber  nicht  überflüssig  in  Erinne- 
rung zu  bringen,  dass  die  archimedische  Construction  in  den  soge- 
nannten Wahlsätzen  erhalten  ist,  die  nikomedische  bei  Pappus.  Die 
Sammlungen  des  Pappus  waren  seit  1588  durch  Commandinus  her- 
ausgegeben, und  Vieta  hat  sie,  wie  aus  vielfachen  Uebereinstimmungen 
ausser  Zweifel  ist,  eingehend  studirt.  Die  Wahlsätze  Archimed's  da- 
gegen wurden  aus  dem  Arabischen  erstmalig  1659  durch  Foster  be- 
kannt^). Daraus  geht  hervor,  dass  die  Dreitheilung  des  Winkels, 
welche  Vieta  lehrte,  kein  Anlehen  bei  einem  alten  Schriftsteller,  son- 
dern selbständige  Nacherfindung  war.  Die  ganze  Bedeutung  des 
Supplementum  Geometriae  enthüllt  aber  der  IG.  und  besonders  der 
25.  und  letzte  Satz,  der  allgemeine  Folgesatz"),  consectarium  generale, 
Vieta's,  dass  jede  kubische  oder  biquadratische  Aufgabe, 
wenn  sonst  nicht  lösbar,  ihre  Lösung  dadurch  finde,  dass 
man  sie  entweder  auf  eine  Einschiebung  zweier  mittleren 
Proportionalen  oder  auf  eine  Winkeldreitheilung  zurück- 
führe. Für  die  biquadratischen  Aufgaben  gelte  diese  Behauptung, 
weil  biquadratische  Gleichungen,  wie  in  der  Abhandlung  De  aequa- 
tiomim  recognitione  gezeigt  sei,  immer  auf  kubische  sich  zurückführen 
lassen.  Zweierlei  können  wir  diesem  Ausspruche  nebenher  entnehmen. 
Erstens  geht  aus  ihm  hervor,  dass  die  Recognitio  aequationum,  wenn 
sie  auch  erstmalig  1615  durch  Anderson  dem  Drucke  übergeben 
wurde,  doch  1593  bereits  der  Hauptsache  nach  fertig  gestellt  war. 
Zweitens  kann  man  den  Ausdruck  omnia  Problemata  alioqui  non 
solubiUa,     nachdem    die     Auflösung     kubischer     Gleichungen     durch 


^)  Archimedes  (ed.  Heiberg)  II,  428.         ^)  Vieta  pag.  257. 


586  68.  Kapitel. 

eiu  algebraisch  allgemeines  Verfahren  einmal  bekannt  war,  billiger- 
weise nicht  anders  verstehen,  als  dass  Vieta  sich  vollständig  klar 
darüber  war,  dass  die  geometrische  Auflösung  den  grossen  Vorzug 
vor  der  algebraischen  besass,  dass  für  sie  die  Schwierigkeit  von  unter 
dem  Kubikwurzelzeichen  auftretenden  imaginären  Quadratwurzeln  nicht 
vorhanden  war. 

Wieder  im  Jahre  1593  erschien  Variorum  de  rchns  mathematicis 
responsorum  liher  VIII  ^),  ein  einzelnes  Buch  aus  einer  Sammlung, 
welche  leider  nicht  vollständiger  bekannt  geworden  ist.  In  dem  allein 
veröffentlichten  achten  Buche  ist  auch  der  Streit  über  den  Contin- 
genzwinkel  Gegenstand  der  Betrachtung^).  Vieta  stellt  sich  ganz 
und  voll  auf  den  Standpunkt  Peletier's,  der  Contingenzwinkel  sei  kein 
Winkel,  aber  die  Beweisführung  ist  neu.  Der  Kreis,  sagt  Vieta,  wird 
als  eine  ebene  Figur  von  unendlich  vielen  Seiten  und  Winkeln  be- 
trachtet; eine  gerade  Linie  aber,  welche  eine  Gerade  berührt,  reda 
rectam  contingms,  wird,  von  wie  unbedeutender  Länge  sie  sein  mag, 
mit  jener  Geraden  zusammenfallen,  coincidit  in  eandem  lineam  rectam, 
und  bildet  keinen  Winkel,  nee  cmgidum  facit.  Nirgend  war  noch  so 
deutlich  ausgesprochen  worden,  was  eigentlich  unter  Berührung  zu 
verstehen  sei.  Des  Wortes  Contingenzwinkel  oder  eines  ähnlich 
klingenden  bedient  sich  übrigens  Vieta  nicht.  Er  übersetzt  das 
griechische  Tce^axonÖYig  (Bd.  I,  S.  250)  mit  cormcidaris.  Das  ist  über- 
haupt eine  Eigenthümlichkeit  Vieta's,  durch  welche  seine  Schriften 
meistens  so  schwer  zu  lesen  sind,  dass  er  es  liebte,  mit  Neubildungen 
um  sich  zu  werfen,  in  deren  Auswahl  er  meistens  so  wenig  glücklich 
griff,  dass  seine  Ausdrücke  kaum  je  Bürgerrecht  erlangten.  Vieta 
besass  durchweg  die  Neigung,  seine  Entdeckungen  in  thunlich  dunkelste 
Sprache  zu  kleiden,  vielleicht  mit  der  Absicht,  in  deren  Alleinbesitz 
zu  bleiben,  während  andererseits  durch  den  Druck  sein  Erstlingsrecht 
gewahrt  war. 

Dem  Jahre  1596  entstammt  der  Pseudomesolahum  et  alia  quae- 
dam  adiuncta  capitida^).  Es  war  eine  Streitschrift  gegen  einen  in 
ihr  nicht  mit  Namen  genannten  Verfasser,  den  aber  jeder  zeitgenös- 
sische Leser  sofort  als  Josef  Scaliger  erkennen  musste.  Dessen 
Werk  von  1594,  die  in  Leyden  gedruckten  Cyclometrica  elementa,  nebst 
den  vielen  Widerlegungen,  welche  es  hervorrief,  werden  noch  in 
diesem  Kapitel  zur  Rede  kommen.  Vieta's  Pseudomesolahum  erörtert 
die  Möglichkeit  einer  Würfelverdoppelung,  sofern  andere  Aufgaben 
als  bereits  gelöst  vorausgesetzt  werden,  aber  freilich  sind  das  selbst 

1)  Vieta  pag.  347— 435.  ^)  Ebenda  pag.  386.  ^)  Ebenda  pag.  258— 285. 
Für  die  Datirung  vergl.  C  h  a  s  1  e  s ,  AperQi(>  hist.  pag.  443  Note  3  (deutsch 
S.  497  Note  126). 


Fortsetzung  der  Geometrie   u.  Mechanik.     Cyclometrie   u.  Trigonometrie.      587 

Aufgaben,  deren  Bewältigung  andere  Mittel  als  die  ausscUiessliche 
Benutzung  von  Zirkel  und  Lineal  erfordert. 

Die  Zusätze,  adinnda  capihäa,  betreffen  zunächst  die  Aufgabe,  aus 
vier  Strecken,  von  denen  je  drei  eine  grössere  Summe  als  die  vierte 
haben,  ein  Sehnenviereck  herzustellen.  Die  schon  von  ßegiomon- 
tanus  ins  Auge  gefasste  Aufgabe  hatte  jetzt  zeitgemässes  Interesse. 
Benedetti  und  Jacob  waren  Vieta  vorausgegangen,  ein  anderer 
deutscher  Geometer,  den  wir  gleich  nennen  werden,  folgte,  auch 
Scaliger,  und  das  gab  offenbar  Vieta  Veranlassung  zum  Nachdenken 
über  die  Aufgabe,  hatte  eine  Behandlung  derselben  vorgeschlagen, 
die  wie  gewöhnlich  falsch  war.  Seien  a,  h,  c,  ä  die  vier  zur  Bildung 
eines  Sehnenvierecks  geeigneten  und  gegebenen  Strecken.  Nun  seien 
]/a^  -|-  W  und  l/c^4-  d^  die  Hypotenusen,  welche  a,  h  beziehungsweise 
c,  d   zu    einem  rechtwinkligen  Dreieck   ergänzen;    ihr   arithmetisches 

Mittel  — "j/a^  -f-  W  -\-  -^Vc^  -f-  d^  werde  der  Durchmesser  des  Umkreises 

des  verlangten  Sehnenvierecks  sein.  Die  Widerlegung  Scaliger's  war 
für  Vieta  leicht.  In  denselben  Umkreis,  sagte  er,  müsse  das  Sehnen- 
viereck wie  in  der  Reihenfolge  a,  h,  c,  d  der  Seiten,  so  auch  in 
deren  Reihenfolge  a,  c,  h,  d  sich  einzeichnen  lassen,  aus  welcher  für 
den  Durchmesser  des  Umkreises  nach  Scaliger's  Vorschrift 

-:!Y«'  H-  c'  +  IVh^  +  d^ 
sich  ei-gebe  5  es  würde  also 


]/«;  +  h-  +  ]/ 6-  +  d^  =  Ya-  +  c-  +  yp  +  f?2 

sein  müssen,   und   das  ist  nicht   wahr.     Bei  «  ==  15,  6  =  20,  t  =  7, 
d=24:  ist 


y«2  _|_  ^2  _^  -|/c2  _|_  ^p  _  -j/225  +  400  +  y49  +  576  =  25  -f  25  =  50 
und 


Ya'  +  c^  +  Yb'  -\-d'  =  1/225  +  49  +  l/400  +  576  <  17  +  32  <  50. 

Vieta  bleibt  bei  dieser  Widerlegung  nicht  stehen,  sondern  zeigt  nun 
seinerseits,  wie  unter  Anwendung  von  Zirkel  und  Lineal  die  Aufgabe 
der  Lösung  fähig  sei^),  wobei  er  vorzugsweise  den  Fall  von  vier 
unter  einander  ungleichen  Strecken  als  den  einzigen,  der  wirkliche 
Schwierigkeiten  macht,  behandelt  (Figur  120,  folg.  S.).  Weil  im  Seh- 
nenvierecke gegenüberliegende  Winkel  sich  zu  zwei  Rechten  ergänzen, 
muss   -^  ÄBE=  180''  — ÄDC=CDE   sein;    ferner   ist   -^  AEB 


^)  Vieta  pag.  278. 


588 


68.  Kapitel. 


=  CED,  also  AäBEc\jCDE,  also  EÄ.EB:  ÄB  =  EC.EDiCD. 

Mit  Hilfe  dieser  Proportion  kann  man  jede  Seite  des  Dreiecks  CDE 
berechnen,  also  auch  die  Höhe  CK  und  den  Abschnitt  EK.    Ferner  ist 

AECKr^EDL, 
wenn  DL  senkrecht  zu  BC  gezogen  ist.  Die  Aehnlichkeit  dieser 
Dreiecke  gestattet  BL  und  CL  unmittelbar  zu  finden,  mittelbar  auch 
BL.  Dann  liefern  BL  und  BL  die  Diagonale  BB,  und  diese  ge- 
stattet mit  den  vier  gegebenen  Strecken,  das  A^iereck  AB  CD  wirk- 
lich zu   zeichnen.     Dessen  Umkreis  ist  zugleich  Umkreis  des  in  allen 


rig.  120. 


Fig 


seinen  Seiten  gegebenen  Dreiecks  ABD,  und  den  Durchmesser  des 
Umkreises  eines  Dreiecks  aus  dessen  Seiten  zu  finden,  ist  bekannt. 
Ein  zweiter  Zusatz  zu  dem  Pseudomesolabum  ^)  lehrt  die  näherungs- 
weise Auffindung  der  Seiten  der  regelmässigen  Fünfecke,  Siebenecke, 
Neunecke,  die  einem  gegebenen  Kreise  einbeschrieben  sind  (Figur  121). 
In  dem  gegebenen  Kreise  ist  DB  die  Vierecksseite,  DE  die  Sechs- 
ecksseite. Letztere  wird  zum  Durchschnitte  G  mit  dem  verlängerten 
Durchmesser  CB  ausgezogen,  dann  wird  BG  in  7  halbirt  und  DI  ge- 
zogen,  deren    Stück  DH  der  Ungleichung  DE  <  DH  <  DB  genügt 

und  nahezu  den  fünften  Theil  der  Kreis- 
peripherie bespannt.  In  ähnlicher  Weise 
wie  5  zwischen  6  und  4,  liegt  7  zwi- 
schen 8  und  6,  liegt  9  zwischen  10 
und  8.  Das  Sehnensiebeneck  wird  dem- 
nach gefunden,  indem  man  (Figur  122) 
von  der  Spitze  des  senkrechten  Kreis- 
durchmessers aus  die  Seiten  des  Seh- 
nensechsecks und  des  Sehnenachtecks  zeichnet  und  bis  zum  Durch- 
schnitte mit  dem  wagrechten  Durchmesser  verlängert.    Die  durch  jene 


^)  Vieta  pag.  283—285. 


Fortsetzung  der  Geometrie  u.  Mechanik.     Cyclometrie  u.  Trio-onometrie.         589 

Durchschnittspunkte  begrenzte  Strecke  wird  halbirt  und  der  Hal- 
birungspunkt  wieder  mit  der  Spitze  des  senkrechten  Durchmessers 
vereinigt,  so  entsteht  eine  Sehne  über  nahezu  dem  Siebentel  der 
Kreisperipherie.  Die  Zeichnung  des  Neunecks  mit  Hilfe  der  Acht- 
ecks- und  Zehnecksseite  ergiebt  sich  darnach  von  selbst.  Vieta  hat 
das  volle  Bewusstsein  der  nur  näherungsweisen  Richtigkeit  dieser 
Zeichnungen  in  dem  Maasse,  dass  er  am  Schlüsse  durch  Rechnung 
nachweist,  wie  gross  der  dabei  begangene  Fehler  ist. 

Ein  deutscher  Geometer,  sagten  wir,  habe  nach  Vieta  die  Auf- 
gabe vom  Sehnenvierecke  behandelt.  Johannes  Richter  (1537  bis 
1616),  fast  ausschliesslich  unter  dem  wissenschaftlichen  Namen  Prä- 
torius^)  bekannt,  war  Verfertiger  mathematischer  Instrumente  in 
Nürnberg,  dann  von  1571  ab  während  fünf  Jahren  Professor  der 
Mathematik  in  Wittenberg,  worauf  er  in  gleicher  Eigenschaft  nach 
der  nürnbergischen  Universität  Altdorf  übersiedelte.  Er  erfand  etwa 
im  Jahre  1590  den  Mess tisch,  welcher  nach  ihm  auch  wohl  Men- 
sula  Praetoriana  genannt  worden  ist.  Dem  Jahre  1598  entstammt 
eine  eigene  Schrift  über  das  Sehnenviereck  ^):  Prohlema,  quod  jubet  ex 
quatuor  lineis  rectis  datis  quadrilatermn  fieri,  quod  sit  in  circuh,  aliquot 
modis  explicatum.  Prätorius  beginnt  mit  einem  geschichtlichen  üeber- 
blicke.  Die  Aufgabe  sei  eine  bereits  alte,  und  die  Fragen,  welche 
man  sich  vorgelegt  habe,  seien  hauptsächlich  die  nach  dem  Durch- 
messer des  Umkreises  und  nach  dem  Flächeninhalte  des  Vierecks. 
Regiomontanus  habe  mit  der  Aufgabe  sich  beschäftigt,  Simon  Jacob 
habe  die  Diagonalen  des  Vierecks  und  den  Kreisdurchmesser  berechnet. 
Vieta's  Auflösung  der  Aufgabe  wird  alsdann  erörtert,  und  die  Bemer- 
kung ist  beigefügt,  es  gebe  noch  neuere  Auflösungen,  welche  er 
(Prätorius)  aber  nicht  kenne.  Endlich  geht  Prätorius  dazu  über,  die 
Ausdrücke  für  die  Diagonalen  zu  bestimmen  und  zu  zeigen,  wie  als- 
dann der  Durchmesser  des  Umkreises  berechnet  werde.  Sein  Bestreben 
geht  dahin,  alle  sieben  auftretenden  Maasszahlen  rational  werden  zu 
lassen,  und  dieses  gelingt  ihm  in  dreifacher  Möglichkeit:  erstens  durch 
die  Seiten  25,  39,  52,  60;  zweitens  durch  33,  39,  52,  56;  drittens 
durch  16,  25,  33,  60,  welche  letzteren  Zahlen  Jacob  schon  ^angegeben 
hatte.  Prätorius  hat  auch  1599  ein  in  der  Münchner  Bibliothek  auf- 
bewahrtes Manuscript  niedergeschrieben,  welches  Bemerkens werth es 
enthält.  In  ihm  findet  sich  eine  angenäherte  Würfelverdoppelung, 
welche  auf  der  Gleichsetzung  von  y  2  mit  sec  37^  30'  beruht,  und  bei 
welcher  angegeben  ist,    der    in    der  Zeichnung   benutzte   Winkel   sei 


')  Allgemeine  deutsche  Biographie  XXVI,  519 — 520.  Artikel  von  Günther. 
*)  Chasles,  Apergu  hist.  444—445  (deutsch  498—499). 


ö90  68.  Kapitel. 

kaum  um  2'  unrichtig.  Da  |/2  =  1,2599210,  sec  37«  30'  =  1,2004724, 
sec  37"  28' =  1,2599101,  so  erkennt  man,  wie  genau  Prätorius  ge- 
rechnet hat^). 

Wir  kehren  nach  dieser  Einschaltung  zu  Yieta's  geometrischen 
Schriften  zurück,  deren  wichtigste,  der  ApoUonius  Gallus^)  von  1600, 
noch  aussteht.  Adriaen  van  Roomen  hatte  1593  öffentlich  allen 
Mathematikern  eine  Aufgabe  gestellt,  auf  welche  wir  noch  zu  reden 
kommen.  Vieta  löste  dieselbe  und  Hess  seine  gegen  den  Urheber  der 
Aufgabe  einigermassen  höhnisch  gefasste  Auflösung  drucken.  Zugleich 
stellte  er  die  Gegenaufgabe,  die  verlorene  Schrift  des  ApoUonius  von 
Pergä  von  den  Berührungen,  tc^qI  STtacpäv,  so  weit  wiederherzustellen, 
dass  man  einen  Kreis  zeichne,  der  drei  gegebene  Kreise  berühre; 
bringe  Belgien  keinen  ApoUonius  hervor,  so  werde  ein  gallischer  auf- 
treten. Van  Roomen,  ein  geborener  Belgier,  gab  nach  nicht  langer 
Zeit  eine  Auflösung  mit  Hilfe  einer  Hyperbel.  Darauf  erschien  der 
schon  genannte  ApoUonius  Gallus.  Eine  Auflösung  mit  Hilfe  der 
Hyperbel  sei  nicht  verlangt  worden;  eine  solche  sei  nicht  eigentlich 
geometrisch;  vielmehr  müsse  sie,  um  diesen  Namen  zu  verdienen,  sich 
auf  die  Anwendung  von  Zirkel  und  Lineal  beschränken,  und  eine 
derartige  Auflösung  gab  nun  Vieta  in  der  That.  Sie  beruht  auf  der 
Kenntniss  der  beiden  Aehnlichkeitspunkte  zweier  Kreise^),  welche 
Vieta  in  Lemmeu  zum  8.  Probleme  als  solche  Punkte  auf  der  Central- 
linie  zweier  Kreise,  m  jungente  ipsorum  centra,  definirt,  welche  die 
Eigenschaft  besitzen,  dass  jede  durch  sie  hindurchgehende  Secante 
der  beiden  Ki-eise  ähnliche  Kreisabschnitte  beider  hervorbringt.  Wahr- 
scheinlich gelangte  Vieta  durch  das  Studium  des  7.  Buches  von 
Pappus  zur  Entdeckung  dieser  Punkte,  da  dort,  gerade  in  den  Lemmen 
zu  den  Berührungen  des  ApoUonius,  derselben  soweit  vorgearbeitet 
ist  (Bd.  I,  S.  423),  als  wenigstens  gelehrt  wird,  dass  die  Verbinduugs- 
gerade  der  entgegengesetzten  Endpunkte  paralleler  Halbmesser  zweier 
sich  äusserlich  berührender  Ki-eise  durch  den  Berührungspunkt  gehe, 
und  als  auch  der  äussere  Aehnlichkeitspunkt  einer  Figur  entnommen 
werden  kann.  Aber  habe  Vieta  dort  auch  die  Anregung  zur  Stellung 
der  Aufgabe,  habe  er  dort  einen  Gedanken  gefunden,  der  fruchtbar 
sich   erwies,    immerhin    ist   das    bei   Pappus  Vorhandene    durch  Vieta 


';  Curtze  in  Zeitschr.  Math.  Phys.  XL,  Histor.-literar.  Abthlg.  S.  11 — 12. 
-)  Vieta  pag.  325 — 346.  Mit  Wiederherstellungsversuclien  der  Apollonischen  Be- 
i-ührungen  haben  sich  beschäftigt:  J.  Wilh.  Camerer,  ApoUonii  de  tactionibus 
quae  supersunt,  1795.  C.  G.  Haumann,  Versuch  einer  Wiederherstellung  der 
Bücher  des  Apöllonius  von.  Pergä  von  den  Berührungen,  1817.  W.  L.  Christ- 
mann, ApoUonius  Suevus  sive  tactionum  prohlema  nunc  demtim  restitutum,  1821. 
=>)  Ebenda  pag.  334:— 335. 


Fortsetzung  der  Geometrie  u.  Mechanik.     Cyclometrie  u.  Trigonometrie.         591 

weitaus  überholt,  so  dass  ihm  mit  vollem  Rechte  die  eigentliche 
Entdeckung  der  Aehnlichkeitspunkte  zugeschrieben  wird.  Anhänge 
zum  Apollonius  Gallus  beschäftigen  sich  dann  weiter  mit  der  Auf- 
lösung mittels  Zirkel  und  Lineal  von  anderen  Aufgaben,  welche  von 
Vieta's  Vorgängern  immer  nur  algebraisch  behandelt  worden  waren. 
Dreiecke  werden  gezeichnet,  deren  Grundlinie  und  Höhe  gegeben  ist 
und  als  drittes  Stück  das  Product  der  beiden  anderen  Seiten  oder 
deren  Quotient,  deren  Summe,  deren  Differenz,  oder  auch  der  Winkel 
an  der  Spitze  des  Dreiecks.  Ferner  wird  ein  rechtwinkliges  Dreieck 
hergestellt,  dessen  Seiten  eine  stetige  geometrische  Proportion  bilden. 
Bei  der  letzteren  Aufgabe  ist  ganz  beiläufig  ausgesprochen,  der  Kreis- 
durchmesser verhalte  sich  zum  Quadranten  sehr  nahezu,  proxime,  wie 
100000  :  78540,  d.  h.  Vieta  setzt  hier  n  =  3,14160.  Eigenthümlich 
genug  erscheint  es,  dass  im  Apollonius  Gallus  Vieta  die  rein  geome- 
trischen Auflösungen  den  algebraisch-geometrischen  vorzieht,  er,  der 
wie  wir  gesehen  haben,  die  algebraische  Geometrie  als  zusammen- 
hängendes Ganzes  gelehrt  hat,  der,  wie  wir  noch  sehen  werden,  der 
Algebra  selbst  zu  wesentlichsten  Fortschritten  verhalf 

Einen  geometrischen  Gegenstand  haben  wir  seither  nur  ganz 
gelegentlich  und  dadurch  recht  stiefmütterlich  in  Betracht  zu  ziehen 
gehabt,  welcher  von  nun  an  aufmerksamere  Beachtung  in  so  hohem 
Grade  verlangt,  dass  er  einen  selbständigen  Abschnitt  geometrischer 
Untersuchung  bildet:  die  Cyclometrie  oder  Ausmessung  des 
Kreises^). 

Zu  denen,  welche  im  XVI.  Jahrhunderte  glaubten,  den  Kreis 
genau  in  ein  Quadrat  verwandeln  zu  können,  gehörten  Orontius 
Finaeus  (S.  378),  Bouvelles  (S.  383).  In  Nonius  (S.  389)  und 
Buteo  (S.  563)  nannten  wir  Widerleger  ihrer  Irrthümer.  Auch 
Clavius  hätten  wir  diesen  beigesellen  dürfen,  welcher  in  seiner 
Geometriae  practica  gegen  Finaeus  auftrat.  Ein  neuer  der  Natur  der 
Sache  nach  gleichfalls  unglücklicher  Verfasser  von  für  genau  gehal- 
tenen Kreisquadraturen  war  Simon  Duchesne.  Man  kennt  seinen 
Geburtso-rt,  Döles  in  Frankreich.  Er  muss  aber  frühzeitig  nach 
Holland  gekommen  sein,    wo    sein  Name  sich   in  Van   der  Eycke, 


')  Hervorragende  Untersuchungen  über  die  Geschichte  der  Cyclometrie  bei 
Montucla,  Histoire  des  recherches  sur  la  quadrature  du  cercle.  2^  edition 
(Paris  1831).  —  Vorsterman  van  Oijen  im  Bulletino  Boncotnpagni  I,  141— '156 
(Rom  1868).  —  J.  W.  L.  Glaisher  im  Messenger  of  Mathematics,  Neiv  Series 
No.  20  (1872)  und  26  (1873).  —  Bierens  de  Haan  im  Bullet.  Boneo7np.  VH, 
90 — 140  (1874)  und  Bouivstoffen  voor  de  Geschiedenis  der  wis-  en  natuurkundige 
ivetemchappen  in  de  Nederlanden  (1878).  —  Rudio,  Das  Problem  von  der  Qua- 
dratur des  Zirkels  (Zürich  1890^ 


592  68.  Kapitel. 

lateinisch  a  Quercu  umwaudelte,  und  wo  er  seine  Muttersprache  so 
gründlich  verlernte,  dass  seine  französisch  geschriebenen  Bücher 
schlechten  wörtlichen  Uebersetzungen  aus  dem  Holländischen  gleichen  ^). 
Er  wohnte  1584  in  Delft  und  lebte  noch  1603.  Er  hat  1583  einen 
ersten,  1586  einen  zweiten  Versuch  zur  Kreismessung  gemacht.  Er 
wusste,  dass  Archimed  dem  Verhältnisse  des  Kreisumfanges  zum  Durch- 
messer, also  derjenigen  Zahl,  welche  seit  der  Mitte  des  XVIII.  Jahr- 
hunderts etwa  durch  it  bezeichnet  wird^),  zwei   Grenzen   gesetzt  hat, 

indem  er  3—  <  ;r  <  3^  nachwies,  und  er  erkannte  zunächst  die  Rich- 
tigkeit dieser  archimedischen  Grenzen   an.     Zwischen   ihnen  lag  auch 

69 
die  erste  von  Duchesne  gegebene  Verhältnisszahl  n  =  3-^  ,   denn   in 

Decimalbrüche  umgesetzt  ist 

3^  =  3,14084507  •  • ,     ^~  =  3,14256198  •  • ,     3y  =  3,14285714  •  • . 

69  '   . 

Die  Duchesne'sche  Zahl  3-—-    besitzt    überdies    die    Eigenschaft,    ein 

(39\  - 
^1     ZU    sein,  "und   dadurch   ist   die  Auffindung 

des   dem   Kreise  flächengleichen   Quadrates  wesentlich  erleichtert,    da 

39  . 

dessen  Seite  tt  d  wird,  unter  (/  den  Kreisdurchmesser  verstehend.     Die 

44  ' 

Q 

von  den  Aegyptern  benutzte  Verhältnisszahl  führte  zu  -  d  als 
Quadratseite  (Bd.  I,  S.  57),  Inder  fanden  sie  als-  d  (Bd.  I,  S.  602), 
Franco  von  Lüttich^)   benutzte  —  fZ.     Diese   drei  Werthe   scheinen 

die  einzigen  zu  sein,  welche  neben  dem  von  Duchesne  n  als  quadra- 
tisch auftreten  lassen.  Wahrscheinlich  1585  erschien  eine  Gegen- 
schrift von  Ludolph  van  Ceulen,  dessen  hervorragende  eigene 
Leistungen  in  ein  sj^äteres  Jahr  fallen  und  uns  dort  Gelegenheit  geben 
werden,  von  ihnen  zu  reden.  Wider  diese  Gegenschrift  wandte  sich 
Duchesne  in  einer  Veröffentlichung  von  1586,  welcher  im  gleichen 
Jahre  eine  abermalige  Entgegnung  von  Ludolph  van  Ceulen  folgte"^). 
So  viel  hatte  die  Gegenschrift  gefruchtet,  dass  Duchesne  nicht  bei 
seinem  ersten  Werthe  bl 
unvollkommneren,  durch 


^  =  ]/]/320  —  8  =  3,1446055  •  •  • , 
d.  h.  durch  eine  Zahl,  welche  grösser  war  als  die  von  Archimed  auf- 

*)  Bomcstoffen  etc.  pag.  100.      ^)  Eneström  in  der  Bibliotheca  matliemaUca 
1889,    pag.   28.  ^)    Zeitschr.   Math.   Phys.   XXVII,    Supplementheft    S.   187. 

*)  Bomcstoffen  etc.  pag.  112—113. 


Fortsetzung  der  Geometrie  u.  Moeliaiiik.     Cyclometrie  u.  Trigonometrie.         593 

(Testeilte  obere  Grenze  3y,  iiiul  Duchesue  bandelte  bierbei  keineswegs 

unbewnsst.    Er  erklärt  vielmehr  ruhig:  demzufolge  komme  die  richtige 
Verhältnisszahl    zwischen    Durchmesser    und    Kreisumfang    ausserhalb 

der  archimedischen  Grenzen  zu  liegen  und  sei  grösser  als  3y  • 

Trotz  dieser  Eigenschaft  des  neuen  Werthes,  welche  jeden  ernst- 
liaften    Mathematiker    auch    der    damaligen    Zeit    kopfscheu    machen 
musste,    fand    derselbe    einen    Bewunderer    in    Kaimarus    Ursus^). 
Dieser    Landmesser    aus    dem    Dithmarschen,    welcher    durch    eigenes 
Studium    vopi    Schweinehirten    zum    kaiserlichen    Mathematiker    auf- 
gestiegen  war,    widmete   in    seinem  Fundament  um   astronomicum   von 
1588    ein  besonderes   Blatt  Simoni  a    Queren   in- 
ventori  divini  artificn.     Die  Erfindung  selbst  wird 
folgendermassen    geschildert    (Fig.  123).     Sei  AB 
ein    Kreisdurchmesser    und    BD   Berührungslinie 
an   den  Kreis,  femer  AD  so   gezogen,    dass   das 
innerhalb  des  Kreises  fallende  Stück  AC  dem  von 
der  Berührungslinie    abgeschnittenen   Stücke  BD 
gleich  wird,  so   ist  AC   zugleich  auch  die  Länge 
des    Kreisquadranten.      Zieht    man    die    Hilfslinie 
BC,  so   sind   die   beiden  rechtwinkligen  Dreiecke 
ABB,  BGB  einander  ähnlich,  mithin  AD  :  BD  ^  BD  :  CD.     Ni 
heisse  BD  =  AC  =  x,  CD  =  y,  AB  =  d,  so  ist 


{x  +  yy  =  x'  +  d%     y  =  y./;^  +  d'  - 
und  jene  Proportion  geht  über  in 

Yx'  -\-  d'-^ :  X  =  X  :  (]/;r-  -f-  fi'  —  x), 


woraus  x  =  j  l/]/320  —  8  folgt.    Ist  nun  x  wirklich  die  Länge  des 
Quadranten  oder—-,    so    erscheint    in    der   That   jr  =  |/]/320  —  8, 

aber  für  jene  Gleichsetzung,  welche  doch  erst  bewiesen  werden  müsste, 
scheint  eine  Begründung  nicht  versucht  zu  sein. 

Vieta  gab,  wie  wir  schon  gesagt  haben,  1593  das  8.  Buch  der 
vermischten  Aufgaben  heraus,  und  dort  sind  der  Zahl  7t  mehrere  An- 
näherungen gegeben,  welche  aber  immer  nur  als  Annäherungen  be- 
zeichnet Vieta's  wissenschaftlichen  Standpunkt  wahren^).  Zunächst 
erklärt  Vieta,  er  sei  den  Spuren  Archimed's  folgend  weit  über  das 
von  diesem  erreichte  Ziel  hinausgekommen.  Er  habe  nämlich  ge- 
funden : 


1)   Kästner  I,  632.   —  Allgem.    deutsche  Biographie  XXVII,  179—180.  — 
Rud.  ¥/olf.  Astronomische  Mittheilungen  Nr.  LXVIII.     -)  Vieta  pag.  39'2— 393. 

Cantor,  Gescliiehte  der  Mathem.    IT.    2.  Aufl.  38 


51)4 


68.  Kapitel. 


31415926535        31415926537 
lOUOOOOOOOO  ^^  "^  10000000000  ' 

Nächst  dieser  auf  9  Dezimalstellen  genauen  Ermittelung  schlägt  Vieta 
folgende  vor:  das  kleinere  Stück  einer  im  goldenen  Schnitt  getheilten 
Strecke   verhalte  sich   zur  ganzen   Strecke   wie   der  Kreisdurchmesser 

Peripherie.     Dieser  Annahme   entspricht 

18  4-  l/l8Ö         o  1  <ip<n-' 

7C  = ^-—^ =  3,141640  <o  .... 


zu  —  der 


d.  h.  ein  Werth,  welcher  von  dem  des  Ptolemäns  (Bd.  I,  S.  394)  sich 

erst  von  der  5.  Decimalstelle    an  unterscheidet.     Eine   Konstruktion 

desselben    ist    folgende    (Figur    124 j:    BC 

und  DE  sind  zwei  ina  Mittelpunkte  Ä  sich 

senkrecht  durchkreuzende  Durchmesser.  Ä  D 

ist    in    F  halbirt    und    durch    B    und    F 

K  die   B  G   bis  zum  Durchschnitte    mit    der 

Kreislinie     gezogen,     dann     von     G     aus 

die    GH\\BE.     Man    macht   F Z  =  F A, 

EI  =  BZ,  zieht  IH  und  mit  ihr  parallel 

EK,   so    ist  AK   die    angenäherte    Länge 

Wegen  AB=2AF  ist  BH=2GH,  und  da 


des  Kreisquadranten. 
GIP  =  BHHC,  so   ist  auch  GH 
AH=^d  —  ^d  =  Oßd.     Ferner 
FB  =  YAB'+AF'  =  |t^ 
AI=AE  —  EI  = 
Aber  AI :  AE  =  AH:  AK,  mithin 


2 HC,  BH=  4HC  = 


BZ 

1(3 


EI  = 

Y5) 


(|/5 


AK 


AE   AH 
AI 


3^ 
10 


1(3-1/5) 


=  1^^^(3  +  1/5), 


und  da  AK  der  Kreisquadrant  oder 
A 


dn 


sein  soll,  so  wird  n 


i8  +  yl8Ö 


4  '  —  10 

wie  oben.  Auch  eine  Zeichnung  des  flächen- 
gleichen Quadi-ates  wird  unter  Voraussetzung 
des  gleichen  Werthes  von  tc  gelehrt. 

Wissenschaftlich  weit  merkwürdiger  ist  eine 
zweite  von  Vieta  eingeschlagene  Gedankenfolge  ^), 
von  welcher  er  selbst  aussagt,  sie  sei  das  in 
Rechnung  umgesetzte  Verfahren  des  Antiphon 
(Bd.  I,  S.  190).     Sei   (Figur  125)  AB  =  a„  die 


')  Vieta  pag. 


Fortsetzung  der  Geometrie  u.  Mechanik.     Cjclometrie  u.  Trigonometrie.     595 

Seite  des  regelmässigen  Sehnen-w-ecks,  dessen  Fläche  F^  beisse,  sei 
ferner  AG  =  a^n  die  Seite  des  regelmässigen  Sehnen- 2 /j-ecks  und 
Fin  dessen  Fläche.  OC  =  r  ist  der  Halbmesser,  BF  ^  a,,  ist  die 
Snpplementarsebne  von  AB,  für  welche  Vieta  des  Namens  Apotome 
sich  bediente.     Offenbar  ist 

AABFc\jADO, 

mithin  BE:AE=OD:OA  oder  —  =  ^.     Ferner  ist 

r  2  r 

F„:F,n  =  A  OAB:A  OAC  =  OB:  0C=a„:2r. 
Genau  ebenso  beweist  sich  F^n  '•  F^n  =  «2«  :  2>-,  F^,,  :  -Fs«  =  «4»  :  2r 
u.  s.  w.     Multiplicationen   von  k  solcher    aufeinander  folgenden  Pro- 
portionen giebt 

Fn  :  F,,_^  =  a„.a2n.-.  a^k-i  .  ,  :  (2^)^- . 
Ist  n  =  4,  so  ist  F^  =  2)-  und  2^  •«.  =  2*+^^  2^-i  •  w  =  2^+i,  also 


F^ 


2r     2r 


Bei  unendlich    werdendem  k  fällt  -F^^i+o    mit   der   Kreisfläche   r^n   zu- 
sammen und  durch  leichte  Umformung  ist 

-  =  _*•  —  —  ••••  m  lufin. 
TT         2r     2r     2)* 

Nun  ist  aber  -^  =  cos  AEB  =  cos  ^ —  oder  die  unendliche  Factoren- 

2  r  2  n 

folge  rechter  Hand  würde  sich  heute  in  der  Form 

90'^  90"  90" 

cos  — —  •  cos  — —  ■  cos  -^  •  •  • 

2  4  8 

darstellen.     Die  Werthe  dieser  einzelnen  Factoren  sind  aber 


V^'  y\+\Vh  /l+iViTTl/? 


id  so  kommt 


wie  Vieta  gefunden  hat.  Es  war  das  die  erste  unendliche  Fac- 
toren folge,  welche  aufgestellt  worden  ist,  und  ein  glücklicher  Zu- 
fall wollte,  dass  es  eine  convergente  Factorenfolge  war,  welche  ent- 
stand ^). 

Eine  praktische  Folge  hatten  die  vollständig  aus  dem  gewohnten 
Gedankenbereiche  sich  entfernenden  Untersuchungen  Vieta's  nicht.   Sie 

')  Den  Beweis  der  Convergenz   hat  H.  Rudio  in  der  Zeitschr.  Math.  Phys. 
XXXVI,  Histor.-liter.  Abtheilung  S.  1.30—140  geführt. 

38* 


596  68.  Kapitel. 

verhinderten  nicht  einmal,  dass  ein  auf  anderen  Gebieten  hervor- 
ragender Gelehrter  schon  im  folgenden  Jahre  mit  neuen  Verkehrt- 
heiten an  die  Oeffentlichkeit  trat.  Joseph  Scaliger^)  (1540 — 1609), 
geboren  in  Agen  in  der  französischen  Provinz  Guienne,  kam  als  be- 
reits weit  und  breit  berühmter  Mann  1593  an  die  Leidener  Hoch- 
schule, welcher  er  bis  zu  seinem  Lebensende  angehörte.  Sein  Opus 
de  emendatione  temporum  von  1583  war  ein  bahnbrechendes  Lehr- 
buch der  Chronologie  und  erwarb  ihm  den  keineswegs  unver- 
dienten Namen,  der  Vater  dieser  Wissenschaft  gewesen  zu  sein. 
Begreiflicherweise  sah  man  daher  mit  zum  voraus  hochgespannter 
Erwartung  seinen  Cyclometrica  elementa  entgegen,  welche  1594  bei 
einem  der  ersten  damaligen  Drucker,  Raphelengius  (Franz  von  Rave- 
lingen) in  Leiden  in  glänzender  Ausstattung  erschienen  (S.  586),  und 
welchen  noch  im  gleichen  Jahre  das  Mesolahium  sowie  ein  Appendix 
ad  cyclometrica  nachfolgten.  Wie  verkehrt  Scaliger's  Meinungen  waren, 
zeigt  gleich  die  Thatsache,  dass  im  ersten  Buche  der  Cyclometrica 
der  Satz  ausgesprochen  ist,  das  Quadrat  des  Kreisumfanges  sei  das 
Zehnfache  des  Quadrates  des  Durchmessers  {pt  =  ]/IÖ)  ,  während  im 
zweiten  Buche  behauptet  wird,  die  Kreisfläche  sei  gleich  einem  Recht- 
ecke,   dessen   Grundlinie   die   Seite   des    dem   Kreise   eingeschriebenen 

9  . 

gleichseitigen  Dreiecks  und  dessen  Höhe  ~  des  Kreisdurchmessers  sei 

in  =  1/0,72)  .  Einen  Widerspruch  sah  Scaliger  in  diesen  beiden  Be- 
hauptungen deshalb  nicht,  weil  er  die  Wahrheit  des  archimedischen 
Satzes  leugnete,  die  Flächen  des  Kreises  und  eines  rechtwinkligen 
Dreiecks  mit  Kreisumfang  und  Halbmesser  als  Katheten  seien  gleich. 
Ja  es  kam  ihm  auch  darauf  nicht  an,  herauszurechnen,  die  Seiten 
des  regelmässigen  Sehnenzwölfecks  besässen  eine  grössere  Summe  als 
der  Kreisumfang  u.  s.  w.  Ein  französischer  Schriftsteller  über  Be- 
festigungskunst, Jean  Errard  de  Barleduc^),  Ludolph  van 
Ceulen,  Clavius,  Van  Roomen,  Vieta,  ein  Italiener  Pietro  An- 
tonio Cataldi  erhoben  ihre  Stimmen  gegen  Scaliger,  aber  ohne 
ihn  eines  Besseren  zu  belehren.  Sein  Appendix  giebt  zwar  einige 
Fehler  der  Cyclometrica  zu,  aber  es  seien  nur  nebensächliche  Irrthümer, 
während  die  archimedische  Lehre  in  allen  Hauptj)unkten  falsch  sei. 
Vieta  hatte  sich  nicht  nur  in  dem  schon  von  uns  genannten  Pseudomeso- 
labiiim  gegen  Scaliger  ausgesprochen,  sondern  auch  in  einer  zweiten 
Schrift  Munimen   adversus   nova   cyclometrica.      Aus   dieser   erwähnen 


1)  Kästner  I,  487—497.  —  Bouwstoffen  etc.  pag.  280—314.  —  Wolf,  Ge- 
schichte der  Astronomie  pag.  337.  *)  Diese  Schreibweise  entnehmen  wir  dem  in 
den  Bouwstoffen  etc.  pag.  293  abgedruckten  Titel  der  Beftitation.  Poggen- 
dorff  I,  672  schreibt  Erard. 


Fortsetzung  der  Cioometric  u.  Mechanik.     Cyclometrie  u.  Trigonometrie.         597 

wir  nur  die  Bemerkung,  Scaliger's  n  =  ]/lO  sei  nicht  einmal  neu, 
sondern  von  Arabern  längst  in  Anwendung  gebracht  \). 

Auch  Jacob  Christmann  ^)  (1554—1630),  Orientalist  und 
Astronom  in  Heidelberg,  schrieb  1595  eine  vornehmlich  gegen  Scaliger 
gerichtete  Tractaüo  geometrica  de  quadratura  circuli,  welche  den  Satz 
vertheidigte,  es  sei  überhaupt  nicht  möglich,  den  Kreis  irgend  einer 
geradlinig  begrenzten  Figur  genau  gleich  zu  setzen,  nur  eine  an- 
näherungsweise Quadratur  sei  ausführbar.  An  Christmann's  Persön- 
lichkeit knüpfen  sich  zwei  bemerkenswerthe  Dinge,  erstens,  dass 
für  ihn  in  Heidelberg  1609  die  erste  Professur  der  arabischen  Sprache 
gegründet  wurde,  welche  es  überhaupt  in  Europa  gab,  und  zweitens, 
dass  er  eine  Zeit  lang  der  Besitzer  der  Originalhandschrift  des  Werkes 
des  Koppernicus  über  die  Weltsysteme  war.  Eine  1611  von  ihm  in 
Heidelberg  zum  Druck  gegebene  Theoria  lunac  enthält  eine  Stelle  aus 
Johannes  Werner 's  Trigonometrie,  in  welcher  man  die  erste  abend- 
ländische Anwendung  der  Prosthaphaeresis  (S.  454)  erkannt  hat. 

Die  Zeitfolge  führt  uns  zu  einem  weiteren  Bearbeiter  der  Kreis- 
messung, dessen  Namen  wir  schon  einigemal  zu  nennen  hatten: 
Adriaen  van  Roomen^),  latinisirt  Adrianus  llomanus  (1561  bis 
1615).  Er  ist  in  Löwen  geboren  und  hat  sich  dort,  dann  in  Köln, 
zuletzt  in  Italien  medicinischen  und  mathematischen  Studien  gewidmet. 
Im  Jahre  1586  war  er  bereits  verehelicht  und  wohnte  in  Berlin,  bis 
er  als  Professor  an  seine  heimathliche  Hochschule  berufen  wurde. 
Die  mitunter  auftretende  Behauptung,  Van  Roomen  sei  an  Stelle  des 
verstorbenen  Gamma  Frisius  berufen  worden,  beruht  auf  Irrthum, 
da  jener  1555,  also  sechs  Jahre  vor  Van  Roomen's  Geburt  starb.  Eben- 
sowenig kann  aber  die  Berufung  an  Stelle  des  Sohnes  Cornelis 
Gemma  Frisius  (1535 — 1577)  stattgefunden  haben,  bei  dessen  Tode 
Van  Roomen  erst  16  Jahre  alt  war.  In  Löwen  veröffentlichte  er 
1593  seine  Ideae  mathemaücae.  Den  Inhalt  bildeten  wesentlich  Unter- 
suchungen über  regelmässige  Vielecke  und  über  den  Werth  ihrer 
Seiten  in  Bruch theilen  des  Durchmessers  des  einbeschriebenen,  aber 
auch  desjenigen  des  umschriebenen  Kreises.  In  dieser  Weise  fand 
er  n  auf  17  Decimalstellen  genau  und  damit  näher,  als  man 
diese  Zahl  bisher  kannte.  Auch  eine  Aufgabe  stellte  er  gleichzeitig 
den  Mathematikern  aller  Orten:  FroUema  Mathematicum  omnihus 
totius  orbis  mathematicis  ad  construendiim  propositmn.     Das   war  jene 


')  Vieta  pag.  439.  -)  Kästner  I,  497—498.  —  Allgem.  deutsche  Bio- 
graphie IV,  222.  —  Urkundenbuch  der  Universität  Heidelberg  (1886)  Bd.  II,  S.  180, 
Nr.  1488  und  1489.  »)  Kästner  I,  457— 4C8  und  504—511.  —  Bouwstoffen  etc. 
pag.  315—326. 


598  68.  Kapitel. 

Aufgabe,  welche  Vieta  löste  und  mit  der  Gegenfrage  nach  dem  drei 
gegebene  Kreise  berührenden  Kreise  beantwortete  (S.  590).  Van  Roo- 
men  erledigte  sie,  wie  wir  wissen,  unter  Anwendung  von  Kegel- 
schnitten, was  Vieta  wieder  die  Gelegenheit  zur  Veröifentlichung 
seines  Äpolloniiis  Gallus  bot.  Van  Roomen  hatte  inzwischen  seinen 
Aufenthalt  verändert.  Er  war  nach  Würzburg  berufen  worden  und 
1594  etwa  dorthin  übergesiedelt.  Dort  gab  er  jedenfalls  1597  eine 
Streitschrift  heraus.  Sie  begann  mit  der  Uebersetzung  und  Er- 
läuterung von  Archimed's  Kreismessung,  dann  folgte  Äpologia  pro 
Archlmede  gegen  Scaliger,  den  Schluss  bildeten  Exercitationcs  cydicae 
gegen  Orontius  Finaeus  und  gegen  Raimarus  ürsus,  also  eigentlich 
gegen  Simon  Duchesne.  In  dieser  Streitschrift,  welche  einer  von 
Ludolph  van  Ceulen  verfassten  Schrift  ganz  ähnlichen  Inhaltes  ziem- 
lich rasch  nachfolgte,  vielleicht  hervorgerufen  durch  einen  hoch- 
trabenden Brief  Scaliger's  ^),  der  dessen  Missachtung  Aller,  welche  ihm 
zu  widersprechen  gewagt  hatten,  Ausdruck  gab.  Van  Roomen  zeigte 
dabei,  dass  Duchesne's  n^  =  ')/320  —  8  einer  der  Werthe  war,  welche 
Nicolaus  von  Cusa  beiläufig  einmal  angegeben,  Regiomontanus  wider- 
legt hatte.  Dieselbe  Bemerkung  war  auch  von  Ludolph  van  Ceulen 
gemacht  worden,  und  sie  ist  insofern  nicht  unwichtig,  als  sie  zeigt, 
dass  man  damals  unter  den  niederländischen  Kreisberechnern  jener 
älteren  Literatur  volle  Aufmerksamkeit  widmete.  Nun  folgte  IGOO 
Vieta's  Apollonius  Gallus  und  die  im  Anschlüsse  daran  unternommene 
Reise  nach  Frankreich.  Der  Aufenthalt  in  Würzburg  wurde  Van  Roo- 
men durch  den  dort  eintretenden  Tod  seiner  Gattin  verleidet.  Er 
gab  seine  Professur  ab  und  beabsichtigte  sich  in  ein  Kloster  zurück- 
zuziehen. Er  muss  damals  nach  Löwen  zurückgekehrt  sein,  von  wo 
er  1606  neuerdings  nach  Würzburg  übersiedelte.  Ein  1606  gedrucktes 
Speculum  astronomicum  Van  Roomen's  nennt  den  Verfasser  auch  aus- 
drücklich Kanonikus  der  Johanneskirche  in  Würzburg.  Im  Jahre 
1610  folgte  Van  Roomen  einer  Berufung  nach  Polen.  Nach  fünf- 
jährigem Aufenthalte  daselbst  wollte  er  seiner  zerrütteten  Gesundheit 
durch  Gebrauch  der  Bäder  in  Spaa  wieder  aufhelfen.  Unterwegs  starb 
er  in  Mainz. 

Ludolph  van  Ceulen^)  (1540 — 1610)  haben  wir  schon  wieder- 
holt genannt.  Der  Name  kommt  auch  in  der  Form  van  Keulen  und 
van  Collen  vor,  vielleicht  einen  kölnischen  Ursprung  der  Familie 
bezeugend.  Ludolph  ist  in  Hildesheim  geboren,  in  Leiden  gestorben, 
wo  er  die  von  Prinz  Moritz   von   Oranien   gegründete  Professur   der 


■)  Kästner  I,   506—508.         2)  Kästner  III,  50— 51.    —    Bomvstoffen  etc. 
pag.  123—170.  —  AUgem.  deutsche  Biographie  IV,  93. 


Fortsetzung  der  Geometrie  ii.  Mechanik.     Cyclouietrie  u.  Trigonometrie.     599 

Kriegsbaukuust  inne  hatte.  Er  wurde  in  der  Peterskirche  zu  Leiden 
begraben,  woselbst  1840  die  inzwischen  nicht  wieder  aufgefundene 
Inschrift  noch  vorhanden  war,  welche  7t  auf  35  Decimalstellen 
genau  bestimmte,  eine  alle  früheren  Berechnungen  so  weit  über- 
treifende  Annäherung,  dass  es  nicht  unverdient  erscheint,  wenn  man 
jene  Verhältnisszahl  häufig  die  Ludolphische  Zahl  genannt  hat. 
Die  genaue  Berechnung  von  %  bildet  den  Hauptgegenstand  der 
Schriften  Ludolph's  van  Ceulen,  sowohl  der  Streitschriften,  welche  er 
gegen  Simon  Duchesne  und  gegen  Scaliger  verfasste,  als  auch  eines 
selbständigen  Werkes  Van  den  Circld,  welches  erstmalig  1596  im 
Drucke  erschien  und  nochmals  1615  nach  dem  Tode  des  Verfassers, 
sowie  zum  dritten  Male  1619  in  lateinischer  Sprache.  Die  lateinische 
Ausgabe  rührt  von  Willebrord  Snellius  her,  die  zweite  holländische 
von  der  Wittwe  Ludolph's  van  Ceulen,  Adriana  Symonsz,  welche 
ihrem  Gatten  auch  schon  bei  der  mühsamen  Rechnung  geholfen  hatte. 
Die  Berechnung  selbst  ging  den  seit  Archimed  altbekannten  Weg, 
dass  unter  Anwendung  fortwährender  Quadratwurzelausziehungen  die 
Länge  der  Seiten  eingeschriebener  und  umschriebener  regelmässiger 
Vielecke  zu  der  des  Kreisdurchmessers  in  Verhältniss  gesetzt  wurde, 
indem  man  von  dem  jeweil  betrachteten  Vielecke  zu  dem  mit  dop- 
pelter Seitenzahl  überging.  Die  Tangentenvielecke  verfolgte  Ludolph 
van  Ceulen  mit  dem  Sechsecke  beginnend  bis  zu  dem  mit  192  Ecken, 
die  Sehnenvielecke  wurden  berechnet  bis  zu  dem  mit  96  Ecken.  Li 
den  gedruckten  Werken  ist  dieser  Genauigkeit  entsprechend  tc  erst 
auf  20,  später  auf  32  Decimalstellen  bekannt  gemacht.  Die  in  der 
Grabschrift  angegebenen  drei  weiteren  Stellen  rühren  aber  gleichfalls 
von  Ludolph  van  Ceulen  her,  wie  durch  ein  1621  erschienenes  Werk 
von  Snellius  bestätigt  wird^).  Ludolph  van  Ceulen  hat  eine  andere 
Schrift  noch  hinterlassen  De  arithmetische  en  geometrische  Fondamenten. 
Diese  wurde  1615  in  holländischer  Sprache  gedruckt,  später  abermals 
in  einer  lateinischen  Bearbeitung  von  Snellius. 

Der  letzte  hier  zu  erwähnende  Schriftsteller  ist  Adriaen  An- 
thonisz^)  (1527 — 1607),  welcher  in  Metz  geboren  in  den  Niederlanden 
als  Kriegsbaumeister  thätig  war.  Er  war  in  Alcmaer  ansässig  und 
wurde  sogar  1573  zum  Bürgermeister  dieser  Stadt  ernannt.  Von  dem 
Geburtsorte  Metz  ist  der  Beiname  Metius  abgeleitet,  welcher  den 
beiden  Söhnen  von  Anthonisz,  Adriaen  und  Jacob,  geradezu  als 
Familienname    diente.     Von    diesen   beiden   Söhnen   war   Jacob  Glas- 


^)  Bouwstoffen  etc.  pag.  147  die  32  Decimalstellen  Ludolph's  van  Ceulen; 
ebenda  pag.  151  die  35  Stellen  abgedruckt  aus  dem  Cyclometricus  von  Wille- 
brord Snellius.         *)  Bouwstoff'en  etc.  pag.  219 — 253. 


600  68.  Kapitel. 

Schleifer,  Adriaen  Metius  (1571 — 1635)  aber  Mathematiker.  Aus 
einer  1625  gedruckten  Arithmetica  et  Geometria  nova  dieses  Adriaen 
Metius  ist  ersichtlich,  dass  dessen  Vater ^)  eine  Gegenschrift  gegen 
Duchesne    verfasst    hat    und    in    dieser    zwei    Grenzwerthe    aufstellte, 

15  17 

zwischen  welchen  jr  enthalten  sein  müsse:  Stttt  <  :r  <  3.^,  •     Später 

lüfa  120  '- 

ging   dann   Anthonisz   einen  Schritt   weiter,    indem   er    diesen   Grenz- 

werthen   einen  Mittelwerth    dadurch   entnahm,   dass   er,    wie   es   einst 

Chuquet    gemacht    hatte  (S.  352),    die    Zähler    und    die    Nenner   zu 

einander  addirte: 

o   15  +  17  o32  „16  355         Qi)i-noo 

^  =  Vg-T^  =  ^226  =  ^ITi  =  113  =  %141n929  •  ■  •, 
also  6  richtige  Decimalstellen.  Die  Entstehungsweise  des  Werthes 
von  Anthonisz  wird  man  nicht  füglich  anders  als  eine  zufällige 
nennen  können;  aber  da  die  Ludolphische  Annäherung  bereits  bekannt 
war,  als  Anthonisz  die  seinige  fand,  so  ist  es  unglaublich,  dass  nicht 
durch    ihn    selbst    eine    Vergleichung    sollte    angestellt  (worden    sein, 

welche  das  vortreffliche  Uebereiustimmen  von  v^  nachwies,  und  welche 

dadurch  die  grossen  Vorzüge  dieses  in  verhältnissmässig  sehr  kleinen 
Zahlen  ausgedrückten  Verhältnisses  enthüllte.  Jedenfalls  hat  der  Sohn 
diese  Thatsache  hervorgehoben. 

Bei  allen  cyclometrischen  Versuchen  wirklicher  Mathematiker, 
die  wir  aufzuzählen  hatten,  spielten  Wurzelausziehungen  ganz  regel- 
mässig eine  wesentliche  Rolle.  Man  wird  kaum  etwas  Auffallendes 
darin  finden,  dass  nicht  häufiger  trigonometrische  Functionen  dabei 
genannt  wurden,  welche  doch  die  Beziehungen  zwischen  Vielecks- 
seiten und  Kreisdurchmesser  so  bequem  erkennen  lassen,  denn  im 
Grunde  genommen  handelt  es  sich  dabei  nur  um  andere  Namen  für 
die  gleiche  Sache.  Die  trigonometrischen  Functionen  selbst  entstam- 
men Wurzelausziehungen,  und  dieser  Zusammenhang  mag  äusserlich 
darin  sich  spiegeln,  dass  wir  im  Anschlüsse  an  die  Kreismessung  jetzt 
von  der  Anfertigung  trigonometrischer  Tafeln  handeln. 

Als  ein  hervorragender  Tabellenberechner  ist  uns  schon  (S.  474) 
Rhäticus  bekannt  geworden.  Wir  müssen  der  unterbrochenen  Lebens- 
geschichte dieses  Gelehrten  uns  wieder  zuwenden,  den  wir  zuletzt 
1542  von  Wittenberg  nach  Leipzig  übersiedeln  sahen.  Dort  begann 
er  die  Berechnung  eines  grossartigen  Tafel werkes  der  Sinus,  Tan- 
genten und  Secanten  für  Winkel,   welche  um  je  10"   zunehmen,  und 

^)  Parens  mens  P.  M.  Die  beiden  Buchstaben  P.  M.  sind  eine  oft  ge- 
brauchte Abkürzung  von  piae  memoriae.  Man  bat  daraus  früher  irr- 
thümlich  einen  Peter  Metius  gemacht.  Vergl.  Bierens  de  Haan  im  Bullet. 
Boncomp.  VII,  124. 


Fortsetzung  der  Geometrie  u.  Mechanik.     Cyclometrie  u.  Trigonometrie.         601 

unter  Benutzung  eines  Kreishalbmessers  10000000000,  d.  h.  also  auf 
10  Decimalstellen.  Das  Wort  Sinus  vermied  Rhäticus  dabei,  es  sei 
barbarisch,  und  er  bediente  sich  statt  dessen  des  Wortes  x:)erpendi- 
cidiim;  für  den  Sinus  complementi  sagte  er  hasis^).  Wenn  wir  von 
der  Berechnung  durch  Rhäticus  sprechen,  so  wäre  es  fast  richtiger 
gewesen,  von  einer  Berechnung  unter  seiner  Aufsicht  zu  reden,  denn 
er  benutzte  zwölf  Jahre  lang  mehrere  Rechner  zur  Beihilfe,  was  ihn 
nmlki  florenomm  millia,  Tausende  von  Gulden  kostete-).  Gegen  1575 
meldete  sich  bei  Rhäticus  ein  gewisser  Valentin us  Otho,  von  dem 
lange  Zeit  bekannt  war,  was  er  selbst  über  sich  berichtet,  dass  er  in 
Wittenberg  von  des  Rhäticus  Arbeiten  gehört  und  sich  ihm  darauf 
als  Gehilfen  angeboten  habe.  Er  nennt  sich  ParthenopoUtamis ,  muss 
also  wohl  in  Magdeburg  geboren  sein  und  zwar  um  1550,  denn 
Rhäticus  verglich  sein  Alter  mit  dem,  in  welchem  er  selbst  25-jährig 
zu  Koppernikus  gereist  sei^).  Johann  Prätorius  hat  in  einem  in  der 
Münchner  Bibliothek  aufbewahrten  Schriftstücke"*)  (S.  589)  diese  Mit- 
theilungen ergänzt.  Prätorius  war  es,  der  1575  in  Wittenberg  den 
Otho  auf  Rhäticus  hinwies.  Er  selbst  hatte  den  jungen  Mann  im 
Monat  August  des  erwähnten  Jahres  dadurch  kennen  gelernt,  dass 
dieser  ihm  zwei  Näherungswerthe  von  :r  vorlegte.  Einmal  sei 
^  4247779609     ^  „       ^  ,,  4247779611 

<  2ä  <  b- 


15000000000  ^     ^  15000000000 

(in  Decimalen  geschrieben  3,14159265365  <  Jt  <  3,1415926537)  und 
zweitens  sei  annähernd  n  =  -—  .    Der  letztere  Werth  sei  ein  Mittel- 

22  .  377 

werth    zwischen    dem    archimedischen  ~  und    dem    ptolemäischen  —— 

und  dadurch  aus  beiden  erhalten,  dass  Zähler  von  Zähler  und  zu- 
gleich Nenner  von  Nenner  abgezogen  wurde.  Prätorius  macht  die 
Zusatzbemerkung,  jene  erste  Angabe  habe  er  später  bei  Vieta  ge- 
funden, aus  dessen  Schule  sie  vermuthlich  stamme.  So  wahr  es  ist, 
dass  Vieta  die  Zahlen  kannte  (S.  594),  so  hat  er  sie  doch  erst  1593 
in  Druck  gegeben,  und  der  Nachweis  ist  nicht  gebracht,  dass  Vieta 
schon  20  Jahre  früher  in  deren  Besitz  war.    Was  den  anderen  Werth 

-7^  betrifft,   so  haben   wir  (S.  600)    gesehen,   dass   Adriaen  Anthonisz 

ihn  durch  Addition  zweier  Zähler  und  zweier  Nenner  sich  verschaffte, 
als  er  ihn  in  einer  Streitschrift  gegen  Duchesne  veröffentlichte.     Du. 


^)  Kästner  I,  601.  -)  Kästner,  Geometrische  Abhandlungen  I.  Samm- 
lung S.  576.  ^)  Frofecto  in  eadem  aetate  ad  me  venis,  qua  ego  ad  Copernicum 
veni.  *)  Curtze,  Zur  Biographie  des  Rheticus  in  der  Altpreussischen  Monats- 
schrift XXXI,  491—496. 


602  68.  Kapitel. 

chesne  selbst  schrieb  (S,  592)  nicht  vor  1583.  Die  Gegenschrift  ist 
mithin  mindestens  zehn  Jahre  später  verfasst,  als  Valentin  Otlio  seinen 
Besuch  bei  Prätorius  machte,  und  somit  muss  Otho  als  Erfinder  jenes 
Werthes  gelten,  womit  die  Selbständigkeit  von  Anthonisz  in  keiner 
Weise  in  Abrede  gestellt  werden  will.  Rhäticus  nahm  Otho's  Aner- 
bieten an  und  begann  ihn  zu  unterweisen.  Dazu  bedurfte  er  schon 
fertig  berechneter  Theile  der  Tafeln,  welche,  es  ist  nicht  gesagt  wieso, 
in  Krakau  sich  befanden,  und  Otho  wurde  abgesandt,  sie  von  dort  zu 
holen,  während  Rhäticus  einer  Einladung  auf  ein  Schloss  folgte,  wo 
er  ein  neu  getünchtes  Zimmer  beziehen  musste  und  daran  erkrankte. 
Drei  Tage  nach  Otho's  Rückkehr  reisten  beide  nach  Kaschau  in 
Ungarn  zu  Johannes  Ruber,  einem  hohen  Beamten.  Dort  verschlim- 
merte sich  der  Zustand  des  Rhäticus  von  Tag  zu  Tag,  und  kaum 
eine  Woche  nach  der  Ankunft  starb  Rhäticus  in  den  Armen  seines 
jungen  Freundes,  welchen  er  als  Erben  seiner  Arbeit  und  der  schon 
vollendeten  Abschnitte  derselben  eingesetzt  hatte;  Otho  solle  die  letzte 
Hand  daran  legen  und  den  Druck  überwachen.  Kaiser  Maximilian  IL 
bestätigte  diese  Verfügung  und  sagte  zu,  für  die  Kosten  aufzukom- 
men. Allein  1576  starb  der  Kaiser,  und  sein  Nachfolger  hatte  für 
derartige  Zwecke  kein  Geld  übrig.  Ruber  deckte  einige  Zeit  die 
Kosten,  bis  Otho  zur  Wittenberger  Professur  der  Mathematik  berufen 
wurde  und  der  Kurfürst  August  von  Sachsen  sich  der  Sache  an- 
nahm. Aber  da  brachen  die  kryptocalvinistischen  Händel  aus,  in 
deren  Folge  der  Kurfürst  seine  Hand  von  der  Universität  abzog, 
und  Otho  musste  wiederholt  einen  neuen  Gönner  aufsuchen.  Er  fand 
ihn  in  Kurfürst  Friedrich  IV.  von  der  Pfalz,  und  mit  dessen  Unter- 
stützung wurde  das  Werk  vollendet  und  1596  in  Neustadt  als  Opus 
Palatinum  de  Triangulis^)  gedruckt.  Ausser  den  Tafeln  und  der 
Lehre  von  ihrer  Berechnung  ist  auch  eine  vollständige  ebene  und 
sphärische  Trigonometrie  darin  enthalten,  aus  welcher  letzteren  ins- 
besondere die  Unterscheidung  der  zweideutigen  Fälle  hervor- 
zuheben ist").  Unter  den  Formeln,  deren  Rhäticus  zur  Berechnung 
der  Tafeln  sich  bediente,  in  welchen,  wie  naturgemäss,  die  meisten 
Zahlen  mittelbar  aus  anderen  wenigen,  die  unmittelbar  ausgerechnet 
waren,  abgeleitet  wurden,  hat  man 

sin  na  =  2  sin  (w  —  1)  a  ■  cos  a  —  sin  (n  —  2)  a , 
cos  na  =  2  cos  (n  —  1)  a  •  cos  cc  —  cos  {n  —  2)  a 
hervorgehoben^),  deren  Richtigkeit  am  Einfachsten  aus 


0  Die  Betjchreibung  bei  Kästner  I,  590—611.         ^)  Kästner  I,  60.3. 
3)  Rud.  Wolf,  Handbuch  der  Astronomie,  ihre  Geschichte  und  Literaturl,  170 
(Zürich  1890). 


Fortsetzung  der  Geometrie  u.  Mechanik.     Cyclometrie  u.  Trigonometrie.     G03 

sm  a  -f-  sin  b  =  2  sin  — ^ cos  — ^ — 

und 

I  7         o        «  +  ö  a  —  b 

cos  a  -\-  cos  0  =  Zcos  — 7, —  •  cos  — r, — 

sich  ergiebt. 

Rhäticus  liatte  ausser  den  im  Opus  Palatinum  abgedruckten  Tafeln 
noch  grössere  berechnet,  bei  welchen  der  Halbmesser  zu  1  mit 
15  Nullen  angenommen  war.  Die  Winkel  wuchsen  in  denselben  um 
je  10",  für  den  ersten  und  letzten  Grad  des  Quadranten  aber  waren 
die  Winkel  gar  von  Secunde  zu  Secunde  unterschieden,  allerdings 
nur  unter  Angabe  des  Sinus.  Diese  grossen  Tafeln  waren,  wie  Otho 
sich  erinnerte,  vorhanden,  aber  er  wusste  nicht  mehr  wo.  Diese  Ge- 
dächtnissschwäche, der  als  Grund  sein  Alter  beigefügt  wird,  während 
er  1596  doch  noch  nicht  einmal  50  Jahre  zählte,  ist  einigermassen 
auffallend,  aber  an  ihrem  Vorhandensein  ist  nicht  zu  zweifeln,  da 
ein  eigener  Bote  nach  Wittenberg  geschickt  wurde,  um  die,  wie  Otho 
meinte,  dort  vielleicht  von  ihm  zurückgelassenen  Tafeln  zu  ermitteln. 
Natürlich  war  die  Sendung  fruchtlos,  denn  als  Otho  starb  und  der 
gesammte  Nachlass  des  Rhäticus,  den  Otho  besessen  hatte,  mit 
Einschluss  der  Originalhandschrift  des  Werkes  des  Koppernikus,  in 
Christmann's  Hände  kam  (S.  597),  fand  sich  darunter  jene  grosse 
Tafel,  der  sogen,  grosse  Canon.  Dessen  Bearbeitung  wurde  einer  für 
uns  neuen  Persönlichkeit  anvertraut. 

Bartholomäus  Pitiscus^)  (1501 — 1613),  aus  Grüneberg  in 
Schlesien,  war  Hofprediger  des  Kurfürsten  Friedrich  IV.  von  der  Pfalz, 
doch  waren  mathematische  Neigungen  ihm  angeboren,  für  die  er 
neben  der  Theologie  manche  Zeit  verwandte.  Als  Abraham  Scul- 
tetus^)  (1566 — 1625),  gleich  Pitiscus  in  Grüneberg  geboren  und  in 
Heidelberg  ansässig,  wo  er  zuerst  als  Professor  der  Theologie,  später 
als  Hofprediger  Friedrich  V.  wirkte,  im  Jahre  1595  Sphaericorum 
libri  tres  in  Heidelberg  erscheinen  Hess,  gab  Pitiscus  dazu  einen 
57  Seiten  starken  Anhang  unter  dem  Titel  Trigonometria,  sive  de  solu- 
tione  triangulorum  tradatus  hrevis  et  perspicuus,  dessen  acht  letzte 
Seiten  von  ebenen  Dreiecken  handelten.  Aus  diesem  Anhange  ent- 
stand ein  Werk,  welches  gleichfalls  Trigonometria  genannt  im  Jahre 
1600  in  Augsburg  gedruckt  wurde.  In  einem  Antiquariatskataloge 
finden  wir  eine  ebenfalls  1600  in  London  gedruckte  von  einem  ge- 
wissen Ha  ms  011  herrührende  englische  IJebersetzung  angezeigt.    Wir 


1)  Kästner  I,  564—565,  581—590,  612—626;  II,  743—745.  —  Allgem. 
deutsche  Biographie  XXVI,  204—205.  —  N.  L.  W.  A.  Gravelaar,  Pitiscus  Tri- 
gonometria in  dem  Meuw  Archief  ,voor  Wiskunde,  2.  Reihe,  III.  Theil  (auch  als 
Sonderabdruck  1898).         *)  Poggendorff  II,  883. 


604  68.  Kapitel. 

wissen  nicht,  ob  sie  nach  dem  Anhange  von  1595  oder  schon  nach 
der  Augsburger  Ausgabe  hergestellt  war.  Eine  abermals  erweiterte 
Ausgabe  erschien  1612  in  Frankfurt  und  ist  auf  dem  Titelblatte  als 
dritte  Ausgabe  bezeichnet,  wodurch  die  Abhandlung  von  1595  doch 
wohl  mit  Wissen  des  1612  noch  lebenden  Pitiscus  zum  Range  einer 
ersten  Ausgabe  des  umfangreichen  Werkes  heraufrückte.  Der  Titel 
Trigonometrie  ist,  wie  es  scheint,  von  Pitiscus  erfunden, 
wenigstens  lässt  er  sich  früher  nicht  nachweisen.  Dieser  Trigono- 
metrie sind  Tabellen  beigegeben,  welche  die  trigonometrischen  Linien, 
Sinus  u.  s.  w.,  liefern,  und  zwar  in  der  Auflage  von  1612  mit  Deci- 
malstellen,  welche  durch  einen  Punkt  von  den  übrigen 
Stellen  getrennt  sind,  vielleicht  in  Nachahmung  Vieta's  (S.  584). 
Das  eigentliche  TabeUenwerk  aber,  um  dessen  Vollendung  Pitiscus 
sich  Verdienste  erwarb,  der  grosse  Canon  des  Rhäticus,  erschien  1613 
unter  dem  Titel  Thesaurus  mathematicus.  Bei  denjenigen  Rechnungen, 
welche  Pitiscus  selbst  zur  Ergänzung  der  vorhandenen  Lücken  vor- 
nahm, bediente  er  sich  vorzugsweise  der  Regula  falsi,  welche 
allmälig  zu  wahren  Näherungsmethoden  für  Auflösung  von  Zahlen- 
gleichungen sich  ausgebildet  hatte,  und  mittels  deren  man  die  trigo- 
nometrische Dreitheilung  und  Fünftheilung  des  Bogens  vollzog,  d.  h. 
eigentlich  Gleichungen  dritten  und  fünften  Grades  löste.  Bei  Pitiscus 
finden  sich  fortwährend  die  Namen  Tangente  und  Secante  in  Ge- 
brauch, doch  rühren  diese  nicht  von  ihm  her.  Sie  sind  etwas  älteren 
Ursprunges.  Ihr  erstes  Vorkommen  ist  in  der  1583  in  Basel  ge- 
druckten Geometria  rotiimU.  Deren  Verfasser,  Thomas  Finck') 
(1561  — 1656)  aus  Flensburg,  war  Mediciner  und  Mathematiker  und 
bald  in  der  einen,  bald  in  der  anderen  Eigenschaft  thätig,  bald  1587 
Leibarzt  des  Herzogs  von  Schleswig-Holstein  in  Gottorp,  bald  1591 
Professor  der  Mathematik  in  Kopenhagen,  dann  wieder  seit  1603 
ebenda  Professor  der  Medicin.  Noch  ein  Name  entstand  um  den 
Anfang  des  XVII.  Jahrhunderts,  der  Name  Cosinus  statt  des  bei 
Pitiscus  z.  B.  noch  üblichen  Sinus  Complementi.  Diese  Umstellung 
(complementi  sinus,  co,  sinus,  cosinus)  rührt  von  dem  Engländer  Ed- 
mund Gunter  (1581 — 1626)  her,  von  welchem  wir  später  noch  zu 
reden  haben,  während  wir  hier  nur  im  Zusamm.enhange  die  Männer 
nennen  wollen,  welche  verschiedene  Namen  zuerst  benutzten,  die  dann 
rasch  sich  einbürgerten. 

Zu  den  trigonometrischen  Schriftstellern  gehört  auch  der  nament- 
lich als  vorzüglicher  Beobachter  berühmte  Astronom  Tycho  Brahe 
(^1540 — inoi).     In    einem   Hefte^),    welches    auf   der  Aussenseite   die 

*)  Allgem.  deutsche  Biographie  VII,  13—14  -)  Als  Photographotypie 

durch  H.  Studnicka  1886  in  Prag  herausgegeben. 


Fortsetzung   der  Geometrie   u.  Mechanik.     Cyclometrie   u.  Trigonometrie.      605 

Jahreszahlen  1591  und  1595  trägt,  hat  er  die  wichtigsten  Sätze  der 
ebenen  und  der  sphärischen  Trigonometrie  zusammengestellt. 

Ganz  anderer  Natur  waren  die  Fortschritte,  welche  die  Lehre 
von  den  trigonometrischen  Functionen  und  welche  die  Trigonometrie 
in  den  Händen  Vieta's  und  Van  Roomen's  machten.  Das  8.  Buch 
von  Vieta's  vermischten  Aufgaben  von  1593  hat  (S.  58(3)  schon  ein- 
mal unsere  Aufmerksamkeit  beansprucht.  In  ihm  ist  auf  S.  402  der 
sogenannte  Cosinussatz  der  ebenen  Trigonometrie  in  der  Form 
2 ah  :  (fr  -\-  h'^  —  c^)  =  sin  90"  :  sin (90"  —  C)  ausgesprochen.  In  dem- 
selben ist  auch  eine  ziemlich  vollständige  Sammlung  von  Aufgaben 
der  sphärischen  Trigonometrie  enthalten,  z.  B.  der  beiden  Aufgaben, 
aus  den  drei  Seiten  einen  Winkel,  aus  den  drei  Winkeln  eine  Seite  zu 
finden^),  mit  welchen  seit  Regiomontan  (S.  271)  kein  Mathematiker 
mehr  sich  beschäftigt  hatte,  und  Vieta  giebt  die  jenen  Aufgaben  ent- 
sprechenden Lösungen  seiner  Gewohnheit  gemäss  in  fast  unverständ- 
lichen Worten-),  welche  aber  in  die  Proportionen 

sin  rt  ■  sin  6  :  (cos  c  ^  cos  a  •  cos  h)  =  1  :  cosC 
sin  Ä  ■  sinB  :  (cos  Ä  •  cos  B  ^cosC)  =  1  :  cos  c 

haben  umgesetzt  werden  können.  Insbesondere  aber  ist  zum  ersten 
Male  das  reciproke  Dreieck  eines  sphärischen  Dreiecks  er- 
wähnt, welches  entsteht,  wenn  aus  den  Eckpunkten  des  gegebenen 
Dreiecks  als  Mittelpunkten  grösste  Kreise  beschrieben  werden,  die 
alsdann  bei  ihrem  gegenseitigen  Durchschneiden  eben  jenes  reciproke 
Dreieck  bilden^).  In  demselben  Jahre  1593  stellte  Van  Roomeu,  wie  wir 
wiederholt  erzählt  haben,  eine  öffentliche  Aufgabe.  Es  handelte  sich 
um  eine  Gleichung  45.  Grades,  welche  gelöst  werden  sollte.  Vieta 
war  im  Stande,  schon  1594  die  richtige  Auflösung  im  Drucke  erschei- 
nen zu  lassen.  Besponsnm  ad  prohlema  qiiod  onmibus  mathemaücis 
toi'ms  orbis  construcndum  lyroitosuit  Adrianus  Bomanus'^)  nannte  Vieta 
seine  Abhandlung.  Es  handelte  sich  um  Folgendes,  wenn  wir  durch 
Anwendung  unserer  heutigen  Bezeichnung  den  Gedankengang  leichter 
verständlich  machen,  als  er  es  in  der  Sprache  Vieta's  ist.  Gegeben 
war  also  eine  Gleichung  45.  Grades,  in  welcher  sämmtliche  Potenzen 
der  Unbekannten  mit  ungeraden  Exponenten  jeweils  abwechselnd  mit 
positiven  und  negativen  Zahlencoefficienten  versehen  vorkamen.  Man 
sollte   daraus   den  Werth    der  Unbekannten   ermitteln.      Die  Potenzen 


^)  Vieta  pag.  407.  *)  A.  von  Braunmühl,  Zur  Geschichte  des  sphäri- 
schen Polardreiecks  in  Bihlioth.  math.  1898,  S.  G5— 72.  ^)  Vieta  pag.  418: 
Si  si(b  apicibus  singuUs  jyropositi  tripleuri  spJiaerici  describantur  maximi  circuli, 
tripleurum  ita  descriptum  tripleuri  primum  propositi  lateribus  et  angulis  est  reci- 
prociim;  vergl.  A.  von  Braunmühl  1.  c.         ')  Vieta  pag.  .305 — 324. 


GOß  C8.  Kapitel. 

der  Unbekannten  waren  nach  dem  Vorgange  Stevin's,  wie  wir  noch 
sehen  werden,  durch  die  eingeringelten  Exponenten  dargestellt,  also 
X  durch  0,  x^  durch  (^,  .  .  .  x^^  durch  ©  .    Die  ganze  Gleichung  war: 

45a:—  ?>l^bx^-\-'dbQMx^  — 1138500^;^  +  78113753-3—345120750;" 
+  105306075a;i3  —  232676280a;i5  _|_  384942375a:i^  —  488494125^:19 
+  483841800.^21  _  37 8658800 a;^^^  +  23G030652a:2-^  —  117679100a;-'' 
+  46955700  a,-^»— 14945040  a:3i  +  3764565a;='3— 740259  ä:=^^+ 1  lllöOrr^^ 
—  12300a;39  +  Ubx^^  —  4bx''  +  x^''  =  B. 
Van  Roomen  hatte  hinzugesetzt,  dass,  wenn 


B=y2  +  V2  -\-V2  +  y2 

sei,  der  Werth  sich  ergebe 


V 


2  _  1/2  +  1/2  +  -1/2  +  ]/3  , 


sich   B=  2 sin  9)  und  a;  =  2sin^  darstellte,  oder,  nach  geometrischer 

Aussprache,  dass  B  eine  Sehne  und  x  die  Sehne  des  45.  Theiles  ihres 
Bogens  war.  Vieta  fügte  auch,  in  der  Erkenntniss,  dass  45  ^3 -3 -5 
ist,  hinzu,  die  Aufgabe  lasse  in  drei  andere  sich  spalten,  nämlich  in 
die  Auflösung  von  3^  —  s^  =  B  mit  s  =  C,  dann  3^  —  if  =  C  mit 
y  =  B,  endlich  von  bx  —  bx^  -\-  x^  =  B  mit  x  =  dem  gesuchten 
Werthe.  So  weit  mag  man  die  Verdienste  der  beiden  Nebenbuhler 
um  die  Erweiterung  der  Kenntnisse  von  den  trigonometrischen  Linien 
etwa  als  gleiche  betrachten.  Wenn  Vieta  das  scheinbar  alle  mensch- 
liche Kunst  Ueberschreitende  geleistet  hat,  dass  er  den  Ursprung  der 
vorgelegten  Gleichung  sofort  erkannte,  so  war  dieses  schlechterdings 
nur  dadurch  möglich,  dass  er  die  Bildung  der  Sehne  des  w-fachen 
Bogens  aus  der  Sehne  des  einfachen  bereits  kannte.  Genau 
das  Gleiche  müssen  wir  aber  auch  für  Van  Roomen  in  Anspruch 
nehmen.  War  sein  Wissen  von  den  erwähnten  Beziehungen  nur 
irgend  geringer  als  das  Vieta's,  so  wäre  es  ihm  nie  gelungen,  die 
Gleichung  aufzustellen,  welche  er  der  Oeffentlichkeit  übergab,  so  wäre 

30" 
es  ihm  nie  eingefallen,  für  x  die  Sehne  von  ^tt  =  1°  52'  30"  zu  setzen, 

45  •  30" 

um  B  als  die   Sehne   von  — -- —  =^  84*^  22'  30"    zu  finden  und  dann 

Ib 

rückwärts  zu  sagen,  aus  jenem  B  ergebe  sich  dieses  x. 

Nun  ging  aber  Vieta  noch  einen  gewaltigen  Schritt  über 
Van  Roomen  hinaus.  Letzterer  war  mit  Vieta  an  der  Spitze  aller 
Mathematiker,  die  mit  dem  Zusammenhange  triofcnometrischer  Linien 


Fortsetzung  der  Geometrie  u.  Mechanik.     Cyclometrie  u.  Trigonometrie.     007 

einfacher  und  vielfacher  Bogen  sich  beschäftigten,  aber  Vieta  war 
überdies,  was  Van  Roomen  nicht  war,  der  grösste  Algebraiker  seiner 
Zeit.  Er  wusste,  das  wird  im  folgenden  Kapitel  sich  zeigen,  von  der 
Anzahl  der  Wurzeln  einer  Gleichung.  Wenn  also  für  Van  Roomen 
die  Umkehrung,  dass  er  x  aus  B  abzuleiten  verlangte,  während  er  B 
aus  X  hergestellt  hatte,  lediglich  eine  solche  Bedeutung  hatte,  wie 
wenn  man  etwa  einem  geometrischen  Satze,  den  man  gefunden  hat, 
eine  Aufgabe  entnimmt,  zu  deren  Auflösung  er  sich  eignet,  so  war 
für  Vieta  die  Umkehrung  von  ganz  anderem  Inhalte  erfüllt.  Ausser 
dem  Werthe  von  x,  welcher  zur  Auffindung  von  B  geführt  hat,  kann 
es,  sagte  er  sich,  noch  andere  geben,  und  diese  anderen  Werthe  von 
X  hat  Vieta  fast  sämmtlich  zu  finden  gewusst,  nachdem  er  mit  grosser 

Wahrscheinlichkeit  der  Aufgabe   diese  neue  Fassung   gegeben   hatte. 

p 
Denselben  Werth  — ,  welchen  sing?  besitzt,  besitzen  auch  die  Sinus- 
linien   anderer   Winkel,    nämlich    sin  (360° -f- 9');    sin  (2  •  300° -}- 9) ; 
sin  (3  •  300°  -j-  cp)   u.  s.  w.    und    nicht    minder    auch    sin  (180°  —  9?), 
sin  (300°  +  180°  —  cp),  sin  (2  ■  300°  +  180°  —  (p)  u.  s.  w.     Somit  ist 

für  Y  als  dem  Sinus  des  45.  Theiles  des  vorgenannten  Bogen s  auch 
eine  viele  Möglichkeiten  enthaltende  Auffindung  vorhanden.  Dasselbe 
kann  sein  sin  J^,  sin  (8°  +  ^j  ,  sin  M0°  +  ~^j  u.  s.  w.,  beziehungs- 
weise sin  (4°  -  ^)  ,  sin  (12°  -  ^)  ,  sin  (20°  —  g)   u.  s.  w.    Wie  weit 

konnte,  durfte  dieses  u.  s.  w.  sich  erstrecken?  Noch  immer  war  man 
an  die  Schranke  positiver  Gleichuugswurzeln  gebunden,  noch  immer 
gab  es  Sinuslinien  nur  für  Bögen  zwischen  0  und  180°.     Demzufolge 

musste  tp  <  180°,  ^7  <  4°  sein,  und  als  weitere  Folge  konnten  nur 
die  Werthe 

als  Gleichuugswurzeln  gelten  oder 

«m(4"-^),    sin  (4° +1-8°-^),     ...sin(4°  +  22.8°-^), 

welche  in  umgekehrter  Reihenfolge  genau  dieselben  Wurzelwerthe 
sind,  wie  vorher.  Es  gab  deren  23.  Das  ist,  was  Vieta  gefunden 
hat,  wenn  auch  weitaus  nicht  in  der  scharfen,  leicht  durchsichtigen 
Ausdrucksweise,  welche  die  heutige  Sprache  seinen  Gedanken  zu  leihen 
weiss.  Wer  es  versucht ,  Vieta's  Abhandlung  durchzulesen ,  wird 
sicherlich  der  Ueberzeugung  sich  anschliessen ,  dass  es  ein  wenn 
auch    nur    nachträgliches,    doch    keineswegs    geringfügiges    Verdienst 


608  69.  Kapitel. 

Van  Roomen's  bildet^  Vieta's  Hesponsum  verstanden  und  gewürdigt 
zu  haben. 

Vieta  schrieb  über  verwandte  Untersuchungen,  welche,  wie  wir 
zu  zeigen  gesucht  haben,  bei  Anfertigung  des  Responsum  schon  ab- 
geschlossen gewesen  sein  müssen,  wenn  wir  auch  nicht  wissen,  wie 
weit  sie  zu  Papier  gebracht  waren,  Theoremata  ad  angulares  sedionefi^). 
Erst  gegen  1615  hat  Anderson,  ein  Mathematiklehrer  in  Paris, 
diese  Sätze  mit  Beweisen  versehen.  Von  Van  Roomen  ist  noch  ein 
Canon  triangulorum  sphacricorum^)  von  1609  anzuführen,  welcher  die 
Weitschweifigkeit  des  Opus  Palatinum  eindämmend  statt  28  Sonder- 
fälle der  sphärischen  Trigonometrie  deren  nur  6  aner- 
kannte. Aehnliches  hatte  Vieta  in  seinen  vermischten  Aufgaben 
von  1593  geliefert. 

Eine  gewisse  Berechtigung  hat  es  wohl,  wenn  wir  im  Anschlüsse 
an  die  Schriftsteller,  welche  mit  Trigonometrie  sich  beschäftigten, 
ganz  im  Vorbeigehen  bemerken,  dass  die  Niederlande  von  der  zweiten 
Hälfte  des  XVI.  Jahrhunderts  an  auch  Wohnsitz  von  solchen  Ge- 
lehrten waren,  welche  die  Entwerfung  von  Landkarten  zu  ihrer 
Aufgabe  wählten^).  Gerhard  Mercator  (1512—1594)  von  Rupel- 
monde  an  der  Scheide  diene  als  Vertreter  dieser  Richtung.  Die  aus- 
führlichere Darstellung  seiner  Projectionsmethode  und  dessen,  was 
seine  Schüler  aus  ihr  gemacht  haben,  gehört  allerdings  der  Geschichte 
der  Geographie  oder  der  Kartographie  an. 


69.  Kapitel. 

Recliftiikuiist  und  Algebra.  . 

Wir  gehen  zur  Rechenkunst  und  zur  Algebra  über.  Die  Rechen- 
bücher, mit  denen  wir  es  in  den  früheren  Abschnitten  zu  thun  hatten, 
waren  fast  durchgängig  beiden  gewidmet.  Sie  lehrten  das  gewöhn- 
liche Rechnen  oftmals  gar  in  doppelter  Art,  so  dass  das  Rechnen 
auf  den  Linien  und  das  auf  der  Feder  neben  einander  hergingen,  sie 
lehrten  auch  Gleichungen  ersten  und  zweiten  Grades  auflösen,  sie 
enthielten  überdies  einen  rechnend  geometrischen  Abschnitt.  Gegen 
Ende  der  ersten  Hälfte  des  XVI.  Jahrhunderts  gewann  die  Algebra 
an  Ausdehnung.  Rudolf  und  Stifel  in  Deutschland,  Recorde  in 
England,  Cardano   und  Tartaglia   in  Italien  schrieben  Bücher,    die 


*)  Vieta  pag.  237— .S04.        ')  Montucla  I,  579.        ^)  Quetelet  pag.  110 
-126.  —  Breuf?ing,  Gerhard  Mercator,  der 'deutsche  Geograph  (1869). 


Reclienkunst  und  Algebra.  609 

fast  lediglich  der  Lehre  von  den  Gleichungen  gewidmet  waren.  Dieser 
Umschwung  vollzieht  sich  in  der  zweiten  Hälfte  des  XVI.  Jahrhun- 
derts immer  mehr.  Wohl  erschienen  noch  Rechenbücher,  welche 
man  ebensogut  Lehrbücher  der  gesammten  Mathematik  nennen  könnte, 
weil  sie  neben  dem  Zahlenrechnen  die  Lehre  von  den  Gleichungen 
und  Feldmesserisches  in  sich  schliessen,  aber  eine  Theilung  der  Ziele 
bringt  mehr  und  mehr  gesonderte  Bearbeitungen  hervor.  Geometrie 
als  solche  haben  wir  weiter  oben  Besprochen  und  haben  dabei  zum 
Voraus  des  Simon  Jacob  als  Rechenmeisters  gedacht  (Ö.  581).  Einige 
Jahre  vor  seinem  Rechenbuche  erschienen  155G  zwei  allenfalls  er- 
wähnenswerthe  Schriften,  ein  Hilfsbuch  zur  Berechnung  des  Silber- 
gehaltes und  des  Silberwerthes  von  Johann  Marheld^)  in  deutscher 
und  ein  ganz  kurzgefasster  Lehrgang  des  Rechnens  mit  Sexagesimal- 
brüchen  nebst  Anweisung  zur  Auflösung  quadratischer  Gleichungen 
von  Kaspar  Peucer-)  (1525 — 1602)  in  lateinischer  Sprache.  Das 
erstere  ist  ein  mit  Tabellen  versehenes  um  nicht  zu  sagen  aus  Ta- 
bellen bestehendes  Buch  von  einer  Art,  wie  uns  vorher  noch  keins 
begegnete.  An  dem  zweiten  ist  nichts  interessant  als  der  Verfasser, 
ein  Schwiegersohn  Melanchthon's,  der  von  1554 — 1559  eine  mathe- 
matische Professur  in  Wittenberg  inne  hatte  und  dann  zur  medicini- 
schen  Facultät  überging.  Er  musste  schwer  unter  dem  Verdachte  des 
Kryptocalvinismus  leiden  und  brachte  zwölf  Jahre  in  harter  Gefangen- 
schaft auf  der  Pleissenburg  in  Leipzig  zu.  Er  hatte  vermuthlich 
Valentin  Otho  den  Rath  ertheilt  (S.  602),  Wittenberg  noch  recht- 
zeitig zu  verlassen  und  an  den  Pfälzer  Hof  nach  Heidelberg  sich  zu 
begeben. 

Von  SimonJacob's  Rechenbuch  ist  uns  nur  die  vervollständigte 
Ausgabe  von  1565  bekannt.  So  weit  wie  der  Verfasser  eines  latei- 
nischen Lobliedes,  welches  der  Vorrede  zum  Neiv  und  wolgegr'dndt 
Rechenhuch  unmittelbar  folgt,  möchten  wir  freilich  nicht  gehen.  Er 
behauptet  schlankweg,  Koburg  sei  durch  den  dort  geborenen  Jacob 
zu  gleicher  Berühihtheit  gelangt,  wie  die  beiden  anderen  fränkischen 
Städte:  Königsberg  und  Karlstadt  durch  Regiomontanus  und  Johannes 
Schoner  und  versündigt  sich  dadurch  an  Regiomontanus,  aber  immer- 
hin ist  Jacob's  Rechenbuch  besser  als  viele,  vielleicht  als  die  meisten 
ähnlichen  Werke  der  gleichen  Zeit.  Jacob  lehrt  der  Uebung  folgend 
am  Anfange  auch  das  Linienrechnen,  aber  er  ist  sich  der  Umständ- 
lichkeit desselben  wohl  bewusst  und  weiss  ferner,  wo  es  passende 
Anwendung  findet,  wo   nicht.      Wahr    ist's,    dass    sie   m    Hatissrech- 


1)  Kästner  I,  131.     -)  Ebenda  I,  131—132.     Allgem.  deutsche  Biographie 
XXV,  552 — 556,  Artikel  von  Wagenmann. 

Cantoe,  Geschichte  der  Mathem.    n.     2.  Aufl.  39 


610  69.  Kapitel. 

nungen,  da  man  viel  Siitnmierens ,  Aussgebens  und  Eynnemens  hedarff, 
etivan  förderlich  erscheinen,  aber  in  Kunstrechnungen,  die  ein  ivenig 
eticas  tvichtig,  zum  offtenmal  verhinderlich.  Nicht  sag  ich,  dass  man 
auff  den  Linien  dieselben  Rechnungen  nicht  auch  machen  höndte,  son- 
dern so  viel  vortheils  ein  Fussgänger ,  der  leichtfertig  und  mit  heiner 
Last  beladen  ist,  gegen  einen,  der  unter  einer  schwären  Last  stecket, 
hat,  so  viel  vortlieils  hat  auch  ein  Kunstrechner  auf  oder  mit  den 
Ziphern  für  einem  mit  den  Linien'^).  Damit  entschuldigt  es  Jacob, 
dass  er  nunmehr  vom  Dividiren  ab  das  Linienrechnen  ganz  bei  Seite 
lasse.    Er  kennt")  die  Summe  der  Quadratzahlen  in  Gestalt  der  Formel 

l'i  _^2-  -\ h  w-  =  1^^^  (l  +  '2  -\ h  -^^X'    sowie    die    der 

Kubikzahlen    l^  +  2^ -\ \- n^  =  {1  +  2  ^ \-  nf  und  beruft 

sich  für  den  Beweis  auf  das  8.  Buch  der  Arithmetik  des  Jordanus, 
welche  mithin  damals  in  Deutschland  noch  gelesen  wurde.  Die  Be- 
rufung ist  hier  allerdings  nicht  glücklich  gewählt,  oder  mindestens 
nicht  hinreichend  begründet,  denn  im  8.  Buche  der  genannten  Arith- 
metik kommt  weder  die  Summenformel  der  Quadratzahlen  noch  die 
der  Kubikzahlen  vor.  Jacob  musste  desshalb  sagen,  auf  welche  Sätze 
jener  Beweis  sich  stützen  solle.  Im  2.  Theile  ist  das  Dreieck  der 
Binomialcoefficienten  ^ )  bis  zu  denen  der  11.  Potenz  nicht  in  der 
Form  wie  bei  Stiefel,  dagegen  ganz  ähnlich  wie  in  Tartaglia's  General 
Trattato  von  1556  abgedruckt  mit  dem  einzigen  Unterschiede,  dass 
bei  Tartaglia  die  Coefficienten  bis  zu  denen  der  12.  Potenz  sich 
erstrecken.  Jacob  beruft  sich  auf  Vorgänger  —  und  icirt  diese  Tafel 
von  etlichen  also  gemacht  —  wo  er  die  Enstehungsweise 

g)+g;.)-(:j;)- 

mittheilt.  Einige  unbestimmte  quadratische  Aufgaben*)  sind  so  ge- 
löst, dass  die  an  bestimmt  gegebenen  Zahlen  gelehrte  Vorschrift  zu- 
gleich als  allgemein  giltig  bezeichnet  ist.  (— j  -f"  1  ^^i  ßi^e  Zahl, 
welche    um    die    gegebene    Zahl    a    vergrössert    oder    verkleinert    zur 

Quadratzahl   werde;    (         .^ j    —  a    werde   zur  Quadratzahl,   wenn 

man  entweder  die  gegebene  Zahl  a  addire,  oder  die  gleichfalls  ge- 
gebene Zahl  b  subtrahire;  ("-|— )  und  (-^ — \  seien  zwei  Quadrat- 
zahlen von  der  gegebenen  Differenz  d  u.  s.  w.  Auf  diese  wenigen 
von  uns  besonders  hervorgehobenen  Dinge  beschränkt  sich  keineswegs 
das  Interesse   von  Jacob's  Rechenbuch.     Ungemein   viele    kaufmänni- 


*)  New  und  wolgegründt  Rechenbuch  fol.  10  Terso.  -)   Ebenda  f'ol.  15 

,'erso  bis  16  recto.         ")  Ebenda  fol.  104  verso.         *)  Ebenda  fol.  Ü39  recto. 


Reclienkunst  und  Algebra.  611 

sehe  Aufgaben,  Gesellsehaftsrechnungen,  Mischungsrechnungen,  zusam- 
mengesetzte Proportionen  und  dergleichen  sind  behandelt,  wobei  die 
welsche  Praktik  nicht  zu  kurz  kommt.  Der  dritte  Theil  gehört  der 
Geometrie  an,  und  von  ihm  war  im  68.  Kapitel  die  Rede. 

Rechenmeister,  wenn  auch  nicht  alle  Jacob  ebenbürtig,  gab  es 
damals  in  Deutschland,  wo  man  hinblickte.  Eine  Stadt  dürfte  aber 
noch  besonders  namhaft  gemacht  werden,  in  welcher  eine  voll- 
ständige Rechenschule  entstanden  war:  Ulm^).  Diese  Reichs- 
stadt wetteiferte  hierin  wie  in  Vielem  mit  Nürnberg.  Die  Ulmer 
Schule  ist  begründet  durch  Conrad  Marchtaler,  der  sich  1545 
von  Wittenberg,  wo  er  studirte,  wo  ihm  aber  die  Mittel  zum  längeren 
Verweilen  ausgingen,  dem  Ulmer  Rathe  zur  Errichtung  einer  Rechen - 
schule  anbot,  ein  gern  und  rasch  angenommener  Vorschlag.  March- 
taler's  Nachfolger  hiess  Gallus  Spänlein.  Dann  war  Johannes 
Kraft  1597  Modist  und  Rechenmeister.  Er  verfasste  mehrere  Lehr- 
bücher, die  sehr  verbreitet  waren.  Gleichzeitig  war  auch  ein  gewisser 
David  Selzlin  Rechenmeister,  der  Lehrer  eines  bekannteren  Schü- 
lers, von  dem  wir  im  XV.  Abschnitte  reden:  Johann  Faulhaber. 

In  Frankreich  sind  Schriften  von  Pierre  ForcadeP)  (S.  549) 
nennenswerth.  Eine  1556 — 1557  erschienene  dreibändige  AritJimcfique 
enthält  manches  Eigenthümliche.  Zahlentheoretische  Aufgaben,  wie 
z.B.  die  Auflösung  von  x^ -\- x"^  =  y'^  mittels  x  =  2^  —  1,  y^^^ziz^ — 1) 
stehen  schon  im  ersten  Bande.  Ebendort  wird  die  5.  Potenz  der  Un- 
bekannten bald  quatriesme  guantite,  bald  cinquiesme  produit  genannt. 
Die  Binomialcoefficienten  sind  im  dritten  Bande  als  die  Ziffern  der 
auf  einander  folgenden  Potenzen  von  11  erkannt.  Das  ist  sofort  er- 
sichtlich bei  11^=  11,  IP  =  121,  IV  =  1331,  11*  =  14641.  Bei 
der  5.  Potenz  hilft  sich  Forcadel  dadurch,  dass  er  gewissermassen 
zweiziffrige  Ziffern  einführt  und 

14       ß      4    1 
14       6         4       1 


1     5     (10)    (10)     5     1 

als   das  Product  von    11  •  14641   betrachtet.     Eine  Arithmetique  par 
Ics  gects  von  1558  ist  ein  Lehrbuch  des  Linienrechnens. 

Das  Linienrechnen  lehrte  auch  Jean  Trenchant  in  seinem  1566 
in  Lyon  gedruckten  Buche  L' arithmetique  departie  en  trois  livres. 
Ensemble   un  petit   discours    des    cJianges    avec   l'art   de   calculer   mix 


')  Ofterdinger,  Beiträge  zur  Geschichte  der  Mathematik  in  Ulm  bis  zur 
Mitte  des  XVII.  Jahrhunderts  (Ulm  1867).  ^)  Fontes  in  den  Memoires  de 

FAcademie    des    Sciences,    Inscriptions  et  Belles-lettres    de    Toulouse,    Serie  9, 
T.  VI  (1894),  VII  (1895),  VIU  (1896). 

39* 


Gl 2  Ü9.  Kapitel. 

jetons^),  von  dessen  Beliebtheit  Ausgaben  von  1571,  1588,  1G02,  1632 
zeugen.     Jean  Trenchant  hat  auch  Zinstafeln  herausgegeben^). 

Petrus  Ramus  mit  seinen  ScJiolae  matliematicae  von  1569  ver- 
dient hier  gleichfalls  einen  kleinen  Platz.  Bei  den  Gesprächen  des 
Verfassers  mit  Kaufleuten,  welche  er  bei  seinen  Spaziergängen  be- 
suchte (S.  565),  lernte  er  mancherlei  unbedeutende  Rechenvortheile, 
welche  er  schildert.  Wir  brauchen  ihm  darin  nicht  zu  folgen.  Das 
Einzige,  was  wir  dem  Buche  entnehmen  möchten,  ist  die  lakonische 
Art,  in  welcher  das  Multiplikationsergebniss:  Minus  mal  Minus  giebt 
Plus,  gerechtfertigt  wird:  E  duahus  negatis  fit  affirmatus,  quia  mulüpli- 
cator  non  est  integer''^),  aus  zwei  Negativen  wird  ein  Positives,  weil 
der  Multiplicator  nicht  vollständig  ist.     Als  Beispiel  dient 

(8  —  9)  •  (8  —  9)  =  —  72  4-  81  -f  64  —  72  =  1 . 

Hier  ist  uns  im  Drucke  zuerst  ein  Anklang  an  das  Wort  negativ 
begegnet,  und  dem  Dialectiker,  welcher  den  Satz  kannte,  dass  zwei 
Negationen  bejahen ,  lag  die  Benutzung  gerade  dieses  Ausdruckes 
nahe.  Handschriftlich  können  wir  das  Wort  etwas  weiter  zurück- 
verfolgen. 

Eine  Handschrift  der  Göttinger  Bibliothek,  welche  in  den  Jahren 
1545 — 1548  geschrieben  ist  und  einst  dem  1574  verstorbenen  Mathe- 
matiker und  Schreibkünstler  Stephan  BrechteH)  gehörte,  enthält 
eine  muthmasslich  auf  eine  viel  ältere  Quelle  zurückweisende  Algebra, 
die  der  Namen  numcri  affirmatui  und  negativi   sich  bedient. 

Ein  Schüler  des  Ramus  war  Salignac"),  ein  zweiter  Ursti- 
sius^),  deutsch  Wursteisen  (1544 — 1588),  von  welchen  jener  1575, 
dieser  1579  ein  lateinisches  Rechenbuch  herausgab,  an  welchen  nichts 
bemerkenswerth  erscheint,  als  die  grosse  Verehrung  ihres  Lehrers, 
welchem  übrigens  Salignac  doch  Fehler  nachweist. 

Eine  herzlich  unbedeutende  Arithmetik  und  eine  Algebra,  der 
man  kein  besseres  Zeugniss  auszustellej]  vermag,  hat  Lazarus 
Schoner^),  ein  Sohn  von  Andreas  und  Enkel  von  Johannes  Schoner, 
1592  herausgegeben.  Als  Verfasser  ist  Petrus  Ramus  genannt,  als  eine 
eigene  Zugabe  des  Herausgebers  ist  aber  ein  Buch  über  figurirte 
Zahlen  und  ein  anderes  über  das  Rechneu  mit  Sexagesimalbrüchen 
bezeichnet^).    Unter  iigurirten  Zahlen  versteht  Schoner  solche,  welche 


^)  B.  Boncompagni  im  BnUetino  Boyicompcujni  I,  150  Note.     ^)  Bierens 
de    Haan,    Bouwstoffen    etc.    II,  186.  ^)    Scholae    mathematicae    pag.  2G9. 

0  Doppelmayr  S.  203.  ^)  Kästner  I,  1.56—139.  ^)  Ebenda  I,  139—143. 
')  Doppelmayr  S.  81  Note  g.  ")  Petri  Bami  Arithmetiees  lihri  duo  et  Algebrae 
totidem  a  Lazaro  Schonero  emendati  et  explicati.  Eiusdem  Schoneri  lihri  duo: 
alter,  de  Numeris  figuratls ;  alter  de  Logist ica  sexagenaria  (Frankfurt  1592). 


Rechenkunst  und  Algebra.  613 

durch  Multiplicatioii  entstanden  sind,  die  Factorou  werilsn  Seiten  ge- 
nannt^). Eine  einzige  Bemerkung  des  Buches  lohnt  die  Mühe  des 
Durchlesens.  Schoner  beruft  sich  nämlich  einmal  auf  den  33.  Satz 
des  Algorithmus  demonstratus  des  Jordanus^).  Damit  ist  fest- 
gestellt, dass  der  Enkel  dessen,  welcher  1543  den  Algorithmus  demon- 
stratus herausgab,  die  Ueberzeugung  besass,  jene  Schrift  stamme  von 
Jordanus,  nnd  dass  er  ohne  weiteren  Zusatz,  gleichsam  als  seinen 
Lesern  hiulänglich  bekannt,  jener  Ueberzeugung  Worte  lieh.  Be- 
dürfte es  äusserer  Bestätigung  für  die  gegenwärtige  Annahme,  wer 
den  Algorithmus  demonstratus  verfasste,  so  wäre  sie,  scheint  es,  hier 
schwerwiegend  gegeben. 

Von  Tartaglia's  General  Trattato  (S.  517)  scheint  der  erste 
Band  wiederholt  besonders  herausgegeben  worden  zu  sein.  Eine  Aus- 
gabe^) führt  z.  B.  den  Titel:  Tutte  l'Opere  d'Arithmetica  del  Famo- 
sissimo  Nicolo  Tartaglia  (Venedig  1592 — 1593).  Ein  ähnlicher,  aber 
natürlich  älterer  erste  Band  wurde  vielleicht  1577  in  Frankreich 
unter  dem  Namen  der  Arithmetik  des  Tartaglia  von  einem  Guillaume 
Gosselin'*)  ins  Französische  übersetzt  und  mit  Erläuterungen  ver- 
sehen. Welcher  Art  diese  sind,  mag  an  einem  Beispiele  klar  werden, 
welches  überdies  sehr  an  dasjenige  erinnert,  was  wir  erst  aus  den 
Scholae  mathematicae  des  Ramus  vorführten.     Es  sei 

6  =  8  —  2  =  10  —  4, 
also  müssen  (8  —  2)  •  (10  —  4)  =  36  sein,  und  es  komme  nur 
heraus,  wenn  Minus  mal  Plus  Minus  und  Minus  mal  Minus  Plus 
gebe.  Ob  es  ein  anderer  Gosselin'mit  dem  Vornamen  Pierre  war, 
der  1577  in  Paris  ein  Werk  De  arte  D/acjiia  herausgab,  und  ob  dieses 
Werk  in  seinem  Titel  eine  Abhängigkeit  von  Cardano  verrathen  sollte, 
wissen  wir  nicht. 

Franciscus  Maurolycus  (S.  558)  hat  1575  in  Venedig  eine 
Arithmetik  in  zwei  Büchern  herausgegeben,  welche  wir  wegen  eines 
darin  vorkommenden  neuen  Untersuchungsgegenstandes  nebst  zuge- 
hörigem Kunstausdrucke  erwähnen.  Sei  p{n)  eine  w*"  Vieleokszahl, 
so  nennt  Maurolycus  deren  Product  in  n  eine  columna,  Säule,  und 
leitet  eine  ganze  Reihe  von  Sätzen  über  solche  Säulen  von  Polygonal- 
zahlen her''). 

Kaum  mit  solchen  minderwerthigen  Leistungen  vergleichbar, 
jedenfalls   einen   ganz   anderen   wissenschaftlichen  Standpunkt    einneh- 


^)  Figaratus  dieitur  numerus  multipUcatione  factus:    eiusque  factores  dicun- 
tur  latera  (pag.  217).  ^)  pag.  -2.34  lin.  16—17.  ^)  G.  Wertheim  brieflich. 

*)  Kästner  I,  197—200.  —  Poggendorff  I,  929—930.  ^)  G.  Wertheim 

in  der  Zeitschr.  Math.  Phys.  XLIII,  Histor.-literar.  Abthlg.  S.  42. 


614  G»-  Kapitel. 

mend,  sind  die  arithmetischen  Schriften  von  Simon  Stevin.  Bereits 
15''^4  hat  er  Zinstafeln  dem  Drucke  übergeben^),  welche  mit  vlä- 
mischem  Texte  in  Leiden  angefertigt  und  dem  Bürgermeister  dieser 
Stadt  gewidmet  waren,  wenn  auch  der  Druck  in  Antwerpen  in  der 
berühmten  Plantin'schen  Druckerei  erfolgte.  In  der  Leidner  Werk- 
stätte des  gleichen  Hauses  erschien  alsdann  1585  ein  stärkerer  Band, 
vier  Schriften  in  französischer  Sprache  enthaltend^):  eine  Aritlmietique, 
die  vier  ersten  Bücher  des  Diophaut,  eine  Practique  d'Ärithmetique 
und  eine  Abhandlung,  welche  den  Titel  La  Disme  führte,  und  welche 
laut  einer  Vorbemerkung  ursprünglich  vlämisch  niedergeschrieben 
war.  Hier  haben  wir  es  mit  den  beiden  letzten  Schriften  des  Bandes 
zu  thun,  da  die  Ärithmeticßie,  eigentlich  eine  Algebra,  erst  nachher 
zur  Rede  kommt,  die  Diophantbearbeitung  schon  fS.  552)  erwähnt 
wurde. 

Die  Practique  d'Ärithmetique  lehrt  alle  Rechnungen  ausführen, 
welche  die  Regeldetri  zur  Gnmdlage  haben,  und  die  nicht  im  kauf- 
männischen Leben  vorkommen.  Als  Schriftsteller,  welche  Derartiges 
erfolgreich  gelehrt  haben ,  nennt  Stevin  Namen  aus  verschiedenen 
Ländern^),  abermals  ein  Zeugniss  dafür,  wie  völkergemeinsam  damals 
bereits  mathematische  Schriften  waren.  Cardano,  Stifel,  Tar- 
taglia,  Gemma  Frisius,  Cuthbert  Tonstall  sind  die  Erwähnten, 
und  wenn  ausserdem  Juan  Peris  de  Moya  auftritt,  so  ist  das  in 
den  damals  noch  fast  spanischen  Niederlanden  begreiflich.  Ueberdies 
hat  die  Äritmetica  practica  y  cspecnlatira  dieses  Schriftstellers  nur  inner- 
halb der  Zeit  von  l(j09  bis  1761  dreizehn  Auflagen  erlebt^).  In 
einer  noch  älteren  Ausgabe  von  1590  findet  sich  auf  fol.  227  die 
Ausziehung  der  Quadratwurzel  unter  Anwendung  der  von  Chuquet 
erfundenen  Regel  der  mittleren  Zahlen  (S.  352),  welche  De  Moya  aus 
dem  vielverbreiteten  Lehrbuche  des  De  la  Roche  (S.  371 — 374)  kennen 
gelernt  haben  dürfte^).  Stevin  bezog  sich  auf  den  früher  erschiene- 
nen Tratado  di  matcmäticas  (Alcala  1573).  In  letzterem  ist  auch  über 
die  Darstellung  der  Zahlen  mittels  Fingerbiegung  bei  den  Arabern 
gehandelt ^j.  De  Moya  ist,  wie  wir  hier  einschaltend  erwähnen^),  in 
der  Sierra  Morena  in  St.  Stefano  geboren  und  war  Canonicus  in 
Granada.  Das  Hauptgewicht  legt  Stevin  in  der  Practique  d'Ärithmetique 
auf  Zinstafeln,    welche  hier    in   neuem   Abdrucke    und    mit   sachlich, 


»)  Quetelet  pag.  147.  *-)  Ebenda  pag.  159  Note  1.  ')  Stevin  I,  181. 
■•)  G.  Vicui  a  in  der  Bibliotheca  mathematica,  1890,  pag.  35.  ^)  G.  Wertheim, 
Die  Bereclinung  der  ii-rationalen  Quadratwurzeln  und  die  Erfindung  der  Ketten- 
brüche  in  Zeitschr.  Math.  Phjs.  XLII,  Supplementheft  S.  150.  ^)   Bulleimo 

Boncompagni  I,  312 — 313.         '')  Vergl.  Bibliotheca  Hispana  nova  attctore  D.  Ni- 
coiao Antonio  Hispaknsi  I.  C.  (Madrid  1783)  I,  757. 


Rechenkunst  und  Algebra.  615 

nicht  bloss  sprachlich  verändertem  Texte  erscheinen').  Es  sind,  ge- 
naner  gesagt,  Kahattirungstafeln,  welche  den  Baarwerth  einer  Forde- 
rung von  10000000  erkennen  lassen,  welche  erst  in  1,  2  bis  33  Jahren 
fällig  zu  Zinseszins  auf  die  Gegenwart  zurückzuführen  ist.  Der  Zins- 
fuss  ist  zunächst  in  ganzen  Procenten  als  1,  2  bis  löproceutig  an- 
genommen, dann  in  Stammbrüchen  des  Kapitals  als  — ,  jg  bis  herab 

zu  --,   wofür   die  Ausdrücke   dienen   au   denier  15,  au  denier  IG  bis 

zu  au  denier  22,  d.  h.  1  A  Zins  für  15,  16,  ...  22  a  Kapital.  Wird 
umgekehrt  nach  der  Summe  gefragt,  zu  welcher  ein  Kapital  in  einer 
gegebenen  Zeit  bei  Zinseszins  zu  einem  gegebenen  Procentsatze  an- 
wächst, so  soll  man  mittelbaren  Gebrauch  von  den  Tafeln  machen. 
Ist  z.  B.  vermöge  derselben  6005739  der  Baarwerth  von  nach  13  Jahren 
fälhgen  10000000  bei  47^,  so  wächst  das  Kapital  K  zu  4%  in 
13  Jahren  zu   ^^^ü^-^^rK  an.    Auch  Zeitfragen  werden  beantwortet 2). 

In  welcher  Zeit  Avird  800  zu  ^^  Zins  zu  2500  V  Wir  verändern  2500 
in  10000000,  mithin  800  in  3200000  und  suchen  diese  Zahl  in  der  Tafel 
von   ~  Zins.     Bei  19  Jahren  steht  dort  3375605,  also  ist  die  gesuchte 

Zeit  länger  als  19  Jahre.  Den  überschüssigen  Bruchtheil  eines 
Jahres  soll  man  folgendermassen  suchen.  Es  fand  sich  eine  um 
3375605  —  3200000  =  175605   zu   grosse  Zahl;  3200000   giebt  zu 

1     .        Ti         3  200000  „.  -.--..A-    V  i  4.  1  1         •       17    175605 

p  im  Jahre  — — —  Zins;    l<obOo  /ins    entstehen  also   in     32'QQooo^ 

2  985  28. 


Jahren.    Allerdings  kleidet  Stevin  seine  Regel  etwas  anders 

ein.  Statt  den  Ueberschuss  so  zu  suchen,  wie  wir  es  thaten,  verviel- 
facht er  das  ganze  3375605  mit  17  und  dividirt  dieses  Product  durch 

3  200000,   wobei  als   Quotient' 17^^^   -—   erscheint,    und   von  diesem 

Quotient  müsse  man  immer  die  ganze  Zahl,  hier  also  17,  weglassen^). 
Ist  die  Frage  nach  dem  Zinsfusse  gestellt,  mittels  dessen  etwa  1000 
in  7  Jahren  zu  2000  geworden  sind,  so  sollen  die  Tafeln  folgendermassen 
benutzt  werden^).  Statt  2000  muss  10000000,  also  statt  1000  die 
Zahl  5000000  gesetzt  werden,  und  nun  suche  man,  in  welcher  Ta- 
belle beim  7.  Jahre  5000000  stehe.  Bei  lOy^  findet  sich  5131582, 
bei  11%  steht  4816585,  also  ist  der  Zinsfuss  zwischen  10  und  1V%, 
etwas  näher  bei  10  als  bei  11. 

Nach  der  Practique  d'Arithmetique  kommt  auf  nur  sieben  Seiten 
eine  Abhandlung^),  welche  den  vielsagenden   Titel  führt:    La  JJisine 


^)  Stevin  I,  l'Jl — 197.        -)  Ebenda  I,  199.        ^)  lesquels  17  on  delaissera 
ponr  ra'gJe  generale.         ^)  Stevin  I,  201.         ^  Ebenda  I,  200—213. 


616  69.  Kapitel. 

enseignant  facilement  expedier  par  nonihres  oiticrs  saus  rompuz  foiis 
comptes  se  rencontrans  uux  affaires  des  Honimes.  Ohne  Brüche,  nur 
mittels  ganzer  Zahlen  sollen  alle  Rechnungen,  welche  im  mensch- 
lichen Geschäftsleben  vorkommen,  ausgeführt  werden!  Wir  wissen 
heute,  dass  dieser  Ausspruch  wirklich  gewagt  werden  durfte,  dass 
Decimalbrüche  in  der  That  das  leisten,  was  Stevin  versprach.  Er 
war  von  der  grossen  Bedeutung  des  in  der  Bisme  Gelehrten  durch 
und  durch  erfüllt.  Am  Schlüsse  macht  er  es  den  Regierungen  zur 
Pflicht,  das  Ihrige  zu  thun,  um  das  neue  Rechnen  zu  einem  in  allen 
Fällen  unmittelbar  anwendbaren  zu  machen;  er  verlangt  mit  dürren 
Worten  Decimaltheilung  der  Münzen,  der  Maasse,  der  Gewichte. 
Möge,  fährt  er  fort,  die  Einführung  der  Decimalbrüche  vielleicht  nicht 
so  bald  in  Aussicht  stehen,  als  er  es  wünsche;  das  sei  sicher,  dass 
ein  künftiges  Geschlecht,  wenn  nur  die  Menschennatur  die  gleiche 
bleibe,  nicht  immer  einen  so  grossen  Vortheil  ausser  Acht  lassen 
werde ^).  Er  ahnte  nicht,  dass  es  noch  zwei  Jahrhunderte  dauern 
sollte,  bis  man  anfing,  seinen  Plan  zu  verwirklichen,  trotzdem  mög- 
licherweise ein  hervorragender  Kirchenfürst,  Bischof  Ernst  von 
Baiern ^)  zu  Köln  ähnliche  Gedanken  hegte,  zum  Mindesten  wie 
Adrian  van  Roomen  in  einer  Vorrede  von  1600  erzählt  hat,  alle 
Maasse  und  Gewichte  auf  eine  einzige  geometrische  Reihe  gründen 
wollte^).  Wir  greifen  mit  diesem  Zwischensatze  in  eine  damals  weit 
entlegene  Zukunft  vor,  wir  thun  es,  um  das  ganze  Gewicht  der  Stevin- 
schen  Leistung  auf  uns  wirken  zu  lassen.  Der  Gedanke  decimaler 
Theilung  und  decimaler  Rechnung,  könnte  man  einwerfen,  sei  nicht 
neu  gewesen.  Gewiss,  seit  Jahrhunderten  hatte  das  eine  Verfahren 
zur  Auffindung  angenäherter  Wurzelwerthe,  hatte  die  Einrichtung 
von  Sinustafeln,  in  welchen  die  Länge  des  Halbmessers  durch  eine 
mit  Nullen  versehene  Einheit  dargestellt  wurde,  darauf  vorbereitet. 
Aber  decimal  leicht  aussprechbare  Längen  und  sogar  die  Benutzung 
von  Brüchen,  deren  Nenner  aus  Einheiten  mit  Nullen  bestehen,  sind 
noch  keine  Decimalbrüche.  Dazu  gehört  ein  Weiteres:  die  Anwendung 
der  Stellung  zur  Bezeichnung  des  verminderten  Werthes  der  einzelnen 
Zahlzeichen,  das  darauf  beruhende  Weglassen  der  Nenner,  und  will 
man  daran  erinnern,  dass  auch  dieser  Gedanke  nichts  weniger  als 
neu  war,  dass  er  bei  der  fortgesetzten  Sexagesimaltheilung  der  Winkel- 
grade   seit   Jahrtausenden    bereits    in    Uebung    war,    so    mag    Stevin 


*)  II  est  certain  que  si  les  hommes  futurs  sont  de  teile  nature  comme  ont  este 
les  precedens  qu'ils  ne  seront  jms  iousiours  negligens  en  leiir  si  grand  avantage. 
*)  Allgemeine  Deutsche  Biographie  VI,  250—257.  Artikel  von  Ennen.  ^)  Le 
Paige,  Notes  pour  servir  ä  Vhistoire  des  mathematiques  dans  l'ancien  pays  de 
Liege  in  dem  Bulletin  de  l'institut  archeologiques  Liegeois  XXI,  490 — 491. 


Rechenkunst  und  Algebra.  617 

vielleicht  an  diese  Anregung  gedacht  haben-,  aber  seiner  Erfindung 
ist  dadurch,  möchten  wir  sagen,  nur  höherer  Wert  beigelegt;  denn 
warum  haben  jene  Jahrtausende  nicht  geleistet,  was  Stevin  als  noth- 
wendig  ei'kannte?  So  ganz  vollständig  ist  allerdings  das  Wegbleiben 
der  Nenner  bei  Stevin  noch  nicht.  Er  benutzt  noch  nicht  ein  Pünkt- 
chen oder  Komma,  um  die  Einer  von  den  Decimalbruchstellen  zu 
trennen.  Er  schreibt  vielmehr  von  der  Einheitsstelle  an  jeder  Stelle 
zur  Rechten  ein  Rangzeichen  bei,  welches  in  einer  eingeringelten 
Zahl  besteht.  Eine  eingeringelte  0,  1,  2,  3  bezeichnet  die  links 
davon  befindliche  Stelle  als  Einer,  Zehntel,  Hundertstel,  Tausendstel, 

z.  B.   237®  5®  7@  8®    bedeutet    ihm    237^-      Aber   er   sieht 

doch  bereits  die  Möglichkeit  einer  kürzeren  Schreibweise,  denn  54  OD 

bedeutet  ihm  schon  -^  und   in   der   Practique  de    Geometrie,   welche 

in   einzelnen   Theilen   vielleicht   auch   bis   1585    zurückgeht   (S.  572), 

findet  sich  ^)  707  C-D  für  7—  •     Bei  der  Ausführung  der  Rechnungen, 

der  Additionen,  Subtractionen,  Multiplicationen,  Divisionen,  werden 
die  eingeringelten  Stellenzeiger  über  die  betrefi'enden  Ziffern  gesetzt 
und  gelten  beispielsweise  bei  der  Addition  für  sämmtliche  Posten, 
sowie  für  die  aus  ihnen  gebildete  Summe,  wodurch  die  Vereinfachung 
der  Schreibweise   sich  noch  erhöht: 

®  CO  @  C3) 

2  7      8      4      7 

3  7       G       7       5 
8       7       5       7       8      2 


9      4      1      ö      0      4 

Was  für  Stevin  die  eigentliche  Bedeutung  der  eingeringelten  Stellen- 
zeiger war,  werden  wir  bei  Besprechung  seiner  algebraischen  Lei- 
stungen sehen. 

Ein  Pünktchen  oder  eine  den  Einern  ihre  Wölbung  zukehrende 
Halbklammer  zur  Abgrenzung  von  Decimalstellen  scheint 
zuerst  Joost  Bürgi -)  (1552 — 1G32  oder  1633)  benutzt  zu  haben.  Er 
war  Schweizer  von  Geburt,  brachte  aber  den  grössten  Theil  seines 
Lebens  in  Kassel  und  Prag  zu.  In  Kassel  war  Bürgi  Hofuhrmacher 
des  um  die  Sternkunde  hoch  verdienten  Landgrafen  Wilhelm  IV., 
in  Prag  kaiserlicher  Kammeruhrmacher.    Dort  stand  er  in  persönlichen 

*)  Stevin  II,  390  letzte  Zeile.  -)  Rud.  Wolf,  Biographien  zur  Kultur- 
geschichte der  Schweiz  (Zürich  1858)  I,  57 — 80.  Derselbe,  Astronom.  Mitthei- 
lungen Nr.  LXXn  und  LXXXI.  Derselbe,  Bibliotheca  mathematica  1889  p.  33. 
Derselbe,  Handbuch  der  Astronomie,  ihrer  Geschichte  und  Litteratur  (Zürich 
1890)  I,  86—88  und  173—175. 


618  <30.  Kapitel. 

Beziehungen  zu  Kepler.  Im  Jahre  1022  kehrte  Bürgi  nach  Kassel 
zurück,  wo  er  den  Abend  seines  Lebens  verbrachte.  Von  den  Schreib- 
weisen des  Namens  Bürgi,  Burgi,  Bj^rgi  ist  durch  Funde  im  St.  Galler 
Archive  die  erste  als  die  richtige  gesichert,  wenigstens  hat  seit  dem 
X\T!.  Jahrhunderte  die  Familie  stets  nur  Bürgi  geheissen.  Die  lange 
Lebenszeit  Bürgi's  und  noch  mehr  die  verschiedenartigen  Verdienste, 
um  derenwillen  die  Geschichte  der  Mathematik  sich  mit  ihm  zu  be- 
schäftigen hat,  macht  es  nothwendig,  ihn  ausser  im  XIY.  auch  noch 
im  XV.  Abschnitte  zu  behandeln.  Hier  haben  wir  es  zunächst  nur 
mit  dem  Rechner  Bürgi  zu  thun.  Was  wir  von  seiner  Bekanntschaft 
mit  Decimalbrüchen  oben  angedeutet  haben,  beruht  znva.  Theil  auf 
einer  nur  handschriftlich  vorhandenen  Ärithmetica^) ,  welche  wahr- 
scheinlich kurz  nach  dem  im  August  1592  erfolgten  Tode  des  Land- 
grafen Wilhelm  IV.,  von  dem  in  der  Vorrede  mit  dem  Beiworte 
„hochselicher  Gedächtniss"  die  Sprache  ist,  verfasst  wurde,  und  welche 
mit  dem  Kepler  sehen  Nachlasse  auf  die  Bibliothek  von  Pulkowa  kam, 
der  sie  noch  angehört,  zum  wesentlicheren  Theile  auf  der  Aussage 
von  Keplei-.  Letzterer  sagt  in  seinem  1616  veröifentlichten  Auszwj 
aus  der  uralten  Messe-Kunst  Ärchiniedis^),  wo  er  jene  Halbklammer 
den  Lesern  erklärt:  „diese  Art  von  Bruchrechnung  ist  von  Jost  Bürgen 
zu  der  sinusrechnung  erdacht".  Darnach  müsste  man  auch  Bürgi's 
Unabhängigkeit  von  Stevin  annehmen,  was  bei  einem  ohne  wesent- 
lichen Unterricht  Aufgewachsenen  •'')  glaubhaft  ist.  In  der  hand- 
schriftlichen Arithmetik  dient  eine  unter  der  Einerstelle  befindliche  Ö 
bisweilen  als   Abtheilungszeichen  =  141—-     Am   gleichen    Orte 

wird   die   abgekürzte  Multiplication    gelehrt,    wofür  das  Beispiel 

sich  findet 

Ol  234 

12358 


01234 

0246 

8 

037 

0 

06 

1 

0 

9 

01525  I 
Hier  ist  allerdings  kein  Abtheilungszeichen,   und  man  muss  aus  dem 
Ergebnisse  folgern,   dass   eigentlich   0,1234  und   1,2358   die  P^actoren 

^)    Ein    Auszug    von    R  u  d.    Wolf    in    dessen    Astronom.    Mittheilungen 
Nr.  XXXI.  *)  Oper«  Kepleri  (ed.  Frisch)  V,  547.  ^)  In  der  Vorrede  zur 

handschriftlichen  Arithmetik  sagt  Bflrgi  von  sich:  „der  ich  doch  Griechischer 
und  lateinischer  Sprach  unerfahren  und  derohalben  die  Jenige,  wöUiche  hiervon 
geschrieben  in  Irer  rechten  Sprach  nit  vernehmen  khönde."  Wolf,  Astron. 
Mittheil.  Nr.  XXXI  S.  9. 


Rechenkunst  und  Algebra.  619 

sind,  welche  das  Product  0,1525  lieferu.  In  Uebereinstimmung  mit 
Keplers  Aussage  ist  die  (S.  604)  angeführte  Thatsache,  dass  Pitiscus 
im  Tabellenanhange  seiner  Trigonometrie  von  1608  sowie  von  1612 
(nicht  in  den  früheren  Auflagen)  das  Decimalstellen  abtrennende  Pünkt- 
chen benutzt  hat.  In  derselben  Ausgabe  seiner  Trigonometrie  S.  44 
nennt  aber  Pitiscus  den  Bürgi  in  einer  Weise,  als  ob  er  dessen  Unter- 
richt genossen  hätte,  wenn  wir  auch  nicht  anzugeben  wissen,  wo  das 
stattgefunden  haben  sollte.  Es  mag  für  die  Einführung  jenes  Deci- 
malpünktchens  nicht  unerinnert  bleiben,  dass  längst  bevor  man  Deci- 
malbrüche  schrieb,  Pünktchen  benutzt  wurden,  um  in  sehr  grossen 
Zahlen  Gruppen  von  bald  je  drei,  bald  je  vier  Stellen  abzugrenzen. 
Prätorius  hat  in  seiner  Handschrift  von  1599  (S.  589)  unzweifel- 
haft selbständig  unter  der  Ueberschrift  Compendiosa  muUiplicatio  duorum 
inter  se  sinuum  quando  (actus  per  1000  etc.  dividendus  est  die  abge- 
kürzte Multiplication  deutlicher  und  genauer  als  Bürgi  gelehrt^). 

Neben  Vieta,  Stevin,  Bürgi,  Prätorius  ist  ein  fünfter  Bewerber  um  die 
selbständige  Erfindung  der  Decimalbrüche  vorhanden:  Johann  Hart- 
mann Beyer 2)  (1563—1625)  aus  Frankfurt  am  Main.  Dieser  ver- 
öffentlichte 1603  eine  mehrfach  neu  aufgelegte  Logistica  decimalis, 
das  ist  die  Knnstreclmung  mit  den  zehntheiligen  Brüchen.  Beyer  nimmt 
deren  Erfindung  ausdrücklich  für  sich  in  Anspruch.  Er  bemerkt,  es 
habe  ihn,  indem  er  sich  zuweilen  in  den  mathematischen  Künsten 
erlustiret,  die  Praxis  der  Astronomen,  geringere  Theile  als  Grade  mit 
60theiligen  Scrupeln  zu  messen,  auf  den  Gedanken  gebracht,  dass 
statt  der  sechzigtheiligen  Brüche,  welche  einen  mühsamen  Calculum 
erfordern,  wohl  auch  eine  andere  Denomination  anwendbar,  und  dass 
hierzu  die  10  eine  sonderlich  bequeme  und  gleichsam  privilegirte  Zahl 
sei,  welche  im  Addiren,  Subtrahiren,  vornehmlich  aber  im  Multipli- 
ciren  und  Dividiren  grosse,  bei  keiner  andern  Zahl  zu  findende  Vor- 
theile  gewähre.  Beyer  nennt  die  Bmchtheile :  erste,  zweite,  dritte 
.  .  .  Zehnder,  oder  erste,  zweite,  dritte  .  .  .  Scrupel,  oder  Primen, 
Secunden,  Terzen  .  .  .  und  bezeichnet  sie  durch  überschriebene  Indices, 

V 

nach  den  Ganzen  setzt  er  einen  Punkt:  8.798  bedeutet  bei  ihm  also 
8,^^,,,  •    Darüber,  dass  Beyer  die  Stevin'schen  Schriften  gekannt  hat, 

■    100000  J  J  o  7 

ist  Zweifel  nicht  möglich.  Die  Ausdrücke  Prime,  Secunde  u.  s.  w. 
zeigen  eine  auffallende  Aehnlichkeit  mit  der  Practique  d'Arithmetique^j. 


»)  Curtze  in  Zeitschr.  Math.  Phys.  XL,  Histor.-liter.  Abthlg.  S.  7—11. 
^)  Poggenclorff  I,  18.S.  —  Ungar  S.  10.5,  dem  wir  die  Beschreibung  der 
Logistica  decimalis  wörtlich  entnehmen.  ^)    Stevin  I,  208  Definition  3:   Et 

chasque  dixiesme  partie  de   l'unite  de  commeneement  nous  la   )iommoiis  Prime;  et 
chascßie  dixiesme  partie  de  l'unite  de  Prime  nous  la  )iommons  Seconde,  et  ainsi 


620  69.  Kapitel. 

Ueberdies  ist  auf  S.  113  von  Beyer's  Logistica  decimalis  sogar  von 
Johann  Semsen^)  Deeimalreclinuug  (auss  Anweisung  Simon  Stevins) 
im  3.,  4.,  5.  und  6.  cap.  lib.  Geodaes.  ausdrücklich  die  Rede"-). 

Von  Stevin's  Schriften  sei  gegenwärtig  noch  eine  erwähnt,  De 
Apologistka  Princijnim  Eatiocinio  Italico ,  welche  1605  in  dem 
II.  Bande  der  Hypomnemata  mathematica  erschien^).  Rechnung  der 
Fürsten  nach  italienischer  Weise  hat  man  den  Titel  übersetzt.  Es 
ist  die  Anwendung  der  doppelten  Buchführung  auf  den 
Staatshaushalt.  Stevin  hatte  für  die  Hofhaltung  des  Prinzen 
Moritz  von  Nassau  italienische  Buchführung  eingerichtet,  welche  ihm 
entweder  aus  den  Schriften  italienischer  oder  niederländischer  und 
deutscher  Gelehrten,  oder  wahrscheinlicher  durch  eigene  Uebung  wäh- 
rend der  Zeit,  in  welcher  er  kaufmännisch  sich  bethätigte,  bekannt 
war.  Waren  doch  in  Nachahmung  der  Italiener  Anleitungen  zur 
doppelten  Buchführung  von  Jan  Ympyn  1543,  von  Valentin 
Mennher  aus  Kempten  1550  und  1565  in  vlämischer  und  in  fran- 
zösischer Sprache  in  Antwerpen  im  Drucke  herausgekommen,  und 
waren  doch  bei  Mennher  die  unpersönlichen  Conti  neben  den  persön- 
lichen in  fortwährendem  Gebrauche^).  Jetzt  wünschte  Stevin  die  An- 
wendung des  in  kleineren  Verhältnissen  Erprobten  in  einem  grossen 
Staatswesen  einzuführen  und  wandte  sich  desshalb  an  den  französi- 
schen Staatsmann  Sully,  der  ja  gerade  dem  Finanzwesen  die  grösste 
Aufmerksamkeit  schenkte.  Ihm  widmete  er  die  Schrift,  welche  zur 
Empfehlung  jener  Buchführung  dienen  sollte.  Wesentlich  ist  derselben 
nicht  nur  das  doppelte  Eintragen  jedes  einzelnen  Postens, 
der  einmal  in  einem  Soll,  das  andere  Mal  in  einem  Haben  vorkom- 
men muss,  sondern  auch  die  Einführung  der  vorerwähnten  unper- 
sönlichen Conti.  Gerade  diese  letzteren  —  z.  B.  in  einem  Ge- 
schäfte, welches  überseeische  Producte  führt,  die  Anlegung  eines 
Kaffeeconto,  Theeconto,  Pfefferconto  u.  s.  w.  —  erleichtert  ungemein 


des  autres  chasqxe  dixiesme  partie  de  Vunitc  de  son  signc  precedent  tousiours  en 
Vordre  un  d'avantage. 

^)  Johann  Sems,  ein  Niederländer,  verfasste  gemeinsam  mit  Job. 
Pietersen  Dou  eine  später  auc]i  ins  Deutsche  übersetzte  Geodäsie.  Käst- 
ner III,  291 — 293.  ')  Hunrath  in  Neue  philologische  Rundschau  (heraus- 
gegeben von  Wagner  und  Ludwig)  1892,  S.  235.  ^)  Der  11.  Band  der 
Hypomnemata  erschien  1605,  der  I.  erste  erst  drei  Jahre  später  1608.  Der 
Grund  lag  darin,  dass  die  Schriften  des  I.  Bandes  noch  ins  Lateinische  zu  über- 
setzen waren,  während  die  des  IL  Bandes  ursprünglich  lateinisch  verfasst  waren, 
lieber  die  Apologistica  vergl.  Kästner  III,  408 — 410  und  Jäger,  Lucas  Pac- 
cioli  und  Simon  Stevin  (Stuttgart  1876),  S.  109—137.  *)  Kheil,  Ueber  einige 
ältere  Bearbeitungen  des  Buchhaltungs-Tractates  von  Luca  Paccioli  (1896)  und 
Kheil,  Valentin  Mennher  und  Antich  Rocha  (1896). 


Rechenkunst  und  Algebra.  G21 

die  Uebersichtlichkeit,  und  diesen  Vortlieil  beabsichtigte  Steviu  auch 
in  der  Staatsbuchführimg  hervortreten  zu  lassen,  was  ihm  vollständig 
und  weit  rascher  gelang,  als  die  Durchsetzung  seiner  Wünsche  nach 
decimalen  Theilungen.  Die  unpersönlichen  Conti,  welche  Stevin  hier 
einführte,  waren  die  der  fürstlichen  Küche,  der  Wohnung,  des  Mar- 
stalls,  der  Rechnungskammer,  ferner  solche  über  das  Seewesen,  Straf- 
gelder u.  s.  w. 

Wir  gelangen  zur  letzten  Gruppe  mathematischen  Wissens,  deren 
Entwickelung  in  der  zweiten  Hälfte  des  XVI.  Jahrhunderts  wir  zu 
suchen  haben,  zur  Algebra. 

Einige  Schriften,  welche  ihrem  Inhalte  wie  ihrer  Entstehungszeit 
nach  fast  besser  hierher  gehören  würden,  sind  vorgreifend  im  XIII. 
Abschnitte  geschildert  worden.  Um  den  Einblick  in  den  Zusammen- 
hang der  Erfindungen  nicht  einzubüssen,  rufen  wir  die  Ueberschriften 
jener  Werke,  welche  uns  statt  der  Inhaltsangabe  dienen  müssen,  und 
deren  Druckjahre  ins  Gedächtuiss  zurück.  Wir  nennen  Cardano's 
Practica  arithmeticae  generalis  von  1539,  Stifel's  Arithmetica  integra 
von  1544,  Cardano's  Ars  magna  von  1545,  die  von  Stifel  besorgte 
II.  Auflage  der  Rudolf'schen  Coss  von  1553,  Recorde's  Whetstone  of 
witte  von  1556,  Cardano's  Regula  Aliza  von  1579,  desselben  Sermo 
de  plus  et  minus  zwischen  1572  und  1576.  Für  die  letztgenannte 
ganz  kurze  Abhandlung  war  die  Zeitbestimmung  dadurch  gegeben, 
dass  Cardano  1576  starb,  während  die  Abhandlung  ein  1572  erstmalig 
gedrucktes  Werk  voraussetzt:  Bombelli's  Algebra.  Von  diesem  Buche 
und  seinem  Verfasser  haben  wir  jetzt  zu  reden. 

Was  wir  freilich  von  Rafaele  Bombelli^)  aus  Bologna  wissen, 
ist  kaum  mehr,  als  in  diesen  Worten  bereits  gesagt  ist.  Sein  Vor- 
name, seine  Heimath  sind  bekannt.  Der  Titel  seines  berühmten 
Werkes  heisst  VÄlgebra.  Er  schrieb  dasselbe  auf  Aufforderung  des 
ihm  geneigten  Bischofs  von  Malfi,  und  es  ist  zuerst  1572  in  Venedig, 
dann  abermals  1579  in  Bologna  gedruckt.  Damit  sind  die  Notizen 
über  seine  Persönlichkeit  im  Wesentlichen  erschöpft. 

Der  Inhalt  der  Algebra  gliedert  sich  in  drei  Bücher.  Das 
1.  Buch  besteht  aus  einer  Lehre  von  den  Wurzelgrössen,  so  Aveit 
solche  bei  der  Auflösung  von  Gleichungen  Anwendung  findet;  ins- 
besondere ist  Gewicht  auf  die  Ausziehung  der  Kubikwurzel  aus  einem 
Binomium  gelegt,  von  dessen  beiden  Theilen  der  eine  eine  Quadrat- 
wurzel ist.  Das  2.  Buch  ist  die  eigentliche  Algebra,  die  Lehre  von 
den  Gleichungen  der  vier  ersten  Grade  mit  einer  Unbekannten.  Das 
3.  Buch  ist  eine  Sammlung  von  ungefähr  300  Aufgaben,  welche  zur 
Einübung  des  in  den  beiden  ersten  Büchern   Gelehrten  dienen. 

■)  Libri  III,  ISl— 184. 


622  CD.  Kapitel. 

Eine  wichtige  Stelle  des  ersten  Buches  ist  lange  Zeit  so  gut 
wie  unheachtet  geblieben.  In  ihr  ist  die  A  u  s  z  i  e  h  u  n  g  der 
Quadratwurzel  mittels  der  Kettenbrüche  gelehrt^),  also  die 
Formel  , 

2a  +  • 
Freilich    hat    sich    Bombelli    mit    dem    Zahlenbeispiele   y'l3   begnügt. 

4  2 

Er  findet  a  =  3,  &  =  4  und -als  ersten  Niihernngswerth  3  4-  — =  34-; 
dann  lässt  er  —  zu  dem  im  Nenner  befindlichen  6  hinzufügen,  so 
entsteht    als    weiterer    Näherungswerth    3  -1-  —    ,      .    =  3—  •      Dass 

Bombelli  über  die  Sache  klarer  dachte  als  er  sie  auszudrücken  wusste, 
geht  aus  seiner  weiteren  Behandlung  hervor,  welche  wir  in  unserem 
Berichte  nur  so  weit  abändern,  dass  wir  die  Unbekannte  und  deren 
Quadrat  durch  x  und  x'  ersetzen.  Ist  ]/l3  =  ^  -\-  x,  so  folgt 
13  :=:  9  -|-  Ca;  -|-  x-,  4  =  6a;  -|-  x'.  Gewöhnlich  vernachlässigt  man  x-  und 

'  2 

schreibt  nur  4  =  Oa',  woraus  x  =  "    folgt.      Will  jetzt  das  vernach- 

2 
lässigte    x^  auch   in   Rechnung  gezogen   werden,    so    muss   x'  =  ~x 

2  20 

oben  eingesetzt  werden.    Mau  erhält  also  4:^=^Qx-\--j^^^\^  ^^^ 

X  =  —  ■    Dieser  neue  Werth  nöthigt  zu  x'^  =  -    x  d.  h.  zu  A=^Qx  -\-  '.-  x 

=  —  1'   nebst  X  =  ^^  u.  s.  w. 

Da  die  Gleichungen  dritten  und  vierten  Grades  den  Schwerpunkt 
des  Werkes  bilden,  so  ist  natürlich,  dass  Bombelli  auch  in  der  damals 
noch  in  ganz  frischem  Angedenken  stehenden,  kaum  erst  durch- 
gefochtenen Streitsache  zwischen  Tartaglia  auf  der  einen,  Cardano 
und  Ferrari  auf  der  anderen  Seite  Partei  ergreifen  musste.  Er  that 
es  zu  Gunsten  der  beiden  Letztgenannten,  sei  es  dass  die  Gerechtig- 
keit ihrer  Sache  ihn  überzeugte,  sei  es  dass  für  ihn  auch  ins  Gewicht 
fiel,  dass  Ferrari  von  Bologna  seine  eigene  Heimath  theilte.  Tar- 
taglia, so  drückt  Bombelli  sich  aus  -),  sei  von  Natur  so  gewöhnt 
gewesen,   Böses  zu   sagen,   dass   er  dachte,   ein   ehrenvolles  Zeugniss 


^)  Wertheim,  Die  Berechnung  der  irrationalen  Quadratwurzeln  und  die 
Erfindung  der  Kettenbrüche.  Zeitschr.  Math.  Phjs.  XLII,  Supplementheft  S.  149 
— IGO  mit  Berufung   auf  Bombelli,   Algebra  S.  35.  -)  Di  sua  natura  era 

cosi  assiiefatto  a  dir  male,  che  aW  Jiora  egli  -pensava  di  haver  dato  honorato 
saggio  di  se,  quando  clie  di  aleuno  havesse  sparlato  (S.  5  des  Vorwortes  Agli 
Lettori). 


Rochenlcniist  und  Alofebra.  623 

für  sich  abgelegt  zu  haben  ^  weun  er  von  einem  Anderen  Uebles  ge- 
redet hatte.  Auffallen  muss  dabei,  dass  Bombelli  in  dem  ganzen 
Buche  nicht  ein  einziges  Mal  des  Scipione  Del  Ferro  gedenkt, 
der  doch  auch  Bologneser  war,  und  dem  nach  übereinstimmender 
Aussage  der  Gegner  die  erste  Auflösung  der  kubischen  Gleichung 
geglückt  war. 

Die  rasche  Aufeinanderfolge  der  beiden  Ausgaben,  in  welchen 
1572  und  1579  die  Algebra  erschien,  ist  Zeugniss  dafür,  dass  sie 
Käufer  fand,  eine  für  diese  Käufer  selbst  schmeichelhafte  Thatsache, 
da  Bombelli's  Schreibart  durch  ungewohnte  Namen  und  Bezeichnungen 
zuerst  fast  abschreckend  wirken  musste.  Die  Unbekannte  nannte 
Bombelli  tanto  oder  quantita,  ihr  Quadrat  potenza,  und  das  dürfte 
das  erste  Vorkommen  dieses  Wortes  sein,  welches  später  die  all- 
gemeine Bedeutung  erhielt,  welche  ihm  heute  noch  anhaftet,  während 
Bombelli  für  den  weiteren  Begriff  mit  Tartaglia  des  Wortes  dignita 
sich  bedient.  Die  Quadratwurzel  aus  einer  negativen  Zahl  heisst 
piu  di  meno  oder  mmo  di  meno,  je  nachdem  sie  selbst  positiv  oder 
negativ  genommen  werden  soll.  Auch  in  den  Bezeichnungen  schlug 
Bombelli  andere  als  die  gewohnten  Bahnen  ein.  Es  war  gewiss  ein 
glücklicher  Gedanke  von  ihm,  die  aufeinanderfolgenden  Potenzen  der 
Unbekannten    durch    Zahlen   anzudeuten,    unter   welchen    ein  kleiner 

12         3        4 

Bogen  sich  befand,  also  ^,  ,  ^,  ^  zu  schreiben,  eine  Bezeichnung, 
welche  wenig  später  von  Pietro  Antonio  Cataldi  in  seinem 
Trattato  del  modo  hrevissimo  di  frovare  Ja  radice  qiiadra  delli  numeri 
von  1G13,  von  welchem  im  75.  Kapitel  zu  reden  sein  wird,  aber 
auch  schon  in  seinem  Tuittaü)  dcJV  Algebra  proportionale  von  1610 
dahin  verändert  wurde,  dass  die  kleinen  Bögen  unter  den  Zahlzeichen 
wegfielen  und  letztere  durchstrichen  wurden.  Bei  Cataldi  war  also 
3  die  dritte,  7  die  siebente  und  sogar  1  die  erste  Potenz  der  Unbe- 
kannten ^).  Glücklich  war  auch  Bombelli's  Gedanke,  die  Wurzeln  aus 
zusammengesetzten  Ausdrücken  durch  eine  besondere  Bezeichnung 
deutlich  hervortreten  zu  lassen.  Paciuolo  (S.  320)  besass  bereits 
das  Wort  Radix  universalis  mit   der  Bezeichnung   ß:V,  um  Wurzeln 

aus  vereinigten  Grössen  zu  ziehen,  z.B.  ;^V7j5^14  =  ^7 -j- Vl^. 
Cardano  in  seiner  Practica  Arithmeticae  generalis  von  1539  unter- 
schied von  der  Radix  universalis  die  Radix  ligata  -),  bei  welcher  das 
erste  Wurzelzeichen  nur  der  unmittelbar  folgenden  Zahl  gilt,  also 
zwei  Quadratwurzeln  addirt  werden.    Als  eigentlich  ganz  überflüssiges 


1)  G.  Wertheim  iu  der  Zeitschr.  Math.  Phys.  XLIV,  Histor. -  liter.  Ab 
S.  48.  -)  Cardano  IV,  14. 


624  G9-  Kapitel. 

Zeichen  selirieb  Cardano  ein  L  vor  die  erste  Wurzel,  z.  B.  LR 7^)1^14 
=  ]/7  -f-  ]/l4.  Bombelli  war  der  Meinung,  man  solle  für  Radix 
universalis  beide  Namen,  Radix  universalis  oder  Radix  legata,  unter- 
schiedlos  gebrauchen^);  er  selbst  bediente  sieb  später  fast  ausschliess- 
lich des  Ausdruckes  Radix  legata.  Dabei  schrieb  er  ein  L  hinter 
das  erste  I^,  und  eine  Umkehrung  desselben  in  der  Form  J  schloss 
am  Ende  den  ganzen  der  Wurzelausziehung  unterworfenen  Ausdruck 
ab,  z.  B. 

^LipKUÄ^Vi  +yi4. 

Solche  Vereinigungen  unter   ein  gemeinsames   Wurzelzeichen   wandte 

er  auch  bei  Wurzeln  höheren  Grades   und    auch  in  Wiederholung  an 

ft^LRcLR^  68jj2  J  m  R  c  L  R  g  68  w  2  J  J 

=  V[|/(y68  +  2)  -  1/(1/68-2)]'), 

R  c  L  4jj  di  w  R  g  1 IJ  j)  R  c  L  4  m  di  m  R  g  1 IJ 


=f(4+y-iij  +  ii4-]/-ii).^) 

Wir  benutzen   dieses   letztere  Beispiel,  um  zu   zeigen,   wie  Bombelli 
an   demselben    die    Wurzelausziehung    vollzieht.     Sei    zunächst  allge- 

3, 


mein    angenommen,   man  habe    es    mit    Krt-j-y' — h -{-  Va — ]/- 


thun,  und  es  sei   Y  a  +"/ — ^  =i^+  V — l-     Die  Erhebung  zum 


Kubus  und  Gleichsetzung  der  reellen  wie  der  imaginären  Theile  zeigt, 

dass  a  ■=-  p^  —  ?>pq,   ]/ —  h  ^  (87)^  —  g)l/ —  q^   und  dadurch  ergiebt 

3  y— 

sich    die    zweite    Kubikwurzel    als     Ka— .  |/ — h  =  p — V—^i^    die 
Summe  beider  also  als 

3/ 3  , 

Va  +  Y^>  -f  Vu  — y=:^  =  jj  +  |/^  +i)—  V—ci  =  2p. 
Es  kommt  also  ausschliesslich  auf  die  Auffindung  von  2p  an.     Mul- 
tiplicirt    man     die    beiden    Kubikwurzeln    miteinander,    so    entsteht 

"/«^  -f-  h  ^ p'  -\-  q  und,  wenn  \/ci^  -\- h  =  c  rational  ist, 
)^-\-q  =  c,  q  =  c—p-,  —  3j;g  =  3j/  —  3cj>,  ^j^  — 3j3g==4^^  — 3c;j. 
Wir  hatten  aber  als   ein  erstes  Ergebniss    ci  ^  p^  —  ^^pq,  mithin  ist 
p)  eine  Wurzel  der  kubischen  Gleichung  4^^  —  ^cp  =  a. 
In  dem  gegebenen  Zahlenbeispiele  ist 

rt  =  4,  ?;  =  11,  c  =  -^4^+11  =  3 
und  Af  —  9j>  =  4,  8i/  —  \^p  =  8,  {2p f  —  ^{2p)  =  8 


»)  Bombelli,  Algebra  S.  99.        -)  Ebenda  pag.  356.       =*)  Ebenda  pag.  294 
•295. 


Recbenlvimst  und  Algebra.  625 

aiifzulüseu.     Kauii  man,  was  in  diesem  Beispiele  nicht  zutrifft,  hieraus 
mit  Leichtigkeit  2p  ermitteln,  so  ist  die  Aufgabe  gelöst. 

Dagegen   bilde   ein   anderes  MaP)    z^  =  15^  -j-  4   den  Ausgangs- 
punkt   der  ganzen   Untersuchung.      Die   Formel    des   Del  Ferro   lehrt 

^  =  y  (2  +  Y^HM)  +  ]/(2  —  y^^^HI)  .     Hier  ist 


a  =  2,  6  =  121,  c=|/22+121  =  5,  4^)3—15^  =  2,  (2i))^— 15 (2^))  =  4, 

welches  bei  2})  =  4  erfüllt  wird.  Das  hier  vorhandene  Rationalsein 
von  c  tritt  immer  ein,  so  oft  eine  kubische  Gleichung  den  Ausgangs- 
punkt bildete.     Aus  x^  =  mx  -{-  n  folgt  nämlich 


- = Hl + i/(f )^  -  (ff) + y(f  -  v^i)  -  {f}- 

mit«  =  |-,      h={^-{^, 

also   a-  -{-})=  (  - j    und  c  =  )/«-  -(-  h  =  —• 

Die  Bedeutung  der  Bombelli'schen  Untersuchung  liegt  offenbar 
nicht  etwa  darin,  dass  sie  die  kubische  Gleichung  leichter  auflösen 
lehrte.  Wir  haben  ja  gerade  an  dem  zuletzt  von  uns  besprochenen 
Beispiele  gesehen,  dass  die  Umwege  nur  dahin  führten,  dass  man 
schliesslich  zu  derselben  Gleichung  zurückkehrte,  von  welcher  mau 
ausgegangen  war,  und  deren  Wurzel  4  somit  unmittelbar  hätte  ge- 
funden werden  können.  Aber  durch  die  geführte  Untersuchung  wurde 
einleuchtend  gemacht,  dass  jene  beiden  Kubikwurzeln  der  Del  Ferro- 
schen  Formel  der  Auswerthung  fähig  waren,  und  dass  in  Folge  der- 
selben die  imaginären  Theile  sich  weghoben.  „Ein  ausschweifender 
Gedanke",  sagt  Bombelli^j  „nach  der  Meinung  Vieler.  Ich  selbst 
war  eine  Zeit  lang  der  gleichen  Ansicht.  Die  Sache  schien  mir  auf 
Sophismen  mehr  als  auf  Wahrheit  zu  beruhen,  aber  ich  suchte  so 
lange,  bis  ich  den  Beweis  fand." 

Die  Gleichung  vierten  Grades  behandelt  Bombelli^)  nach  Ferrari, 
und  da  wir  dessen  Methode  schon  früher  (S.  509 — 510)  aus  Carda- 
no's  Ars  magna  erörtert  haben,  so  dürfen  wir  uns  hier  an  der  Be- 
merkung genügen  lassen,  dass  alle  Einzelfälle  in  grosser  Ausführlich- 
keit durchgesprochen  werden. 

Der  Auflösung  von  Gleichungen  durch  allgemeine  Formeln  steht 
die  durch  Rechnung  mit  bestimmten  Zahlen  gegenüber.  Auch  mit 
einer    solchen  Methode    hat,   wie    wir    wissen,    Cardano   es   versucht. 


^)  Born  belli,  Algebra  pag.  293.         ^)  Ebenda  die  drei  letzten  Zeilen  von 
pag.  293.         2)  Ebenda  pag.  353  sqq. 

Cantor,  Geschichte  der  Mathem.    II.    2.  Aufl.  40 


G26  69-  Kapitel. 

Ein  eigenthümliches  Verfahren  ersann  Johannes  Junge  ^)  aus 
Sehweidnitz,  Rechenmeister  zu  Lübeck.  Er  soll  es  1577  veröffent- 
licht haben,  aber  in  welcher  Weise  ist  unbekannt.  Die  Gleichung 
wird  in  zwei  Glieder  getheilt,  so  dass  die  höchste  Potenz  der  Unbe- 
kannten für  sich  allein  das  eine  Glied  bildet.  Alsdann  muss  die  Ge- 
sammtheit  aller  anderen  wieder  zu  einem  Gliede  vereinigten  Bestand- 
theile  wiederholt  durch  einen  angenommenen  Werth  der  Unbekannten 
sich  theilbar  erweisen,  wenn  die  Annahme  richtig  war.  Ein  Beispiel, 
welches  Raimarus  Ursus  (S.  593)  in  einem  nachgelassenen,  1601 
gedruckten  Werke  Arithneüca  analytica  vulgo  Cosa  aufbewahrt  hat, 
lautet  in  der  verlangten  Fonn:  x^  =  480  — -90a;  —  21aj-.  Ist  nun 
x  =  ^  richtig  gewählt,  so  kann  486  =  3-162  mit  — 90a:  zu 
3(162  —  90)  =  3  •  72  vereinigt  werden;  3  •  72  aber  =32-24  vereinigt 
sich  sodann  mit  —  21a;-  zu  3-(24  —  21)  =  3^,  welches  mit  x^  über- 
einstimmt. Freilich  gilt  von  diesem  Verfahren  in  vollem  Maasse,  was 
Raimarus  darüber  sagt,  dass  es  „etwan  Conjectural  vnd  durch  etzliche, 
biszweilen  auch  wol  durch  viele  mutmassungen  vnd  gleichsam  vorat- 
tungsweiss  verrichtet  wird"'. 

Simon  Stevin's  im  Jahre  1585  gedruckter  Band  begann  mit 
einer  Schrift,  die  den  Titel  führte:  Laritlimetique  contenant  les  com- 
putations  des  nomhres  arithmetiques  ou  vulgaires:  aussi  VAlgebre  avec 
les  eguations  des  cinq  quanütez.  Die  letzten  Worte  geben  die  Grenze 
an,  bis  zu  welcher  das  Buch  sich  erstreckt,  bis  zu  Gleichungen  vierten 
Grades,  da  diese  aus  fünf  Einzelgliedern  bestehen  können.  Darüber 
hinaus  oder,  wie  Stevin  sagt^),  über  Lois  de  Ferrare,  d.  h.  Ludovico 
Ferrari,  sich  zu  erheben,  sei  ihm  nicht  gelungen.  Er  kannte  dessen 
Leistungen  offenbar  aus  Bombelli,  welchen  er  anführt.  An  Bombelli 
schliesst  Stevin  sich  im  Gebrauche  des  Wortes  potence  wie  in  dem 
von  dignites  an.  In  ersterer  Beziehung  geht  aber  Stevin  weiter,  da 
ausser  potence  für  das  Quadrat  der  Unbekannten  auch  potence  cubique^) 
für  deren  dritte  Potenz  bei  ihm  vorkommt.  Die  Bezeichnung  der 
Potenzen  stammt  bei  Stevin  ausgesprochenermassen  "*)  aus  der  gleichen 
Quelle.  Er  benutzt  dazu  die  eingeringelten  Zahlen  ©,  @,  @  u.  s.  w. 
Der  ®  habe  Bombelli  sich  nicht  bedient,  sie  entspreche  der  Zahl. 
Auch    der    Begriff    eines    eingeringelten    Bruches    fehlt    nicht, 

wenngleich  Stevin   ihn   nicht  anwendet.     Er  sagt  ausdrücklich  ^),  ein 

2 
eingeringeltes   -f^  würde   das   Symbol    für    die  Kubikwurzel  aus  dem 

Quadrate   der  Unbekannten    sein.     Kommen  mehrere  Unbekannte   in 


>)  Gerhardt,  Math.  Deutschi.  S.  84—87.  —  Treutlein,  Deutsche  Coss, 
Zeitschr.  Math.  Phys.  XXIV,  Supplem.  S.  99—102.  —  Allgem.  Deutsche  Biographie 
XIV,  705.     -;  Stevin  I,  6.     ^)  Ebenda  I,  58.     ')  Ebenda  I,  8.     =)  Ebenda  I,  64, 


Rechenkunst  und  Algebra.  627 

einer   Aufgabe   vor,    so   neimt    Steviu^)    die    zweite,    dritte    derselben 
Quant ite  posposee  seconde,  tierce  und  schreibt  1  see  CO,  1  ter  ®  u.  s.  w. 
Auch  für  Producte  solcher  Unbekannten  sieht  Stevin  eine  Bezeichnung 
mittels  des  Multiplicationsbuchstabens  M  vor,  z,  B. 
3xtj2-  =  3  CO  31  sec  CO M  ter  CO . 
Dividiren  soll  man  durch  den  Divisionsbuchstaben  D,  z.  B. 

i^'  =  5CV  D  sec  CO  M  ter  (^ . 

y 

Wir  kommen  hier  auf  die  Anwendung  solcher  eingeringelter 
Zahlen  zurück,  welche  die  Rangordnung  der  Decimalbrüche  in  Stevin's 
Dis))ie  andeuten.  Es  kann  bei  dem  gleichzeitigen  Erscheinen  der 
Disme  mit  der  Algebra  kaum  einem  Zweifel  unterworfen  sein,  dass 
Stevin,  wenn  er  es  auch  nirgend  ausdrücklich  sagt,  jene  Stellenzeiger 

als  die  aufeinander  folgenden  Potenzen  von  —  sich  dachte. 

Hatte  Bombelli  ein  Zeichen  der  Zusammengehörigkeit  L  J  ein- 
geführt, so  führte  Stevin  eine  aus  zwei  mit  den  gekrümmten  Seiten 
aneinanderstossenden  Klammern  gebildetes  Trennungszeichen-)  ein. 
Für  die  Quadratwurzel  schrieb  er  mit  Stifel  ]/,  und  nun  bedeutet 
)/  9  )(  C2),  dass  das  Wurzelzeichen  zwar  auf  9,  aber  nicht  auf  (2)  sich 
beziehen  solle,  dass  also  3a:-  gemeint  sei.  Neben  diesen  für  die 
Weiterbildung  algebraischer  Form  nicht  ganz  unwichtigen  Dingen, 
zu  welchen  noch  der  Name  Miüünomie  algebrique^)  zu  zählen  wäre, 
finden  wir  bei  Stevin  auch  sachlich  Bemerkenswerthes. 

Da  erwähnt  er'^),  die  Summe  zweier  Quadratwurzeln  könne  der 
zweier  anderen  Quadratwurzeln  nicht  gleich  sein,  wenn  die  beiden 
ersten  Radicanden  theilerfremd  seien,  d.  h.  ]/«  -\-  Yb  =  Yc  -f-  ^d 
erfordere  a  =  m^  f  und  h  =  n^  f. 

Da  sagt  er^),  man  könne  den  grössten  Gemeintheiler 
zweier  algebraischer  Multinomien  finden.  Nonius  freilich  habe 
es  nicht  fertig  gebracht  (S.  389),  aber  man  brauche  nur  das  Ver- 
fahren einzuschlagen,  welches  bei  ganzen  Zahlen  zum  Ziele  führe. 
Soll  z.  B.  der  grösste  Gemeintheiler  von  x^  -f-  x^  und  o?  -\-'lx  -\-  ^ 
gesucht  werden,  so  muss  man  ersteren  Ausdruck  durch*  letzteren 
dividieren.  Der  Quotient  ist  x  und  —  6a;^  —  ^x  bleibt  als  Rest. 
Mit  diesem  Reste  dividiert  man  in  x^  ■\-  1  x  -\-  ^i.  Der  Quotient  ist 
—  —  und  6ä;  -f-  6  bleibt  als  Rest.  Letzterer  ist  in  —  6^^  —  6  a; 
ohne  Rest  enthalten,  giebt  also  den  gesuchten  Gemeintheiler.  Die 
Frage  ist,  wenn  auch  leicht  zu  beantworten,  keine  müssige,  wodurch 


1)  Stevin  I,  7.         «)  Ebenda  I,  10.         '"■)  Ebenda  I,  7.         ")  Ebenda  I,  51. 
^)  Ebenda  I,  56. 

4U* 


628  69.  Kapitel. 

Stevin,  wodurch  vor  ihm  Nonins  sich  veranlasst  fühlte,  überhaupt 
diese  Aufgabe  sich  zu  stellen?  Es  handelte  sich  dabei  oifenbar  um 
die  Auflösung  von  Gleichungen  höherer  Grade.  Die  ersten  Versuche 
zu  deren  Bewältigung  liefen  bis  zu  Cardano's  Buch  von  1539  und 
Stifel's  Arithmetica  integra  einschliesslich  darauf  hinaus,  durch  glück- 
liches Errathen  gewisser  hinzuzuaddirender  Ergänzungen  solche 
Formen  einander  gleichwerthiger  Ausdrücke  hervorzubringen,  welche 
ein  Weglassen  von  gemeinschaftlichen  Factoren  gestatteten.  War 
man  nun  im  Stande,  einen  solchen  gemeinschaftlichen  Factor  leicht 
aufzufinden,  so  mochte  man  wähnen,  damit  um  einen  wesentlichen 
Schritt  in  der  Lehre  von  den  höheren  Gleichungen  weiter  gekommen 
zu  sein. 

Die  Auflösung  quadratischer  Gleichungen  beruht  schliesslich  auf 
einer  auf  beiden  Seiten  der  Gleichung  vorzunehmenden  Ergänzung, 
und  Stevin  hat  sie  von  diesem  Gesichtspunkte  aus  gelehrt^),  wenn 
er  auch  hinzusetzte,  insgemein  begnüge  man  sich  damit,  die  schon 
abgeleitete  Regel  anzuwenden. 

Bei  den  kubischen  Gleichungen  machte  Stevin  auf  die  Schwierig- 
keit aufmerksam,  welche  das  Auftreten  negativer  Zahlen  unter  dem 
Quadrat  Wurzelzeichen  verursache -|.  Cardano  habe  in  seiner  Regula 
Aliza,  Andere  anderwärts  gesucht,  der  Schwierigkeit  Herr  zu  werden. 
Er  finde  es  unnöthig  darauf  einzugehen,  weil  eine  allgemeine  Regel 
noch  nicht  gefunden  sei  —  in  unserem  Berichte  über  die  Algebra 
Bombelli's  haben  wir  das  Zutreffende  dieser  Behauptung  erkannt  — , 
Zufallerfolge  verdienten  aber  nicht,  dass  man  sich  lange  mit  ihnen 
aufhalte. 

Bei  manchen  Aufgaben,  heisst  es  anderwärts^),  gebe  es  auch 
Auflösungen  durch  Minus  {solutions  par  — ),  x^  =  Ax  -\-  2\  werde 
z.  B.  durch  x  =  —  3  erfüllt. 

Endlich  heben  wir  eine  näherungsweise  Gleichungsauf- 
lösung hervor*),  deren  Stevin  sich  als  seiner  Erfindung  rühmt,  und 
welche  jedenfalls  den  theoretischen  Vorzug  besitzt,  den  gesuchten 
Wurzelwerth  allmälig  in  seinen  einzelnen  Stellen  von  der  höchsten 
zur  niedersten  absteigend  entdecken  zu  lassen.     Sei  etwa 

x^  =  30r).r  +  33915024 
aufzulösen.  Setzt  man  nach  einander  x  =  \,  x  =  10,  x  =  100,  so 
wird  jedesmal  x^  kleiner  und  erst  bei  x  =  1000  grösser  ausfallen  als 
der  Werth  von  300a;  -f-  33915024.  Folglich  weiss  man  schon,  dass 
x  zwischen  100  und  1000  liegt,  mithin  dreiziffrig  ist.  Man  sucht  die 
Ziffer    der   Hunderter,   welche   einen    der   Werthe   1,   2,  ...  9   haben 


1)  Stevin  I,  69.     -)  Ebenda  I,  71—72.      =;  Ebenda  I,  77.     ^)  Ebenda  I,  88. 


ßechenkunst  iiud  Algebra.  (329 

niuss.  Die  1  hat  sich  schon  als  zu  klein  gezeigt,  man  macht  also 
den  Versuch  mit  2,  3,  4  und  erkennt,  dass  2,  3  zu  wenig,  4  zu  viel 
giebt,  also  liegt  die  Unbekannte  zwischen  300  und  400.  Die  Zehner 
von  1  an  durchprobierend  ermittelt  man  310,  320  als  zu  klein,  330 
als  zu  gross,  sodass  man  berechtigt  ist,  32  als  richtigen  Anfang  an- 
zunehmen und  die  Einer  von  1  an  in  Angriff  zu  nehmen.  321,  322, 
323  geben  zu  wenig,  324  stimmt  ganz  genau  und  ist  daher  der  Werth 
der  Unbekannten.  Stevin  macht  zwei  wichtige  Zusatzbemerkungen. 
Erstens  sei  es  möglich,  dass  die  Unbekannte  einen  ganzzahligeu 
Werth  überhaupt  nicht  besitze,  dann  solle  man  die  folgenden  Decimal- 
stellen  sich  verschaffen,  was  genau  nach  dem  gleichen  Verfahren 
geschehe,  welches  man  zur  Ermittelung  der  höheren  Stellen  einschlug, 
und  das  gleiche  Verfahren  führe  auch  zum  Ziele,  wenn  die  Unbe- 
kannte kleiner  als  1  sei.  Zweitens  komme  es  vor,  dass  man  sich 
begnügen  müsse,  dem  Werthe  der  Unbekannten  unendlich  nahe  zu 
kommen,  ohne  ihn  zu  erreichen^),  und  das  sei  in  zwei  Fällen  möglich, 

entweder  bei  Brüchen  wie  — ,  die   in   einen   genau   gleichen  Decimal- 

bruch  sich  nicht  verwandeln  lassen,  oder  bei  Wurzelgrössen,  welche 
irrational  sind. 

Stevin's  Bearbeitung  des  Diophant  haben  wir  hier  nur  so  weit 
zu  erwähnen,  als  wir  bemerken,  dass  die  gleichen  Zeichen  dort  an- 
gewandt sind,  welche  der  Algebra  dienen,  dass  ein  Gleichheitszeichen 
da  wie  dort  fehlt,  wiewohl  Stevii^  bei  Xylander,  dessen  lateinische 
Uebersetzung  er  nur  weiter  ins  Französische  übertrugt),  ein  solches 
hatte  kennen  lernen  müssen. 

Der  grösste  Algebraiker  der  Zeit  war  Vieta.  Seine  erste  alge- 
l)raische  Schrift  In  artem  anahjticam  isagoge^),  Einleitung  in  die 
analytische  Kunst,  erschien  1591.  Sie  wollte  nur  einen  Theil  eines 
grösseren  Werkes,  unter  dem  Namen  der  wiederhergestellten  mathe- 
matischen Analysis  oder  der  neuen  Algebra  bilden.  Die  Titel  sämmt- 
licher  Theile  sind  der  Widmung  vorausgeschickt,  welche  in  schwül- 
stigem Tone  an  die  aus  dem  Geschlechte  Melusinens  stammende 
Fürstin  Katharina  von  Rohan  gerichtet  ist.  Wir  bemerken  dabei, 
dass  überhaupt  die  Sitte  der  Zeit  in  Frankreich  und  Deutschland 
einer  einfachen,  klaren  Sprache  abhold  war.  Je  mehr-  dem  Griechi- 
schen  entlehnte   Neubildungen,   je   mehr   Floskeln,  je   farbenreichere 


*)  II  peut  avenir  qu'on  ijourra  appivcher  infiniment  au  requis  sans  toutesfois 
par  ceste  maniere  pouvoir  parvenir  a  la  parfaicte  Solution.  ^)  Stevin  I,  102. 

■■')  Vieta  pag.  1—12.  —  F.  Ritter  hat  eine  mit  Anmerkungen  bereicherte 
Uebersetzung  im  Bullet.  Boncompagni  I,  225 — 244  erscheinen  lassen,  welcher 
der  Originaldruck  von  1.591  zu  Grunde  liegt. 


630  69.  Kapitel. 

mythologische  Bilder  vorkamen,  für  um  so  vollendeter  galt  eine  Ab- 
handlung. Man  muss  dies  wissen,  um  Stevin's  unübertreffliche  Klar- 
heit würdigen,  um  Vieta's  und  Anderer  Unverständlichkeit  verzeihen 
zu  können.  Ob  jene  1591  dem  Titel  nach  vorhandenen  Schriften  auch 
thatsächlich  alle  bereits  druckreif  waren,  wissen  wir  nicht,  wahrschein- 
lich ist  es  wohl.  Dann  stammen  aus  jener  frühen  Zeit  die  1593  ge- 
druckten Effectionum  yeometricarum  canonica  recensio  (S.  584)  und  das 
Siqjplementum  gcotnetriae,  ebenso  die  gar  erst  1615  mit  Beweisen  ver- 
sehenen Theoremata  ad  angulares  sectiones  (S.  608),  welche  selbst  nur 
ein  Auszug  aus  einer  dreitheiligen  Schrift  waren  ^),  von  der  das  Meiste 
verloren  ging.  Verloren  sind  auch  die  1591  genannten  7  ersten 
Bücher  der  Antworten  auf  verschiedene  Fragen  ^),  zu  welchen  offenbar 
als  Fortsetzung  das  1593  gedruckte  8.  Buch  (S.  586)  gehörte,  jeden- 
falls ein  ungemein  zu  beklagender  Verlust,  wenn  die  ersten  Bücher 
dem  letzten  nur  halbwegs  ebenbürtig  waren.  Die  Isagoge  ist,  wie 
ihr  Name  es  aussprechen  soll,  wirklich  nur  eine  Einleitung.  Nach- 
dem die  Analysis  oder  Zetetik  als  diejenige  Kunst  des  Auffindens 
geschildert  worden,  welche  von  dem  als  bekannt  angenommenen  Ge- 
suchten ausgeht,  nachdem  eine  Reihe  von  beweislos  einleuchtenden 
Sätzen  (Gleiches  und  Gleiches  durch  Addition,  Subtraction,  Multipli- 
cation,  Division,  verbunden  giebt  Gleiches.  Vier  Grössen,  von  denen 
zwei  zu  einem  Producte  vereinigt  das  gleiche  Product  wie  die  beiden 
anderen  geben,  stehen  in  Proportion  u.  s.  w.)  zusammengestellt  ist, 
spricht  Vieta  im  HL  Kapitel  da«  erste  und  allbezügliche  Gesetz 
der  Homogeneität  aus ^).  Den  Griechen  war  dieses  Gesetz 
ursprünglich  ein  selbstverständliches.  Nur  Längen  können  Längen, 
nur  Flächen  Flächen,  nur  Körper  Körpern,  nur  Verhältnisse  Ver- 
hältnissen verglichen  werden.  Später  wich  man  von  diesem  Gesetze, 
das  eine  unbeabsichtigte  aber  zuverlässige  Beglaubigung  ausge- 
sprochener Sätze  mit  sich  führte,  ab.  Heron  vereinigte  Längen  und 
Flächen  zu  einer  Summe  (Bd.  I,  S.  376),  Diophant  gestattete  sich 
das  Gleiche  (Bd.  I,  S.  454).  Mag  sein,  dass  Vieta  gerade  beim 
Studium  des  Diophant,  den  er  in  der  Isagoge  selbst  anführt*),  auf 
das   Unstatthafte    aufmerksam    wurde.      Jedenfalls   hat   er   zuerst    als 


^)  Analyse  des  sedions  angulaires  distribuee  en  trois  parties  nach  Ritter's 
Uebersetzung.  ^)  Sept  livres  de  differentes  reponses  siir ßes  siijets  mathematiques. 
^)  Prima  et  perpetua  lex  .  .  .  qiiae  dicitur  lex  homogeneorum.  Ueber  dieses  Gesetz 
vergl.  Marie,  Histoire  des  scienees  mathematiques  et  physiques  III,  9 — 19,  wo 
allerdings  viel  mehr  hinein-  als  herausgelesen  wird.  *)  Vieta  pag.  5:    Haec 

est  Islipi^  Dioplianto,  ut  adfectio  adiunctionis  vnaQ^t-s.  Die  hier  vorkommenden 
griechischen  Ausdrücke  beweisen,  dass  Vieta  den  Diophant  aus  einem  griechi- 
schen Texte  kannte. 


Rechenkunst  und  Algebra.  631 

Gesetz  erkannt  und  ausgesprochen,  was  meistens  nur  in  dunklem 
Gefühle  der  Richtigkeit  geübt  worden  war,  und  dieses  Verdienst  ist 
weit  grösser  als  Mancher  denken  mag.  Nachdem  das  Gesetz  der 
Homogeueität  einmal  aufgestellt  war,  hat  Vieta  im  IV.  Kapitel  seine 
Folgerungen  daraus  gezogen.  Dieses  Kapitel  ist  den  Vorschriften 
der  Logistica  speciosa.  De  praeceptis  Logistices  speciosae,  ge- 
widmet, und  damit  war  ein  Kunstausdruck  geschaffen,  der  fast  allein 
von  den  zahllosen  Neuerungen  Vieta's  ihn  überlebte.  Logistik  war 
von  Alters  her  Rechenkunst.  Vieta  unterschied  zwei  Gattungen  der- 
selben. Sie  war  nunierosa,  wenn  mit  Zahlen,  speciosa,  wenn  mit 
versinnlichenden  Zeichen  von  Raumgebilden  ^),  z.  B.  mit  Buchstaben 
gerechnet  AvuMe.  Die  Buchstaben,  lauter  Initialen  des  lateinischen 
Alphabets,  stellen  demnach  Gebilde  vor,  welche  dem  Homogeneitäts- 
gesetze  unterworfen  sind.  Es  sind  Grössen,  nicht  Zahlen.  Auch 
Tartaglia  hob  den  Unterschied  zwischen  Zahlen  und  Quantitäten 
hervor  (S.  519).  Für  jene  bediente  er  sich  der  Wörter  multiplicare 
und  partire,  für  diese  gebrauchte  er  ducere  und  niisurare.  Aehnlich 
unterscheidet  Vieta.  Die  Grundsätze  von  Kapitel  II  enthalten  die  Aus- 
drücke multiplicare  und  dividere,  im  Kapitel  IV  heisst  es  ducere  und 
adplicarc  vielleicht  mit  Anlehnung  an  Tartaglia,  wahrscheinlicher  der 
Euklidausgabe  des  Campanus  II,  2  beziehungsweise  I,  44  entnommen. 
Das  Homogeneitätsprincip  hat  freilich,  und  auch  dafür  liefert  Kapitel  IV 
die  Belege,  den  rein  geometrischen  Untergrund  längst  aufgegeben. 
Nicht  auf  Mannigfaltigkeiten  von  1,  2  oder  3  Abmessungen  be- 
schränkt sich  die  Algebra.  Fast  beliebig  hoher  Dimension  können 
die  in  einer  Gleichung  auftretenden  Glieder  sein,  wenn  nur  alle 
gleich  hoher.  Die  von  Vieta  gelieferten  Beispiele  erstrecken  sich 
bis  zum  solido-soUdo-solidum,  d.  h.  bis  zur  9.  Potenz  der  behandelten 
Grösse,  da  die  einzelnen  Bestandtheile  addirt  werden,  wie  es 
von  Diophant  geübt  wurde,  und  nicht  multiplicirt,  wie  es  bei 
den  Italienern  und  deren  Nachahmern,  z.  B.  Stifel  geschah.  Die 
Vervielfachung    wird    durch    das  Wort    in,    die    Theilung   durch   den 

Bruchstrich   angedeutet.      Das   Produkt   von  — ^ in  — — ^-^- 

ist       P/^""™  jj^  2r  quadratum  u.  s.  w.     Als  Zeichen  der  Addition  und 

Subtraction  sind  -|-  und  —  benutzt,  ausserdem  giebt  es  noch  =  als 
Zeichen  der  Differenz  zweier  Grössen^),  ohne  dass  man  anzugeben 
braucht,  welche  von  beiden  die  grössere  sei.  Im  V.  Kapitel  kommt 
Vieta  auf  die  eigentlichen  Gleichungen  zu  reden.  Die  gesuchten 
Grössen,  magnitudines  quaesititiae,  werden   durch   die  Vocale  A,  E,  I, 


*)  25er  species  seu  rerum  formas.         ^)  Vieta  pag.  5. 


632  69.  Kapitel. 

0,  V,  Y  dargestellt,  die  gegebenen,  datae,  durch  Consonanten  B,  G, 
D  u.  s.  w.^).  Vielleicht  suchte  Vieta  durch  diese  Anwendung  der 
Vocale  sich  mit  der  Uebuug  von  Ramus,  dem  damals  in  Frank- 
reich hochgeschätzten  Schriftsteller,  in  Einklang  zu  setzen,  der  die 
gleichen  Buchstaben  (S.  564)  bei  der  Figurenbezeiehnung  bevorzugte. 
Von  den  Gesetzen,  welche  Vieta  ausspricht,  sei  nur  eines  erwähnt^): 
Antithesi  aeqiialitatem  non  immutari.  Antithesis  heisst  nichts  Anderes 
als  das  Hinüberschaffen  eines  Gliedes  mit  entgegengesetztem  Vor- 
zeichen auf  die  andere  Seite,  welches  also  als  ein  die  Richtigkeit  der 
Gleichung  nicht  Beeinträchtigendes  gestattet  wird.  Das  VI.,  VII., 
VIII.  Kapitel  geben  zu  besonderen  Bemerkungen  wenig  Anlass. 
Höchstens  dass  aus  dem  letztgenannten  anzuführen  -vfäre,  dass  die 
Gleichung  dazu  führe,  das  Geheimniss  der  Winkeltheilung  zu  ent- 
hüllen, ohne  desshalb  Gerades  mit  Krummem  zu  vergleichen,  wogegen 
das  Homogeneitätsgesetz  sich  zu  sträuben  scheine^). 

Unter  die  1591  gleichfalls  angeführten  Schriften  gehören  Ad 
Logisticm  speciosam  notae  priores  und  posteriores.  Es  ist  nicht  wahr- 
scheinlich, dass  eine  Veröffentlichung  zu  Lebzeiten  Vieta's  stattfand, 
und  der  zweite  Theil  ist  dann  überhaupt  nie  bekannt  geworden*), 
nur  der  erste  ist  in  der  Gesammtausgabe  von  1646  vorhanden^).  Man 
kann  diese  Anmerkungen  zur  Logistica  speciosa  füglich  in  zwei  Ab- 
theilungen trennen.  Die  erste  Abtheilung  lehrt  Multiplicationen  von 
Summen  in  Differenzen  und  Potenzerhebungen  von  Binomien,  dann 
vom  25.  Satze  an  auch  Berechnung  von  Ausdrücken  von  der  Gestalt 
(.4  +  j5)'" -}- D"  (^ -f- i?)"'-".  Die  letztgenannten  geben  zur  Ein- 
führung eines  Wortes  Gelegenheit.     Im  einfachsten  Falle 

{A-\-Bf-^D{A-{-B) 
handelt  es  sich  geometrisch  gesprochen  (Figur 
126)  um  das  Quadrat  einer  zweitheiligen 
Gr()sse,  welche  durch  Anfügimg  eines  Recht- 
eckes vei'grössert  ist,  dessen  eine  Seite  in  Ge- 
stalt jener  zweitheiligen  Quadratseite  gegeben 
ist,  während  die  andere  gleichfalls  gegebene 
Seite  mit  an  der  Bildung  der  Figur  betheiligt 
j^ig  126.  ist.     Vieta  nennt^)  sie  offenbar  aus  dem  hier 

erörterten,  wenn  auch  bei  ihm  nicht  ausge- 
sprochenen Grunde  longitudo  coefficiens,  und  damit  war  das  Wort 
Coefficient  in  die  Wissenschaft  eingeführt.     Die  zweite  Abtheilung 

^)  Vieta  pag,  8  No.  5.  -)   Ebenda  pag.  9  Propositio  I.  ^)   Ebenda 

l>ag.  12  No.  27  und  28.  •*)  Kitt  er  im  Bullet.  Boncompagni  I,  245.  ^)  Vieta 
pag.  13 — 41.  Die  französische  Uebersetzung  von  Ritter  1.  c.  pag.  24G— 276. 
'^)  Vieta  pag.  23  und  öfter. 


A  B 


Rechenkunst  und  Algebra.  f)3o 

beginnt  mit  dem  45.  Satze  und  handelt  von  der  Entstehung  ratio- 
naler rechtwinkliger  Dreiecke  aus  einander.  Damit  aus  zwei 
Zahlen  A,  B,  welche  die  Wurzeln  des  rechtwinkligen  Dreiecks 
heissen^),   ein   solches  gebildet  werde,  benutzt   man  sie  als  Anfangs- 

glieder  einer  geometrischen  Reihe,    deren    drittes   Glied    folglich    -j- 

heisst.     Summe   und  Differenz   der  beiden  äusseren   Glieder  und    das 

doppelte   mittlere   Glied   (in  Vieta's   Schreibweise :     Ä  -\ ^—^ — — , 

Ä  =  —  - — ,  B  2,  indem  der  Zahlenfactor  2  dem  B  nachgesetzt 
wird)  sind  alsdann  die  drei  Seiten  des  rationalen  Di-eiecks.  Verviel- 
fache mau  Alles  mit  ui,  damit  sämmtliche  Seiten  auf  dieselbe  Be- 
nennung gebracht  seien,  tit  ad  idem  genus  adplicationis  lafera  quacquc 
revocentur.  so  heissen  die  Seiten:  Ä  quadr.  -f-  B  quadr.,  Ä  quadr. 
^  B  quadr.,  Ä  in  B  2.  Nun  seien  zwei  rechtwinklige  Dreiecke 
Z,  B,  D  und  X,  F,  G  gegeben,  d.  h.  es  sei,  um  von  jetzt  an  die  heute 
gewöhnliche  Schreibweise  anzuwenden,  Z'^  =  B-  -\-  D'^,  X^  =  F^  -\-  G^. 
Dann  ist  auch  {ZXf  =  (BG  +  DFY  -f  (BF  -  BGf  =  (BF 
-\-  BGy  -\-  (BG  —  DFf  mit  zweifacher  Zerlegung  des  Productes 
zweier  Quadratsummen  in  eine  neue  Quadratsumme,  wie  sie  seit 
Diophant  (Bd.  I,  S.  451)  bekannt  war,  oder  es  ist  aus  zwei  Dreiecken 
in  doppelter  Art  ein  drittes  gebildet.  Statt  zweier  verschiedener 
Dreiecke  kann  man  dasselbe  Dreieck,  etwa  A,  B,  B,  zweimal  neh- 
men^). Das  eine  neue  Dreieck  heisst  dann  A'^ ,  2BB,  B^  —  D-, 
und  es  hat  die  Eigenschaft,  dass  sein  einer  spitzer  Winkel 
doppelt  so  gross  ist,  als  ein  spitzer  Winkel  des  ursprüng- 
lichen Dreiecks.  Vieta  beweist  diese  Winkeleigenschaft  nicht,  er 
spricht  sie  nur  aus;  bei  seiner  uns  aus  der  Auflösung  der  Aufgabe 
Van  Roomen's  bekannten  Gewandtheit,  mit  trigonometrischen  Func- 
tionen zu  rechnen,  kann  aber  nicht  gezweifelt  werden,  dass  sein 
Gedankengang  etwa  folgender  war.  Hiess  im  ursprünglichen  Drei- 
ecke   der    eine    spitze    Winkel    u,    so    war    sin «  =  ^ ,    cos  a  =  -j- , 

2sin  a  •  cosa  =  sin  2«  =      .,      und    also     im    neuen    Dreiecke    der 

Winkel  2u  nachgewiesen,  als  dessen  Cosinus  ,-^ —  erscheint.     An 

diesem  Gedankengange  ist  um  so  weniger  zu  zweifeln,  als  Vieta  der 
eben  erörterten  Aufgabe  als  nächste  die  der  Bildung  des  Dreiecks 
mit  dreifachem  Winkel^)  anschliesst.  Durch  Vervielfachung  von 
A'  =  B'-\-  D'  mit  (Ay^  =  (2BDf  -f  (B^  —  B^-  erhält  er 

^)  Vieta  pag.  3S:  Triangultim  rectangulum  a  dudbiis  radicibus  effingerc. 
-)  Ebenda  pag.  36:  A  duohus  triangulis  rectangulis  aequalibus  et  aequiangulis 
tertium  triangiiJum  rectangulum  constitiiere.         ^)  Triangulum  anguli  tripli. 


634  60.  Kapitel. 

(J.3)2  =  (^3  _  352)2)2  +  i^B'-I)  —  1)3)2 
und 

sin  3«  =  sin  cc  •  cos  2«  -|-  cos  a  •  sin  2« 
n     B'-—B-B      2BD        3B-D  —  D' 


A  A-  '    A        A-  A^  ' 

was  wirklich  für  den  einen  spitzen  Winkel  des  neuen,  dritten  Dreiecks 
zutrifft.  Sogar  zum  allgemeinsten  Falle  erhebt  sich  Vieta^)  und  er- 
kennt, dass  die  stets  nach  gleicher  Vorschrift  vorgenommene  Bildung 
des  «-ten  Dreiecks  aus  dem  [n  —  l)-ten  und  dem  ersten  einen  spitzen 
Winkel  na  entstehen  lässt.  Mit  anderen  Worten:  Vieta  kannte 
die  Formeln,  welche  sin  «a  und  cosna  aus  sincc  und  cos  a 
zusammensetzen,  nur  dass  er  D  statt  sin  a  und  B  statt  cos  a 
schrieb  und  die  Hypotenuse  des  ersten  Dreiecks  A,  die  des  n-ten 
Dreiecks  A"-  nannte.  Die  noch  folgenden  Sätze  können,  als  von  weit- 
aus geringerer  Wichtigkeit,  übergangen  werden. 

Auch  fünf  Bücher  Zetetica^),  von  welchen  ein  Abdruck  von 
1593  bekannt  ist,  müssen  1591  vorhanden  gewesen  sein.  Man  schil- 
dert sie  am  Zutreffendsten  als  eine  Sammlung  von  Aufgaben,  welche 
Diophant  entlehnt  oder  nachgebildet  sind.  Als  einzelnes  Beispiel 
erwähnen  wir  die  2.  Aufgabe  des  Y.  Buches  3),  welche  drei  in  arith- 
metischer Progression  stehende  Quadratzahlen  verlaugt.  Als  das  erste 
Quadrat  setzt  Vieta  A\  als  das  zweite  {A  + Bf  =  A^ -\-2AB  +  B-, 
das  dritte  muss  folglich  A~  -\-  AlAB  -\-  2B'^  heissen  und  möge 
{B  —  Ay  sein.  Diese  letzte  Gleichung  giebt,  wie  ohne  weitere 
Zwischenrechnung  gesagt  wird ,  A  =  ^  .  ^j.  •  Dann  heisst  es 
sofort  weiter:  die  Seite  des  ersten  Quadrates  ist  folglich  proportional, 
similis,  D-  —  2B^,  die  des  zweiten  proportional  D^  -j-  2B^  -f"  2BDj 
die  des  dritten  proportional  B-  ~\-  2B-  -\-  ABB. 

Immer  wieder  dem  gleichen  Jahre  1591  gehören  nach  dem 
öfters  von  uns  benutzten  Inhaltsverzeichnisse  die  Abhandlungen  De 
aeqiiatioiiem  reco(jnitionc  et  cmcndatione^)  an,  welche  erst  1615  aus 
Vieta's  Nachlasse  durch  Anderson  dem  Drucke  übergeben  worden 
sind.  Die  Bezeichnung  wechselt  in  diesen  Abhandlungen  ebenso  wie 
der  Druck.  Während  der  eigentliche  Text  die  Buchstabenbezeich- 
nung in  der  Art  durchführt,  wie  wir  sie  als  Vieta's  Eigenthum  kennen 
gelernt  haben  (also  Vocale  für  Unbekannte,  Consonanten  für  Bekann- 


^)  Vieta  pag.  37:     Consectarium    generale    in    didiictionibus    triangulorum 
rectangulorum.  ^)  Ebenda  pag.  42—81.  ^)  Ebenda  pag.  76:    Invenirc 

numero  tria   quadrata   aequo    distantia    intervaUo.  *)  Ebenda  pag.  84 — 126 

die  erste  Abhandlung:  De  recognitione  und  pag.  127— 158  die  zweite:  De  emen- 
datione.  Ihre  Zusammengehörigkeit  tritt  in  den  Benennungen  als  Tractatus 
primus  und  Tractatus  secundus  hervor. 


Rechenkunst  und  Algebra.  635 

tes,  den  Buchstaben  nachgesetzte  Silben  quad.,  cub.  u.  s.  w.  zur  Be- 
zeichnung der  Potenzirung,  diesen  wieder  nachgesetzt  Zahlenfactoreu) 
enthalten  jedem  Kapitelchen  beigefügte  Anmerkungen  Zahlenbeispiele, 
welche  ausser  durch  die  Verschiedenheit  der  Typen  auch  dadurch 
sich  unterscheiden,  dass  in  ihnen  die  Unbekannte  und  ihre  Potenzen 
durch  N  (numerus),  Q,  C  mit  ihnen  vorausgehenden  Zahlenfactoreu 
ausgedrückt  werden.  Im  Texte  steht  z.  B.  Äq4:,  während  die  An- 
merkung 4^  enthält.  Man  könnte  geneigt  sein,  diese  Anmerkungen 
als  von  Anderson  hinzugefügt  anzunehmen,  dem  Vieta's  Notizbücher, 
Adversaria,  zur  Herausgabe  anvertraut  worden  waren,  wenn  nicht 
gerade  dieser  selbst  in  einer  Vorrede,  welche  in  die  Gesammtausgabe 
von  1646  übergegangen  ist,  erklärte,  sowohl  die  Gleichungen  als  die 
nachträglichen  Beispiele^)  hätten  sämmtlich  von  ihm  nochmals  nach- 
gerechnet werden  müssen.  Uns  gelten  desshalb  also  auch  die  An- 
merkungen als  von  Vieta  herrührend,  und  darin  machen  uns  die  ein- 
leitenden Worte  des  Herausgebers  der  Gesammtwerke  nicht  irre,  „das 
Folgende  sei,  was  er  über  die  Anmerkungen  Anderson's  hinaus  zu 
bemerken  gefunden  habe"^),  denn  wir  verstehen  unter  diesen  Anmer- 
kungen Anderson's  einen  Zusatz  am  Schlüsse  der  Emendatio,  der 
ausdrücklich  dessen  Namen  führt ^).  Aus  der  Recognitio  heben  wir 
nun  Folgendes  hervor.  Vieta  spricht  die  Aufgabe  der  eigentlichen 
Gleichungsauflösung  in  anderer  Form  aus.  Nicht  um  die  Auffindung 
einer  Unbekannten  handelt  es  sich,  sondern  um  Herstellung  einer 
aus  einer  gegebenen  Anzahl  von  Gliedern  bestehenden  geo- 
metrischen Progression,  Aehnlich  war  die  Fragestellung  schon 
bei  italienischen  Schriftstellern  gewesen  (S.  487),  Veranlassung  konnte 
jene  mit  einer  arithmetischen  Indexreihe  verglichene  Reihe  der  auf 
einander  folgenden  Potenzen  der  Unbekannten  gegeben  haben,  welche 
uns  wiederholt  aufgefallen  ist.  Aber  Vieta  ging  über  seine  Vorgänger 
weit  hinaus.  Die  quadratische  Gleichung  leitet  sich  für  ihn  aus 
einer  der  drei  stetigen  Proportionen: 

:{A  +  B) 
Ä:Z  =  Z:{Ä  —  B) 

:(B-Ä) 

ab'^),  welche  Z-  als  Product  zweier  Factoren  Ä(Ä^B),  Ä{Ä  —  B), 
Ä(B  —  Ä)  darstellt.  Im  letzten  der  drei  Fälle  ist  die  gegebene 
Zahl  B  in   zwei  Theile   zerlegt,   deren  jeder   als  die  Unbekannte  be- 


^)  Vieta  pag.  83:  exemplorum  notae  epilogisticae.  -)  Ebenda  pag.  549: 

Praeter  ea  qiiae  hie  adnotavit  Andersotius  animadvertimus  porro  liaec  quae  seqmin- 
tur.  ^)  Ebenda  pag.  159—161:  Appendix  ab  Älexandro  Andersono  operi  sub- 
nexa.         *)  Ebenda  pag.  85 — 86. 


636  69.  Kapitel. 

trachtet  werden  kann,  und  darin  liegt  der  Grund  der  Zweideutigkeit 
solcher  Aufgaben.  Die  kubische  Gleichung  stammt  aus  einer  geo- 
metrischen   Reihe    von   vier    Gliedern^).     Ist    B   das  gegebene    erste, 

A^  .         A^ 

Ä  das  unbekannte  zweite  Glied,  so  wird  —  das  dritte,  ^  das  vierte 

Glied,  und  kennt  man  uun  noch  Z  als  Summe  des  zweiten  und 
vierten  Glieder,  so  entspricht  die  Aufgabe  der  kubischen  Gleichung 
A'  =  B'Z  —  B'-A.  Aehnlich  wird  auch  die  Gleichung  A^  —  ?>B^A 
=  B^I)  einer  viergliedrigen  Reihe  entnommen.  Heisst  diese  Reihe  a,  ae^ 
ae^,  ae^  und  ist  gegeben  die  Summe  D  und  das  Product  B^  der  beiden 
äussersten  Glieder,  so  entspricht  die  Summe  A  der  beiden  inneren  Glieder 
der  ebengenannten  Gleichung.  Hier  ist  die  Uebereinstimmung  mit  den 
erst  in  Erinnerung  gebrachten  Italienern  so  gross,  dass  zur  Gewissheit 
wird,  Vieta  habe  deren  Schriften  gekannt,  was  ohnedies  durch  Zeit- 
folge und  Verkehrsverhältnisse  schon  fast  ausser  Zweifel  gesetzt  war. 
Grade  diese  Form  der  kubischen  Gleichung  bietet  aber  Veranlassung, 
einmal  x^  —  300^  =  432  und  dann  300^'  —  ä;^  =  432  ins  Auge  zu 
fasssen"),  deren  erste  durch  a;  =  18,  die  zweite  durch  ^  =  0  +  "|/57 
erfüllt  wird.  Vieta  vereinigt  nicht  alle  drei  Auflösungen,  indem  er 
der  Gleichung  300ic  —  x^=4d2  auch  die  Wurzel  x  =  —  18  zuspricht, 
weil  er  hier  wie  anderwärts  negative  Wurzeln  nicht  anerkennt. 

Im  Uebrigen  erscheint  hier   bei    i>  >  — Z)  der   irreductible    Fall, 

und  Vieta  verweist  für  dessen  Klarstellung  ausdrücklich  auf  die  Lehre 
von  der  Winkeltheilung  •^).  Damit  ist  die  aus  der  Schrift  über  die 
Van  Roomen'sche  Aufgabe  schon  in  hohem  Grade  wahrscheinliche 
Annahme  sicher  gestellt,  dass  Vieta  zur  Lösung  des  genannten  Falles 

3  1 

von  dem  trigonometrischen  Satze  cos  a^  —  -  cos  a  =  ~  cos  3  a  aus- 
ging, und  zu  dem  gleichen  Ergebnisse  führte  (S.  585)  ein  genaueres 
Studium  der  15!)  1  schon  vorhandenen,  1593  gedruckten  Schrift  Supple- 
mentum  Geometricum.  Nun  folgen,  immer  noch  in  der  Recognitio, 
Umformungen,  transfonnationcs.  Zwischen  zwei  Unbekannten  A,  E 
können  die  mannigfachsten  Beziehungen  obwalten.  Die  erstere  A 
kann    ersetzt    werden    durch  E  —  B,   durch  B  —  E,    durch  B  -\-  E, 


E     ,       ,    B 


durch  r^,  durch  -,, ;    es  kann    zwischen  E^  und   AE  die  Diiferenz, 


B'       ^     E^ 


es 


kann  deren  Summe  gegeben  sein  und  sonst  jede  beliebige  für  zweck- 
mässig erachtete  Verbindung"^),  immer  wird   an  Stelle  der  Gleichung 

^)  Vieta  pag.  86.  ^)  Ebenda  pag.  'Jl.  ^)  At  elegantius  et  pracsiantins 
ex  analyticis  angularium  sectionum  huiusmodi  aequalitatum  constitutio  eruitur. 
*)  Vieta  pag.  92:  Postremo  per  viodos  compositos  et  excogitanda  ab  artifice  et 
tentanda,  quae  suo  fini  magis  inservire  coniiciet,  figmenta. 


Rechenkunst  imd  Algebra.  G37 

in  A  eine  solche  in  E  treten,  und  kennt  mtin  die  Wurzel  der  einen, 
so  ist  die  der  anderen  raitgefunden.  Vieta  kommt  in  höchst  eigen- 
thümlicher  Fassung  auf  die  Vielheit  der  Wurzeln  einer  Gleichung  zu 
reden  \).  Er  fragt  nämlich  nach  den  Beziehungen  zwischen  solchen 
Gleichungen,  welche  nur  darin  sich  unterscheiden,  dass  die  Unbekannte 
das  eine  Mal  Ä,  das  andere  Mal  E  sei,  während  alle  bekannten 
Grössen  unverändert  auftreten.  Alsdann  könne  man,  sagt  er,  diese 
bekannten  Grössen  durch  die  Ä  und  E  darstellen,  und  er  versteht 
darunter  die  Abhängigkeit  der  Coefficienten  einer  Glei- 
chung von  ihren  Wurzeln,  i^ -f-  G^  in  ^  — Äq  aequari  jP  in  G 
sei  z.  B.  die  Gleichung,  deren  Wurzeln  F  und  G  sind.  Auch  hier 
sind  aber  nur  positive  Wurzeln  gemeint,  und  einer  Möglichkeit  nega- 
tiver Wurzeln  geht  Yieta  bei  quadratischen  Gleichungen  ebenso  aus 
dem  Wege,  wie  er  es  bei  kubischen  Gleichungen  that.  Er  sagt^), 
wenn  A^-\-BÄ  =  Z^  und  E^—BE=- Z^,  so  müsse  B=E—A,Z- 
=  EA  sein.  Die  Abhängigkeit  der  Coefficienten  von  den  positiven 
Wurzeln  bei  Gleichungen  höherer  Grade  ist  Vieta  gleichfalls  nicht 
entgangen,  doch  hat  er  diese  erst  in  der  Emendatio  erörtert,  deren 
Besprechung  wir  uns  jetzt  zuwenden.  Die  Verbesserung  einer  Gleichung 
besteht  in  der  Anwendung  von  Mitteln,  welche  die  Recognitio  bereits 
kennen  lehrte.  Vieta  giebt  diesen  Mitteln  einzelne  Namen,  welche  hier 
erwähnt  werden  mögen,  um  zu  rechtfertigen,  was  früher  von  Vieta's 
Benennungssucht  bemerkt  wurde.  Expiirgatio  per  uncias'')  ist  die 
Wegschaffung  des  zweithöchsten  Gliedes  in  der  Gleichung  n-ten  Grades 

durch    die    Einsetzung    von    x  ==  y '- ,    wie    man   in    den  Zeichen 

neuerer  Algebra,  deren  wir  von  hier  an  uns  zu  bedienen  gedenken, 
schreiben  würde.  Insbesondere  bei  quadratischen  Gleichungen  in  ihren 
sämmtlichen  drei  althergebrachten  Formen  wird  die  Anwendung  ge- 
lehrt und  damit  jede  derselben  in  eine  reinquadratische  Gleichung 
umgeformt,  mithin  gelöst.  Auch  bei  der  kubischen  Gleichung  ist  die 
Anwendung  bei  allen  zahlreichen  Einzelfällen,  welche  sich  unter- 
scheiden  lassen,    vorgenommen.     Transnmtatio   TtQürov   —   £(?;^aToi'*) 

setzt  rr  =  —   und  schafft  dadurch  ebensowohl  Minuszeichen  als  irratio- 

y 

nale    Gleichungsconstanten    weg.      Sei    x'*-  —  8x  =  t/^q    vorgelegt. 

Mittels  X  = gelangt  man  zu  1/  -\-  Stf  =  80.    Anastrophe^)  findet 

ihre  Anwendung  bei  Gleichungen  ungeraden  Grades  und  besteht  in 
Folgendem :  ax  —  x^  ==  J:  lässt  die  Folgerung  x^  -\-  if  =  ax  -{-  {1/  —  Je) 


')-V 
132 


i^ieta  pag.  lOGsiiq.       ^)  Ebenda  pag.  123—124.       ^)  Ebenda  pag.  127- 
')  Ebenda  pag.  132—134.  ^)  Ebenda  pag.  134—138. 


638  'J9-  Kapitel. 

ZU.  Wäre  nun  \j'  —  h  =  ay  oder  if  —  ay  =  'k,  so  könnte  jene 
gefolgerte  Gleichung  durch  x  -^  y  dividirt  werden  und  gäbe  den 
Quotienten  x^  —  yx  -f-  2/^  =  «,  d.  h.  eine  nach  x  quadratische  Glei- 
chung, welche  leicht  gelöst  ist,  wenn  man  y  kennt.  Die  Umwendung 
bestand  also  in  der  Zurückführung  von  ax  —  x^  ^h  auf  y^  —  «,'/  =  ^'^• 
Aehnlich  verwandelt  man  ax:^  —  x^  =  h.  Zunächst  schreibt  man 
x^  -\-  y^  =  ax^  —  (li  —  y'^)]  dann  nimmt  man  an,  es  sei  h  —  y^  =  ay'^, 
also  ^^  +  a^^  =  />■  der  Lösung  unterbreitet;  zuletzt  wird  wieder  mit 
X  -\-  y  in  die  dazu  vorbereitete  Gleichung  dividirt,  und  es  entsteht 
neuerdings  eine  quadratische  Gleichung  x'  —  yx  -\-  y"^  =^  ax  —  ay. 
Isomoeria^)  heisst  die  Umwandlung  in  Folge  von  x  =^  —  oder  von 
X  =  ay,  welche  entweder  Brüche  fortschafft  oder  Gleichungscon- 
stanten  herabsetzt.  ^^  +  12  ^  "^  I2  ^^^'^^^^^ßl*'  ^i^h  durch  o;  =  ^  in 
y^  +  132^  =  8208,  während  x^  +  12^-  -\-Sx  =  2280  durch  x  =^  2y 
in  y^  -\-  6y^  -\-  2y  =  285  übergeht.  Dann  kommt  noch  Climactica 
Paraperosis^) ,  welche  das  Rationalmachen  einzelner  Coefficienten 
durch  Potenzirung  bezweckt,  woi-auf  der  Grad  der  neuen  Gleichung 
dadurch  wieder  herabgesetzt  wird,  dass  man  eine  Potenz  der  Unbe- 
kannten als  neue  Unbekannte  wählt.  Nach  diesen  fünf  Verbesserungs- 
verfahren wendet  sich  Vieta  zur  Gleichung  4.  Grades,  die  er  auf  eine 
solche  3.  Grades  zurückführt '^j.  Schält  man  aus  den  behandelten 
Einzelfällen  den  gemeinsamen  Gedanken  heraus,  so  zeigt  sich  eine 
Verwandtschaft  mit  Ferrari's  Verfahren  (S.  509),  insofern  die  vom 
kubischen  Gliede  befreite  Gleichung  so  umgewandelt  wird,  dass  eine 
Quadratwurzelausziehung  thuulich  ist,  aber  volle  Uebereinstimmung 
ist  nicht  vorhanden.     Vieta  schliesst  nämlich  von  x'^  +  ax^  -{-  bx  =  c 

auf  x^  -\-  x^  y^  -\-  -  y^  =  x-y^  -{-  -i/  -\-  c  —  ax^  —  hx  oder 

{x^  +  1-2/2)2  _  ^y.  _  ,,)  ^2  _  y.^  ^  (1^4  _|_  ,y 

Die  Quadratwurzelausziehung  rechts  ist  möglich,  wenn 

4  Qy2  _  a)  i^y'  +  c)  =  Iß  oder  y''  —  ay^  -{- Acy- =  4ac -\-  h"; 

beziehungsweise  bei  y^  =  z,  wenn  z^  —  az"-  -|-  4c^  =  4«c  +  &l  So 
ist  Vieta  zu  der  Nothwendigkeit  gelangt,  die  kubische  Gleichung  auf- 
zulösen, und  er  schlägt  dabei  einen  ihm  eigenthümlichen  Weg  ein*), 
welcher  um  so  geistreicher  erscheint,  je  gewisser  wir  (S.  63G)  be- 
haupten konnten,  dass  Vieta  mit  den  Arbeiten  seiner  italienischen 
Vorgänger  bekannt  gewesen   sein  muss.     Sei  a;^  -f-  Sarc  =  26,  so  ist 

1)  Vieta  pag.  138— 139.       *)  Ebenda  pag.  140.       ^^  Ebenda  pag.  140— 148. 
<    Ebenda  pag.  149—156. 


Rechenkunst  und  Algebra.  639 

y-  -j-  Ay  =  n  zu  setzen,  also  x  = —,  wodurch  die  gegebene  Glei- 
chung in  die  nach  if  quadratische  Form  if  -\-  2l)'iß  ==  a^  übergeht. 
Wie  kam  Vieta  zu  dieser  Substitution?  Er  sagt  es  nicht,  aber  es  ist, 
glauben  wir,  gelungen^),  seinen  Gedankengang  herzustellen.  Er  mag 
x^  -\-  'dax  =  X  (x^  -\-  ?)d)  gesetzt  und  an  seine  Anastrophe  gedacht 
haben,  d.  h.  er  wollte  den  einen  Factor  als  Differenz  z  —  Z:,  den 
anderen  als  z^  -\-  1: z  -\-  Ji?'  herstellen,  damit  als  Product  die  Differenz 
z^  —  If  auftrete,  auf  welche  Tartaglia's  Verse  schon  hinwiesen  (S.  488). 
Ist  aber  x  =^  z  —  /.-,  so  ist  x^  -\-  ^a  =^  z^  —  21iZ  -\-  l^  +  3^;  "^^^ 
dieses  wird  zu  /-  -j-  JiZ  -\-  A",  wenn  ^  =  y,  d.  h.  a-'  =  -jr  —  k  =  — t — 
Nun  war  bei  dieser  Annahme  die  Unbekannte  ganz  verloren  ge- 
gangen. Vieta  versuchte,  ob  li  =  y  gesetzt  deren  Stelle  einnehmen 
könne,  und  das  Gelingen  des  Versuchs  bildete  die  neue  Auflösung. 
Vieta  giebt  nun  noch  eine  Anzahl  von  Betrachtungen,  welche  auf 
besonders  geformte  Coefficienten,  auf  Rationalität  oder  Irrationalität 
der  Gleichungswurzel  u.  s.  w.  sich  beziehen  und  schliesst  die  Ab- 
handlung mit  einem  Collectio  quarta  überschriebenen  KapiteP),  welches 
den  Zusammenhang  zwischen  den  positiven  Wurzeln  einer  Gleichung 
und  deren  Coefficienten  vollständig  enthüllt,  welcher  in  der  Recognitio 
erst  angedeutet  war.  Die  Gleichungen  2.,  3.,  4.,  5.  Grades  werden 
vorgeführt:  a;  =  a,  x  =  b  seien  die  zwei  Wurzeln  von 

(a  -\-  h)  X  —  x^  ^=  ah-^ 
X  =  a,  X  =  1),  X  =  c  seien  die  drei  Wurzeln  von 

x"  —  (rt  -\-  h  -\-  c) x^  -{-  (ab  -\-  ac  -\-  hc)  X  ^=  ahc-^ 
X  =  a,  X  =  h,  a;  =  c,  x  =  d  seien  die  vier  Wurzeln  von 
{ahc  -f-  ahd  -(-  acd  -\-  hcd)x 
—  [ah -\- ac -{- ad -^  hc -\- hd -\- cd)  x'- 
+  (a  +  ?>  +  c  -f  d)  x^  —  x^  =  ahcd-^ 
X  =  a,  X  =  h,  X  =  c,  X  =^  d,  x  =  e  sind  die  fünf  Wurzeln  von 

a;^  —  (a  +  6  +  c  ■+  f7  -f  e)  ai* 
-f-  (ab  -{-  ac  -{-  ad  -{-  ae  -{-  bc  -{-  bd  -j-  be  -j-  cd  -j-  ce  -{-  de)  x^ 
—  (abc  -\-  abd  -\-  abe  -]-  acd  -{-  ace  -\-  ade  -\-bcd  -\-bce-\-bde-{-  cde)  x^ 
-\-  (abcd  -f-  abce  -\-  abde  -{-  acde  -f-  bcde)  x  =  abcde, 
und  damit  wolle  er  die  Abhandlung  krönen;  er  habe  anderwärts  aus- 
führlich davon  gehandelt^).     Wo  diese  ausführliche  Behandlung  statt- 
fand,  ist  durchaus  unbekannt;  wir  wagen  es  kaum,  unsere  Leser  an 


'■)   Marie,    Histoire   des   sciences   mathematiques  et  physiques   III,  59 — 60. 
-)  Vieta  pag.  158.  ^)  Ätque  haec  elegante  et  perpuMwae  speculationis  sylloge, 

tractavi  alioquin  effuso,  finem  aliqaem  et  Coromdem  tandein  imposito. 


640  C9-  Kapitel. 

die  verlorenen  Nntae  posteriores  ad  Logisticen  speciosam  denken  zu 
lassen.  Auffallen  könnte  der  Wechsel  der  Anordnung  in  den  vier 
Gleichungen.  Beim  2.  und  4.  Grade  beginnt  das  Gleichungspolynom 
mit  der  ersten,  beim  3.  und  5.  Grade  mit  der  höchsten  Potenz  der 
Unbekannten.  Der  Grund  davon  liegt  auf  der  Hand.  Vieta  will  die 
Gleichungsconstante  immer  positiv  und  will  auch  das  Gleichungs- 
polynom immer  mit  einem  positiven  Gliede  anfangen  lassen. 

Wir  sind  bei  der  letzten  Abhandlung  Vieta's  angelangt:  De  mi- 
merosa  iiotestatum  imraruni  atqne  adfectarum  ad  exegesin  resolufione^). 
Auch  sie  steht  im  Bande  von  1591  als  eine  Abtheilung  der  Algebra 
vorn  aufgezeichnet,  aber  auch  sie  ist  erst  wesentlich  später  gedruckt. 
Ghetaldi  hat  1600  in  Paris  die  Herausgabe  besorgt").  Zuerst  ist 
die  Auflösung  von  reinen  Gleichungen  vollzogen^),  wozu  es  selbst- 
verständlich nur  Wurzelausziehungen  bedarf.  Vieta  zieht  solche 
Wurzeln  bis  zur  sechsten,  wobei  die  Binomialcoefficienten  der 
betreffenden  Potenz  als  bekannt  vorausgesetzt  sind;  langwierige 
Rechnungen,  deren  Unverlässlichkeit  es  geradezu  zu  einer  Lebensfrage 
der  Rechenkunst  machte,  bald  ein  anderes  sie  ersetzendes  Mittel  zu 
ersinnen.  Der  weit  umfassendere  zweite  Abschnitt'^)  handelt  von  den 
unreinen  Gleichungen,  welche  in  näherungsweiser  Auflösung 
nach  einem  der  Wurzelausziehung  verwandten  Verfahren  behandelt 
werden.  Es  ist  ein  Verfahren,  welches  zwar  mit  dem  Grade  der 
Gleichung  sich  ändert,  mithin  als  ein  vollkommen  einheitliches  nicht 
erachtet  werden  kann  5  als  weiterer  Mangel  ist  stets  die  Auffindung 
nur  einer,  und  zwar  positiven  Wurzel  angestrebt,  aber  immerhin  ist 
der  Grundgedanke  ein  bleibender  und  ein  weit  vollkommenerer  als 
der,  dessen  Erfinder  Stevin  wai-.  Sei  die  quadratische  Gleichung 
X'  -\-  ex  =  a  zu  lösen,  welche  durch  die  Wurzel  x  =  x^  -^  x.^  -^  x.^ 
erfüllt  werde,  deren  einzelne  Bestandtheile  Ziffern  von  aufeinander- 
folgendem Stellenrange  bedeuten  sollen.  Die  Gleichung  nimmt  durch 
Einsetzung  dieses  Werthes  die  Gestalt  an: 
a  =  x^-  -\-  2a\x.^  -j-  ^2"  +  2.17^.^3  +  ^^'2^3  +  ^3"  +  cx^  -\-  cx.^  +  cx^ 
=  Xy-  -f  cx^  +  (2x^  +  c)x,  +  ,r,-  +  {2{Xi  +  x^)  +  c^x^  -f  x^\ 

Man  sucht  zuerst  x^,  was  verhältnissmässig  leicht  ist,  bildet  alsdann 
a  —  x^^  —  cx^  und  sucht  mittels  Division  durch  2xj^-{-  c  die  nächste 
Stelle  x.^  zu  ermitteln  u.  s.  w.     Wir  wollen  Vieta's  Beispiel 

x^  -\-  Ix  =  60750 
prüfen^).      Hier    ist   x^  =  200.     Dann    ist    60750  —  41400  =  19350 
durch  2x^  -f-  7  =  407  zu  dividiren,  wodurch 

')  Vieta  pag.  163—228.  -)  Ebenda  pag.  550.  ^)  Ebenda  pag.  163— 

172.         ")  Ebenda  pag.  173—228.         ^)  Ebenda  pag.  174—175. 


lleclienkuust  und  Algebra.  641 

X,  =  40,  {2x,  +  c)x,  +  X,'  =  17880 
entsteht,  und  der  nächste  Rest  ist  19350  —  17880  =  1470.  Der  wei- 
tere Divisor  ist  2{xi  +  ^'2)  +  ^  =  487,  der  Quotient  also  x^  =  3. 
Nun  lässt  (2(^i\  -\-  X.2)  +  f)-''3  +  ^'s^  ==  1470  den  Rest  0  erscheinen, 
folglich  ist  X  =  243.  Bei  einer  Gleichung  dritten  Grades  x^  -j-  ex  =  a, 
deren  Wurzel  wieder  als  x  ^=  x^^  -{-  x^  -j-  x.^  gedacht  ist,  findet  sich 
durch  Einsetzung  dieses  Werthes  und  leicbte  Umformung 

rt  =  a;\-\-  ex,  +  (^x^  +  c).-,  +  ißx,  +  x,)x^  +  {^dQr,  +  xj'-^f)x, 

und    die    Anwendung  \)    auf   x^ -\~  i^Ox  =  14356197    liefert   abermals 
X  =  243.     Zur  Auflösung  von  x^  -\-  ex'  =  a  führt  die  Formel  -) 
a  =  x,^-\-  ex,'  +  (3^,2  ^  9cx,)x.,  +  (3.r,  +  x,  +  c)x,' 

+  (3(^,  +  a^,y  +  2c(^,  +  x^x,  +  (3(.-,  +  .,)  +  .3  +  c)  ^,1 

Wir  begnügen  uns  mit  dieser  Angabe  und  mit  der  Bemerkung,  dass 
Vieta  als  so  unerschrockener  Rechner  sieh  bewährt,  dass  er  an  die 
Gleichung  x^  -f  6000.r  =  191246976  sich  wagt'").  Auch  Fälle  mit 
negativem  x  werden  dann  untersucht,  wie^)  x^  —  240a;  =  484  mit 
der  Wurzel  x  =  242  u.  s.  w. 

Den  Leistungen  eines  Vieta  gegenüber,  welche  seit  1591  zur 
Veröffentlichung  vorbereitet,  theilweise  seit  eben  jener  Zeit  veröffent- 
licht worden  sind,  erscheint  doppelt  dürftig,  was  im  letzten  Jahrzehnt 
des  XVI.  Jahrhunderts  in  Deutschland  unter  dem  Namen  Algebra 
gedruckt  werden  konnte.  Wir  müssen  dahin  die  (S.  612)  im  Vorbei- 
gehen erwähnte,  1592  gedruckte  Algebra  von  Ramus  zählen,  für 
welche  vielleicht  mit  mehr  Recht  Lazarus  Schoner  verantwortlich 
zu  machen  ist,  dahin  auch  ein  Rechenbuch  von  Andreas  Helm- 
reich^)  von  Eissfelde,  Rechenmeister  und  Visirer  zu  Halle,  welches 
1595  die  Presse  verliess  Wir  bemerken,  dass  Ramus  die  unbekannte 
Grösse  durch  l  als  Anfangsbuchstaben  von  latus  bezeichnet.  Helm- 
reich und  sein  Buch  würden  wir  der  verdienten  Vergessenheit  über- 
lassen, wenn  es  nicht  eine  eigenthümliche  Uebereinstimmung  mit  der 
(S.  612)  gleichfalls  erwähnten  Göttinger  Handschrift  von  1545 — 1548 
zeigte,  welche  einen  immerhin  beachtenswerthen  Gegenstand  betrifft. 
Bei  Helmreich  findet  sich  eine  geschichtlich  sein  sollende  Notiz  von 
einem  Algebras  zu  Ulem,  dem  grossen  Geometer  in  Egypten  zur 
Zeit   des  Alexandri   Magni,    der  da    war    ein  Präceptor   Euklid's    des 


^)    Vieta  pag.  177—178.  ^)  Ebenda  pag.  180.  Vieta's    Beispiel    ist 

x^  -f  30a::*  =  86220288.  ^)    Ebenda  pag.  193.  \)    Ebenda  pag.  197. 
^)  Kästner  I,  147—149. 

Cantor,  Geschiclite  der  Mathom.  U.     2.  Aufl.                                                         41 


642  69.  Kapitel. 

Fürsten  von  Megarien  und  dergleichen  tolles  Zeug  noch  mehr.  Genau 
derselbe  Wust  eröffnet  als  Prolog  jene  Handschrift,  nur  noch  etwas 
ausführlicher.  Auch  eine  noch  ältere,  auf  das  XIV.  bis  XV.  Jahrhundert 
geschätzte  Handschrift  in  Dresden  ^J  enthält  ähnlichen  Wust.  Da  soll 
das  Buch  arabisch  verfasst  sein  zur  Zeit  Alexander  des  Grossen,  von 
diesem  ins  Indische,  von  Archimed  ins  Griechische,  von  Appulejus 
ins  Lateinische  übersetzt  sein.  Die  Anfangsworte  der  Göttinger 
Handschrift  lauten:  Älgehme  Ärahis  Arithmeüci  viri  Clarisshni 
liber  ad  Ylem  Geometram  praecejitorem  suum,  und  das  Sonderbarste 
dabei  ist,  dass  dieses  Ylem,  wie  es  bei  dem  Einen,  Ulem, 
wie  es  bei  dem  Anderen  heisst,  eine  Verketzerung  eines  arabischen 
Wortes,  welches  Lehren  bedeutet,  sehr  ähneln  soll,  wie  Sprachkun- 
dige uns  versichern.  Hier  könnte  also  die  Erinnerung,  wenn  nicht 
gar  die  mittelbare  Erhaltung  einer  sonst  nicht  näher  bekannten 
arabischen  Algebra  vorhanden  sein. 

Dem  gewiss  gerechten  Bedauern  über  die  Drucklegung  so  un- 
bedeutender Leistungen  in  Deutschland  könnte  ein  mit  der  Literatur 
geringen  Gehaltes  in  anderen  Ländern  genauer  bekannter  Leser  viel- 
leicht ein  Wort  des  Trostes  entgegensetzen,  es  sei  auch  dort  die 
Druckerschwärze  nicht  selten  missbraucht  worden.  Wir  begnügen 
uns  mit  dem  jedenfalls  angenehmeren  Gefühle,  zum  Schlüsse  des  Ab- 
schnittes auch  noch  Männer  nennen  zu  können,  welche  in  Deutsch- 
land sich  wirkliche  Verdienste  um  die  Algebra  erworben  haben:  Joost 
Bürgi,  Pitiscus  und  Raimarus  Ursus.  Bürgi-j  kam  zu  den  algebrai- 
schen Arbeiten  bei  Berechnung  einer  genauen  Sinustabelle,  die  selbst 
einen  doppelten  Zweck  erfüllen  sollte.  Sie  sollte  einmal  da  dienen, 
wo  in  Folge  trigonometrisch  behandelter  Aufgaben  Sinusse  vorkamen, 
sie  sollte  zweitens  bei  prosthaphäreti sehen  Multiplicationeu 
in  Anwendung  treten.  Es  ist  (S.  454)  gezeigt  worden,  worin  dieses 
Verfahren  bestand,  und  (S.  597)  dass  es  Werner  zugeschrieben  wor- 
den ist.  Damit  fällt  die  Erzählung,  welche  Raimarus  Ursus  ent- 
stammt^;. Der  eigentliche  Erfinder  wäre  darnach  Paul  Wittich 
aus  Breslau,  der  um  1582  bei  Tjcho  Brahe  auf  der  Insel  Hveen 
war  und  dort,  vielleicht  mit  Tycho  gemeinsam,  das  Verfahren  ersann 
und  übte.  Als  er  etwa  1584  nach  Kassel  kam,  habe  er  es  ohne  Be- 
weis Bürgi  mitgetheilt,  der  nun  selbst  einen  Beweis  fand,  dabei  die 
Fruchtbarkeit  des  Satzes  erkannte  und  ihn  erweiterte.    Wittich's  Satz, 


^)  Codex  Drestlensis  C.  405.     Curtze  brieflich.  ^  Vergl.  einen  Auszug 

aus  den  in  Pulkowa  aufbewahrten  Bürgi'schen  Papieren  von  Rud.  Wolf  in 
des.sen  Astronomischen  Mittheilungeu  Nr.  XXXI  (Zürich  1872).  ^)  Rud.  Wolf, 
Astron.  Mittheilungon  Nr.  XXXI  S.  10—11  und  Nr.  XXXII  S.  55—67. 


Rechenkunst  und  Algebra.  643 

den  er  sehr  wohl  selbständig  nacherfunden  haben  kann,  war  vermuth- 
lich  der  folgende: 

sin  tt-smß=  ~  [sin  (90"  —  a  +  ß)  —  sin  (90»  —  a  —  ß)] 
d.  h. 

sin  a  •  sin  /3  =  ^  [cos  (a  —  ß)  —  cos  (u  -j-  ß)] 

unter  der  Voraussetzung  a  -\-  ß  <.  90",  und  Bürgi's  Erweiterung  Hess 
a  -{-  ß^  90"  zu ,  so  dass  alsdann 

sin  a  •  sin  /3  =  y  [sin  (90"  —  a -\-  ß)  -\-  sin  (a -{-  ß  —  90")]. 

Gegenwärtig  ist  dieses  wegen  sin  J^  =  —  sin  ( —  Ä)  sofort  einleuchtend 
und  bedarf  keines  neuen  Beweises.  In  den  achtziger  Jahren  des 
XVI.  Jahrhunderts  war  das  noch  wesentlich  anders,  und  jede  Formel 
musste  besonders  entdeckt  werden.  Wir  erinnei-n  nur  an  die  noch 
anderen ,  wenn  auch  prosthaphäretischen  Formeln  sehr  nahe  ver- 
wandten Gleichungen  des  Rhäticus  (S.  602).  Um  so  überraschender 
ist  eine  weitere  Anwendung,  welche  Bürgi  von  dem  Gedanken  der 
Prosthaphäresis  machte,  und  die  in  wiederholter  Benutzung  desselben 
unter  wahrscheinlich  erstmaliger  Einführung  eines  Hilfswin- 
kels besteht.  Die  Formel  der  sphärischen  Trigonometrie 
cos  a  =  cos  &  •  cos  c  -\-  sin  h  •  sin  c  •  cos  vi 

verwandelte  er  durch  sin  &  ■  sin  c  =  —  [cos  (6  —  c)  —  cos  (h  -{-  c)]  =  cos  x 
in  die  nur  Additionen  erfordernde  Gestalt 

cos  a  =  —  [cos  (b  —  c)  -\-  cos  (h  -\-  c)  -\-  cos  (x  —  ^)  +  cos  {x  -j-  Ä)] . 

Ein  gewisser  Jacob  Curtius  scheint  dann  Clavius  von  der  prostha- 
phäretischen Methode  Kenntniss  gegeben  zu  haben,  der  selbst  wie- 
derum an  Tycho  darüber  schrieb.  Andere  erhoben  gleichfalls  An- 
sprüche auf  die  Urheberschaft  der  damals  wichtigen  Methode,  aber 
ohne  dass  dieselben  gerechtfertigt  erscheinen.  Jedenfalls  war  also 
Bürgi's  Augenmerk  auf  die  Herstellung  einer  genauen  Sinustafel  ge- 
richtet, und  dazu  musste  er  in  geometrische  Untersuchungen  ein- 
treten, welche  ihm  Gleichungen  zwischen  einer  Sehne  und  der  Sehne 
des  w-ten  Theils  ihres Bogens  verschafften.  Bei  n==2  war  das  Quadrat 
der  Sehne  Ax^  —  a;*.  Bei  w  =  3  war  die  Sehne  3a?  —  x^.  Bei  w  =  4 
war  das  Quadrat  der  Sehne  16a;- — 20a;*  -|-  8x^  —  a;^,  wofür  Bürgi 
n  IV  VI  VIII 
16  —  20  -\-  8  - —  1    schrieb,   und   ähnliche  Gleichungen   leitete  er  ab 

bis  zu  n  =  20.     Die  Schreibweise,  welche   wir  eben   als    die  Bürgi's 
bezeichneten^),    und    welche    wiederholt    in    dessen    Papieren    älteren 


')  Rud.  Wolf,  Astronom.  Mittheilungen  Nr.  XXXI  S.  18. 

41  = 


644  69.  Kapitel. 

Datums  vorkommt,  aus  einer  Zeit,  in  welcher  Bürgi  noch  nicht  mit 
Kepler  bekannt  war,  ähnelt  der  von  Bombelli  sowie  der  von  Stevin, 
doch  dürfen  wir  desshalb  die  Selbständigkeit  Bürgi's  hier  so  wenig 
anzweifeln,  als  bei  der  Erfindung  der  Decimalbrüche  (S.  617).  Wir 
haben  das  frühe  Datum  betont,  zu  welchem  Bürgi  seiner  Bezeichnung 
der  Potenzen  der  Unbekannten  sich  bediente,  weil  damit  ein  Wider- 
spruch, wenn  nicht  erklärt,  doch  unwirksam  gemacht  wird,  der  in 
einem  Ausspruche  Kepler's  enthalten  ist.  Im  I.  Buche  der  1619  ge- 
druckten Harmonice  mundi  setzt  Kepler  mit  ausdrücklicher  Berufung 
auf  Bürgi  die  Gleichung  auseinander,  welche  die  Seite  des  regel- 
mässigen Sehnensiebenecks  im  Kreise  vom  Halbmesser  1  bestimmen 
lasse.  Bürgi,  sagt  er^),  schreibe  IjB,  1§,  Ic,  I55,  l^c  u.  s.  w,  und 
dann  fährt  er  fort:  quod  nos  commodius  signabimus  per  apices  sie,  was 
ich  bequemer  durch  Gipfelzahlen  bezeichnen  will,  nämlich  so 
1,  1^,  1",  1™,  Pv,  1^;  1^1,  1^"  etc  . 

Man  wird  darnach  annehmen  müssen,  dass  Bürgi  in  seiner  Schreib- 
weise wechselte,  und  dass  er  gerade  an  der  hier  von  Kepler  erwähnten 
Stelle  sich  der  althergebrachten  Bezeichnungen  bediente,  welche  dann 
Kepler  durch  diejenigen  ersetzte,  von  denen  er  wusste,  dass  Bürgi 
sich  ihrer  meistens  zu  bedienen  pflegte.  Dass  er  letzteres  nicht  durch 
eine  besondei-e  Bemerkung  hervorhob,  mag  darin  seinen  Grund  geha))t 
haben,  dass  er  der  Sache  keine  übermässige  Wichtigkeit  beilegte  und 
sich  keineswegs  eine  Erfindung  zuschreiben,  sondern  eine  getrofi"ene 
Abänderung  entschuldigen  wollte.  Die  Stelle  des  Kepler'schen  Werkes 
lehrt  in  ihrer  Fortsetzung  noch  zwei  hochwichtige  Dinge  kennen, 
welche  als  Bürgi's  Eigenthum  erscheinen.  Die  betreffende  Gleichung 
der  Siebenecksseite,  heisst  es  nämlich  weiter,  sei  die  folgende:  figurae 
nihUi  aeqiie  valent  quantitates  hae 

71  _  14111  _|_  7v  _  ivii  ^el  7  —  14"  +  71^'  —  VK 

Prodit  autcm  Uli  ex  aeqmdione,  quam  iuvat  mechanice,  vnlor  radlcis 
non  unus,  sed  in  quinquangido  dm,  in  srptangido  Urs,  in  nonangulo 
qucduor  et  sie  eonsequenter.  Bürgi  hat  darnach  mit  vollem  Bewusst- 
sein  erstens  die  Gleichung  auf  Null  gebracht,  zweitens  erkannt, 
dass  unter  Benutzung  derselben  Theilpunkte  der  Kreisperipherie  als 
Eckpunkten  2  Fünfecke,  3  Siebenecke,  4  Neunecke  u.  s.  w.,  allgemein 
n  Vielecke  von  2n  -\-  1  Seiten  möglich  seien,  wenn  man  ausser  dem 
convexen  Vielecke  auch  die  Sternvielecke  verschiedener  Ordnung  in 
Betracht  ziehe,  und  dass  die  Seiten  der  letzteren  Vielecke  die 
weiteren  Wurzelwerthe  der  gegebenen  Gleichung  seien.    Wir 


')  Opera  Kepleri  (ed.  Frisch)  V,  104. 


IJcclicnkunst  und  Algebra.  ß45 

haben  gesagt,  dass  Bürgi  Gleichungen  zwischen  den  Sehneu  des  ein- 
fachen und  des  w-fachen  Bogens  bis  zu  n  =  20  abgeleitet  habe.  Er 
hat  sie  auch  in  Form  einer  Tabelle  zusammengestellt,  deren  beliebige 
Ausdehnung  möglich  sei.  Um  die  Sehne  von  4  Winkelsecunden  zu 
erhalten,  müsse  man  erwägen,  dass 

360«  =  360  .  60  •  60  =  1296000" 
das  324000-fache  von  4"  sei,  und  müsse  die  Tafel  so  weit  verlängern. 
„Ich  will  Dirs  aber  nit  rathen  diss  zu  besorgen.  Du  möchtest  das 
Nachtmahl  darüber  versäumen"  meint  er  dabei  und  fährt  fort,  man 
könne,  wegen  324000  =  2^  .  3^  .  5^,  sich  etwas  leichter  die  noth- 
wendige  Gleichung  verschaffen,  indem  man  5  Verdoppelungen  des 
Bogens,  4  Verdreifachungen,  3  Verfünffachungen  nach  einander  vor- 
nehme. Bürgi  war  also ,  und  zwar  muthmasslich  gleichfalls  selb- 
ständig, zu  ganz  ähnlichen  Ergebnissen  gelangt  wie  Van  Roomen 
und  Vieta  jeder  für  sich  (S.  606).  Die  Frage,  welche  uns  gegen- 
wärtig die  bedeutsamste  ist,  richtet  sich  darauf,  wie  Bürgi  die  einmal 
aufgestellten  Gleichungen  von  theilweise  sehr  hohem  Grade  zur 
näherungsweisen  Auflösung  brachte.  Bei  der  Dreitheilung  kam  es, 
wenn  x  die  Sehne  des  einfachen,  1  die  Sehne  des  dreifachen  Bogens 
darstellte,  auf  die  Gleichung  1  =  3a;  —  x^  an  und  dabei  insbesondere 
auf  die  Auffindung  einer  Verbesserung  z/.t^  ,  nachdem  ein  Näherungs- 
werth  x^  einmal  gefunden  war.  Die  Einsetzung  von  x  =^  x^  -{-  Ax^ 
in  1  =  3;r  —  x^  liefei-t 

?ix^  .  Ax^  -\-  ox^  .  Ax{-  +  Ax^  —  ?i/lX]^  =  Zx^  —  x^  —  1 
=  (3  —  x^)  x^  —  \ 


?,  —  x^^)x^  —  1 


gewiss  nicht  erst  zu  sagen,  dass  Bürgi  keine  auch  nur  ähnliche  Ent- 
wickelung  vornimmt,  Thatsache  ist  aber,  dass  er  bei  der  wirklichen 
Rechnung  nur  den  im  Nenner  auftretenden  Theil  (3.^^  -j-  Ax-^  <4x^ 
durch  "ixy  .  10"  ersetzt,  wo  n  die  Stellung  der  gesuchten  Verbesserung 
bestimmt,  beziehungsweise  den  Rang  derjenigen  decadischen  Einheit 
ergiebt,   welche  grösser  ist  als  die  Verbesserung.     Er  setzt  nämlich 

x^  =^  1  and  gleichzeitig  u  ==  0,  so  wird  Ax^  ^  .^  =  0,5  und 
Xj^  -\-  A  x^  =  X.2  ^  1,5.     Jetzt  wird  n  ^=  —  1  und 

.  (3  —  1,52)1,5  —  1  0,125 


l,52  +  2.1,5.i-(8-l,5^)  ^'^^ 


>  0,03. 


Man  wird  daher  Ax^  =  0,03,  x.2  -j-  AXq,  =  ^3  =  1,53,  n  =  —  2 
setzen  müssen,  und  das  ist  es,  was  Bürgi  thut!  Bei  höherem 
Grade  der  Gleichung  rechnet  Bürgi  nach  einer  verfeinerten  Methode 


646  69.  Kapitel. 

des  doppelten  falschen  Ansatzes,  auf  welche  auch  Cardano's  goldene 
Regel  sich  gründete  (S.  506).  Der  Auszug  aus  der  Pulkowaer  Hand- 
schrift, welchem  wir  folgen,  giebt  als  Beispiel  Bürgi's  Behandlung 
der  Neunecksgleichung  9  —  30a;-  -\-  21  x^  —  9x^  -\-  x^  =0.  Durch 
graphische  Versuche  wird  gefunden,  dass  0,68  <  a:  <  0,69,  d.  h.  dass 
eine  Länge  von  0,68  des  Halbmessers  eines  Kreises  in  den  Zirkel 
genommen  mehr  als  9  Mal  im  Umkreise  sich  auftragen  lässt,  wäh- 
rend 0,69  bei  gleichem  Versuche  über  den  Ausgangspunkt  hinaustrifft. 
Jetzt  beginnt  für  Bürgi  die  Rechnung  und  indem  er  für  x  die  beiden 
genannten  Werthe  in  die  Gleichung  einsetzt,  findet  er  selbstverständ- 
lich als  Summe  des  Gleichungspolvnoms  nicht  0,  sondern  -j-  0,0569 
bei  x  =  0,68  und  —  0,0828  bei  x  =  0,69.  Einer  Zunahme  von  x  um 
0,01  entspricht  eine  Abnahme  des  Gleichungspolynoms  von  0,1397. 
Damit  0  entstände,  müsste  die  Abnahme  0,0569  betragen,  Bürgi  setzt 
desshalb  in  Proportion  0,1397  : 0,0569  =  0,01  :z/a;  mit  ^x  =  0,0040. 
Behufs  einer  zweiten  Rechnung  wird  nun  x  =  0,6840  und  x  =  0,6841 
eingesetzt.  Die  hier  auftretenden  Fehler  sind  -(-  0,00056410  bei 
X  =  0,6840  und  —  0,00004029  bei  x  =  0,6841.  Aus  ihnen  folgt  die 
Proportion 

0,00140012 : 0,00056410  =  0,0001 :  zJx  mit  zlx  =  0,00004029, 
und  folglich  ist  in  sehr  bedeutender  Annäherung  a:==  0,68404029  zu  setzen. 
Die  gleiche  Aufgabe  der  Auffindung  von  Sehnen  einfacher  Bögen 
aus  denen  der  w-fachen  Bögen  mit  Hilfe  von  zwischen  diesen  Strecken 
obwaltenden  Gleichungen  höherer  Grade  hat  Pitiscus  im  zweiten 
Buche  seiner  Trigonometrie  von  1612  erklärtermassen  im  Sinne 
Bürgi's  (S.  619j  gelöst^).  Die  nach  der  Regel  des  doppelten  falschen 
Ansatzes  geführten  Rechnungen  stimmen  auch  vollständig  mit  Bürgi's 
Gedankengange  überein.  Pitiscus  will  z.  B.  aus  der  Sehne  von  30", 
welche  5176381  zur  Länge  hat,  die  von  lO*'  berechnen.  Die  Gleichung 
heisst  hier  a  =  3x  —  x^,  wo  a  die  bekannte  Sehne  bedeutet-).  Aus 
ihr  folgt  ^  =  Y  +  Y  oder  a;  >  -^  •  Nun  ist  —  =  1725460,  und 
etwas  grössere  Zahlenwerthe  wären  1730000,  1740000,  1750000. 
Die  Annahme  a;  =  1730000  giebt  3a;  —  a;^  =  5138223  oder  38158 
zu  wenig.  Die  Annahme  x  =  1740000  giebt  dx  —  x^  =  5167320 
oder  9061  zu  wenig.  Nun  wird  nach  den  Regeln  des  doppelten 
falschen  Ansatzes  1740000  •  38158  —  1730000  •  9061  =  50719390000 
durch  38158  —  9061  =  29097  dividirt,  wodurch  der  Quotient  1743114 


^  Pitiscus,  Trigonometria  (1612)  pag.  44:  Adhuc  aliter,  per  subtensas  et 
per  Älgebram  ex  mente  lusti  Byrgii  (Algehram  qui  nescit,  Algehraica  transüiat, 
hie  et  per  totum  reliqiium  Hbrvm.  Non  enim  necessitati,  sed  tantuvi  curiositati 
haec  data  sunt).        *)  Ebenda  pag.  51 — 53. 


Eechenkunst  und  Algebra.  647 

sich  ergiebt,  und  dieser  dient  als  neuer  Näherungswertli.  Setzt  man 
ihn  in  3a;  —  x^  ein,  so  entsteht  5176378  oder  3  zu  wenig.  Richtig 
muss  demnach  ein  x  sein,  welches  um  ein  Geringes  grösser  ist  als 
1743114.  Der  Versuch  zeigt,  dass  1743115  bereits  zu  gross  ist, 
dass  also  x  zwischen  den  beiden  angegebenen  Zahlen  liegt,  welche 
ganzzahlig  geschrieben  ebenso  wie  der  Zahlenwerth  von  a  als  Theile 
des  zu  10000000  angesetzten  Halbmessers  verstanden  werden  müssen. 
Die  Zwischeurechnungen  sind  bei  Pitiscus  nicht  ausführlicher  als  hier 
in  unserem  Berichte  mitgetheilt.  Algebraisch  nennt  Pitiscus  folgende 
Behandlung  z.  B.  der  Gleichung  (lOOOOOOO)^  =  4x^-  —  x^,  welche  x 
als  Sehne  von  d(f  enthält,  wenn  die  Sehne  von  60°  oder  der  Halb- 
messer als  10000000  gegeben  ist^).  Die  durch  x^  =  y  umgeformte 
Gleichung  4?/  =  10^*  -|-  tß  lässt  erkennen,  dass  man  4  als  Divisor 
des  Ausdruckes  rechts  zu  benutzen  hat,  dem  man  aber  bei  Fort- 
setzung der  Division  immer  die  Verbesserung  y^  wieder  hinzufügen 
muss.  Ist  etwa  y  =  ?/i  +  2/2  +  2/3  +  •  ••,  wo  y^,  «/,,,  ^3  •  • .  aufeinander- 
folorende  Stellen  bedeuten,  so  kommen  bei  fortschreitender  Division 
regelmässig  zwei  Nullen  vom  Dividendus  an  den  Theilrest  herunter, 
und  überdies  ist  bei  der  ersten  Division  an  der  niedrigsten  Stelle, 
d.  h.    rechts,    ?/^"-    zu     addieren,    bei    der    zweiten     Division     ebenda 

-^1^2  +  V'ii  ^®^  *^®^'  dritten  2(3/^  +  ^2)  Vi  +  Vi'  "•  s-  "^-  2^°^  ^i^" 
desten  geht  solches  aus  dem  Verfahren  des  Pitiscus  hervor,  das  Ver- 
fahren zu  erläutern  schien  ihm  entweder  überflüssig  oder  unausführbar. 
Er  rechnet  1:4  =  0,  10  :  4  =  2,  nimmt  also  y^  =  2,  y^^  =  4  und 
bildet  100  -f-  4  —  80  =  24  beziehungsweise  unter  Herabziehung  von 
zwei  Nullen  2400.     Nun  heisst  es  weiter 

24  :  4  =  6  =  y„  2y,y,  +  y^  =  2  •  20  •  6  +  36  =  276, 
also  2400  +  276  —  2400  =  276  ist  der  neue  Rest,   27600  der  neue 
Dividendus.     27  :  4  =  beinahe  7  =  1/3.     Nun  folgt 

2(^1  +  y-2)  2/a  +  ^s'  =  2  •  260  .  7  +  49  =  3689, 
27600  +  3689  —  28000  =  3289  und  328900  als  neuer  Dividendus 
u.  s.  w.  Wir  sahen,  dass  y^  etwas  grösser  gewählt  wurde  und  ge- 
wählt werden  durfte,  als  27  :  4  eigentlich  zulässt,  weil  vor  der  Ab- 
ziehung  des  Theilproductes  der  Theildividendus  noch  eine  Ergänzung 
erfuhr.  Das  Gleiche  tritt  jedesmal  ein,  und  demgemäss  wird  man 
stets  den  Versuch  wagen  müssen,  den  Theilquotienten  eher  etwas  zu  gross 
als  zu  klein  zu  wählen.  Pitiscus  nennt  bei  dem  soeben  beschriebenen 
Verfahren  die  unbekannte  Grösse  latus  und  bezeichnet  sie,  ihr  Quadrat 
und  Biquadrat  durch  ?,  q,  hq.  Daneben  hat  bei  ihm  l  auch  die  Be- 
deutung der  Seite  eines  gegebenen  Quadrates,  d.  h.  einer  Quadratwurzel. 

')  Pitiscus,  Trigonometria  (1612)  pag.  47— 49. 


648  69.  Kapitel.     Rechenkunst  und  Algebra. 

Noch  ein  zweiter  Scliüler  Bürgi's  hat  auf  Auflösung  von  Zahlen- 
gleichungen sein  Augenmerk  gerichtet:  Raimarus  Ursus^),  als  Yer- 
besserer  des  Junge'schen  Verfahrens  (S.  626).  Raimarus  schlägt 
nämlich  vor,  statt  eines  beliebigen  Versuchswerthes  der  unbekannten 
Grösse  einen  derartigen  zu  vrählen,  dass  die  Muthmassung  „nicht 
mehr  so  vnendlich  circumvagiern  vnd  vmbschweiffen  mag".  Dazu 
habe  man  ein  Mittel  „durch  Erfindung  aller  Divisorum  oder  theiler". 
Die  Stelle  lässt  kaum  eine  andei-e  Deutung  zu,  als  dass  Raimarus 
verlangt,  mau  solle  die  einzelnen  Theiler  der  Gleichungsconstanten 
versuchsweise  statt  der  Unbekannten  einsetzen.  Er  wird  wohl  dabei 
nicht  das  Bewusstsein  gehabt  haben,  dass  der  Wurzelwerth  ein  Theiler 
der  Gleichungsconstanten  sein  müsse;  diese  Kenntniss  war  ihm  fern. 
Er  dachte  nur  daran,  dass,  wenn  etwa  x^  =  486  —  90^:;  —  21:r-  zur 
Auflösung  vorlag,  der  Theiler  3  der  Zahl  486  es  möglich  machte, 
486  —  90a:;  zu  3  (162  —  90)  u.  s.  w.  umzuwandeln,  beziehungsweise 
zu  vereinigen. 

Unsere  in  diesem  Abschnitte  getroffene  Anordnung  entbindet  uns 
der  Aufgabe,  nochmals  zusammenfassend  zu  erörtern,  was  auf  jedem 
Gebiete  geleistet  worden  ist,  da  diese  Leistungen  schon  gebietweise 
vereinigt  auftreten.  Zur  Würdigung  einzelner,  besonders  hervor- 
ragender Geister  müssen  wir  dagegen,  Avie  wir  (S.  546)  es  in  Aussicht 
gestellt  haben,  deren  Einzelleistungen  zu  einem  Gesammtbilde  ver- 
einigen. Stevin,  Vieta,  Bürgi  waren  Männer  so  umfassender  Thätig- 
keit,  dass  bei  ihnen  geboten  erscheint,  was  wir  zusagten.  Zur  Schil- 
derung Bürgi's  besitzen  wir  noch  nicht  alle  Züge.  Eine  gewaltige 
Leistung  wird  erst  der  nächste  Abschnitt  uns  vor  die  Augen  führen. 
Nur  Stevin  und  Vieta  bilden  unsere  augenblickliche  Aufgabe. 

Stevin  war  uns  ein  Mechaniker  allerersten  Ranges,  war  uns 
der  erste  Erfinder  des  Rechnens  mit  Decimalbrüchen,  der  Empfehler 
ihrer  praktischen  Einführung.  Er  war  endlich  der  Urheber  einer 
ersten  theoretisch  richtig  erdachten  Auflösung  von  Zahlengleichungen. 

Vieta  ragt  noch  ungleich  grösser  aus  seiner  geistigen  Um- 
gebung hervor.  Ein  gewandter  Geometer,  ein  geistreicher  Zahlen- 
theoretiker, ein  geübter  Rechner  in  cyclometrischen  Untersuchungen 
würde  er  schon  um  der  Leistungen  auf  diesen  Gebieten  willen  zu 
den  aussergewöhnlichen  Schriftstellern  gehören.  Grösseres  leistete 
er  in  der  Lehre  von  den  trigonometrischen  Functionen,'  in  der  Lehre 
von  den  Gleichungen,  in  der  Verbindung  beider  Gebiete.  Das  Grösste 
ist  und  bleibt  seine  Erfindung  der  Buchstabenrechnung,  die  Aus- 
dehnung des  Gedankens,  unbekannte  Grössen  durch  Symbole  zu  be- 
ziehen auf  bekannte,  aber  unbestimmt  gelassene  Grössen. 

1)  Gerhardt,  Mathem.  Deutschi.  S.  85. 


XV.   Die  Zeit  von  1600—1668. 


70.  Kapitel. 
Geschichte  der  Mathematik.     Classikerausgaben. 

Wir  beginnen  die  Schildernng  des  Zeitraumes,  dem  der  XV.  Ab- 
schnitt gewidmet  ist,  wieder  mit  denjenigen  Schriftstellern,  welche 
die  Geschichte  unserer  Wissenschaft  selbst  bearbeiteten. 

Ein  in  Ungarn  geborener  Augsburger  Arzt,  zugleich  Professor 
der  Logik  und  Mathematik  am  dortigen  Gymnasium  und  Bibliothekar 
ebendaselbst,  Georg  Henisch^)  (1549 — 1618),  veröffentlichte  zwischen 
1605  und  1609  mehrere  Schriften,  deren  Erwähnung  hier  angemessen 
erscheint:  eine  Schrift  über  Zahlzeichen  {De  numeratiom  mulUplici, 
vetere  et  recenti),  eine  solche  über  die  röjaische  Bruchrechnung  (I)e 
asse  et  partibus  ejus),  einen  Commentar  zu  der  Sphaera  des  Proklus. 
Ebenfalls  aus  dem  Jahre  1609  ist  Henisch's  Arithmetica  perfecta  et 
demonstrata ,  ein  damals  beliebtes  Lehrbuch,  welches  aber  so  gar 
keinen  Anlass  zu  Bemerkungen  giebt,  dass  wir  es  hier  schon  nennen 
und  nicht  erst  im  74.  Kapitel,  wo  wir  von  Rechenbüchern  handeln. 

Giuseppe  Biancani^),  latinisirt  Blancanus,  aus  Bologna, 
welcher  dem  Jesuitenorden  angehörte  und  in  Padua  bis  zu  seinem 
Tode  (1624)  Mathematik  lehrte,  hat  1615  eine  Clarorum  mathemati- 
corum  Chronohgia  herau.ggegeben ,  welche  in  26  Abschnitte  von  je 
einem  Jahrhundert  eingetheilt  ist.  Das  erste  derselben  beginnt  mit 
dem  Jahre  852  vor  Christus  oder  100  vor  der  Gründung  von  Rom, 
das  zweite  mit  der  Gründung  von  Rom,  beziehungsweise  dem  Jahre 
752;  das  neunte  ist  als  ein  Semisaculum  bezeichnet,  weil  es  nur  von 
52  bis  zum  Geburtsjahre  Christi  führt.  Dann  beginnt  jedes  Jahr- 
hundert mit  den  chronologisch  allgemein  als  Anfang  eines  Jahr- 
hunderts bezeichneten  Jahrgängen,  das  26.  und  letzte  also  mit  dem 
Jahre  1601.  Blancanus  hält  es  für  nothwendig,  auf  dem  Titelblatte 
zu  erklären,  er  habe  solche  Persönlichkeiten  wie  Atlas,  Zoroaster, 
Endimion,  Orpheus,    Linus    und  Andere  weggelassen,    welche    theils 


^)  Poggendorff  I,  1064.  —  Allgem.  Deutsche  Biographie  XI,  750 — 751. 
Artikel  von  J.  Franck.  -)  De  Backer,  Bibliotheqiie  des  ecrivains  de  la  com- 
pagnie  de  Jesus  I,  91. 


652  70.  Kiipitel. 

der  Fabel  angehören,  theils  in  ein  Ungewisses  Altertlium  zurückweisen. 
Ueberdies  sei  Jubal,  der  Erfinder  der  Musik,  weggeblieben,  weil  er 
durch  einen  allzugrossen  Zeitraum  von  den  zunächst  Behandelten 
getrennt  sei.  Die  Unzuverlässigkeit  des  Blancanus  ist  haarsträubend . 
Ein  Geminus  lebt  für  ihn  in  dem  352  vor  Christus  beginnenden 
Jahrhunderte,  ein  zweiter  Geminus  von  Rhodos,  Lehrer  des 
Proklus,  in  dem  301  nach  Christus  beginnenden.  Theon  von 
S  m  y  r  n  a  gehörte  dem  XII.  nachchristlichen  Jahrhunderte  an  als 
Zeitgenosse  des  Jordanus  Nemo  rar  ins.  Im  XY.  Jahrhunderte 
hat  Leonardo  von  Pisa  gelebt.  Diese  wenigen  'Beispiele  dürften 
genügen.  Eine  Angabe  dessen,  wodurch  die  betreffenden  Mathema- 
tiker sich  verdient  gemacht  haben,  muss  man  vollends  bei  Biancani 
nicht  suchen.  Im  günstigsten  Falle  ist  der  Titel  eines  oder  des 
anderen  Werkes  jedes  Verfassers  angegeben. 

Hugo  Semple^),  latinisirt  Sempilius,  1594  in  Schottland 
geboren,  1654  in  Madrid  gestorben,  gehörte  ebenfalls  dem  Jesuiten- 
orden an.  Seinen  1635  in  Antwerpen  gedruckten  12  Büchern  De 
3Iatheniaticis  disciplinis  soll-j  ein  ausführliches,  innerhalb  der  ein- 
zelnen mathematischen  Fächer  alphabetisch  geordnetes  Verzeichniss 
der  Mathematiker  als  Anlfang  dienen. 

Gerhard  Johann  Voss,  latinisirt  Yossius,  ist  1577  in  einem 
Dorfe  bei  Heidelberg  geboren,  doch  war  die  Familie  niederländischer 
Abstammung.  In  den  Niederlanden  hat  er  auch  frühzeitige  Anerken- 
nung gefunden.  Schon  1600  wirkte  er  als  Rector  der  Schule  in 
Dordrecht,  1614  siedelte  er  an  die  Universität  Leiden,  1643  an  das 
neuerrichtete  Gymnasium  in  Amsterdam  über.  Dort  starb  er  1649. 
Seine  Leistungen  liegen  vornehmlich  auf  dem  Gebiete  des  classischen 
Alterthums.  Mythologie,  Geschichte,  Grammatik  verdanken  ihm  Ar- 
beiten, welche  zu  den  bahnbrechenden  gezählt  werden.  Mathematische 
Studien  kamen  dem  entsprechend  für  Vossius  nur  so  weit  in  Be- 
tracht, als  sie  sich  mit  seinen  literärgeschichtlichen  Forschungen 
kreuzten,  und  man  sollte  dessen  bei  Beurtheilung  des  1650  in  Amster- 
dam gedruckten  umfangreichen  Bandes  De  unkersae  mathesios  natura 
et  constitutione  liher  eingedenk  sein.  Als  Aufschrift  seines  Manu- 
scriptes  hatte  Vossius  zudem  die  Worte  hinzugefügt:  JDiutius  si 
immorer,  vereor,  ne  videar  immori  velle,  und  sie  waren  zur  Wahrheit 
geworden.  Noch  bevor  der  Druck  vollendet  war,  war  der  Verfasser 
gestorben,  und   der  Herausgeber  durfte  um   so  mehr  das  Motto  des- 


^)  De  Backer,  Bibliotheque  des  ecnvains  de  la  compagnie  de  Jesus  V,  690. 
*)  Joh.  Nie.  Frobesius,  Historica  et  dogmatica  ad  mathesin  introductio  (Helm- 
städt  1750)  pag.  G7. 


Geschichte  der  Mathematik.     Classikerausgaben.  G53 

selben  auf  dem  Titeblatte  erscheiueu  lassen.  Die  einzelnen  Theil- 
gebiete  der  Mathematik:  Arithmetik,  Geometrie,  Logistik,  Musik  u.  s.  w. 
werden  der  Reihe  nach  geschichtlich  behandelt  und  überall  die  haupt- 
sächlichen Schriftsteller  ihrer  Zeitfolge  nach  genannt.  Das  ziemlich 
genaue  Register,  ist  leider  nach  den  Vornamen  geordnet,  was  das 
Nachschlagen  wesentlich  erschwert.  Es  ist  nicht  zu  leugnen,  dass 
Vossius  aus  Schriftstellern  schöpfte,  die  nicht  eigentlich  Fachmänner 
waren,  dass  er  sogar  die  Mathematiker  selbst  zu  lesen  vermöge 
seiner  Vorbildung  kaum  im  Stande  war,  dass  er  auch  seine  unmittel- 
baren Gewährsmänner  nur  in  den  seltensten  Fällen  nennt.  Diese 
Bemängelungen  sind  richtig,  und  richtig  ist  auch,  dass  kein  unbe- 
dingtes Zutrauen  allen  bei  Vossius  gesammelten  Angaben  entgegen- 
gebracht werden  kann.  Immerhin  ist  der  502  enggedruckte  Quart- 
seiten starke  Band  das  erste  Werk,  das  man,  ohne  allzusehr  schön- 
färberisch zu  reden,   eine  Geschichte   der  Mathematik  zu  nennen  hat. 

Nach  diesem  Werke  ist  es  fast  ein  Unrecht,  eine  neun  Seiten 
lange,  wesentlich  aus  Petrus  Ramus  geschöpfte  Einleitung  besonders 
zu  nennen,  welche  Andreas  Tacquet^)  untel-  der  Ueberschrift  Histo- 
r'ica  nar ratio  de  ortu  et  progressu  matheseos  seinen  erstmalig  1G54, 
später  häufiger  gedruckten  Elementa  geometriae  planae  ac  solidae 
quibus  accedunt  selecta  ex  Archimede  theoremata  vorausschickte. 
Tacquet,  von  dem  wiederholt  die  Rede  sein  wird,  ist  1612  in  Ant- 
werpen geboren,  16G0  ebenda  gestorben.  Er  war  Jesuit  und  15  Jahre 
lang  Lehrer  der  Mathematik  an  den  Ordenscollegien  zu  Löwen  und 
Antwerpen. 

Wie  wir  im  vorigen  Abschnitte  als  den  geschichtlichen  Forschungen 
nahe  verwandt  Ausgaben  alter  Schriftsteller  und  Versuche 
deren  verloren  gegangene  Schriften  wiederherzustellen  be- 
zeichnet haben,  so  wollen  wir  auch  gegenwärtig  verfahren. 

Als  erste  auf  diesem  Gebiete  nennenswerthe  Persönlichkeit  be- 
gegnet uns  Marino  Ghetaldi-j.  Er  ist  15GG  in  Ragusa  geboren, 
1G27  ebenda  gestorben.  Auf  wissenschaftlichen  Reisen  trat  er  be- 
deutenden Gelehrten,  wie  Clavius  in  Rom,  Vieta  in  Paris  nahe 
(S.  640).  Von  Vieta's  Apollonius  Gallus  nahm  Ghetaldi  die  Anregung 
zu  zwei  Veröffentlichungen,  welche  beide  dem  Jahre  1G07  angehören. 
In  dem  Apollonius  redivivus  seu  restitida  Äpollonii  pergae  de  inclina- 
nationibus  Geometria  wurde,  wie  der  Titel  es  ausspricht,  eine  Wieder- 


^)  De  Backer,  1.  c.  II,  615.  *)  E.  Gelcich,  Eine  Studie  über  die  Ent- 
deckung der  analytischen  Geometrie  mit  Berücksichtigung  eines  Werkes  des 
Marino  Ghetaldi,  Patricier  von  Kagusa  aus  dem  Jahre  1630,  Zeitschr.  Math 
Phj'S.  XXVII,  Supplementheft  S.  191—232.     Yergl.  zunächst  besonders   S.  195. 


654  TO.  Kapitel. 

Herstellung  der  verlorenen  Schrift  tcsqI  vsvöecdv  versucht.  In  dem 
Supplementum  Apollonii  Galli  wurden  sechs  Berührungsaufgaben  be- 
handelt, bei  welchen  Vieta  sich  nicht  aufgehalten  hatte.  „So  wird", 
sagt  Ghetaldi  in  der  Vorrede,  „der  Apollonius  Galliens  nicht  ohne 
den  Illyriens  den  pergäischen  erwecken,  der  durch  die  Schädigung 
der  Zeit  vernichtet  oder  von   der  Rohheit  unterdrückt  dalag." 

Auch  das  folgende  Jahr  160H  war  Zeuge  einer  durch  Willebrord 
Snellius^)  versuchten  Wiederherstellung  einer  apollonischen  Schrift. 
Der  Vater  Rudolf  Snellius,  geboren  1546  in  Oudewater,  besuchte 
bereits  im  15.  Lebensjahre  die  auswärtigen  hohen  Schulen :  Jena, 
Wittenberg,  Heidelberg,  Marburg,  später  Pisa  und  Florenz,  dann 
wieder  Marburg  waren  seine  Aufenthaltsorte.  Nach  16jähriger  Wan- 
derung kehrt  er  1577  in  die  Heimath  zurück  und  liess  sich  zunächst 
in  Oudewater,  dann  aber  1578  in  Leiden  nieder,  wo  er  in  einem 
Einwohnerverzeichnisse  von  1581  als  Professor  der  Mathematik  be- 
zeichnet ist,  und  wo  neben  ihm  und  seiner  Frau  beider  Söhnchen 
Willebrord  genannt  ist.  Rudolf  Snellius  starb  1613  in  Leiden. 
L'gend  hervorragende  Leistungen  desselben  sind  nicht  aufgezeichnet. 
Ganz  anders  verhält  es  sich  mit  dem  Sohne  Willebrord  Snellius 
van  Roijen.  Er  muss,  wie  bemerkt,  1581  gelebt  haben,  und  nimmt 
man  ausserdem  als  zuverlässig  an,  was  er  von  sich  selbst  gesagt  hat, 
er  sei  im  Jahre  1600  eben  19  Jahre  alt  geworden,  als  er  öffentliche 
Vorlesungen  über  den  ptolemäischen  Almagest  hielt,  so  muss  1581 
das  Geburtsjahr  gewesen  sein.  Bereits  1500  steht  der  Name  des 
damals  demnach  9jährigen  Knaben  in  dem  Matrikelbuche  der  Leidner 
Universität,  was  auf  dessen  frühe  Reife  gedeutet  werden  mag,  wenn 
auch  bei  Professorensöhnen  der  für  sie  kostenfreie  Eintrag  aus  an- 
deren Zweckmässigkeitsgründen  viel  früher  zu  erfolgen  pflegte,  als  an 
einen  eigentlichen  Universitätsbesuch  zu  denken  ist.  Von  1600  etwa 
bis  gegen  1613  war  Willebrord  Snellius,  dem  väterlichen  Beispiele 
folgend,  auf  Reisen.  In  Würzburg  lernte  er  Adriaen  van  Roomen, 
in  Prag  Tycho  Brahe  und  Kepler  kenneu.  Beim  .Tode  des  Vaters, 
für  den  er  schon  während  dessen  letzter  Krankheit  Vorlesungen  ab- 
gehalten hatte,  wurde  er  1613  zum  Professor  der  Mathematik  ernannt 
und  blieb  in  dieser  Stellung  bis  zu  seinem  1626  erfolgenden  Tode. 
Seine  erste  wissenschaftliche  Veröffentlichung,  welche  uns  die  Ver- 
anlassung giebt,  ihn  an  dieser  Stelle  zu  nennen,  ist  sein  Apollonius 
Batavus^)  von  1608,  die  Wiederherstellung  der  apollonischen  Schrift 
7C£qI  8LGiQL6[isvrig  To^iig,    über  den   bestimmten    Schnitt.      Allerdings, 

^)  P.  van  Geer,  Notice  sur  la  vie  et  les  travaux  de  Willebrord  Snellius 
{ArcMves  Neerlandaises  Bd.  18  vom  December  1883)  und  Rud.  Wolf,  Astrono- 
mische Mittheilnngen  Nr.  LXXII.         -)  Kästner  IIT,  187. 


Geschichte   der  Mathematik.     Classikerausgabeii.  655 

hat  Snellius,  wie  ein  späterei-  Wiederhersteller,  Robert  Simson, 
rügte,  sich  von  der  Art  der  Griechen  weit  entfernt  und  überdies  nur 
vier  Aufgaben  besprochen,  während  ApoUonius  deren  neun  behandelte. 

Auf  Ghetaldi's  vorher  genannte  Wiederherstellung  der  Berührungen 
kam  Alexander  Anderson  1612  mit  seinem  Supplementum  Äpol- 
lonii  redivki  zurück^).  Es  ist  das  derselbe  in  Schottland  geborene, 
aber  in  Paris  lehrende  Mathematiker,  der  um  die  Herausgabe  Vieta- 
scher  Schriften  sich  verdient  gemacht  hat. 

In  Blancanus  lernten  wir  (S.  051)  einen  traurigen  Geschichts- 
schreiber kennen.  Das  Machwerk,  welches  wir  zu  schildern  hatten, 
ist  1615  als  Anhang  zu  einem  Werke  erschienen,  welches  eine  be- 
deutend günstigere  Beurtheilung  verdient:  Anstoielis  loca  matliematica 
ex  universis  ipsius  Operihus  colleda  et  explicata.  Der  Titel  giebt 
über  den  Inhalt  genügende  Auskunft.  Es  ist  eine,  wenn  auch  nicht 
ganz  vollständige,  doch  sehr  reichhaltige  Sammlung  der  bei  Aristoteles 
vorkommenden,  auf  Mathematik  im  weitesten  Sinne  des  Wortes  bezüg- 
lichen Stellen,  jeweils  mit  Erläuterungen  versehen,  die  auch  heute  noch, 
ebenso  wie  die  Zusammenstellung  selbst,  des  Nutzens  nicht  entbehren. 

Im  höchsten  Grade  verdienstlich  war  der  1621  in  Paris  heraus- 
gegebene und  mit  Anmerkungen  versehene  Abdruck  des  griechischen 
Textes  des  Diophant,  welchen  Claude  Gaspard  Bachet  de 
Meziriac^)  einer  pariser  Handschrift  entnahm,  die  er  mit  zwei  anderen 
und  mit  Xylander's  Uebersetzung  verglich.  Bei  dem  schlechten  Zu- 
stande der  sämmtlichen  gebrauchten  Handschriften  war  die  Arbeit  des 
Herausgebers  eine  unsäglich  mühevolle.  Sie  war  überdies  durch  den 
Umstand  erschwert,  dass  Bachet  während  der  Arbeit  in  einem  lang- 
wierigen Fieberzustande  sich  befand,  dessen  melancholische  Ein- 
wirkung er  durch  um  so  angestrengtere  Thätigkeit  zu  bekämpfen 
suchte.  Bachet  (1587 — 1638)  war  neben  seiner  mathematischen 
Thätigkeit  auch  in  den  schönen  Wissenschaften  heimisch  und  seit 
1635  Mitglied  der  französischen  Akademie^). 

Claude  Hardy"^)  (f  1678)  war  gleich  Bachet  nicht  ausschliess- 
lich Mathematiker.  Er  war  richterlicher  Beamter  am  Chatelet  zu 
Paris,  und  ausserdem  rühmt  man  ihm  nach,  er  habe  die  Kenntniss 
von  36  verschiedenen  orientalischen  Dialecten  besessen.  Er  war  mit 
Mydorge  und  Descartes,  welche  beide  uns  im  71.  Kapitel  zuerst 
wiederbegegnen  werden,  befreundet.  Hardy  hat  um  1625  die  erste 
griechische  Ausgabe  der  euklidischen  Data  mit  lateinischer  Ueber- 
setzung und  Erläuterungen  besorgt^). 

1)  Kästner  III,  186.  ^)  Ebenda  III,  152—162.  —  Nesselmann,  Die 

Algebra    der  Griechen  S.  281—282.  ")  Nouvelle   Biographie   tmiverselle  III, 

62-63.         ')  Ebenda  XXÜI,  370—371.         ^j  Kästner  III,  182. 


G5G  70.  Kapitel. 

Mancherlei  Schriften  griechischer  Geometer  hat  Pierre  Heri- 
gone^)  in  einem  Sammelwerke  herausgegeben,  welches  zuerst  1634, 
dann  1644  sowohl  in  französischer  als  in  lateinischer  Sprache  ^ge- 
druckt ist.  Coiirs  mat]iemati([ue  ist  der  Titel  des  im  Ganzen  sechs- 
bändigen Werkes,  von  welchem  aber  nur  der  erste  Band  jene  alten 
Schriften  enthält:  die  Elemente  und  Daten  Euklid's  und  solche  Wieder- 
herstellungen von  Abhandlungen  des  Apollonius,  welche  Vieta, 
Snellius,  Ghetaldi  geliefert  hatten.  Als  eigene  Zuthat  Herigone's 
ist  eine  Zeichensprache  hervorzuheben,  deren  er  sich,  wenn  auch  nicht 
ausnahmslos,  bediente,  und  welche  als  Vorläuferin  allgemeinerer  später 
durch  Leibniz  veranstalteter  Versuche  betrachtet  worden  ist-).  Als 
Gleichheitszeichen  benutzt  er  2  2.  Ist  dagegen  eine  3  durch  einen 
Verticalstrich  von  einer  2  getrennt,  so  ist  dadurch  Ungleichheit 
angezeigt,  und  zwar  steht  das  Grössere  auf  Seiten  der  3.  Ist  also 
eine  Strecke  a  grösser  als  eine  solche  &,  so  kann  man  entweder  durch 
a  3  2  &  oder  nach  Belieben  auch  durch  &  2 1 3  a  dieses  zur  Anschauung 
bringen.  Ein  Verhältniss  wird  durch  %  als  Anfangsbuchstabe  von 
Proportion  bezeichnet.  Mithin  hat  4;r6  2  2  IOtiIö  bei  Herigone  die 
Bedeutung:  4  verhalte  sich  zu  6  wie  10  zu  15. 

Die  euklidischen  Porismen  fanden  einen  Wiederhersteller  in 
Albert  Girard^).  Von  seinen  Lebensumständen  ist  nur  Weniges 
bekannt.  Die  durch  ihn  besorgte  Gesammtausgabe  der  Werke  von 
Simon  Stevin  erschien  1634,  und  in  dem  Widmungsbriefe  beklagt 
Girard's  Wittwe  nebst  11  Kindern  den  nun  ein  Jahr  alten  Verlust 
des  Gatten  und  Vaters,  der  nichts  hinterlassen  habe  als  einen  guten 
Namen.  Damit  ist  eine  Tagebuchbemerkung  von  Constantin  Huygeus 
in  Uebereinstimmung,  welche  den  9.  December  1632  als  Girard's 
Todestag  nennt^).  Aus  einigen  Anmerkungen  der  Stevin  -  Ausgabe 
geht  ferner  hervor,  dass  Girard  in  den  Niederlanden  fremd  war  und 
in  gehässiger  Weise  eines  gewissen  Cardinais,  offenbar  des  Cardinais 
von  Richelieu,  gedenkt.  Nimmt  man  hinzu,  dass  Girard  ausschliess- 
lich französisch  geschrieben  hat,  so  gewinnt  die  Muthmassung  au 
Wahrscheinlichkeit,  er  sei  französischer  Protestant  gewesen  und  seines 
Glaubens  wegen  nach  den  Niederlanden  ausgewandert.  Die  Wahr- 
scheinlichkeit wird  vollends   zur   Gewissheit  durch   den  Ortsbeinamen 


*)  Kästner  III,  46 — 50.         *j  La   logique  mathematique  avant  Leibniz  par 
Gino  Loria  im  Bulletin  Barhoux  für  1894.  ^)  Terquem  in  den  NouveUes 

annales  de  mathematiques  XU,  195  (1853).  —  G.  A.  Vorstermann  van  Oijen 
im  Bulletino  Boncompmjni  III,  359—362  (1870).  —  Paul  Tannery  im  Bullet. 
Darhoux  2e  Serie  T.  VII  (1883).  —  H.  Dannreuther  in  den  Memoires  de  la  So- 
ciäe  des  lettres,  sciences  et  arts  de  Bar-le-Duc,  3e  Serie  T.  III  (1896).  *)  Korte- 
weg  im  Intennediaire  des  matliematiciens  II,  193  (Paris  1895). 


Geschichte  der  Mathematik.     Classikeraus<?aben.  G57 

Samielois,  welchen  Girard  führte,  und  für  welchen  die  UebersetzAing 
aus  Saint-Mihiel  (in  Lothringen)  als  richtig  nachgewiesen  worden  ist. 
In  den  Kirchenbüchern  von  Saint-Mihiel  findet  sich  kein  Albert 
Girard,  dagegen  ein  am  11.  October  1595  geborener  Humbert  Girard. 
Die  Möglichkeit,  dass  Girard  später  seinen  Vornamen  geändert  haben 
sollte,  erscheint  sehr  gering,  wenn  auch  in  den  Matrikelbüchern  der 
Universität  Leiden  ein  1G17  immatriculirter  22jähriger  Student  der 
Mathematik  Albertus  Gerardus  Metensis  (aus  Metz)  eingezeichnet  ist, 
der  folglich  1595  geboren  sein  muss.  Der  dort  genannte  Heimathsort 
Metz  würde  keine  Schwierigkeit  machen,  da  er  bedeuten  könnte. 
Albert  sei  von  einer  Metzer  Schule  zur  Universität  abgegangen.  In 
einem  Amsterdamer  Kircheubuche  endlich  hat  man  Albert  Girard's 
Heirath  unter  dem  17.  April  1614  eingetragen  gefunden.  Er  wäre 
also  damals  erst  19  Jahre  alt  gewesen,  noch  nicht  einmal  Student, 
und  wäre  mit  37  Jahren  gestorl)en.  Von  Girard  rührt  die  franzö- 
sische Uebersetzung  der  Stevin 'sehen  Werke  her,  von  ihm  die  Ueber- 
setzung  des  5.  und  6.  Buches  des  Diophant,  welche  im  Anschlüsse  au 
Stevin's  Bearbeitung  der  vier  ersten  Bücher  gedruckt  ist.  Girard  hat 
aber,  wiederholen  wir,  auch  eine  Wiederherstellung  der  euklidischen 
Porismen  versucht^).  Er  hai^  es  selbst  in  einem  1G26  gedruckten 
kleinen  Abrisse  der  Trigonometrie  gesagt,  wo  er  jene  Wiederherstellung 
als  schon  mehrere  Jahre  alt  bezeichnet,  er  hat  es  zum  zweiten  Male 
in  der  Statik  Stevin's  gesagt,  wo  er  sich  als  den  Neuerfinder  der  drei 
Bücher  euklidischer  Porismen  rühmt  und  die  Hofi'nung  au.sspricht,  sie, 
wie  er  bereits  1626  in  Aussicht  gestellt  habe,  veröffentlichen  zu 
können.  Allerdings  sind  diese  fast  mehr  als  kurzen  Andeutungen 
Alles,  was  wir  von  Girard's  Versuche  wissen. 

Viel  mehr  wissen  wir  auch  nicht  von  einem  andern  Wiederher- 
stellungsversuche des  gleichen  Werkes  etwa  um  die  gleiche  Zeit  durch 
Pierre  de  Fermat").  Dieser  geniale  Mann,  der  auf  den  verschie- 
densten Gebieten  der  Mathematik  neue  Bahnen  eröfi'nete,  hnd  den 
man  einen  der  bedeutendsten,  vielleicht  überhaupt  den  bedeutendsten 


^)    Chasles,    Les   trois    livres   de   Porismes   d'Euclide  (Paris  1860)  jjag.  3 
Note  1.  ^)    Chasles  1.  c.  pag.  .3 — 4.     Biograi>hisches  vergl.  bei   Libri  im 

Journal  des  savants  1839  pag.  539—561;  1841  pag.  267—279;  1845  pag.  682— 
694,  und  in  der  Revue  des  deux  mondes,  Api-il  bis  Juni  1845  (Nouvelle  Serie  X, 
679 — 707).  —  E.  Brassine,  Freds  des  Oeuvres  mathematicßies  de  Fermat  (Paris 
1853).  —  Hoefer  in  der  Nouv.  Biogr.  universelle  XVII,  438 — 451  mit  wesent- 
licher Abhängigkeit  von  Libri  und  Brassine.  —  C.  Henry,  BecJierches  sur 
hs  manuscrits  de  Pierre  de  Fermat  im  Bullet.  Boncompagni  T.  XII  und  XIII. 
—  Paul  Tanner y,  Sur  la  date  des  prineipales  decouvertes  de  Fermat  im  Bulletin 
Barhoux  2e  Serie  T.  VII  (1883)  und  Les  mamiscrits  de  Fermat  in  den  Annales 
de  la  Faculte  des  Lettres  de  Bordeaux. 

Cantou,  Geschichte  der  Mathem.    II.    2.  Aufl.  42 


658  "^0-  Kapitel. 

Mathematiker  zu  nennen  hat,  den  Frankreich  hervorbrachte,  verdient, 
dass  wir  sein  Leben  in  genaueren  Linien  schildern.  Er  ist  im  August 
1601  in  Beaumont  de  Lomagne  bei  Toulouse  geboren.  Dei*'  Vater 
war  möglicherweise  Lederhändler.  Der  Sohn  widmete  sich  der  Rechts- 
gelehrsamkeit und  wurde  am  14.  März  1631  Parlamentsrath  in  Tou- 
louse. Bald  darauf  verheirathete  er  sich.  Zwischen  diesem  Zeit- 
punkte und  1638  muss  er  geadelt  worden  sein.  Er  starb  den  12.  Ja- 
nuar 1665  in  Castres.  Wenig  mehr  als  ein  Jahr  vor  seinem  Tode 
wurde  (im  December  1663)  ein  geheimer  Bericht  über  ihn  an  den 
Minister  Colbert  erstattet.  Fermat,  heisst  es  darin,  ist  ein  Mann  von 
grosser  Gelehrsamkeit.  Er  hat  einen  allseitigen  wissenschaftlichen 
Verkehr,  ist  ziemlich  geldgierig,  kein  sehr  guter  Berichterstatter, 
confus,  gehört  auch  nicht  zu  den  Freunden  des  ersten  Präsidenten. 
Die  letzten  Worte  dürften  vielleicht  den  Schlüssel  zu  der  sicherlich 
übelwollenden  Schilderung  liefern,  wenn  auch  nicht  in  Abrede  gestellt 
werden  will,  dass  die  staunenswerthe  Erfindergabe  des  Mathematikers 
der  nüchternen  Tagesarbeit  des  Parlamentrathes  im  Wege  gestanden 
haben  mag,  und  dass  der  kühne  Flug  seines  Geistes  sich  nur  schwer 
die  Fesseln  eines  kein  Zwischenglied  übergehenden  Berichtes  in  Rechts- 
sachen anlegen  liess.  Die  von  ihm  wiederhergestellten  Porismen 
Euklid's  beabsichtigte  Fermat  mit  Erweiterungen  herauszugeben  ^), 
welche  darauf  zielten,  statt  des  Kreises  irgend  Kegelschnitte  und 
andere  Curven  mit  Geraden  in  Verbindung  zu  setzen.  Man  kennt 
von  dem  allen  nur  fünf  Sätze,  welche  Fermat  als  Porismen  bezeichnet 
hat.  Nach  der  Meinung  eines  vorzugsweise  sachkundigen  Beurtheilers^) 
zeigt  die  Forismatum  Enclidaeorum  reno- 
vata  doctrina  et  sub  forma  isagoges  recen- 
tioribus  Geometris  exhibita  —  so  sollte  die 
Schrift  heissen  —  dass  Fermat  die  ganze 
Tragweite  jenes  Euklidischen  Werkes  er- 
\^  fasst  hatte,  wenn  er  auch  über  die  Form 
der  Porismen  irriger  Meinung  gewesen 
sein  mag  und  ihren  Inhalt  zu  weit  fasste, 
indem  er  alle  Ortstheoreme  hinein  bezog, 
j,.    ^2^  Das  3.  Porisma  (Figur  127)  lässt  die  Sehne 

mn  parallel  zum  Durchmesser  ad  und  von 
m  und  n  nach  einem  beliebigen  Peripheriepunkte  h  die  Sehnen  mb,  nb 
ziehen,  welche  ad  in  v  und  o  schneiden.  Dann  stehen  die  Producte  ao-dv 


^)  Fermat,  Varia  opera  mathematica  pag.  119:  Imo  et  Euclidem  ipstim 
pi'omovebimus  et  porismata  in  coni  sectionibus  et  aliis  quihuscunque  curvis  mira- 
bilia  sane  et  hactenus  ignota  detegemus.  *)  Chasles,  Äpergu  liist.  G7  (deutsch 
64)  und  Derselbe,  Les  trois  Uvres  de  porismes  d'Eudide,  pag.  3 — 4. 


Geschiclite  der  Mathematik.     Classikerausgaben.  G59 

und  av-do  in  einem  constanten  Verhältnisse,  wo  auch  h  angenommen 
wird,  l^ezeichnet  man  das  constante  Verhältnis  als  das  zweier  Strecken 
af,  dg,  deren  Endpunkte  auf  ad  liegen,  so  ist  der  Satz  auch  als 
Gleichung  zwischen  zwei  Producten  von  je  drei  Strecken  aufzufassen, 
d.  h.  in  ihm  liegt  im  Grunde  der  Satz  von  der  Involution  der  sechs 
auf  einer  Geraden  liegenden  Punkte  a,  d,.  f,  g,  o,  v  eingeschlossen, 
deren  beide  letzten  veränderlich,  die  vier  ersten  feste  Punkte  sind. 
Auch  dem  Apollonius  hat  Fermat  ähnliche  Bemühungen  gewidmet. 
Er  stellte  dessen  zwei  Bücher  über  die  ebenen  Oerter  iTtCnedoi,  xonot 
wieder  her,  welche  im  Drucke  bekannt  sind.  Er  will,  nach  einem 
Briefe  an  Roberval,  wieder  eine  Persönlichkeit,  von  der  später  die 
Rede  sein  wird,  auch  bei  dieser  Untersuchung  Schönes  und  Bemer- 
kenswerthes  gefunden  haben,  doch  fehlt  darüber  jede  nähere  Andeu- 
tung ^).  Oder  sollte  Fermat  unter  jenen  Erfindungen  diejenigen 
verstanden  haben,  welche  er  in  einer  Abhandlung  De  contactihus 
sphaericis'^)  veröffentlichte?  Ihr  Inhalt  ist  die  räumliche  Aufgabe,  eine 
Kugel  zu  finden,  welche  vier  gegebene  Kugeln  berührt,  also  das 
Seitenstück  zu  der  Vieta'schen  Auflösung  der  Aufgabe,  einen  Kreis 
zu  finden,  der  drei  Kreise  berührt. 

Zu  den  Schriftstellern,  welche  griechischen  Mathematikern  ihr 
besonderes  Studium  widmeten,  gehörte  ferner  David  Riva  vi  It  de 
Flurance^)  (1571 — 1616),  Lehrer  der  Mathematik  am  Hofe  Lud- 
wig XIII.     Seine  commentirte  Archimedausgabe  ist  von  1615. 

Jean  Baptiste  Duhamel*)  gab  1643  in  seinen  Elementa  astro- 
nomica  eine  Bearbeitung  der  Bücher  des  Theodosius  über  die  Kugel. 

Ismael  Boulliau  lateinisch  BuUialdus,  (1605 — 1694),  gab 
1644  in  Paris,  wo  er  die  längste  Zeit  seines  Lebens  in  angesehener 
Stellung  verbrachte,  den  Theon  von  Smyrna  heraus,  wobei  er  dessen 
Musik  von  der  Arithmetik  trennte  und  damit  den  Grund  zu  einem 
Irrthume  legte,  der  erst  im  XIX.  Jahrhunderte  als  solcher  erkannt 
wurde  ^). 

Weiter  nennen  wir  Claude  Richard*^)  (1589—1664).  In 
Omans  in  Burgund  geboren,  trat  er  schon  1606  dem  Jesuitenorden 
bei,  lehrte  in  der  Folge  sieben  Jahre  lang  in  Lyon  Mathematik,  war 
1624  gerade  im  Begriif,  sich  in  Lissabon  als  Missionar  nach  China 
einzuschiffen,  als  Philipp  IV.  ihn  nach  Madrid  berief,  wo  er  noch 
40  Jahre  hindurch  Professor  der  Mathematik   war.     Von  Madrid  aus 


^)  Chasles,    AperQK,  hist.   65  (deutsch  61).  ^)  Fermat,   Varia  opera 

mathematica  pag.  74 — 88;  Oeuvres  de  Fermat  (Paris  1891)  I,  52 — 69.      ^)  Poggen- 
dorff  II,  256.  ")  Ebenda  I,  616.  *)  Th.  H.  Martin  in  seiner  Theonaus- 

gabe  von  1849,  besonders  S.  15 — 17.  —  Poggendorff  I,  258.     ®)  De  Backer, 
Bibliotheque  des  ecrivains  de  la  compagnie  de  Jesus  I,  627. 

42* 


660  70.  Kapitel. 

veranstaltete  er  folgende  Ausgaben:  Euclidis  elementorum  geometri- 
corum  libros  XIII,  Isidorum  et  Hyi3siclem  et  reeentiores  de.  coi-pori- 
bus  regularibiis  et  Prodi  propositioues  geometricas,  1645;  Apollouii 
Pergaei  Conicorum  libri  IV  cum  commeutariis,  1655.  Ob  er  auch 
einen  neuen  abermals  erläuterten  Abdruck  des  Rivault'scben  Arcliimed 
veranstaltete,  ist  mindestens  zweifelhaft. 

An  diese  Namen  schliesst  sich  Franciscus  van  Schooten 
der  Jüngere^).  Es  gab  zwei  Mathematiker  dieses  Namens,  Vater 
und  Sohn.  Beide  waren  Professoren  an  der  Universität  Leiden.  Der 
Vater  lebte  1581 — 1646,  der  Sohn  1615—1660.  Letzterer  veröffent- 
lichte 1657  ein  aus  fünf  Büchern  zusammengesetztes  Werk  Exerci- 
tationes  matliematicae  und  dessen  drittes  Buch  ist  eine  Wiederherstel- 
lung der  ebenen  Oerter  des  Apollonius. 

Aus  Italien  haben  wir  von  einer  Wiederherstellung  und  von 
einer  Neuentdeckimg  zu  berichten^).  Vincenzo  Viviani  (1622 — 
1703),  der  letzte  Schüler  Galilei's,  wie  er  sich  selbst  mit  pietätsvollem 
Stolze  genannt  hat,  fällt  zwar  mit  fast  der  Hälfte  seiner  Lebenszeit 
und  mit  den  meisten  seiner  Veröffentlichungen  jenseits  des  Zeitrau- 
mes, den  wir  in  diesem  Bande  noch  behandeln,  aber  mit  einer  Jugend- 
arbeit desselben  haben  wir  uns  zu  beschäftigen,  mit  der  1659  ge- 
druckten Schrift:  De  maximis  et  minimis  geometrica  divinatio  in 
quintum  lihrum  Apollonü  Pergaei  adhuc  desideratum.  Es  ist  eine  der 
sehr  wenigen  Wiederherstellungen,  von  deren  Werthe  man  nachträg- 
lich durch  Wiederauffindung  des  wahren  Wortlautes  sich  überzeugen 
konnte.  Ein  Mönch  G  o  1  i  u  s  hatte  nämlich  um  1625  die  arabische 
Uebersetzung  der  sieben  ersten  Bücher  der  Kegelschnitte  des  Apol- 
lonius aus  dem  Morgenlande  mitgebracht  und  dem  Grossherzoge  von 
Toscana  verkauft.  In  einer  Bibliothek  in  Florenz  lag  der  literarische 
Schatz  halb  verborgen,  wenn  auch  Pater  Mersenne  (1588 — 1648), 
ein  französischer  Minorit,  welcher  mit  nahezu  allen  hervorragenden 
Persönlichkeiten  seiner  Zeit  in  regem  Briefwechsel  stand  und  dadurch 
eine  Mittelperson  für  die  üppig  hervorschiessenden  Entdeckungen 
aller  Art  bildete,  1644  Kenntniss  von  demselben  hatte.  Auch  zu 
Viviani  war  die  Kimde  gedrungen,  und  ferner  darf  man  nicht  ver- 
gessen, dass  die  Wiederherstellung  der  Kegelschnitte  des  Apollonius 
durch  Maurolycus  (S.  558)  jetzt  1654  im  Drucke  herauskam.  Es 
ist  begreiflich,  dass  Viviani  unter  solchen  Umständen  sich  die  Selb- 
ständigkeit seines  Schaffens  zu  sichern  bestrebt  war,  und  dass  er 
vom   Erzherzog  Leopold,  Bruder   des  Grossherzogs  Ferdinand  II.  von 


^)  Allgem.   deutsche   Biographie  XXXII,  628—629.  -)   Balsam,   Des 

Apollonius   von   Perga   sieben  Bücher  über  Kegelschnitte   (Berlin  1861),  S.  3 — 4. 


Gescliiclite   der  Mathematik.     Classikerausgaben.  661 

Toscana,  sich  ausdrücklich  bescheinigen  liess,  dass  ihm  die  wieder- 
aufgefimdene  Handschrift  des  Apollonius  noch  nicht  bekannt  gewesen 
sei,  als  er  die  Diviuatio  verfasste.  Es  ist  aber  auch  ein  Zeichen  von 
kühner  Zuversicht  des  Verfassers,  dass  er  mit  der  Gewissheit,  von 
der  Auffassung  des  Maurolycus  abzuweichen,  mit  der  weiteren  Ge- 
wissheit, durch  die  bevorstehende  Veröffentlichung  des  wirklichen 
Apollonius  werde  über  unglückliche  Wiederherstellungsversuche  der 
Stab  gebrochen  werden,  zu  rechnen  hatte,  und  dass  er  gleichwohl 
zur  Veröffentlichung  von  1659  sich  entschloss.  Der  Herausgeber  von 
Maurolycus  war  Giacomo  Alfonso  Borelli  (1608 — 1679),  damals 
1654  Professor  der  Philosophie  und  Mathematik  in  Messina.  Im 
Jahre  1656  kam  er  als  Professor  an  die  Universität  Pisa  und  wurde 

1657  eines  der  Mitglieder  der  Accademia  dal  Cimento,  welche  im  Juni 
dieses  Jahres  in  Florenz  gegründet  wurde,  aber  nur  eine  zehnjährige 
Dauer  hatte.     In  der  Stellung   als  Akademiker    veröffentlichte  Borelli 

1658  seinen  Eucliäes  restihdüs,  welcher  wiederholt  aufgelegt  wurde 
und  von  der  dritten  Auflage  (Rom  1679)  an  um  einen  Auszug  aus 
den  vier  ersten  Büchern  der  Kegelschnitte  des  Apollonius  und  aus 
den  Schriften  Archimed's  vermehrt  erschien.  Die  Vorrede  des  Euclides 
restitutus  ist  durch  die  in  ihr  enthaltene  Besprechung  der  Lehre  von 
der  Parallelen  und  der  vom  Contingenzwinkel  nicht  uninteressant. 
Für  die  Lösung  der  Schwierigkeit  der  Parallelenlehre  beruft  sich 
Borelli  mit  Clavius  (S.  556j  auf  den  Satz,  dass  wenn  eine  Senkrechte 
von  unveränderlicher  Länge  und  gegen  die  gerade  Grundlinie  unver- 
änderter Neigung  längs  derselben  fortgeschoben  wird,  auch  der  obere 
Endpunkt  eine  Gerade  beschreibt^).  In  dem  gleichen  Jahre  1658 
"entdeckte  Borelli  in  der  Florentiner  Bibliothek  den  mehrerwähnten 
arabischen  Codex  und  erhielt  die  Erlaubniss,  ihn  nach  Rom  mitzu- 
nehmen, um  dort  einen  Uebersetzer  zu  suchen.  Er  fand  ihn  in  der 
Person  von  Abraham  von  Echelles,  Professor  der  orientalischen 
Sprachen,  der  aber,  wie  er  selbst  in  der  Vorrede  der  vollendeten 
Uebersetzung  erzählt,  die  grössten  Schwierigkeiten  dabei  zu  über- 
winden hatte,  welche  theils  in  dem  Fehlen  diakritischer  Punkte,  theils 
in  der  Dunkelheit  des  Inhaltes  begründet  waren.  Der  sachkundigen 
Beihilfe  Borelli's  sei  es  vielfach  gelungen,  einen  Sinn  zu  ermitteln, 
den  er  als  sprachkundig  erst  nachher  in  dem  arabischen  Wortlaute 
wiedererkannte.  Somit  ist  BoreUi  als  bei  Anfertigung  jener  1661 
gedruckten  Uebersetzung  vollberechtigter  Mitarbeiter  zu  betrachten. 
Für  Vi  vi  an  i   war   die  Veröff'entlichung   ein   wahrer  Triumph,   da  sie 


^)   Stäckel   und  Engel,    Die   Theorie  der  Parallellinien   von  Euklid    bis 
auf  Gauss,  S.  33. 


662  71.  Kapitel. 

zeigte,  wie  nahe  er  dem  Gedankengange  de.s  Apollonius  gekommen 
war.  Viviani  hatte  übrigens  schon  1645  eine  andere  Wiederherstel- 
lung unternommen,  die  der  fünf  Bücher  körperlicher  Oerter  des 
Aristäus  des  Aeltereu^).  Auch  sie  ist  im  Drucke  erschienen,  aber 
erst  im  Jahre  1701. 


71.  Kapitel. 
Geometrie. 

Wenn  wir  der  Gewohnheit  des  vorigen  Abschnittes  treu  bleibend 
an  die  Forscher  über  die  geschichtliche  Entwickelung  der  Mathematik 
die  Herausgeber  alter  Mathematiker  anreihten,  so  behalten  wir  nicht 
minder  den  einmal  eingeschlagenen  Gedankengang  bei,  indem  wir  die 
eigentlichen  Geometer  folgen  lassen. 

Wir  dürfen  hier  im  Vorübergehen  einer  Würfelverdoppelung 
gedenken,  welche,  ohne  als  vollständig  gelten  zu  wollen,  für  prak- 
tische Zwecke  durchaus  ausreicht.  Sie  ist  1604  von  Villalpandus 
in  einem  Commentare  zum  Propheten  Ezechiel  veröffentlicht  worden, 
rührt  aber  von  Christoph  Grienberger  her,  der,  ohne  genannt  zu 
sein,  mathematischer  Mitarbeiter  an  jenem  Commentare  war.  So  meldet 
wenigstens  Claude  Richard  in  seiner  Euklidausgabe,  und  als  Zeit- 
und  Ordensgenosse  des  Villalpandus  sowie  Grienberger's  ist  er  hierin 
durchaus  glaubwürdig^).  Grienberger  (1561 — 1636)  aus  Tyrol  ist 
auch  in  der  Geschichte  der  Kartogi'aphie  rühmend  zu  nennen^). 

Genauer  verweilen  werden  wir  bei  einem  Manne,  der  freilich  auf- 
anderen Gebieten  viel  Hervorragenderes  geleistet  hat:  Johannes  Kep- 
ler^), geboren  1571  in  Weil  der  Stadt  in  Württemberg,  gestorben 
1630  in  Regensburg.  Graz,  Prag,  Linz  sind  die  Orte  gewesen,  wo 
seine  der  Mathematik  angehörenden  Schriften  verfasst  wurden.  In 
Graz  ist  die  Erstliugsschrift  Mysterium  cosmographicum  (1596)  ent- 
standen, und  ihr  gehört  eine  erste  hier  zu  erwähnende  Stelle  an^), 
in  welcher  ein  Sternvierzigeck  gezeichnet  ist.  Wir  haben  wiederholt 
von  Sternvielecken  zu  reden  gehabt,  aber  ein  solches  mit  so  viel 
Ecken  ist  uns  noch  nirgend  begegnet.  Darin  läge  an  sich  indessen 
kein  neuer  Gedanke,  höchstens  wäre  die  Kühnheit  des  Zeichners  an- 


1)  Montucla  11,  93.  ^)  Ambr.  Sturm,  Das   Delische  Problem,   S.  122 

—124.  »)  S.  Günther,   Zeitschr.  f.  math.  u.  natunv.  Untemcht  XXIII,  523 

(1892).  *)   Allgemeine    deutsche    Biographie  XV,    603—624.     Artikel    von 

Günther.  ^)  Günther,    Vermischte    Untersuchungen    zur  Geschichte    der 

mathematischen  Wissenschaften,  S.  25 — 39. 


Geometrie.  663 

zuerkennen;  neu  dem  Gedanken  nach  ist  es  dagegen,  dass  Kepler  die 
Eckpunkte  dieses  Vielecks  nicht  so  zählte,  wie  sie  auf  einer  um- 
schi-iebenen  Kreislinie  nebeneinander  auftraten,  sondern  in  der  Reihen- 
folge, in  welcher  sie  auf  den  einander  durchkreuzenden  Seiten  er- 
reicht werden,  denn  damit  war  das  Wesen  des  Sternvielecks  richtig 
erkannt.  Das  erwähnte  Vierzigeck  ist  ein  solches,  bei  welchem,  nachdem 
der  Umkreis  in  40  Theile  getheilt  war,  der  zweite  Punkt  zum  ersten  die 
Lage  einnimmt,  dass  zwölf  Zwischenpunkte  überschlagen  werden,  und 
ebenso  bei  den  folgenden  Punkten.  In  der  Harmonicc  mimdi  (1619) 
ist  Kepler  wiederholt  auf  Sternvielecke  aber  auch  auf  Sternvielflächner 
zurückgekommen.  Wir  haben  (S.  644)  der  in  jenem  Werke  enthal- 
tenen Vielecksgleichung  Bürgi's  gedenken  müssen,  aber  neu  sind 
in  jeder  Beziehung  Keplers  Sternvielflächner.  Wenn  auch 
Jamitzer  (S.  582)  Zeichnungen  von  Stern vielflächnern  geliefert  hat, 
so  entstammten  sie  seiner  künstlerischen  Phantasie,  Kepler  dagegen 
hat  sie,  und  zwar  solche,  die  bei  Jamitzer  nicht  vorkommen,  von 
mathematisch -astronomischem  Gedankengange  aus  entstehen  lassen. 
Im  Jahre  1609  wurde  in  Frankfurt  eine  Schrift  Kepler's  unter  dem 
Titel  Ad  Vitellionem  Faralipomena  etc.  gedruckt,  Zusätze  zu  der  Optik 
des  Witelo.  In  ihr  ist  das  3.  Kapitel  durch  die  üeberschrift  als 
Fundamente  der  Katoptrik  bezeichnet.  Darin  kommt  die  Stelle^) 
vor:  Die  richtige  Ueberlegung  befiehlt  den  Kreis  aufzufinden,  welcher 
eben  die  Art  der  Krümmung  besitzt,  wie  der  Schnitt  in  ß,  dem 
Punkte  des  Zurückwerfens.  (Solche  gemischte  Linien  besitzen  näm- 
lich andere  und  immer  wieder  andere  Krümmungen.)  Damit  hat 
Kepler  den  Begriff  des  Krümmungskreises  in  die  Geometrie  ein- 
geführt, wenn  es  auch  noch  geraume  Zeit  dauerte,  bis  derselbe  sich 
förmlich  einbürgerte.  Ferner  ist  das  4.  Kapitel  der  Brechung  des 
Lichtes  gewidmet.  Der  Gegenstand  ist  in  verschiedenen  Paragraphen 
behandelt,  deren  vierter  die  Üeberschrift  De  coni  sectionibiis'^),  von 
den  Kegelschnitten,  führt.  Er  enthält  eine  Benennung  und  zwei 
wichtige  Gedanken,  welche  wir  hervorzuheben  haben.  Die  Benennung 
ist  die  der  Brennpunkte  als  solcher,  d.  h.  das  Wort  focus^).  Bei 
der  Hyperbel  und  Ellipse  gebe  es  zwei  Brennpunkte,  von  welchen 
aus  gerade  Linien  an  einen  beliebigen  Curvenpunkt  gezogen  mit  der 
Berührungslinie  an  die  Curve  in  eben  jenem  Punkte  gleiche  Winkel 
bilden.     Bei   der   Parabel  liege   der    eine    Brennpunkt    innerhalb    der 

^)  02)era  Kepleri  (ed.  Frisch)  11,  175:  At  verior  ratio  jubet  invenire  cir- 
culum  qui  contineat  rationem  curvitaiis  quam  habet  Sectio  in  ß  puncto  repercussus 
(habent  autem  aliam  atque  aliam  hujusmodi  mistae  lineae).  ^)  Ebenda  II,  185 

—  188.  ^)  Nos  lucis  causa  et  oculis  in  mechanicam  intentis  ea  puncta  focos 

apellabimus. 


664  71.  Kapitel. 

Curve,  der  andere  sei  ein  blinder  d.  h.  unsichtbarer  BrennpuDkt,  focus 
caeciis.  Er  befinde  sich  sei  es  ausserhalb,  sei  es  innerhalb  der  Curve, 
wie  man  sich  vorstellen  müsse,  unendlich  weit  von  dem  ersten  ent- 
fernt auf  der  Axe,  so  dass  die  nach  ihm  hin  gezogenen  Geraden  der 
Axe  parallel  seien  ^).  Hierin  liegt  der  eine  Gedanke,  den  wir  meinen. 
Das  Vorhandensein  unendlich  ferner  Gebilde  war  durch  Kepler 
in  die  Geometrie  eingeführt,  wenn  wir  auch  darüber  zweifelhaft  sein 
mögen,  ob  er  sich  der  Tragweite  dieser  Neuerung  bewusst  war,  und 
ob  der  Ausspruch,  jener  unsichtbare  Brennpunkt  könne  ausserhalb 
oder  innerhalb  der  Parabel  liegen,  wirklich  dahin  zu  verstehen  ist, 
dass  die  beiden  unendlich  fernen  Endpunkte  der  der  Axe  parallelen 
Geraden  zusammenfallen.  Deutlich  war  dagegen  für  Kepler  ein  zweiter 
Gedanke  vorhanden:  der  der  Schlussfolgerung  von  Eigenschaften  eines 
Raumgebildes  auf  solche  eines  anderen.  Die  Analogie,  sagt  er, 
muss  uns  geometrisch  leiten;  denn  über  Alles  liebe  ich  Analogien, 
meine  getreusten  Lehrmeister,  welchen  alle  Geheimnisse  der  Natur 
bekannt  sind^). 

Diesen  geometrischen  Erfindungen  in  astronomischen  Schriften 
stellen  wir  eine  eigentlich  geometrische  Schrift  gegenüber.  Henry 
Savile^)  (1549—1622)  hielt  am  Merton-College  in  Oxford,  dessen 
Vorsteher  er  war,  Vorlesungen  über  griechische  Geometrie,  welche 
1621  im  Drucke  erschienen.  Er  stiftete  überdies  zwei  Professuren, 
welche  dazu  dienen  sollten,  Oxfords  Rang  in  Beziehung  auf  mathe- 
matische Wissenschaften  zu  erhöhen,  welche  seither  weit  mehr  in 
Cambridge  gepflegt  worden  waren.  Trotz  der  Savile'schen  Professuren 
blieb  indessen  das  Uebergewicht  Cambridges  erhalten.  Savile  selbst 
kam  in  seinen  Vorlesungen,  welche  streng  den  Gang  von  Euklid's 
Elementen  einhielten,  nicht  über  den  8.  Satz  des  I.  Buches  der  Ele- 
mente hinaus,  und  die  gedruckten  Vorlesungen  entsprechen  vollständig 
den  wirklich  gehaltenen.  Er  waren  volle  13  Vorlesungen,  welche 
jenen  allerersten  Anfangsgründen  eingeräumt  waren,  ein  deutlicher 
Beweis  dafür,  dass  in  den  Vorlesungen  weit  mehr  Sprachliches,  Phi- 
losophisches, Geschichtliches  als  eigentliche  Geometrie  zur  Sprache 
kam.  Eine  Stelle  darf  vielleicht  hervorgehoben  werden,  an  welcher 
von  zwei  Flecken  an  dem  schönen  Leibe  der  Geometrie  die  Rede  ist. 


')  In  parabole  imiis  D  est  intra  sectionem,  alter  vel  extra  vel  intra  sec- 
tionem  in  axe  fingendus  est  infinito  intervallo  a  priore  remotus,  adeo  ut  ediicta 
HG  vel  IG  ex  illo  caeco  foco  in  quodcunque  punctum  sectionis  G  sit  axi  IJK 
parallelos.  *)  Oportet  enim  nohis  servire  voces  geometrieas  analogiae:  plurimum 
namque  amo  analogias  fidelissimos  meos  magistros,  omnium  naturae  arcanorum 
conscios.  3)  Kästner  I,  249  und  III,  19—26.  —  Poggendorff  II,  762.  — 

Ball,  Uistory  of  mathematics  at  Cambridge^  pag.  29. 


Geometrie. 


6(35 


Das    erste    und    dritte, 


auf  deren  Vertilguug  alte  und  neue  Mathematiker  Mühe  verwandten  ^). 
Savile  meint  die  Lehre  von  den  Parallellinien  und  von  den  Pro- 
portionen. 

Albert  G  i  r  a  r  d  ist  unter  den  geometrischen  Schriftstellern 
wegen  einer  Veröffentlichung  von  1626  zu  nennen^).  In  der  Ein- 
leitung zu  einer  für  den  Halbmesser  10000  berechneten  Tafel  trigo 
nometrischer  Functionen  sind  die  Fälle  auseinandergesetzt,  welche  man 
zu  unterscheiden  habe,  wenn  aus  Bestimmungsstücken  einer  gerad- 
linigen Figur  die  noch  fehlenden  Stücke  ermittelt  werden  sollen. 
Dabei  geht  nämlich  Girard  über  das  Dreieck  weit  hinaus  und  sieht 
sich  so  veranlasst,  von  Gattungen  geradliniger  ebener  Vielecke 
zu  reden.  Vierecke  giebt  es  bereits  dreierlei,  la  simple,  la  croisee  et 
Vautre  ayant  Vangle  renverse'e  (Figur  128). 
d.  h.  das  überall  couvexe 
Viereck  und  das  mit  einem 
einspringenden  Winkel,  sind 
auch  früheren  Mathemati 
kern  bekannt  gewesen,  aber 
das  zweite  überschlagene 
Viereck,  eine  Figur,  welche 
den      Sternvielecken      darin 

ähnelt,  dass  einige  Seiten  einander  kreuzen,  darin  von  ihnen  sich 
unterscheidet,  dass  nicht  alle  Seiten  diese  Eigenschaft  besitzen,  ist 
durchaus  neu.  Girard's  Definition  geht  übrigens  nicht  von  den 
Seiten,  sondern  von  den  Diagonalen  des  Vierecks  aus,  unter  welchen 
die  Verbindungsgeraden  eines  Eckpunktes  mit  demjenigen  anderen 
Eckpunkte  des  Vierecks  verstanden  werden,  nach  welchem  keine 
Vierecksseite  führt.  Bei  dem  einfachen  Vierecke  fallen  beide  Diago- 
nalen in  das  Innere  der  Figur,  bei  dem  überschlagenen  beide  ausser- 
halb, bei  dem  mit  einspringenden  Winkel  fällt  eine  Diagonale  in 
das  Innere  der  Figur,  eine  ausserhalb.  Girard  geht  weiter  zu  den 
Fünf-  und  Sechsecken,  fügt  aber  hier  dem  aus  der  Lage  der  Diago- 
nale herstammenden  Eintheilungsgrunde  einen  zweiten  hinzu,  der  von 
der  Anzahl  der  Flächentheile  herstammt,  in  welche  die  ohne  Diago- 
nalen gezeichnete  Figur  zerfällt.  So  gebe  es  11  Fünfecksformen: 
4  mit  einer  Fläche,  4  mit  zwei  Flächen  und  je  1  mit  drei,  vier, 
sechs  Flächen.    Unsere  Figur  129  (folg.  Seite)  stellt  die  vier  einflächigen 


Fig.  128. 


^)  Praelectiones  tresdecim  in  principium  elementorum  Eudidis  (Oxford  1621), 
j)ag.  140.  Wir  entnehmen  diese  Bemerkung  Stäckel  und  Engel,  Die  Theorie 
der  Parallellinien  von  Euklid  bis  auf  Gauss,   S.  18.  ^)  Kästner  III,  108. — 

Günther,  Vemiisclite  Untersuchungen  zur  Geschichte  der  mathematischen  Wis- 
senschaften, S.  18 — 21. 


666 


71.  Kapitel. 


Fünfecke  mit  0,  1,  2,  3  äusseren  Diagonalen  dar\);  die  mehrflächigen 
Formen  sind  leicht  zu  zeichnen.    Beim  Sechseck  will  Girard  69  Formen 


Fig.  129. 


unterschieden  wissen:  7  einflächige,  19  zweiflächige,  12  dreiflächige, 
17  vierflächige,  4  fünfflächige,  6  sechsflächige,  3  siebenflächige,  1  acht- 
flächige, wobei  angenommen  ist,  es  gebe  in  der  Figur  keinen  Punkt, 
der  mehr  als  zwei  Seiten  gemeinschaftlich  wäre.  Wie  hier  die  Formen 
gleicher  Flächenzahl  unterschieden  werden  sollen,  ist  nicht  ermittelt. 

Johann  Wilhelm  Lauremberg^)  (1590 — 1658)  von  Rostock, 
ein  Satyriker  in  mecklenburger  Mundart,  der  neben  der  Poesie  Mathe- 
matik trieb  und  dieselbe  an  der  Ritterakademie  zu  Sora  auf  Seeland 
lehrte,  schrieb  verschiedene  seinem  Unterrichte  zu  Grunde  zu  legende 
Lehrbücher,  auch  ein  solches  über  Gromatik,  also  Feldmesskunst. 
Der  Verfasser  ist  auf  dem  Gebiete  der  Dichtkunst  zu  gut  bekannt, 
als  dass  man  ihn  nicht  auch  in  dieser  Verirrung  schonend  nennen 
müsste. 

Daniel  Schwenter^)  (1585 — 1636)  von  Nürnberg  war  von  den 
orientalischen  Sprachen  ausgegangen,  deren  Vertreter  an  der  Altdorfer 
Hochschule  er  schon  1608  wurde.  Mathematische  Studien  trieb  er 
daneben  für  sich  allein  unter  Benutzung  der  selbst  minderwerthigen 
Werke  von  Wolfgang  Schmid  und  Augustin  Hirschvogel 
(S.  449).  Dann  wurde  Prätorius  ihm  Freund  und  Berather,  und 
endlich  wurde  ihm  1628  neben  der  Professur  der  orientalischen 
Sprachen  auch  diejenige  der  Mathematik  in  Altdorf  übertragen. 
Schwenter  selbst  erzählt  diesen  seinen  mathematischen  Bildungsgang 
in  der  Vorrede  zur  Geometria  practica  novo  et  aiicta,,  welche  erstmalig 
1618,   dann  mehrfach  wiederholt  im  Drucke  erschien^).     Schwenter's 


^)  Günther  1.  c.  S.  19  und  briefliche  Mittheilungen  von  A.  N.  Godefroy 
in  Amsterdam,  dem  es  gelang  die  Form  mit  drei  äusseren  Diagonalen  herzu- 
stellen, ä)  Kästner  m,  308—312.  —  Poggendorff  I,  1386.  —  Allgem. 
deutsche  Biographie  XVin,  58 — 59.  Artikel  von  Erich  Schmidt.  ^)  Kästner 
III,  299 — 302.  —  Günther,  Beiträge  zur  Erfindungsgeschichte  der  Kettenbrüche 
(Weissenburg  1872),  S.  7 — 11  und:  Die  mathematischen  und  Naturwissenschaften 
an  der  nürnbergischen  Universität  Altdorf  (Separatabdruok  aus  dem  III.  Hefte 
der  Mittheilungen  des  Vereins  für  Geschichte  der  Stadt  Nürnberg),  S.  25—27. 
'')  Unsere  Beschreibung  stützt  sich  auf  die  3.  Auflage'  von  1641. 


Geometrie.  (367 

praktische  Geometrie  erfreute  sich,  wie  aus  den  rasch  aufeinander 
folgenden  Auflagen  ersichtlich  ist,  einer  Beliebtheit,  welche  ein  Ein- 
gehen auf  ihren  Inhalt  empfehlen  müsste,  selbst  wenn  wir  nichts  von 
Bedeutung  ihr  zu  entnehmen  hätten.  Sie  zerfällt  in  vier  Tractate, 
deren  jeder  mit  besonderer  Pagination  versehen  ist.  Der  „Tractatus  I, 
darinnen  auss  rechtem  Fundament  gewiesen  wird;  wie  man  in  der 
Geometria  auff  dem  Papier  und  Lande,  mit  denen  darzu  gehörigen 
Instrumenten,  als  Zirckel,  Richtscheid,  Winckelhaken,  etc.  Ja  zur 
noth  ohne  dieselben  verfahren  und  practiciren  solle"  besteht  aus 
sieben  Büchern.  Schwenter  lehrt  darin  die  verschiedenartigsten  theils 
genaue,  theils  nur  angenäherte  Constructionen,  wie  sie  bei  Dürer, 
bei  Clavius  u.  s.  w.  sich  finden,  auch  einige  neue  Verfahrungs weisen, 
welche  er  für  sich  selbst  in  Anspruch  nimmt.  Da  nirgend  ein  Be- 
weis beigegeben  ist,  sondern  einfach  vorausgesetzt  wird,  der  Schüler 
werde  blindlings  nach  den  Vorschriften  des  Lehrers  sich  richten, 
ohne  die  Frage  nach  dem  Warum  aufzuwerfen,  so  hält  es  schwer, 
zu  entscheiden,  ob  Schwenter  seine  Zeichnungen  da,  wo  er  nicht  aus- 
drücklich von  blosser  Annäherung  redet,  für  genau  hielt.  Fast  möchte 
es  bei  einer  Neuntheilung  des  Kreises,  die  er  sein  Eigenthum  nennt  ^), 
einem  offenbar  bewussteu  Abweichen  von  der  Dürer'schen  Vorschrift 
(S.  462),  so  scheinen,  (Figur  130).  Das  Neuneck  soll  in  den  Kreis, 
der  mit  dem  Halbmesser  oa  um  den 
Mittelpunkt  o  beschrieben  ist,  einge- 
zeichnet werden.  Schwenter  lässt  nun 
zunächst  den  etwas  grösseren  concen- 
trischen  Kreis  mit  dem  Halbmesser  or 
beschreiben  und  in  diesen  die  drei  Fisch- 
blasen on,  op,  or.  Die  Gerade  or  theilt 
er  in  l  und  /  in  drei  gleiche  Stücke 
ol  =  li  =  ir  und  zieht  vlm  senkrecht 
zu  or  bis  zum  Durchschnitte  mit  der 
Fischblase.  Die  Verbindungsgeraden  ov, 
om  des  Mittelpunktes   mit   den  solcher-  Fig.  i3o. 

weise  bestimmten  Punkten  der  Fisch- 
blase schneiden  verlängert  den  gegebenen  Kreis  in  a  und  h,  alsdann 
sei  ah  die  gesuchte  Neunecksseite.  So  recht  will  Schwenter  seiner 
Erfindung  allerdings  nicht  trauen,  denn  er  fügt  hinzvi:  „Weil  aber 
die  Operation  sehr  misslich,  ists  am  besten,  du  theilest  einen  Circkel 
erstlich  in  drey  theil  auss,  und  jeden  theil  wider  Mechanisch  in  drey 
theil,    so    darffstu    dich    keines    Irrthums    befürchten."     Von    sprach- 


^)  Die  XXX  Auffgab  des  vierdten  Buchss  dess  ersten  Tractats   S.  205. 


668  71.  Kapitel. 

liclien  Eigentliümlichkeiten  mag  auffallen,  dass  Schwenter  eine  Senk- 
rechte bald  ivinckelrecht  bald  tvagreclit  nennt  ^),  und  dass  er  Hypo- 
thenusa^)  schreibt!  Das  Griechische  scheint  ihm  demnach  weniger 
geläufig  gewesen  zu  sein  als  die  orientalischen  Sprachen.  Von  einer 
Beschreibung  des  Proportionalzirkels  ^)  muss  an  späterer  Stelle  die 
Rede  sein.  Dem  „Tractatus  II  Ohne  einig  künstlich  Geometrisch 
Instrument,  allein  mit  der  Messrute  und  etlichen  Stäben  das  Land 
zu  messen",  welcher  in  fünf  Bücher  zerfällt,  hat  Schwenter  eine  Vor- 
rede an  den  Leser  vorausgeschickt,  in  welcher  er  in  eigenartiger 
Weise  erörtert,  wie  er  dazu  gekommen  sei,  diesen  Tractat  zu  ver- 
fassen. Vielfach  behaupte  man,  Thaies  habe  die  Geometrie  aus 
Aegypten  nach  Griechenland  gebracht.  Das  könne  ja  wahr  sein, 
schliesse  aber  nicht  aus,  dass  auch  anderwärts  Geometrie  geübt  wor- 
den sei,  und  insbesondere  zeigten  viele  Stellen  des  alten  Testamentes 
solche  Beschäftigungen  an.  Die  Heiden  seien  daher  nicht  die  Er- 
finder, sondern  Geometrie  sei  eine  uralte  Kunst.  Wo  aber  in  den 
hebräischen  Texten  von  Feldmessen  und  dergleichen  die  Rede  sei, 
werde  niemals  eine  andere  Vorrichtung  erwähnt  als  die  Messruthe, 
Messtange  oder  Messschnur.  Da  habe  er  sich  überlegt,  wie  weit  man 
unter  dieser  Beschränkung  kommen  könne,  und  er  habe  auch  nicht 
wenig  von  denjenigen  erfahren,  welche  „wie  man  alsbald  mit  Ruten 
das  Land  überschlagen  und  messen  soll"  schon  lange  lehrten.  Aller- 
dings sei  er  weit  über  diese  hinausgegangen,  und  das  sei  die  Ent- 
stehung des  vorliegenden  Tractates.  Er  unterscheidet  sich  von  dem 
ersten  vornehmlich  dadurch,  dass  in  diesem  zweiten  Theile  überall 
geometrische  Beweise  gegeben  oder  wenigstens  in  Erinnerung  gebracht 
werden.  Mit  dem  Unterschiede  dagegen,  dass  in  dem  I.  Tractate  der 
Zirkel  vielfach  benutzt  wird,  der  dem  II.  Tractate  seiner  Ueberschrift 
gemäss  fremd  sein  sollte,  ist  es  nicht  so  weit  her.  Auch  im  IL  Trac- 
tate werden  auf  dem  Felde  Kreisbögen  beschrieben,  nur  freilich  nicht 
mittels  eines  Zirkels,  sondern  mittels  einer  Kette,  welche  mit  je  einem 
Ringe  an  zwei  Stäben  hängt,  deren  einer  den  Mittelpunkt  bestimmt, 
während  der  andere  unter  Anspannung  der  Kette  den  herumbewegten 
Kreispunkt  vorstellt.  Zwei  Dinge  dürften  besondere  Erwähnung  ver- 
dienen. In  der  13.  Aufgabe  des  1.  Buches  des  II.  Tractates  kommen 
Längen  von  800,  900,  1500  Schritten  vor.  Zunächst  werden  in 
einem  ersten  Zusätze,  im  „ersten  Erinnerung"  mit  Schwenter  zu  reden, 
diese  Zahlen  in  850,  750,  1500  abgeändert;  eine  zweite  Erinnerung 
lehrt  kleinere  Zahlen  anwenden,   wie  etwa  85,  75,  150,  oder  17,  15, 


1)  S.  18  und  43  des  I.  Tractats.  ^)  S.  17  des  I.  Tractats.  ^)  S.  79  des 

I.  Tractats. 


Geometrie.  6G9 

30,  oder  8—,  7     ,  15,  damit  man  mit  einer  einzigen  Messkettenlänge 

beim  Abstecken  auskomme.  Die  dritte  Erinnerung  endlich  wirft  die 
Frage  auf  ^),  ob  man  auch  kleinere  Zahlen  anzuwenden  im  Stande  sei, 
wenn  theilerfremde  Messzahlen  wie  809,  704,  1301  von  vorn  herein 
vorliegen,  oder  wenn  bei  nur  zwei  Messungen  "die  Zahlen  233,  177 
auftreten?  Schwenter  bejaht  die  Frage  unter  Anwendung  von 
Kettenbrüchen,  so  dass  wir  auf  diese  Stelle  zurückzukommen  haben, 
wenn  wir  von  diesen  Formen  von  Zahlenverbindungen  reden.  Unsere 
zweite  Bemerkung  bezieht  sich  auf  die  5.  Aufgabe  des  3.  Buches,  in 
welcher  die  Dreiecksfläche  aus  den  drei  Seiten  des  Dreiecks  her- 
geleitet werden  soll.  Schwenter  sagt  hier  höchst  auffallenderweise  ^), 
die  Formel,  nach  welcher  gerechnet  werde,  und  welche  selbtsverständ- 
lich  die  Heronische  ist,  stamme  aus  der  Geometria  Jordani  und 
sei  erstmalig  von  Paciuolo  bewiesen  worden.  Letztere  Meinung  ist 
so  weit  richtig,  als  der  erste  gedruckte  Beweis  in  der  That  bei  Pa- 
ciuolo (S.  330)  zu  finden  ist;  wie  aber  die  Anführung  des  Jordanus 
zu  verstehen  sein  möchte,  ist  räthselhaft.  In  dessen  Büchern  iJe  irian- 
gulis  kommt  die  Heronische  Formel  jedenfalls  nicht  vor.  Der  Inhalt 
des  III.  Tractates  ist  durch  dessen  Titel  „Mensula  Praetoriana,  Be- 
schreibung des  nutzlichen  Geometrischen  Tischleins,  von  dem  für- 
treiflichen  und  weitberühmten  Mathematico  M.  Johanne  Praetorio 
S[eelig]  erfunden"  genugsam  bezeichnet.  Schwenter  hat  in  demselben 
den  Messtisch,  welchen  sein  Lehrer  erfunden,  und  zu  dessen  Gebrauch 
er  während  des  Unterrichtes  die  nöthige  Anweisung  gegeben  hatte, 
ohne  eine  ausführliche  Beschreibung  desselben  zu  veröfi'entlichen, 
nachträglich  zur  allgemeinen  Kenntniss  gebracht  und  dadurch  eben- 
sowohl dem  Ruhme  jenes  verstorbenen  Lehrers  als  dem  allgemeinen 
Nutzen  einen  wesentlichen  Dienst  erwiesen.  Ausser  dem  Messtische 
kommt  in  diesem  Tractate  nur  ein  Winkelinstrument  in  Anwendung, 
welches  bei  Höhenmessungen  nicht  entbehrt  werden  kann,  und  welches 
im  Wesentlichen  noch  immer  mit  Peurbach's  geometrischem 
Quadrate  übereinstimmt.  Der  III.  Tractat  besteht  aus  vier  Büchern. 
Endlich  der  IV.  Tractat,  den  die  erste  Auflage  von  1618  allerdings 
noch  nicht  enthält^),  handelt  von  einer  Vorrichtung,  welche  in  Italien 
am  Anfange  des  Jahrhunderts  durch  Camillo  Raverta'*)  von  Mai- 
land erfunden  und  1G02  von  Curtio  Casati^),  gleichfalls  einem  Mai- 
länder, beschrieben  worden  ist.    Dieselbe  setzt  voraus,  dass  man  nach 


1)  S.  68  des  II.  Tractates.  -)  S.  112  des  II.  Tractates.  »)  q  Wertheim 
brieflich.  '')  Hallervord,  Bibliotheca  curiosa  pag.  42  (Königsberg  und  Frank- 
furt 1676).  '^)  Zedler's  üniversallexicon  beruft  sich  für  ihn  auf  das  uns 
unbekannte  Werk  Argelati,  Bihl.  Mediol. 


670  71.  Kapitel. 

dem  Augenmaasse  eine  Gerade  auf  dem  Papier  in  paralleler  Lage  zu 
einer  in  der  Entfernung  auf  dem  Felde  zwischen  gegebenen  End- 
punkten gedachten  Geraden  zeichnen  könne.  Schon  Casati  hatte 
gegen  diese  Erfindung,  so  hoch  er  sie  preist,  einige  Bedenken,  Schwen- 
ter  theilte  dieselben  in  verstärktem  Maasse,  und  die  spätere  Zeit  ist 
diesen  Bedenken  so  sehr  beigetreten,  dass  weder  Raverta's  noch 
Casati's  Namen  in  den  vollständigsten  neueren  Schriften  über  Feld- 
messung mehr  vorkommen,  während  Muzio  Oddi^)  (1569 — 1638) 
aus  Urbino,  der  Verfasser  eines  im  Gefängnisse  geschriebeneu  Werkes 
über  Feldmessung  von  1625,  in  welchem  nach  den  uns  bekannten 
Auszügen  Neues  sich  nicht  findet,  erwähnt  und  wohl  etwas  über 
Verdienst  gerühmt  wird. 

Beiläufig  nennen  wir  Johann  Ardüser-)  (1584 — 1665)  aus 
Davos,  der  als  praktischer  Meister  in  der  Befestigungskunst  berühmt 
ist  und  Geometriae  Thcoricae  et  pradicae  XII  Bücher  (Zürich  1627) 
herausgab,  welches  Werk  in  einer  zweiten  Bearbeitung  von  1646  sich 
zu  XIV  Bücher  erweiterte. 

Ungefähr  innerhalb  derselben  Lebensgrenzen  wie  Schwenter  ist 
ein  Schriftsteller  in  Ulm  zu  nennen,  Johann  Faulhab er^)  (1580 — 
1635).  Er  war  der  Sohn  eines  Webers  und  zum  väterlichen  Gewerbe 
bestimmt.  Der  Unterricht  des  Rechenmeisters  David  Selzlin 
(S.  611)  führte  ihn  der  Wissenschaft  zu,  und  bald  war  er  selbst 
Rechenmeister  in  Ulm,  jedenfalls  vor  1610,  denn  seine  erste  Ver- 
öffentlichung, welche  diese  Jahreszahl  trägt,  giebt  ihm  schon  diesen 
Titel.  Ihm  gleichzeitig  lebten  in  Ulm  ein  Arzt,  Johannes  Rem- 
melin;  und  zwei  Schulmänner,  Zimpertus  Wehe  und  Johann 
Baptista  Hebenstreit,  die  beiden  letzteren  Gegner,  der  erste  ein 
Freund  und  Gönner  Faulhaber's.  Die  Streitigkeiten  Faulhaber's  drehten 
sich  um  Wortrechnungeu.  Aehnlich  wie  einst  Michael  Stifel  hat 
auch  Faulhaber  in  diese  Spielereien  sich  verrannt,  und  er  suchte  die 
prophetischen  Zahlen  der  Bibel  auszubeuten,  indem  er  sie  mit  Buch- 
staben, welchen  Zahlenwerthe  beigelegt  waren,  in  Verbindung  setzte. 
So  war  er  durch  sonderbare  Zahlenhandhabung  dazu  geführt  worden, 
in  einem  Kalender  für  1618  auf  den  1.  September  dieses  Jahres  einen 
Kometen  zu  verkünden.    Ein  solcher  erschien  zufälligerweise  wirklich 


^)  Kästner  III,  373.  —  Poggendorff  II,  206. —  Rossi,  Groma  e  squadro, 
pag.  146—165  und  215 — 216.  Poggendorff  nennt  1631  als  Todesjahr,  Rossi 
1638  mit  Berufung  auf  die  Ueberscbrift  eines  von  ihm  beschriebenen  Gemäldes. 
*)  Rud.  Wolf,  Biographien  zur  Kulturgeschichte  der  Schweiz  IV,  25 — 36. 
^)  Kästner  III,  111—152  und  IV,  510—511.  —  Ofteidinger,  Beiträge  zur 
Geschichte  der  Mathematik  in  Ulm  bis  zur  Mitte  des  XVII.  Jahrhunderts  (Ulm 
1867).  —  AUgem.  deutsche  Biographie  VI,  581—583.  Artikel  von  Höchstetter. 


Geometrie.  671 

und  gab  Veranlassung  zu  einem  tiefgehenden  Zwiespalte  in  Ulni. 
Faulhaber  und  seinen  Freunden,  zu  welchen  auch  der  Stadtpfarrer 
Dieterich  gehörte,  welcher  sogar  über  den  Kometen  predigte,  standen 
die  erwähnten  Schulmänner  gegenüber,  welche  die  Berechtigung  zur 
Wortrechnung  überhaupt  und  insbesondere  zu  astronomischen  Vor- 
hersagungen mittels  derselben  bekämpften.  Faulhaber  antwortete  in 
heftigen  Streitschriften,  in  welchen  er  seinen  einen  Gegner  als 
„Hebandenstreit"  lächerlich  zu  machen  suchte.  Faulhaber's  ausge- 
sprochene Neigung  zu  überschwäuglichen  Dingen  erwies  sich  ihm 
oftmals  schädlich,  eine  Verbindung  mit  einem  angeblichen  Propheten 
brachte  ihn  sogar  1606  ins  Gefängniss.  Später  trat  er  den  Rosen- 
kreuzern nahe  und  war  überzeugter  Alchymist.  Es  ist  eine  merk- 
würdige, wiederum  an  Michael  Stifel  erinnernde  Erscheinung,  dass 
mit  diesen  Schrullen  wirkliche  mathematische  Begabung  Hand  in 
Hand  ging,  und  dass  die  Wissenschaft  gerade  aus  Faulhaber's  Wort- 
rechnungen Nutzen  zog.  Wir  kommen  in  anderem  Zusammenhange 
darauf  zurück;  hier,  wo  wir  mit  Geometrischem  uns  beschäftigen,  ist 
nur  eine  FauLhaber'sche  Schrift  zu  nennen,  seine  Ingenieurschule,  die 
1630 — 1633  in  vier  Theilen  erschienen  ist.  Wie  der  Titel  erkennen 
lässt,  hat  Faulhaber  hier  Feldmesserisches  und  auf  die  Befestigungs- 
kunst Bezüs'liches  auseinandergesetzt.    Bei  einer  Aufgabe  mischen  sich 

O  o  o 

Geometrie  und  Wortrechnung  oder  mindestens  prophetische  Zahlen.  Fol- 
gende sieben  Zahlen  nämlich  können  als  weissagende  betrachtet  werden : 
66^  (Apokalypse  XIII,  18),  1000  (Apokalypse  XX,  2),  1260  (Apokalypse 
XI,  3  und  Xn,  6),  1290  (Daniel  XII,  11),  1335  (Daniel  XII,  12),  1600 
(Apokalypse  XIV,  20j,  2300  (Daniel  VHI,  14).  Faulhaber  verlangte 
im  ersten  Theile  seiner  Ingenieurschule  aus  Strecken,  welche  durch 
diese  sieben  Zahlen  gemessen  werden,  ein  Sehnen siebeneck  her- 
zustellen, dessen  Winkel  und  den  Halbmesser  des  Umkreises  zu  be- 
rechnen; es  sei  dieses  eine  „Question,  welche  sich  durch  die  Loga- 
rithmos  auflf  eine  besondere  newe  Manier  gar  schön  resolvieren  lässt". 
Eine  Auflösung,  soweit  die  Winkel  in  Betracht  kommen,  hat  Faul- 
haber niemals  veröffentlicht.  Den  betreffenden  Kreishalbmesser  gab 
er  im  zweiten  Theile  der  Ingenieurschule  zu  1582,6323  an,  ohne  an- 
zudeuten, welchen  Weg  er  zur  Erlangung  dieses  Werthes  eingeschlagen 
habe.  Spätere  Versuche,  seinen  Gedankengang  zu  ermitteln,  schweben 
allzusehr  in  der  Luft,  als  dass  man  ihnen  geschichtlichen  Werth  bei- 
messen könnte^). 


^)  Günther,  Sitzungsberichte  der  physikalisch-meclicinischen  Gesellschaft 
zu  Erlangen  9.  März  1874.  —  German,  Das  irreguläre  Siebeneck  des  Ulmer 
Mathematikers  Johann  Faulhaber  (Ulm  1876).  —  Günther's  Recension, 
Zeitschr.  Math.  Phys.  XXII,  Histor. -litter.  Abthlg.  S.  34—36. 


672 


71.  Kapitel. 


Einen  Nebenbuhler  auf  dem  Gebiete  der  Anfertigung  von  Instru- 
menten und  der  Baukunst  fand  Faulbaber  in  seinem  Heimathsgenossen 
Joseph  Furtenbach^)  (1591 — 1GG7),  den  wir  hier  nennen,  weil 
sein  Name  anderwärts  nicht  gut  untergebracht  werden  kann  und  doch 
nicht  vollständig  fehlen  soll.  Furtenbach's  Haus  in  Ulm,  der  soge- 
nannte Erbsenkasten,  gehörte  durch  die  aller  Orten  im  Garten  u.  s.  w. 
angebrachten  Grotten  und  dergleichen  lauge  Zeit  zu  den  grössten 
Sehenswürdigkeiten  von  Ulm. 

Joachim  Jungius^)  (1587  — 1657)  hat  in  der  Geschichte  der 
atomistischen  Lehre  eine  allzubedeutende  Rolle  gespielt,  als  dass  wir 
nicht  gern  erwähnten,  dass  er  an  den  Universitäten  zu  Giessen  und 
Rostock  die  Lehrstellen  der  Mathematik  inne  hatte,  und  dass  er  an 
letzterem  Orte  1627  eine  mehrfach  neu  aufgelegte  Geometria  cnqnrica 
im  Drucke  herausgab. 

Antoine  de  Ville,  ein  Schriftsteller  über  Befestigamgswesen, 
verdankt  seine  Namensnennung  an  dieser  Stelle  einer  in  seinem  Buche 
Les  fortifications  (1628)  enthaltenen  Vorschrift  zur  Herstellung  regel- 
mässiger Vielecke  von  n  Seiten,  welche  sich  ziemlich  weit  verbreitet 
hat.  Abraham  de  Bosse,  von  welchem  weiter  unten  die  Rede  ist, 
hat  sie  in  seinem  Traite  des  pratiques  geometrales  et  perspective  (1665) 
aufgenommen  und  Nicolas  Bion^)  (1653 — 
1733),  Landkarten-  und  Globenhändler  in  Paris, 
beschreibt  sie  in  seinem  Tratte  de  la  construc- 
tion  et  des  principaux  usages  des  iiistruments  de 
mathematiques  (1713).  De  Ville's  Vorschrift 
ist  folgende"*).  Sei  (Figur  131)  G  die  Spitze 
^  eines  über  dem  Kreisdurchmesser  AB  beschrie- 
benen gleichseitigen  Dreiecks,  sei  ferner  AE 
AB 
n 

=  AQ  genommen,  so  ist  AP'  annähernd  —  der 

Kreisperipherie.     De  Bosse  hat   die  Vorschrift  dahin  verbessert,   man 

solle   CDP  ziehen,   wodurch   AP  noch   näher    mit  —  der  Kreisperi- 
pherie übereinstimme. 


Fig.  131. 


EB  =  ^-     Wird  CEQ  gezogen  und  QP' 

1 


')  Kästner  III,  366—368.  —  Ofterdinger  1.  c.  —  Allgem.  deutsche  Bio- 
graphie VIII,  250 — 251.  Artikel  von  Höchstetter.  *)  Wohlwill,  Joachim 
Jungius  und  die  Erneuerung  atomistischer  Lehren  im  XVII.  Jahrhundei't  (Ham- 
burg 1887)  und  ebenderselbe,  Joachim  Jungius,  Festrede  am  22.  October  1887 
(Hamburg  und  Leipzig  1888).  =*)  Poggendorff  I,  l'Jl— 195.  *)  H.  A.  J. 
Pressland,  On  the  history  and  clegree  of  certain  geometrical  approximations  in 
den  Proeeedings  of  the  Edinburgh  Mathematical  Society  Vol.  X. 


Geometrie.  673 

Wir  gelangen  nunmehr  zu  drei  französischen  Geometern  ersten 
Ranges,  welche  weit  über  Allen,  welche  ausserhalb  Griechenlands 
mit  reiner,  nicht  rechnender  Geometrie  sich  beschäftigt  haben,  stehen, 
so  dass  man  versucht  sein  möchte,  sie  unmittelbar  an  die  grossen 
Alexandriner  anzuknüpfen.    Wir  meinen:  Mydorge,  Desargues,  Pascal. 

Claude  Mydorge^)  (1585 — 1647),  ein  genauer  Freund  von 
Descartes,  stammte  aus  einer  reich  begüterten  Beamtenfamilie. 
Auch  er  begann  die  gerichtliche  Laufbahn,  die  er  aber  verliess,  um 
unter  dem  Arbeitsverpflichtungen  nicht  mit  sicli  führenden  Titel  eines 
Schatzmeisters  (Tresorier  de  France)  sich  der  Wissenschaft  widmen 
zu  können.  Ein  Werk  von  ihm  über  Kegelschnitte  erschien  1G31  in 
zwei  Büchern,  welchen  zwei  weitere  Bücher  1639  folgten.  Während 
die  vier  Bücher  alsdann  vereinigt  wiederholten  Abdruck  fanden,  ist 
eine  selbst  aus  vier  Büchern  bestehende  Fortsetzung  verloren  ge- 
gangen. Es  heisst,  ein  Lord  Cavendish  und  ein  Lord  Southampton, 
die  als  Freunde  im  Mydorge'schen  Hause  verkehrten,  hätten  sie  mit 
nach  England  genommen,  wo  sie  verschollen  sind.  Mehr  als  1000 
geometrische  Aufgaben  haben  sich  in  der  Handschriftensammlung 
der  Pariser  Akademie  erhalten.  Der  Wortlaut  der  Aufgaben  ist  nach- 
träglich auch  im  Drucke  bekannt  gegeben  worden,  der  der  zugehöri- 
gen Auflösungen  nur  zu  sehr  geringem  Theile,  und  fast  scheinen  die 
interessantesten  Auflösungen  der  Oeffentlichkeit  vorenthalten  geblieben 
zu  sein.  Dass  Mydorge  beispielsweise  zur  Siebentheilung  des  Kreises 
noch  der  alten  Näherungsmethode  sich  bediente,  die  halbe  Dreiecks- 
seite als  Siebenecksseite  zu  benutzen,  kümmert  uns  weit  weniger,  als 
wenn  wir  wüssten,  welches  das  Näherungsverfahren  Mydorge's  bei 
Auflösung  seiner  363.  Aufgabe  war:  ein  Quadrat  in  ein  regelmässiges 
Vieleck  von  beliebiger  Seitenzahl  zu  verwandeln.  Unter  den  dort 
vorkommenden  Kunstausdrücken  ist  Parallaxe  in  der  Bedeutung 
eines  von  zwei  concentrischen  Kreisen  begrenzten  Kreisringes  zu 
nennen,  und  insbesondere  das  Wort  Parameter  eines  Kegel- 
schnittes, welches  Mydorge  einführte^).  Das  Kegelschnittwerk  war 
jedenfalls  Mydorge's  verdienstlichste  Leistung  und  enthält  neben  schon 
Bekanntem  aber  neu  Dargestelltem  wesentlich  neue  Sätze.  Im  2.  Buche 
hat  man  den  Satz  bemerkt,  dass,  wenn  von  einem  Punkte  in  der 
Ebene  eines  Kegelschnittes  Radien  nach  allen  Punkten  der  Curve 
gezogen  und  diese  in  einem  gegebenen  Verhältnisse  verlängert  wer- 
den, ihre  Endpunkte  einen  neuen,  dem  erstgegebenen  ähnlichen  Kegel- 

')  Kästner  III,  19G.  —  Montucla  II,  74.  —  Chasles,  Apergu  hist.  89 
(deutsch  85).  —  C.  Henry  im  Bulletino  Boncompagyii  XIV,  271—350;  XVI,  514 
— 527.  *)  Gino  Loria,  Nicola  Fergola  e  la  scuola  cli  matematici  che  lo  ebbe 
a  duce  (Genova  1892),  pag.  11. 

Cantoe,  Geschichte  der  Mathem.    II.    2.  Aufl.  43 


674  ^1-  Kapitel. 

schnitt  bilden.  Im  3.  Buche  ist  in  drei  Sätzen  (39,  40,  41)  die  Auf- 
gabe gelöst,  einen  gegebenen  Kegelschnitt  auf  einen  gegebenen  Kegel 
zu  legen. 

Girard  Desargues^)  (1593 — 1662),  aus  Lyon,  sjjielt  innerhalb 
der  Geschichte  der  Mathematik  eine  höchst  eigenthümliche  Rolle. 
Von  den  ersten  Geistern  seiner  Zeit  geschätzt,  von  neidischem  Un- 
verstände begeifert,  ist  er  so  gut  wie  vergessen  gewesen,  bis  man 
nicht  etwa  ein  Exemplar  seines  1639  in  Paris  gedruckten  Haupt- 
werkes, sondern  eine  vollständige  Abschrift  desselben  auffand,  welche 
im  Jahre  1679  durch  Philippe  De  la  Hire,  einen  hervorragenden 
Geometer,  der  selbst  schon  1671  ein  bedeutendes  Werk  über  Kegel- 
schnitte im  Drucke  herausgegeben  hatte,  angefertigt  worden  ist^). 
Wie  Jemand  in  jener  Zeit  dazu  kam,  ein  acht  Druckbogen  starkes 
Buch  ganz  abzuschreiben,  statt  es  buchhändlerisch  sich  anzueignen, 
ist  ein  vollständiges  Räthsel.  Allenfalls  wäre  eine  einzige  Erklärung 
möglich,  dass  nämlich  damals  bereits  kein  Exemplar  mehr  aufzutrei- 
ben war,  weil  das  zu  schwer  geschriebene  und  der  grossen  Leserwelt 
durchaus  unverständliche  Werk  auch  unverkäuflich  war  und  als 
Maculatur  vernichtet  wurde  ^).  Auf  die  wenigen  geistig  Ebenbürtigen 
machte  es  allerdings  einen  wesentlich  anderen  Eindruck,  der  aus  den 
Briefesworten  Fermat's  ersichtlich  ist:  „Ich  schätze  Herrn  Desargues 
sehr,  und  zwar  um  so  höher,  als  er  allein  der  Erfinder  seiner  Kegel- 
schnitte ist.  Sie  sagen,  das  Büchelchen  gelte  für  kauderwälsch 
(Jargon).  Mir  erscheint  es  sehr  verständlich  und  geistvoll"*).  De- 
sargues lebte  seit  1626  etwa  in  Paris  und  wurde  ein  regelmässiger 
Theilnehmer  an  den  Zusammenkünften  geistig  hochstehender  Männer, 
welche  es  liebten,  einander  die  Ergebnisse  ihrer  Forschungen  mit- 
zutheilen,  während  dieselben  noch  im  Gange  waren,  welche  zugleich 
auf  Reinheit  und  Schönheit  des  sprachlichen  Ausdruckes  hielten,  und 
welche  so  die  Vorgänger  der  französischen  Akademie  wurden,  von 
welcher  man  beinahe  sagen  möchte,  Richelieu  habe  sie  1635  nicht 
sowohl  gegründet  als  bestätigt.    Wenigstens  waren  die  ersten  ernann- 


^)  Oeuvres  de  Desargues  reunies  et  analysees  par  M.  Poudra.  Paris  1864. 
Wir  citiren  diese  Ausgabe  unter  dem  Namen  Desargues.  —  Montucla  II,  74 
—75.  —  Chasles,  Apergu  hist.  74—79,  331—334  (deutsch  71—75,  344—348).— 
Marie,  Histoire  des  sciences  mathematiques  III,  201 — 225.  —  Chrzaszczewski, 
Desargues'  Verdienste  um  die  Begründung  der  projeeti vischen  Geometrie.  Grün. 
Archiv  2.  Reihe,  XVI,  119—149.  ^)  Desargues  I,  132.  ^  Wer  solches  für 
undenkbar  hält,  erinnere  sich  an  das  Schicksal  der  Ausdehnnngslehre  von 
Grassmann  und  der  Statik  von  Möbius,  dei'en  erste  Auflagen  in  der  Mitte 
des  XIX.  Jahrhunderts  als  unverkäuflich  eingestampft  wurden.  ■•)  Fermat, 

Varia  Opera  mathematica  pag.  173. 


Greometrie.  675 

ten  Mitglieder  lauter  Persöulichkeiten,  welche  an  jenen  Zusammen- 
künften theilgenommen  hatten.  Nachdem  die  französische  Akademie 
ins  Leben  gerufen  war,  dauerten  ungezwungene,  wenn  auch  regel- 
mässige Vereinigungen  von  Mathematikern  und  Physikern  weiter  fort, 
bis  1666  sich  abermals  eine  förmliche  Gründung  vollzog,  die  der 
Acaäemie  des  scimces  durch  C  o  1  b  e  r  t.  In  jener  frühen  Zeit,  von 
welcher  wir  gegenwärtig  reden,  bildete  sich  auf  die  erwähnte  Weise 
der  Bekanntenkreis  von  Desargues.  Pater  Mersenne,  Roberval, 
der  ältere  Pascal,  Carcavy,  Bouillau,  Gassendi  gehörten 
dazu,  lauter  Persönlichkeiten,  die  uns  mehr  als  nur  einmal  begegnen 
werden.  Auch  Descartes  lernte  Desargues  hier  kennen,  und  sie 
wurden  Freunde ,  als  Desargues  1628  an  der  Belagerung  von  La 
Rochelle  als  Kriegsbaumeister  theilnahm  und  Descartes  hinreiste,  um 
die  grossartigen  Arbeiten  zu  besehen.  Zu  seiner  Lyoner  Heimath 
hat  Desargues  auch  von  Paris  aus  enge  Beziehungen  unterhalten. 
So  z.  B.  wurden,  als  1646  das  neue  Rathhaus  jener  Stadt  gebaut 
wurde,  die  Risse  an  Desargues  zur  Begutachtung  eingesandt  und  von 
ihm  nicht  unwesentlich  abgeändert.  Um  1650  kehrte  Desargues  voll- 
ständig nacTi  Lyon  zurück  und  war  dort  noch  als  Baumeister  thätig. 
Auch  scheint  er  damals  strebsame  Handwerker  an  sich  gezogen  zu 
haben,  um  ihnen  Unterricht  in  denjenigen  Abschnitten  der  Geometrie 
zu  ertheilen,  welche  beim  Bauen  sich  als  unerlässlich  vordrängen. 
Perspectivisches  Zeichnen  und  der  Steinschnitt  gehören  hier- 
her, und  auch  schriftstellerisch  hat  Desargues  sie  bearbeitet.  Sein 
erstes  Buch  von  1636  ist  die  Perspedive^  1640  erschien  ein  Buch 
über  Steinschnitt,  Perspective  und  Herstellung  von  Sonnenuhren  unter 
dem  Titel:  BroniUmi  jy)-oject  cVexemple  d'une  maniere  universelle  du 
S.  G:  D.  L.  ^)  touchant  la  practiquc  du  trait  ä  preuves  pour  la  coupe 
des  pierres  en  Varcliitecture;  et  de  V esclaircisseinent  d'une  maniere  de 
re'duire  au  petit  pied  en  perspective  comme  en  geometral  et  de  tracer 
tous  quadrans  plats-  d'heures  egales  au  soleil.  Dann  gab  Abraham 
Bosse,  ein  geschickter  Kupferstecher  und  der  begabteste  Schüler 
von  Desargues,  1648  ein  grösseres  Werk  über  Perspective  heraus, 
welches  in  bedeutsamen  Abschnitten  als  von  Desargues  verfasst  be- 
trachtet werden  muss  und  auch  gleich  damals  betrachtet  wurde,  da 
Gegenschriften,  welche  im  Drucke  erschienen,  und  welche  die  geo- 
metrische Auffassung  zu  Gunsten  der  handwerksmässigen,  wenn  auch 
nachweislich  nicht  selten  irrigen  Uebung  bekämpften,  sich  ohne 
Weiteres  gegen  Desargues  richteten.  Alle  diese  Bücher  des  Desargues 
lassen   sich   als  Vorläufer  jener  Wissenschaft   bezeichnen,  welche  un- 

*)  Abkürzung  für  Sieur  Girard  Desargues  Lyonais. 

43* 


(376  71.  Kapitel. 

gefälii-  150  Jahre  später  den  Namen  der  descriptiveu  Geometrie 
erhielt.  Noch  ungleich  wichtiger  und  an  fruchtbaren  neuen  Gedanken 
übei-reich  war  das,  wie  wir  erzählt  haben,  in  De  la  Hire's  Abschrift 
erhaltene  Werk  von  1639:  BroniUon  jyrojed  d'une  atteinte  aux  evene- 
mens  des  rencontres  d'iin  cone  avec  im  plan,  gewöhnlich  kurz  als 
BrouiUon  projed  des  Desargues  bezeichnet,  ohne  dass  es  mit  dem  die 
gleichen  Anfangsworte  im  Titel  enthaltenden  Buche  von  1640  ver- 
wechselt würde.  Desargues  nennt  das  Werk  „Erste  Niederschrift 
des  Entwurfes  eines  Versuches  über  die  Thatsachen,  zu  welchen  der 
Schnitt  eines  Kegels  durch  eine  Ebene  Veranlassung  giebt".  Vor- 
sichtiger, als  es  in  den  Anfangsworten  dieses  Titels  geschah,  hat  sich 
niemals  ein  Schriftsteller  ausgesprochen,  aber  die  Neuheit  der  Auf- 
fassung machte  Vorsicht  nothweudig.  Wir  müssen  einige  wesent- 
liche Dinge  hervorheben  und  darunter  zunächst  die  Anwendung 
des  Unendlichen  in  der  Geometrie.  Nicht  als  ob  noch  kein 
Mathematiker  mit  dem  Begriffe  des  Unendlichen  als  dem  des  Stetigen 
nahe  verwandt  sich  beschäftigt  hätte.  In  jedem  Jahrhunderte  tauchten 
solche  Uneudlichkeitsbetrachtuugeu  auf,  zuletzt  bei  Vieta  (S.  586), 
wo  er  die  krumme  Linie  als  eine  Zusammensetzung  unen'dlich  vieler 
unendlich  kleiner  Strecken  erklärte.  Auch  Kepler  hat  1615,  Ca- 
valieri  1635  in  Druckwei'keu,  deren  Besprechung  uns  obliegen  wird, 
wenn  wir  von  den  Anfängen  der  Infinitesimalrechnung  reden,  den 
gleichen  Gedanken  zu  nie  geahnten  Folgerungen  ausgebeutet,  aber 
bei  Desargues  waren  es  ganz  andere  Unendlichkeitsbetrachtungen  als 
bei  diesen  Vorgängern.  Zwei  oder  mehrere  Gerade  treffen  in  einem 
Punkte  zusammen,  welcher  das  Ziel  ihrer  Anordnung,  hut  d'une 
ordonnance  de  droites,  heisst^).  Dieser  Zielpunkt  kann  in  endlicher, 
er  kann  auch  in  unendlicher  Entfernung  liegen,  im  letzteren  FaUe 
heissen  die  Geraden  parallel.  Der  menschliche  Geist  sucht  die  Grösse 
gegebener  Linien  zur  Erkenntniss  zu  bringen  und  fasst  sie  als  Ge- 
sammtheiteu  so  kleiner  Theile,  dass  deren  beiderseitige  Grenzen  zu- 
sammenfallen ^).  Denkt  man  sich  einen  Kreis  und  einen  Punkt 
ausserhalb  der  Kreisebene,  und  lässt  man  eine  durch  den  Punkt  hin- 
durchgehende Gerade   längs   der  Kreislinie    hingleiten,    so    beschreibt 


^)  Desargues  I,  104.  *)  Ebenda  I,  103:    La  raison  essaye  ä  connaitre 

des  quantites  infinies  d'une  pari,  ensemble  de  si  petites  qiie  letirs  deux  extremites 
opposees  sont  unies  entre  elles.  H.  Poudra  hat  diese  Stelle  durchaus  missver- 
standen und  gemeint,  Desargues  habe  sagen  wollen,  es  gebe  nur  einen  ün- 
endlichkeit-spunkt  einer  Geraden,  woran  er  gewiss  nicht  dachte.  Auch  in  I, 
105:  toutes  ces  droites  sont  entrelles  d'une  mesme  ordonnance,  dont  le  but  est  ä 
distance  infinie,  et  chaeune  d'une  pari  et  d'autre  darf  man  jenen  modernen  Sinn 
nicht  hiueinlesen. 


Geometrie.  677 

sie  dabei  eine  Kegeloberfläche;  entfernt  sich  aber  der  Punkt  auf  un- 
endliche Entfernung  von  der  Kreisebene,  so  geht  der  Kegel,  oder  die 
Rolle,  roideau,  wie  Desargues  sich  gleichfalls  ausdrückt,  in  eine  solche 
von  überall  gleicher  Dicke  über,  so  wird  sie  zur  Säule,  colomne,  oder 
zum  Cylinder^).  Nicht  minder  neu  waren  Sätze,  welche  auf  Punkte 
sich  bezogen,  die  auf  einer  Geraden  liegen.  Es  sei  ein  Punkt  A 
jener  Geraden  als  Wurzel,  souche,  bezeichnet  und  auf  ihn  je  ein  Paar, 
couple,  von  Entfernungen  nach  bestimmten  Punkten  bezogen^),  z.  B. 
ein  Punktepaar  B  und  H,  ein  zweites  C  und  G,  ein  drittes  D  und  F. 
Bildet  man  die  Rechtecke  aus  den  Entfernungen  eines  Punktepaares 
von  der  Wurzel,  welche  durch  die  Producte  jener  Entfernungen  ge- 
messen werden,  so  können  die  drei  Producte  einander  gleich  sein: 
ÄBÄH=ACäG=  AD- ÄF.  In  diesem  Falle  bilden  die 
sechs  Punkte  eine  Involution^).  Die  neuere  Geometrie  hat  bekannt- 
lich diesen  Kunstausdruck  sich  angeeignet,  aber  mit  einer  anderen 
Definition  versehen,  so  dass  der  Satz  der  Involution  mit  demjenigen 
übereinstimmt,  den  wir  (S.  659)  in  einem  der  Porismen  Fermat's 
enthalten  fanden.  Man  hat  nachgewiesen*),  dass  eine  innere  Ueber- 
einstimmung  zwischen  beiden  Ausdrucksweisen  vorhanden  ist.  Ob 
Fermat  dieses  auch  wusste,  oder  als  er  sein  Porisma  aufstellte,  mit 
dem  Brouillon  project  bekannt  war,  dürfte  kaum  zu  ermitteln  sein. 
Zieht  man  durch  die  sechs  Punkte  einer  Involution  ebensoviele  Zweige, 
rameaux,  mit  einem  einzigen  Zielpunkte,  so  entsteht  ein  Busch,  ranice, 
der  die  Eigenschaft  besitzt,  dass  jede  durch  ihn  hindurchgehende 
Gerade  in  sechs  Punkten  geschnitten  wird,  die  abermals  eine  Involu- 
tion bilden^).  Desargues  erkennt  auch,  dass,  wenn  ein  Punkt  auf 
die  Wurzel  fällt,  der  ihm  entsprechende  andere  Punkt  des  Punkte- 
paares in  die  Unendlichkeit  fallen  muss,  weil  nur  Null  mal  Unendlich 
ein  endliches  Product  liefern  kann'').  Hierauf  vereinigte  Desargues 
in  seinen  Untersuchungen  die  von  ihm  geschaffene  Theorie  der  In- 
volution mit  der  Kegelschnittlehre.  Eine  doppelte  Neuerung  führte 
er  hier  ein.  Erstens  wurde  von  Eigenschaften  der  Kreislinie,  welche 
die  Grundebene  des  Kegels  begrenzte,  auf  die  Eigenschaften  des  Kegel- 
schnittes geschlossen,  d.  h.  eine  perspectiv! sehe  Beweisführung 
war  entdeckt.  Zweitens  konnte  dementsprechend  jetzt  von  Kegel- 
schnitten überhaupt  die  Rede  sein,  statt  dass  Eigenschaften  aller 
drei  besonderen  Kegelschnittarten  in  ebensovielen  Sätzen  ausgesprochen 
und    bewiesen    werden    mussten.      Von    den    zahlreichen    allgemeinen 


^)  Desargues  I,   157—158.  ^  Ebenda  I,  112.  ^)  Ebenda  I,  119. 

*)  Chasles,  Apergu  hist.,  Note  X,  pag.  308— 327  (deutsch  318—340).     ^)  Desar- 
gues I,  147.         «)  Ebenda  I,  127. 


678  '1-  Kapitel. 

Sätzen  erwähnen  wir  nur  einen,  der  vielfach  den  Namen  Satz  von 
Desargues  enthalten  hat,  dass  nämlich  jedes  in  einem  Kegelschnitte 
einbeschriebene  Vierseit  nebst  dem  Kegelschnitte  selbst  eine  beliebige 
Transversale  in  den  sechs  Pimkten  einer  Involution  schneiden  \).  Auch 
die  Polare  eines  Punktes  mit  Beziehung  auf  einen  gegebenen  Kegel- 
schnitt war  Desargues  nicht  unbekannt^),  wenn  auch  dieser  Name 
erst  späteren  Ursprunges  ist.  Diese  kurzen  Auszüge  mögen  genügen, 
das  vorher  über  das  Brouillon  project  des  Desargues  Gesagte  näher 
zu  begründen.  Bemerkenswerth  dürfte  noch  sein,  dass  Desargues 
hier  den  Kunstausdruck  coadjuteur'^)  einzubürgern  versuchte  für  das, 
was  bei  Anderen  (ailleiirs)  coste  droit,  parametre  genannt  werde.  Der 
letztere  noch  nicht  lange  (S.  673)  vorhandene  Name  behielt  das 
Uebergewicht.  Von  den  Verdiensten,  welche  Desargues  als  Baumeister 
sich  erwarb,  haben  wir  nicht  zu  reden.  Einen  einzigen  Punkt  müssen 
wir  erwähnen.  Nach  der  Aussage  von  De  la  Hire  hat  Desargues  die 
epicycloidale  Gestalt  der  Zähne  ineinandergreifender  Räder  als  die- 
jenige erkannt  und  in  Anwendung  gebracht,  bei  welcher  die  geringste 
Reibung  stattfindet'*),  während  die  Erfindung  der  Epicycloide,  wie 
wir  uns  erinnern  (S.  461),  Dürer  angehört. 

In  dem  S.  675  erwähnten  Werke  von  Abraham  Bosse  über 
Perspective  ist  namentlich  ein  Satz  bemerkenswerth,  den  der  Verfasser 
1636  von  Desargues  kennen  gelernt  haben  will,  und  der  darin  be- 
besteht, dass  wenn  zwei  geradlinige  Dreiecke  in  einer  Ebene  so  liegen, 
dass  Verbindungsgerade  ihrer  gleichliegenden  Ecken  in  einem  und 
demselben  Punkte  zusammentreffen,  alsdann  auch  ihre  gleichliegenden 
Seiten  sich  in  drei  derselben  Geraden  angehörenden  Punkten  schnei- 
den und  umgekehrt'^).  Derartige  Dreiecke  haben  bekanntlich  durch 
Poncelet  den  Namen  homologer  Dreiecke  erhalten. 

Ein  einziger  Schriftsteller  verstand  Desargues'  geometrische 
Leistungen  sofort  so  vollkommen,  dass  er  den  eröffneten  Weg  weiter 
fortzugehen  im  Stande  war:  Blaise  Pascal^)  (1623—1662).  Wenn 
man  der  Erzählung  seiner  Schwester  trauen  darf,  fand  der  frühreife 
Knabe,  ohne  vorher  mathematischen  Unterricht  genossen  zu  haben, 
aus  sich  heraus  den  geometrischen  Satz  von  der  Gleichheit  des 
Aussenwinkels  am  Dreiecke  mit  der  Summe  der  beiden  gegenüber- 
liegenden inneren  Winkel,   worauf  ihm  zur  belohnenden  Erholung  in 


1)  Desargues  I,  186.       ^)  Ebemla  I,  164.       ^)  Ebenda  1,  203.     ")  Ebenda 
I,  31.  ^)  Chasles,  Ajyergii  hist.  pag.  82— 83  (deutsch  79—80).  *=)  Drey- 

dorff,  Pascal,  sein  Leben  und  seine  Kämpfe  (Leipzig  1870). —  Cantor,  Blaise 
Pascal  (Preussische  Jahrbücher  XXXII,  212—237).  —  Oeuvres  de  Pascal  (Paris 
1872  bei  Hachette).  Wir  citii-en  diese  Ausgabe  der  Werke  unter  dem  Namen 
Pascal. 


Geometrie.  679 

seinen  Spielstunden  eine  lateinische  Uebersetzuug  des  Euklid  in  die 
Hände  gegeben  wurde.  Derselben  Quelle  entstammt  die  Erzählung, 
Paseal's  Vater,  Etienne  Pascal,  welcher  selbst  ein  ganz  tüchtiger 
Mathematiker  war,  und  während  seines  Aufenthaltes  in  Paris  (1631 
— 1638)  an  den  Zusammenkünften  von  Mathematikern  sich  bethei- 
ligte, deren  wir  (S.  674)  gedachten,  habe  nicht  nur  den  Sohn  zu 
jenen  Zusammenkünften  mitgenommen,  sondern  dem  Knaben  sei  es 
gestattet  gewesen,  sich  in  die  Besprechungen  einzumischen.  Sicher  ist 
durch  Paseal's  eigene  Aussage^)  von  1654,  dass  er  im  Alter  von 
erst  16  Jahren,  mithin  vor  1640,  ein  Werk  über  Kegelschnitte  ver- 
fasst  hat,  welches  Leibniz,  dem  es  später,  längst  nach  Paseal's 
Tode,  zur  Begutachtung  vorlag,  zum  Gegenstande  eines  unter  dem 
30.  August  1676  an  Paseal's  Neffen  gerichteten  Briefes  machte.  Leib- 
nitz  verlangte  nachdrücklich  eine  baldige  Drucklegung  des  Werkes, 
welche  um  so  dringender  sei,  als  Lehrbücher  erschienen,  welche  zu 
einem  Abschnitte  des  Pascal'schen  Werkes  in  Beziehung  stünden^). 
Leider  wurde  Leibnizen's  Wunsch  nicht  erfüllt.  Nur  ein  ganz  kurzes 
Bruchstück  Essai  sur  les  cmiiques  ist  im  Drucke  bekannt  geworden^), 
das  Meiste  ging  verloren.  Man  ist  daher  fast  ausschliesslich  auf  den 
Leibnizischen  Brief  für  die  Kenntniss  des  Lihaltes  von  Paseal's  Jugend- 
werk angewiesen.  Ein  von  Leibniz  abgeschriebenes  und  aus  dessen 
Nachlass  veröffentlichtes  Bruchstück^)  handelt  nur  von  der  Ent- 
stehung eines  Kegelschnittes  mittels  Kegel  und  Ebene.  Die  Ellipse 
wird  darin  Äntohüla  genannt.  Ueber  den  L^rsprung  von  Paseal's 
Forschungen  giebt  dessen  Essai  eine  willkommene  Ergänzung.  „Wir 
beweisen,  sagt  Pascal^),  auch  die  nachfolgende  Eigenschaft,  deren 
erster  Entdecker  Herr  Desargues  aus  Lyon  ist,  einer  der  grossen 
Geister  unserer  Zeit,  einer  der  besten  Kenner  der  Mathematik  und 
unter  Anderem  der  Kegelschnitte,  wie  seine  Schriften  über  diesen 
Gegenstand,  so  kurz  sie  gefasst  sind,  dem  reichlich  zeigen,  welcher 
in  sie  einzudringen  sich  bemüht.  Ich  gestehe  es  gern  ein,  dass  ich 
seinen  Schriften  das  Wenige,  was  ich  über  diesen  Gegenstand  ge- 
funden habe,  schulde,  dass  ich,  so  weit  es  mir  möglich  war,  gesucht 
habe  seine  Methode  nachzuahmen,  welche  darin  besteht,  dass  er,  ohne 
des  Axendreiecks  sich  zu  bedienen,  von  allen  Kegelschnitten  im  All- 
gemeinen handelte."  Darauf  folgt  der  Desargues'sche  Satz  vom^Seh- 
nenviereck    des    Kegelschnittes.      Als    erstes    Lemma  "^j    nennt    ferner 


^)  Pascal  lU,  219 — 220:  Conicorum  opus  completum  et  conica  Apollonii 
et  alia  innumera  unica  fere  pti'opositione  amplectens;  quod  quidem  nondum  sex- 
deeimum  aetatis  annum  assecutus  excogitavi,  et  deinde  in  ordhiem  congessi. 
2)  Ebenda  IE,  468.  ^)  Ebenda  HI,  182—185.  ")   C.  J.  Gerhardt,  Berl. 

Acad.  Ber.  1892,  S.  197—202.     ^)  Pascal  III,  184  lin.  14—30.     •^)  Ebenda  III,  182. 


680  71.  Kapitel. 

Pascal  aber  ohne  Beweis  den  Satz,  welcher  als  Satz  vom  Pascal- 
schen  Sechseck  bekannt  geblieben  ist:  Jedes  Sehnensechseck  eines 
Kegelschnittes  hat  die  Eigenschaft,  dass  die  drei  Durchschnittspunkte 
von  je  zwei  einander  gegenüberliegenden  Seiten  auf  einer  und  der- 
selben Geraden  sich  befinden.  Pascal  spricht  den  Satz  zunächst  aller- 
dings in  seiner  Beschränkung  auf  den  Kreis  aus,  indem  er  sich  eines 
Kunstausdruckes  bedient,  der  einem  Desargues'schen  nachgebildet  ist. 
Ordonnance  de  droites  heisst  bei  Jenem  der  gemeinsame  Durchschnitts- 
punkt mehrerer  Geraden  und  Pascal  sagt  von  Geraden,  die  einen  ge- 
meinsamen Durchschnittspunkt  besitzen,  sie  seien  gleicher  Anordnung, 
de  meme  ordre.  Ist  KNO  VQP  ein  Kreissehnensechseck  und  PK,  OV 
schneiden  sich  in  M,  während  VQ,  KN  sich  in  S  schneiden,  so 
muss  der  Durchschnittspunkt  von  NO,  QP  mit  M  und  S  in  gerader 
Linie  liegen,  und  das  heisst  bei  Pascal:  NO,  QP,  MS  müssen  gleicher 
Anordnung  sein.  Kehren  wir  zum  Leibnizischen  Briefe,  als  der  ein- 
zigen Quelle,  welche  einige  Auskunft  ertheilt^),  zurück  und  entnehmen 
ihm  die  Inhaltsübersicht  des  verlorenen  Werkes.  An  der  Spitze  stand 
die  perspectivische  Betrachtung,  welche  jeden  Kegelschnitt  optisch 
durch  Durchschneidung  des  Strahlenkegels  vom  Auge  nach  dem  Grund- 
kreise erzeugt,  indem  der  Kreis  auf  die  Schnittebene  sich  projicirt^). 
Dann  folgten  die  Eigenschaften  einer  gewissen  aus  sechs  Geraden 
gebildeten  Figur,  des  Hexagramma  mysticiim,  unzweifelhaft  des  Pas- 
cal'schen  Sechsecks  unter  Entfernung  der  oben  erwähnten  Beschrän- 
kung auf  den  Kreis,  nachdem  einmal  der  perspectivische  Zusammen- 
hang zwischen  Kreis  und  Kegelschnitt  hergestellt  war.  Das  Hexagramm 
war  in  einem  dritten  Abschnitte  benutzt,  um  die  Eigenschaften  von 
Tangenten-  und  Sehnenvierecken  von  Kegelschnitten  nebst  dabei  auf- 
tretenden harmonischen  Theilungen  und  Durchmessereigenschaften 
abzuleiten^).  Ein  vierter  Abschnitt  von  den  Proportionen  zwischen 
den  Abschnitten  von  Tangenten  und  Secanten  scheint  den  gleichen 
Gegenstand  weiter  ausgebeutet  und  conjugirte  Durchmesser  sowie 
Brennpunkte  besprochen  zu  haben '^).  Was  im  fünften  Abschnitte 
stand,  ist  aus  dessen  Ueberschrift^)  „von  Punkten  und  Geraden,  welche 
ein  Kegelschnitt  berührt"  schon  einigermassen  zu  entnehmen.  Deut- 
licher sprach   sich  Pascal  in   einem   Schreiben  aus.     Bei   Pater  Mer- 


*)  Pascal  in,  466 — 468.  *)  projectio  peripheriae,  tangentium  et  secan- 

tiiim  circuli  in  quibuscunque  oculi,  plant  ac  tabellae  positionibus  und  la  pi-ojection 
d'un  cercle  sur  un  plan  qui  coupe  le  cöne  des  rayons.  ^)  unde  rectarum  har- 

monice  sectarum  et  diametroriim  proprietates  oriuntur.  *)  De  iwoportionibus 

segmentorum   secantium    et    tangentium;    de    correspondentibus   diametrormn;   de 
summa  et  differentia  laterum,  seu  de  focis.  **)  De  punctis  et  rectis  quas  Sectio 

conica  uttingit. 


Geometrie.  681 

senne  Latten  bis  zu  dessen  Tode  1648  regelmässige  wöchentliche  Zu- 
sammenkünfte von  Mathematikern,  eine  Art  freier  Akademie,  statt- 
gefunden. An  deren  Stelle  traten  Zusammenkünfte  ausschliesslicher 
Anhänger  von  Descartes.  Pascal  hegte  den  Wunsch,  wieder  an  jene 
ältere  Vereinigung  von  weniger  ausgesprochenem  Parteicharakter  an- 
zuknüpfen, und  das  war  die  allerdings  unerreichte  Absicht^)  eines 
Briefes  von  1654,  in  welchem  er  die  Arbeiten  angab,  welche  damals 
fertig  bei  ihm  bereit  lagen.  Dort  spricht  er  nämlich  von  der  Her- 
stellung von  Kegelschnitten,  welche  fünf  beliebigen  Bedingungen  ge- 
genügen^),  worunter  das  Hindurchgehen  durch  gegebene  Punkte  und 
das  Berühren  gegebener  Geraden  inbegriffen  sei.  Eine  sechste  Ab- 
theilung oder  Abhandlung  endlich  war  nach  Leibnizens  Urtheil  dazu 
bestimmt,  für  sich  allein  veröffentlicht  zu  werden,  weil  Mancherlei 
aus  dem  zweiten  Abschnitte,  insbesondere  die  Definition  des  Hexa- 
gramma  mysticum,  dort  wortgetreu  wiederkehrte.  Wenn  Leibniz  der 
Einzige  war,  welcher  über  die  Untersuchungen  des  jungen  Pascal 
über  Kegelschnitte  einen  auf  uns  gelangten  Bericht  verfasst  hat,  so 
war  er  nicht  der  Einzige,  der  Kenntniss  von  ihnen  nahm^).  Descartes 
zwar  dürfte  nur  den  schon  zu  Pascal's  Lebzeiten  gedruckten  Essai 
gesehen  haben,  und  der  von  ihm  berichtete  Ausspruch,  diese  Schrift 
sei  unmöglich  die  Arbeit  eines  16jährigen  jungen  Mannes,  sondern 
rühre,  wenn  nicht  von  Desargues,  jedenfalls  von  Pascal  dem  Vater 
her,  dürfte  niemals  erfolgt  sein*),  aber  Pater  Mersenne  muss  doch 
wohl  das  grössere  Werk  gekannt  haben,  um  1644  die  Behauptung 
drucken  zu  lassen,  Pascal  habe  aus  einem  einzigen  allgemeinen  Lehr- 
satze 400  Folgerungen  abgeleitet,  ja  den  ganzen  Apollonius  darin  ein- 
geschlossen gefunden.  Wir  haben  hier  noch  eines  Bruchstückes  zu 
gedenken,  welches  von  Pascal  vorhanden  ist,  dessen  Entstehungszeit 
sich  aber  nicht  genauer  bestimmen  lässt,  als  durch  die  einzige  That- 
sache,  dass  das  Descartes'sclie  Co(jito  ergo  sunt  darin  angeführt  ist, 
womit  eine  obere  Grenze  etwa  auf  das  Jahr  1637  als  Druckjahr  des 
Discours  de  la  methode  gewonnen  wird.  Es  ist  eine  Abhandlung 
über  die  Methode  der  geometrischen  Beweisführung^).  Sie 
allein,   sagt  Pascal,   entspreche  den   Anforderungen,    welche   man    an 


1)  Briefliche  Mittheilung  von  P.  Tannery.  ^)  Pascal  ÜI,  219.  =*)  Mon- 
tucla  n,  62.  —  Chasles,  Apergu  hist.  73  und  330  (deutsch  70  und  343). 
*)  So  schon  Bayle  im  Dictionnaire  historique  s.  v.  Pascal.  Die  entgegen- 
gesetzte Meinung  stammt  von  einem  Anonymus  her,  welcher  sie  in  einer  Vor- 
rede aussprach,  ohne  eine  Quelle  dafür  anz.ugeben,  welche  aber  in  einem  Briefe 
Descartes'  vom  April  1640  zu  finden  sein  dürfte.  Dann  fand  die  Legende  durch 
Montucla    unberechtigte    Verbreitung.  ^)  Pascal  III,  163 — 182.     Die  im 

Texte  hervorgehobene  Stelle  III,  178. 


682  71.  Kapitel. 

Definitionen,  an  Axiome,  an  irgend  welche  Beweisführungen  zu  stellen  be- 
rechtigt sei,  und  welche  zusammengefasst  acht  Vorschriften  bilden.  1.  Man 
soll  Nichts  definiren  wollen,  was  an  sich  so  bekannt  ist,  dass  es  an 
einfacheren  Ausdrücken  zu  dessen  Erklärung  fehlt.  2.  Man  soll  keinen 
irgend  dunkeln  oder  Zweifel  gestattenden  Ausdruck  ohne  Definition 
lassen.  3.  Man  soll  bei  den  Definitionen  nur  solcher  Wörter  sich 
bedienen,  welche  entweder  vollkommen  bekannt  sind,  oder  vorher  ihre 
Erklärung  gefunden  haben.  4.  Man  soll  keinen  uothwendigen  Grund- 
satz, so  klar  und  einleuchtend  er  sei,  weglassen,  ohne  die  Frage  zu 
stellen,  ob  man  denselben  als  Axiom  gelten  lasse.  5.  Man  soll  als 
Axiome  nur  Dinge  aufstellen,  die  an  sich  vollkommen  einleuchtend 
sind.  6.  Man  soll  Nichts  zu  beweisen  suchen,  was  dergestalt  ein- 
leuchtend ist,  dass  es  keine  klareren  Beweismittel  giebt.  7.  Man  soll 
jeden  Satz  beweisen,  dem  irgend  Dunkelheit  anhaftet,  und  als  Be- 
weismittel nur  sehr  einleuchtende  Axiome  oder  vorher  schon  Be- 
wiesenes, beziehungsweise  Zugestandenes  anwenden.  8.  Man  soll  fort- 
während in  Gedanken  das  Definirte  durch  seine  Definition  ersetzen, 
um  nicbt  vermöge  des  vielfachen  Sinnes  von  Wörtern,  die  innerhalb 
der  Definition  enger  gefasst  wurden,  zu  Irrthümern  verleitet  zu  werden. 
Die  drei  negativen  Vorschriften  (1.,  4.,  6.),  fährt  Pascal  fort,  könne 
man  vielleicht  als  minder  nothwendig  ohne  Gefahr  vernachlässigen, 
die  fünf  anderen  aber  sind  von  absoluter  Nothwendigkeit,  und  man 
könne  keine  derselben  erlassen,  ohne  in  wesentliche  Mängel,  oftmals 
sogar  in  P'ehler  zu  verfallen.  Wir  wollen  nicht  versäumen,  darauf 
aufmerksam  zu  machen,  dass  in  diesem  Pascal'schen  Bruchstücke  der 
erste  moderne  Versuch  einer  Philosophie  der  Mathematik 
gemacht  ist.  Auch  eine  neue  Einleitung  in  die  elementare  Geometrie 
scheint  Pascal  vorbereitet  zu  haben,  von  welcher  sich  Leibniz  ein 
Bruchstück  abschrieb  ^). 

Mydorge,  Desargues,  Pascal  standen  insgesammt  in  Beziehung 
zu  Deseartes.  Von  ihm  haben  wir  jetzt  zu  reden.  Rene  Descurtes 
du  Perron  (1596 — 1650),  latinisirt  Cartesius,  gehört  zu  den  Per- 
sönlichkeiten, deren  vielbewegtes  Leben  die  zahlreichsten  Schilderungen 
gefunden  hat.  Man  weiss,  dass  er  1604 — 1610  ein  Zögling  des 
Jesuitencollegiums  La  Fleche  war.  Im  Jahre  1614  führte  er  in  Paris 
das  ausschweifendste  Leben,  aus  welchem  er  sich  nach  einem  Jahre 
plötzlich  zurückzog,  um  in  einem  Verstecke  ernsten  Studien  sich  zu 
widmen.  1617  —  1627  durchstreifte  er  Europa  als  Glücksritter,  zu- 
gleich überall  auf  die  Erweiterung  seiner  Kenntnisse  bestrebt.  Hol- 
land, Deutschland,  Ungarn,  dann  wieder  Holland,  Italien  durchstreifte 


1)  C.  J.  Gerhardt,  Beii.  Akad.  Ber.  1892,  S.  202—204. 


Geometrie.  683 

er  nach  allen  Richtimgen.  In  Breda  war  er  1618  in  Verkehr  mit 
dem  vielseitig  gelehrten  Isaak  Beeckman,  der  von  Einfluss  auf 
sein  damals  geschriebenes,  aber  erst  1648  gedrucktes  Compendinm 
Musicae  gewesen  ist.  Dann  war  er  1620  in  Ulm  bei  J  o  h  a  ii  n 
Faulhaber,  von  dem  er  sich  in  algebraischen  Dingen  unterrichten 
liess^).  1628  nahm  er  an  der  Belagerung  von  La  Rochelle  theil, 
wo  Desargues,  wie  wir  sahen  (S.  675),  Ingenieurdienste  leistete. 
Dann  war  Descartes  1629  wieder  in  Holland,  von  wo  er  1631  eine 
Reise  nach  England,  1634  eine  solche  nach  Dänemark  unternahm. 
Den  Verkehr  mit  seiner  Familie  hatte  er  vollständig  abgebrochen. 
Den  Tod  des  Vaters,  Joachim  Descartes,  erfuhr  er  erst  drei  Monate 
nach  dem  Ereignisse,  als  er  1640  brieflich  die  Absicht  kundgab,  ein 
aussereheliches  Töchterchen  zur  Erziehung  nach  Frankreich  zu  bringen. 
Da  auch  das  Kind  damals  starb,  blieb  Descartes  in  Holland,  philo- 
sophisch-religiöse Kämpfe  dort  bestehend,  die  zu  einem  geheimen,  ge- 
fahrdrohenden Anklageverfahreu  gegen  ihn  führten,  welches  nur  mit 
Mühe  unter  Beihilfe  des  französischen  Gesandten  niedergeschlagen 
wurde.  Um  1643  trat  Descartes  in  Briefwechsel  mit  der  Prinzessin 
Elisabeth  von  der  Pfalz,  zu  deren  Besuch  er  dreimal  1644,  1647, 
1648  nach  Frankreich  zurückkehrte.  Auf  der  ersten  Reise  knüpfte 
er  mit  De  Chanut,  dem  französischen  Gesandten  in  Stockholm,  per- 
sönliche Beziehungen  an,  welche  seit  1647  einen  Briefwechsel  mit 
der  Königin  Christina  von  Schweden  im  Gefolge  hatten.  Ihrem  Rufe 
folgte  Descartes  1649  nach  Stockholm,  um  dort  nach  wenigen  Mona- 
ten zu  sterben.  Die  für  die  Geschichte  der  Mathematik  wichtigste 
Schrift  Descartes'  ist  seine  1637  im  Drucke  erschienene  Geometrie. 
Ausserdem  ist  sein  Briefwechsel  eine  nicht  zu  vernachlässigende  Quelle. 
Claude  Clersellier  (1614 — 1684  oder  1686),  Parlamentsadvocat  in 
Paris,  der  besonders  nach  dem  Tode  des  Pater  Mersenne  in  engster 
Beziehung  zu  Descartes  stand,  hat  diesen  Briefwechsel  1667  in  drei 
Bänden  herausgegeben.  Beide  kommen  hier,  wo  wir  nur  Reingeome- 
trisches besprechen,  nicht  in  Betracht,  sondern  nur  ein  mathemati- 
sches Bruchstück  aus  ganz  unbekannter  Zeit,  welches  selbst  nur  in 
einer  zwischen  1672  imd  1676  durch  Leibniz  genommenen  Abschrift 
lückenhafter  Natur   vorhanden   ist  ^).     Es  bezieht   sich    auf  die  Lehre 


^)  Doppelmayr  S.  91  Note  aa.  *)  Oeuvres  inedites  de  Descartes  par 

M.  le  Comic  Foucher  de  Careil  II,  214  (Paris  1860).  —  Artikel  von  Prouhet 
und  Mallet  in  der  Revue  de  Vinstruction  publique.,  Nummern  vom  22.  December 
1859,  5.  Januar,  1.  und  22.  November,  6.  December  1860.  —  Prouhet  in  den 
Compt.  Rend.  de  VAcadcmic  des  sciences  vom  23.  April  1860.  —  Baltzer  in  den 
Monatsber.  Berlin.  Acad.  1861,  S.  1043 — 1046.  —  De  Jonquieres  in  der  von 
Eneström  herausgegebenen  Bibliotheca  mathematica  1890,  pag.  43—55. 


684  '1-  Kapitel. 

von  den  Yielfläcbnern  und  enthält  folgende  Sätze:  Das  Product  der 
Eckenzahl  e  in  4  Rechte  um  8  Rechte  verringert  ist  gleich  der  Summe 
IV  aller  Polygonwinkel  auf  der  Oberfläche  des  Vielflächners.  Für  die 
Summe  iv  gilt  die  Wahrheit,  dass  sie  mit  dem  Vierfachen  der  Flächen- 
zahl /■  vereinigt  die  doppelte  Anzahl  aller  Polygonwinkel,  beziehungs- 
weise das  Vierfache  der  Kantenzahl  k  liefert,  indem  die  Winkelanzahl 
desshalb  der  doppelten  Kantenzahl  gleichkommt,  weil  jede  Kante  zu 
zwei  Flächen  gehört  und  in  jeder  derselben  bei  der  Winkelbildung 
mitwirkt.  Die  beiden  Gleichungen  «^•  =  4e  — 8,  iv-\-4^f=^h  führen 
vereinigt  zu  der  neuen  Gleichung  e -j~ /= ''^"  +  2.  Descartes  kleidet 
sie  in  die  Worte:  Numerus  verorum  angulorum  planorum  est  2(p-^2a — 4^), 
indem  die  Zahl  tv  der  ebenen  Winkel,  wie  wir  soeben  bemerkt  haben, 
der  doppelten  Kantenzahl  gleichkommt,  (p  die  Flächenzahl  (unser  f\ 
a  die  Zahl  der  körperlichen  Winkel  {anguhrum  solidorum)  oder  die 
Eckenzahl  (unser  e)  bedeutet.  Wir  haben  die  Descai-tes'schen  Buch- 
staben durch  andere  ersetzt,  um  die  Form  zu  erhalten,  in  welcher 
später  Euler  den  Satz  neu  entdeckte,  welcher  von  diesem  den  Namen 
des  Eul  er 'sehen  Polyedersatzes  zu  führen  pflegt.  Descartes  hat 
auch  folgende  Ungleichheiten  noch  behauptet:  Die  Zahl  der  Polygon- 
winkel {2k)  ist  mindestens  das  Dreifache  der  Eckenzahl,  d.  h.  2k^  3e; 
das  Doppelte  der  um  2  verminderten  Eckenzahl  ist  die  grösstmög- 
liche  Flächenzahl,  d.  h.  2e  —  4  ^  /";  endlich  e  -\-  4  ^2f,  welcher 
letztere  Satz  so  ausgedrückt  ist:  Die  kleinstmögliche  Flächenzahl  sei 
um  2  grösser  als  die  Zahl,  welche  erhalten  werde,  wenn  man  die 
Hälfte  der  Eckenzahl  oder,  falls  diese  ungerade  ist,  der  um  1  ver- 
mehrten Eckenzahl  nehme. 

Diese  Sätze  führen  uns  wieder  zu  den  Vieleckswinkeln  zurück 
und  zu  den  mannigfachen  Arten  von  Vielecken,  denen  Kepler  und 
G i r a r d  ihr  Augenmerk  zugewandt  haben.  Auch  Athanasius 
Kircher^)  (1602—1680),  ein  Vielschreiber  von  berüchtigter  Un- 
zuverlässigkeit,  hat  wiederholt  mit  Sternvielecken  zu  thun  gehabt.  In 
der  Ars  magna  lucis  et  umhrae  von  1646  dient  ihm  das  Sternsieben- 
eck zur  Bestimmung  der  Sterne,  welchen  die  einzelnen  Wochentage 
zugeeignet  sind.  Den  Entfernungen  von^  der  Erde  nach  geordnet 
heissen  diese  Sterne  Saturn,  Jupiter,  Mars,  Sonne,  Venus,  Merkur, 
Mond.  Werden  die  Namen  in  dieser  Reihenfolge  kreisförmig  hin- 
geschrieben und  nun  bei  Saturn  anfangend  unter  jedesmaliger  Ueber- 
springung   von  zwei  Stellen  geradlinige   Verbindungen   vollzogen,  so 


1)  BibUoth.  math.  1890,  pag.  45  Z.  3  v.  u.  2)  Q^j^gles,  Äpergu  hist.  478 
und  481  (deutsch  548  und  552).  —  AUgem.  deut.sche  Biographie  XVI,  1—4.  Ar- 
tikel von  Er  man. 


Geometrie.  685 

erscheint  das  zweite  Sterusiebeueck,  dessen  Spitzen  die  Reihenfolge 
Saturn,  Sonne,  Mond,  Mars,  Merkur,  Jupiter,  Venus  biklen.  In  der 
Arithmologia  von  1665  kam  Kircher  bei  Besprechung  mannigfacher 
Amulette  auf  das  Sternfünfeck  insbesondere  zu  reden,  und  es  ist  mit 
Recht  hervorgehoben  worden^),  dass  Kircher  bei  dieser  Gelegenheit 
ungleich  seinem  Vorgänger  eines  unregelmässigen  Sternfünfecks  sich 
bedient. 

Johannes  Brozek")  oder  Broscius,  ein  Krakauer  Gelehrter, 
der  Schüler  des  Adriaen  van  Roomen  gewesen  sein  soll,  und  der  unter 
Anderem  1637  De  muneris  perfedis  und  De  numeris  amlcitiae  schrieb, 
hat  die  Sternvielecke  in  seiner  Apologia  p^v  Aristotele  et  Euclide  contra 
Petrum  Ramum  et  alios  (Danzig  1652)  von  einem 
ganz  anderen  Gesichtspunkte  aus  betrachtet.  Er 
leugnet  sie.  Er  sieht  z.  B.  in  dem  Sternfünfeck 
(Figur  132),  welches  er  unter  Entfernung  der  im  "x 
Innern  der  Figur  verlaufenden  Strecken  gezeichnet 
wissen  will,  ein  Zehneck  mit  fünf  spitzen  und  fünf 
überstumpfen  Winkeln,   und   wenn  er  auch  einsieht,  ^jg  ^^^ 

dass  die  Summe  der  fünf  spitzen  Winkel  zwei  Rechte 
betrage,  so  sei  doch  die  Winkelsumme  des  ganzen  Zehnecks  16  Rechte. 
Der  überstumpfe  Winkel  heisst  ihm  dabei  angulus  reclinatus.    Broscius 
beruft  sich  in  seiner  Untersuchung  auf  das  Werk  des  Bradwardinus 
und    kennt    gleich    diesem    verschiedene    Ord- 
nungen    von    Sternvielecken,    deren    Eckenzahl  4^"^^^^^"""-^ 

er  nur  nach  seiner  Auffassung  anders  bestimmt.        ^"^     -^^^^^^'^ \\^ 
Auch    die    Entstehung    dieser  Figuren    ist    bei       />^^?v^/\^^<A^A 
Broscius'  eine  wesentlich  neue  (Figur  133).    Er     A\    /    \a     /  \  ^Ak 
halbirt    sämmtliche   Seiten    des    ursprünglichen     /  \  J\^    i       r~/\^  /  \ 
w-ecks    (etwa    bei    n  =  7)    und    verbindet    die       \/     \/     \/    \// 
Halbirungspunkte     du)-ch     punktirte     Strecken.  \'  -\  /''/ 

Dreht  man  nun  die  sieben  Dreiecke,  welchen  die 

.     .  .  Pig    133. 

punktirten    Strecken    als    Grundlinien    dienen, 

um  diese  herum,  so  dass  sie  mit  ihren  Spitzen  nach  innen  fallen 
(z.  B.  ABC  nach  ABC),  so  ist  aus  dem  Siebeneck  ein  ihm  iso- 
perimetrisches, aber  der  Flüche  nach  kleineres  Vierzehneck  geworden. 


^)  Günther,  Vermischte  Untersuchungen  zur  Geschichte  der  mathemati- 
schen Wissenschaften,  S.  15 — 16,  wo  aber  irrig  Kircher's  Arithmologia  S.  537 
citirt  ist  statt  S.  217.  *)  Kästner  III,  199—205.  —  Chasles,  Apergti  hist. 

pag.  486—487  (deutsch  S.  558 — 560.  In  der  üebersetzung  ist  S.  559,  Z.  21  v.  u. 
Seiten  in  Winkel  zu  verbessern).  —  Günther  1.  c.  S.  21—25.  —  J.N.Franke, 
Jan  Brozek  (J.  Broscius)  akademik  krakowski  1585—1652  (Krakau  1884).  — 
Briefliche  Mittheilung  von  H.  Studnicka. 


686  71.  Kapitel. 

Die  nach  innen  gekehrten  Eckpunkte  (z.  B.  C,  D')  verbindet  Broscius 
wieder  durch  punktirte  Strecken,  so  entstehen  abermals  sieben  Drei- 
eckchen mit  punktirten  Grundlinien,  welche  neuerdings  um  diese  nach 
innen  gedreht  (z.  B.  AC'D'  nach  A"C'D')  ein  wiederum  isoperi- 
metrisches, aber  der  Fläche  nach  noch  kleineres  Vierzehneck  hervor- 
bringen. Aus  dem  Grewirre  der  gezeichneten  Strecken  treten  neben 
dem  äusseren  rings  convexen  Siebenecke  deutlich  ein  Sternsiebeneck 
erster  und  ein  solches  zweiter  Ordnung  hervor. 

Eine  andere  Richtung  geometrischer  Schriftstellerei  knüpft  sich 
am  leichtesten  an  Schwenter's  Praktische  Geometrie  an,  wenn  auch 
keineswegs  behauptet  werden  will,  dieses  Werk  habe  den  Anstoss 
gegeben.  Schwenter's  zweiter  Tractat  (S.  668)  lehrte  Feldmessen 
unter  alleiniger  Anwendung  der  Messstange  oder  Messkette.  Aehn- 
liches  hat  ein  polnischer  Schriftsteller^)  Namens  Mathias 
Gloskowski,  von  dem  man  aus  vereinzelten  Angaben  in  seinem 
Buche  weiss,  dass  er  jener  Nation  angehörte  und  dem  Prinzen  Wil- 
helm II.  von  Oranien  (1626 — 1650)  nahe  stand,  in  einer  Schrift  ge- 
lehrt, welcher  er  den  Titel  Geometria  pere(jrinans  beilegte.  Diese 
Angaben  genügen  auch,  um  der  ohne  jede  Ort-  und  Zeitangabe  ge- 
druckten Schrift  jedenfalls  ein  späteres  Datum  als  das  der  Schwenter- 
schen  Geometrie  (1625)  zuzuweisen.  Sie  gelangte  in  den  Besitz  des 
jüngeren  Franciscus  van  Schooten  (S.  660),  und  dieser  druckte 
einen  Theil  derselben  nebst  ähnlichen  Aufgaben  eigener  Erfindung 
als  zweites  Buch  seiner  Exercitationcs  mathematkae  mit  der  Sonder- 
überschi-ift:  I)'e  constructione  proUetnatum  simplicmm  geometricormn 
seil  quae  solvi  poi^sunt  ducendo  üintmn  rectas  l'meas.  Ebensowenig  wie 
bei  Schwenter  hat  man  es  hier  mit  ausschliesslicher  Anwendung  des 
Lineals  zu  thun,  da  die  Annahme  festgehalten  ist,  man  sei  im 
Stande,  die  Länge  zugänglicher  Strecken  eben  mit  Hilfe  der  Mess- 
stange zu  bestimmen,  beziehungsweise  Strecken  von  bestimmter  Länge 
zu  ziehen.  Auch  das  erste  Buch  der  Eocercitaüones  mathematicae  ist 
zur  Hälfte  der  Geometrie  eingeräumt.  Dort  sind  50  arithmetische 
und  50  geometrische  Aufgaben  vereinigt,  sämmtlich  so  einfacher 
Natur,  dass,  wenn  auch  bei  einigen  Auflösungen  Scharfsinn  nicht 
zu  verkennen  ist,  wir  doch  ruhig  sagen  können,  den  Druck  hätten 
sie  nicht  verdient. 

Der  Zeit    der   Veröffentlichung    nach    gehört    hierher    auch    eine 
Schrift  von  John  Wallis-)  (1616—1703),  welcher  mit  theologischen 


')  Franciscus  van  Schooten,  Exercitationesviathematicae,  pag.  160—161. 
—  J.  N.  Franke  und  A.  Jakubowski  haben  1878  eine  Einzeluntersuchung  über 
Gloskowski  in  polnischer  Sprache  veröifentlicht.  Vergl.  S.  Dickstein,  Bihlioth. 
mathemat.  1889,  S.  49.         -    Poggendorff  II,  1253. 


Geometrie.  687 

Studien  beginnend  seit  1649  der  Mathematik  als  Professor  der  Geo- 
metrie an  der  Universität  Oxford  lehrend  oblag.  Er  gab  1656  eine 
Abhandlung  De  amjulo  contadus  et  semicirculi  tradatus^)  heraus, 
welche  in  der  wiederholt  erwähnten  Streitfrage  wegen  des  gemischt- 
linigen  Winkels  zwischen  einer  Curve,  insbesondere  dem  Kreise,  und 
seiner  Berührungslinie  für  die  Ansicht  eintrat,  jener  Winkel  sei  über- 
haupt nicht  vorhanden,  er  sei  positiv  ausgedrückt  ein  non-anc/ulum, 
ein  non-quantum,  und  Clavius  habe  also  Unrecht  zu  leugnen,  dass 
der  Halbkreis  mit  seinem  Durchmesser  einen  rechten  Winkel  bilde. 
Abgethan  war  der  Streit  damit  noch  immer  nicht.  Eine  Entgegnung 
in  der  Cydomaihia  des  Leotaud  von  1662  machte  eine  Defensio 
Wallis'  von  1685  noth wendig,  welche  aber  die  Grenzen  der  in  diesem 
Bande  behandelten  Zeit  allzuweit  überschreitet,  um  mehr  als  im  Vor- 
übercrehen  genannt  werden  zu  dürfen. 


72.  Kapitel. 
Praktische  und  theoretische  Mechanik. 

Viel  machte  eine  geometrisch -mechanische  oder,  wie  man  mit 
fast  gleichem  Rechte  sagen  könnte,  eine  arithmetisch -mechanische 
Erfindung  von  sich  reden,  die  des  Proportionalzirkels ^). 

Die  erste  Erfindung  wird  einem  Antwerpener  Schriftsteller  über 
SchiflPfahrtskunde ,  Michel  Coignet  (1549 — 1623)  zugeschrieben. 
Neben  Coignet  sind  auch  zwei  italienische  Schrifteller,  Comman- 
dino  und  Del  Monte,  neben  ihnen  Christoph  Schissler  in  Augs- 
burg, von  welchem  ein  Proportionalzirkel  mit  der  Datirung  1574  sich 
im  Besitze  der  Sternwarte  von  Kremsmünster  befindet^),  und  Daniel 
Speckle,  der  deutsche  Pestungsbaumeister,  Mitbewerber,  und  ihre 
Ansprüche  gehen  sämmtlich  in  das  XVI.  Jahrhundert  zurück.  Einiger- 
massen genauer  datirt  ist  auch  die  Erfindung  Speckle's,  welche  in 
dessen  Ardiitedura  von  1589  im  Drucke  veröif entlicht  ist.  Der 
Zweck  des  Proportionalzirkels  ist  der  einer  graphischen  Tabelle.  Auf 
zwei  in  Zirkelart  mit  einander  verbundenen  Linealen  sind  Längen  der 


1)  Opera  WaUisii  III,  603—630.  *)  Kästner  III,  336—352  und  desselben 
Anfangsgründe  der  Arithmetik,  Geometrie,  ebenen  und  sphärischen  Trigonome- 
trie und  Perspective  (6.  Auflage,  Göttingen  1800),  S.  489—495.  —  Klügel,  Ma- 
thematisches Wörterbuch  III,  909—917.  —  Quetelet  pag.  123—125.  —  Favaro, 
Galileo  Galilei  e  lo  studio  ili  Padova  I,  212—248  und  II,  353.  *)  Fellöcker, 
Geschichte  der  Sternwarte  von  Kremsmünster  (Programm  des  k.  k.  Gymnasiums 
zu  Kremsmünster  1864),  S.  31. 


688  72.  Kapitel. 

verschiedensten  Art  ein  für  alle  Mal  aufgezeichnet:  arithmetische  Linien, 
deren  Abtheilungeu  alle  einander  gleich  sind;  quadratische  Linien, 
deren  einzelne  abgegrenzte  Theile  im  Verhältnisse  der  Quadratwurzeln 
der  beigeschriebenen  Zahlen  zu  einander  stehen;  kubische  Linien  für 
die  Kubikwurzeln  der  beigeschriebenen  Zahlen  u.  s.  w.  So  weit  war 
es  nicht  erforderlich,  dass  die  Lineale,  auf  welche  jene  Maassstäbe 
aufgetragen  wurden,  in  zirkelartiger  Verbindung  standen,  allein  die 
Eigenschaft  der  Vorrichtung  als  wirklicher  Proportionalzirkel  trat  hin- 
zu und  verlangte  jene  Vereinigung.  Es  sollten,  während  die  Zirkel- 
weite einer  beliebigen  Entfernung  entsprechend  gespannt  wurde,  zwei 
andere  Punkte  der  Zirkelstangen  von  selbst  eine  Entfernung  zeigen, 
die  zur  ersten  in  einem  gewünschten  Verhältnisse  stand.  Diesem  Ver- 
Q  langen   konnte    entsprochen    werden 

(Figur  134).  In  Deutschland  gab 
man  jedem  der  beiden  als  Zirkel- 
stangen dienenden  Lineale  oben  und 
unten  eine  Spitze  und  vereinigte 
beide  mittels  eines  beweglichen  Zir- 
kelkopfes, so  dass  die  Länge  jeder 
Stange  oberhalb  und   unterhalb  des 

Fig.  134.  ö 

Kopfes  wechselte.  Li  Italien  war 
der  verbindende  Zirkelkopf  fest,  dagegen  war  an  jeder  Zirkelstange 
eine  zweite  Spitze  verschiebbar.  Die  meisten  dieser  Vorrichtungen 
sind  im  XVII.  Jahrhunderte  veröffentlicht  worden  und  haben ,  vor- 
nehmlich in  Italien,  zu  weit  heftigeren  Streitigkeiten  Anlass  gegeben, 
als  die  ganze  Sache  verdiente,  insbesondere  da,  wie  eben  bemerkt 
wurde,  von  einer  ganz  neuen  Erfindung  überhaupt  nicht  gesprochen 
werden  konnte. 

Innerhalb  des  XVII.  Jahrhunderts  fand  die  erste  Veröffentlichung 
in  Deutschland  statt.  Jobst  Bürgi  hatte  einen  Proportionalzirkel 
angefertigt  und  Philip  Horcher^)  beschrieb  ihn  1605  in  einer  in 
Mainz  gedruckten  Abhandlung  in  lateinischer  Sprache.  Eine  deutsche 
Beschreibung  hatte  Levinus  Hulsius^)  bereits  1603  verfasst,  aber 
sie  ist  erst  1607  gedruckt.  Sie  führt  den  Titel:  Beschreibung  und 
Unterricht  des  Jobst  Burgi  Proportionalzirkels  war  in  Verlegung  der 
Wittwe  Levini  Hulsii.  Hulsius  oder  Lievin  van  Hülst  war  in  Gent 
geboren,  brachte  aber  sein  ganzes  Mannesalter,  etwa  seit  1590,  in 
Deutschland  zu.  Nürnberg  wurde  dort  zunächst  sein  Aufenthalt,  und 
er  ernährte  sich  durch  Ertheilung  französischen  Unterrichtes.     Später 

1)  Kästner  UI,  336.  -)  Ebenda  III,  379— 3Sr,.   —   Quetelet  pag.  179 

— 180.    —    LePaigein  dem  Bullet,  de  Vinstitut  archeologique  Liegeois  XXI, 
485—487.  V 


rraktisclie  uud  theoretische  Mechanik.  G89 

ging  er  zum  Buchhandel  über  und  zog,  nachdem  er  fast  anderthalb 
Jahre  auf  Reisen  zur  Anknüpfung  von  Geschäftsverbindungen  zuge- 
bracht hatte,  um  1603  nach  Frankfurt,  wo  er  jedenfalls  vor  1607 
gestorben  ist.  Die  Abhandlung  über  den  Proi3ortionalzirkel  war  die 
dritte  von  15,  welche  Hulsius  herauszugeben  dachte,  und  welche  alle 
damals  irgend  gebräuchlichen  mechanischen  Vorrichtungen  in  deutscher 
Sprache  zu  beschreiben  bestimmt  waren.  Des  Verfassers  Tod  verhin 
derte  die  Ausführung  des  Unternehmens.  Den  ersten  Tractat  gab  er 
selbst  1604,  den  zweiten  schon  ein  Jahr  früher  1603  heraus.  Den 
dritten  verlegte,  wie  bemerkt,  1607  die  Wittwe,  der  vierte  Tractat 
endlich  ist  1605  erschienen,  ob  noch  durch  Hulsius  selbst  oder  schon 
durch  seine  Wittwe  verlegt,  ist  auf  dem  Titel  nicht  angegeben. 
Weiteres  kam  nicht  heraus. 

Zwischen  das  Erscheinen  der  beiden  Beschreibungen  des  Bürgi- 
schen Zirkels  fällt  die  des  Galilei'schen.  Galileo  Galilei  (1564 — 
1642)  gehört  mit  seinen  merkwürdigen  Lebensschicksalen  der  Welt- 
geschichte an.  Das  Verbot  von  1616,  die  koppernikanische  Lehre 
irgendwie  zu  vertreten,  die  endgiltige  Verurtheilung  dieser  Lehre 
durch  eine  geistliche  Prüfungscommission  1620,  die  Wirkung,  welche 
das  Verbot  von  1616  dann  1633  in  dem  Processe  gegen  Galilei  übte, 
seine  Verurtheilung,  sein  Lebensende  als  blinder  Halbgefangener  auf 
einer  Villa  bei  Florenz  bedürfen  hier  keiner  genauen  Erörterung,  so 
wenig  wie  die  meisten  wissenschaftlichen  Streitigkeiten  seines  an 
Kämpfen  reichen  Lebens,  weil  dieselben  in  der  Hauptsache  astrono- 
mische waren.  Nur  sein  erster  Streit  war  ein  mathematischer  und 
knüpft  sich  an  die  Erfindung  des  Proportionalzirkels.  Galilei,  in  Pisa 
geboren  und  Zögling  der  dortigen  Hochschule,  wurde  bereits  1589 
ebendaselbst  Professor  der  Mathematik.  Von  1592 — 1610  war  er 
sodann  in  gleicher  Eigenschaft  in  Padua  angestellt,  und  dort  war  es, 
dass  er  mit  dem  Proportionalzirkel  sich  beschäftigte.  In  einem  Ein- 
nahmebuche Galilei's,  welches  sich  erhalten  hat,  finden  sich  für  das 
Jahr  1599  wiederholte  Einträge  von  Summen,  welche  für  Instrumente, 
von  anderen,  welche  für  Zirkel  eingenommen  wurden  ^),  Dann  erschien 
1606  in  Padua  Le  operazioni  del  Compasso  geonietrico  e  militare  di 
Galileo  Galilei.  In  der  Vorrede  erklärte  der  Verfasser,  er  habe  Er- 
gebnisse erstrebt  und  q^uch  erreicht,  welche  Anderen,  die  ähnliche 
Instrumente  schoji  ausführten,  nicht  in  den  Sinn  gekommen  seien. 
Im  Frühjahre  1607  folgte  der  Druck  einer  Schrift  Usus  et  fdbrica 
circini  cidusdam  proportionis  von  Baldassare  Capra  und  die  Ueber- 
reichung  eines  Exemplares  derselben  an  Giacomo  Aloise  Cornaro. 


')  Favaro  1.  c.  T,  207. 

Cantoe,  Geschichte  der  Mathem.    U.     2.  Aufl.  44 


690  "2.  Kapitel. 

Um  die  ganze  Bedeutung  dieses  kurzen  Satzes  zu  ermessen, 
müssen  wir  um  einige  Jahre  zurückgreifen.  Ein  Mailänder,  Aurelio 
Capra,  war  kurz  nach  Galilei's  Berufung  nach  Padua  mit  seinem 
Sohne  Baldassare  Capra  ebendahin  gekommen,  und  Vater  und  Sohn 
waren  dort  mit  Galilei  bekannt  geworden.  Die  Vermittelung  hatte 
Giacomo  Aloise  Cornaro  übernommen ,  und  in  dessen  Hause  und 
eigener  Gegenwart  weihte  Galilei  Vater  und  Sohn  in  den  Gebrauch 
des  Proportionalzirkels  ein.  Von  Cornaro  entlieh  dann  Capra  noch 
einen  solchen  Zirkel,  um  ihn  genauer  zu  studiren.  Es  gehört  zu 
den  menschlichen  Unbegreiflichkeiteu,  dass  Capra  es  nunmehr  1607 
wagte,  eben  demselben  Cornaro  eine  Schrift  zu  überreichen,  die 
nichts  Anderes  war,  als  eine  von  Missverständnissen  wimmelnde 
Üebersetzung  der  Galilei'schen  Schrift,  ohne  dass  Galilei's  Name  auch 
nur  ein  einziges  Mal  darin  erwähnt  wurde. 

Der  entrüstete  Cornaro  sandte  Capra  das  Buch  zurück  und  machte 
zugleich  Mittheilung  an  Galilei,  der  eine  Klage  gegen  Capra  bei  der 
obersten  Studienbehörde  in  Venedig  einreichte.  Es  ist  eine  neue 
Unbegi-eif lichkeit ,  dass  Galilei  den  wahren  Thatbestaud  und  seine 
eigenen  Worte  in  der  Vorrede  von  1606  jetzt  so  sehr  ausser  Acht 
liess,  dass  er  den  Proportionalzirkel  für  seine  ausschliessliche  Erfin- 
dung erklärte,  die  er  1597  gemacht  habe,  und  in  welcher  Niemand, 
wer  es  auch  sei,  ihm  vorangegangen  sei.  Es  ist  aber  noch  unerklär- 
licher, dass  Capra,  dem  es  keineswegs  au  Zeit  fehlte,  eine  Verthei- 
digung  vorzubereiten,  jene  Uebertreibungen  Galilei's  nicht  rügte,  als 
falsch  nachwies  und  zu  seinen  Gunsten  verwerthete.  Das  Urtheil 
musste  demnach  vollständig  gegen  Capra  ausfallen.  Dessen  Buch 
wurde  unterdrückt^),  während  eine  Difesa  coniro  edle  ealunme  et  im- 
posture  di  Bcddassar  Capra  aus  Galilei's  Feder,  eine  Streitschrift 
bissigster  Natur,  wie  sie  vielleicht  seit  den  Cartelli  Ferrari's  und 
Tartaglia's  nicht  wieder  gedruckt  worden  war,  die  weiteste  Verbreitung 
fand.  Wahrscheinlich  durch  den  Wiederhall  dieses  Streites  kam 
Galilei's  Proportionalzirkel  auch  ausserhalb  Italiens  zu  mehr  als  ver- 
dientem Ruhme  und  überflügelte  den  Bürgi's,  welchen  er  allerdings 
auch  durch  eine  grössere  Zahl  von  aufgezeichneten  Linien  etwas  über- 
treffen mochte. 

Mathias  Bernegger-)  (1582 — 1640),  ein  Oesterreicher,  welcher 
als  Professor  der  Geschichte  und  der  Beredsamkeit  der  Universität 
Strassburg  angehörte,  beschrieb  1612  den  Galilei'schen  Zirkel  in 
lateinischer  Sprache.     Verbesserungen,   welche   aber  an  dem  Mangel, 

^;  Einzelne  Exemplare  müssen  der  Veniichtung  entgangen  sein,  denn  sonst 
wäre  der  Wiederabdruck,  der  in  den  Werken  Galilei's  stattfand,  nnmöglicli 
gewesen.         -)  Kästner  III,  337—339  und  340. 


Praktische  und  theoretische  Mechanik.  091 

der  allen  Proportionalzirkeln  anhaftet,  in  hohem  Grade  unhandlich 
zu  sein  und  bei  der  Vielheit  angegebener  Theilungen  keine  Zuver- 
lässigkeit zu  besitzen,  in  immer  stärkerer  Weise  litten,  veröffentlichte 
der  uns  bekannte  Johann  Faulhaber \)  von  Ulm  IG  12,  dann  Georg 
Galgemayr-)  von  Donauwörth  1615  und  1626.  Als  besonders  vor- 
trefflich wird  von  Zeitgenossen  gerühmt  Georg  Brendel  ■'),  Das 
Schrägmess  oder  der  Proportional  Circkel  (Ulm  1615). 

Aus  dem  Jahre  1617  stammt  ferner  der  Bericht  und  Gebrauch 
eines  Proportionallineals,  nebst  kurzem  Unterrichte  eines  Parallel- 
instrumentes von  Benjamin  Bramer*).  Auch  diese  Persönlichkeit 
ist  des  Yerweilens  werth.  Benjamin  Bramer  (1588  bis  kurz  nach  1648) 
war  der  jüngere  Bruder  von  Job  st  Bürgi's  erster  Frau  und  wurde 
als  dreijährige  Waise  von  diesem  angenommen.  Er  folgte  Bürgi 
1603  nach  Prag  und  blieb  daselbst  bis  1611.  Die  zweite  Heirath 
seines  inzwischen  verwittweten  Schwagers  gab  zur  Trennung  Anlass. 
Bramer  kam  dann  als  Baumeister  zuerst  nach  Marbui-g,  später  nach 
Ziegenhayn.  Er  blieb  übrigens  trotz  der  Trennung  von  Bürgi  dem- 
selben stets  dankbar  ergeben  und  rechnete  es  sich  zur  Aufgabe, 
Bürgi's  Leistungen  nicht  in  Vergessenheit  gerathen  zu  lassen,  noch 
zu  dulden,  dass  Anderen  zum  Ruhme  gereichte,  was  er  als  Bürgi's 
Verdienst  betrachtete.  Es  ist  kaum  nothwendig  hinzuzusetzen,  dass 
auch  Bürgi's  Proportionalzirkel  zu  den  von  Bramer  beschriebenen 
Vorrichtungen  gehörte.  In  einer  späteren  Schrift''')  Bramer's  von 
1648  ist  auch  ein  Triangularinstrument  Bürgi's  beschrieben,  d.  h.  eine 
aus  drei  Linealen  gebildete  Vorrichtung,  welche  bei  feldmesserischen 
Arbeiten  zu  benutzen  war. 

Der  Galilei'schen  Richtung,  wenn  wir  so  sagen  dürfen,  näherte 
sich  wieder  Adriaen  Metius^)  von  Alkmaar  (S.  600)  mit  seiner 
Praxis  nova  geometrica  i^er  usiim  cirdnis  et  reguhic  ]yroportionalis  von 
1623,  und  eine  ähnliche  Vorrichtung  bürgerte  Edmund  Gunter 
(S.  604),  dessen  Description  and  use  of  the  Sedor,  Cross-sta/f,  Quadrant 
and  ather  instrumcnt,  jedenfalls  vor  1626,  als  dem  Todesjahre  des 
Verfassers,  fertig  gestellt  wurde,  in  England  ein.  Ueber  die  Art  von 
Proportionalzirkel,  welche  der  pommersche  Festungsbauer  Wendel  in 
Schildkuecht  1652  in  seiner  Beschreibung  Festungen  zu  bauen 
erläutert^),  sind  wir  nicht  unterrichtet. 

Zu  den  Arbeiten  einer  praktischen  Mechanik,  welche  der  Geo- 
metrie   sich   nützlich   erweisen,   müssen    wir   auch   solche   zählen,    die 

1)    D  0  p  p  e  1  m  a  y  r  S.  94   Note  b.  ^)   Kästner   III,  343  und  34G. 

^)  H.  Rudel  in  der  Festschrift  des  Pegnesischen  Blumenordens  (Nürnberg  1894), 
S.  368.  *)  Kästner  III,  344.  Allg.  deutsche  Biographie  Ilf,  234.  ^)  Ebenda 
m,  368—371.         6)  Ebenda  III,  345.         "•)  Poggeudorff  II,  797. 

44* 


G92  72.  Kapitel. 

geeignet  sind,  Messungen  ganz  kleiner  Unterabtlieilungen  von 
Strecken  oder  Winkeln  zu  ermöglichen.  Wir  haben  in  Clavius 
(S.  580)  den  Erfinder  einer  solchen  Vorrichtung  kennen  gelernt, 
wenig  von  derselben  verschieden  und  namentlich  darin  mit  ihr  über- 
einstimmend, dass  zwei  unabhängig  von  einander  bestehende  gerad- 
linige oder  kreisbogenförmige  Maassstäbe  an  einander  zur  Verschiebung 
kommen,  waren  die  Vorschläge  dreier  Schriftsteller^),  Peter  Vernier 
(1631),  Benedict  Hedraeus  (1643),  Gerhard  von  Gutschoven 
(1674),  deren  Ersterer  namentlich  dazu  ausersehen  wurde,  der  be- 
treffenden Erfindung  seinen  Namen  aufzudrücken,  unter  welchem  sie 
neben  dem  des  Nonius  sich  erhalten  hat. 

Des  weiteren  haben  wir  von  mechanischen  Verfahren  zur  Her- 
stellung von  Kegelschnitten  zu  reden.  Früher  sahen  wir  (S.  578), 
dass  Barozzi  einen  Kegelschnittzirkel  erfunden  hat.  Aehnliches  ist 
aus  dem  Jahre  1614  von  Christoph  Scheiner^)  (1573 — 1650)  zu 
berichten.  Scheiner  war  Mitglied  des  Jesuitenordens  und  fand  als 
Lehrer  erst  in  Freiburg  im  Breisgau,  dann  seit  1610  in  Ingolstadt 
Verwendung.  Seine  Lehrthätigkeit  war  beendigt,  als  er  1617  das 
Rectorat  des  JesuitencoUegiums  zu  Neisse  übernehmen  musste.  Am 
bekanntesten  neben  Scheiner's  1612  beginnenden  Streitigkeiten  mit 
Galilei  wegen  der  Entdeckung  der  Sonnenflecken,  auf  welche  beide 
Anspruch  erhoben,  ist  eine  für  praktische  Zwecke  der  Zeichenkunst 
sehr  fruchtbare  Erfindung,  auf  welche  wir  zurückkommen.  Zunächst 
berichten  wir  über  eine  Vorrichtung  ^') ,  welche  Scheiner  durch  einen 
Schüler  Johann  Georg  Schönberger  in  Form  einer  Dissertation 
Exegcses  fnndamentorum  fjnomicorum  1614  in  Ingolstadt  veröfi'ent- 
lichen  liess.  Ein  um  eine  Axe  gedrehter  Stift  von  veränderbarer 
Länge  stellt  die  Erzeugende  des  Kegels  vor,  und  giebt  man  zugleich 
der  Axe  eine  bestimmte  Neigung  gegen  die  Zeichnungsebene,  so  wird 
diese  zur  Schnittebene  des  Kegels,  auf  welcher  je  nach  der  Neigung 
die  gewünschte  Curve  entsteht.  Der  Gedanke  ist,  wie  man  sieht, 
dem  Barozzi's  verwandt.  Ob  Scheiner  von  jenem  Kenntniss  besass, 
sei  dahingestellt. 

Wieder  den  gleichen  Gedanken  verwirklichte  Benjamin  Br  am  er 
in  zwei  Ausführungen,  welche  vielleicht  etwas  richtigere  Curven  her- 
vorbringen mochten,  als  Scheiner's  für  genaue  Zeichnungen  unge- 
schickter Apparat,    aber    dafür    so    umständlicher   Benutzung    waren. 


^)  Kästner,  III,  356—360.  -)  Allgem.  deutsche  Biographie  XXX,  718— 
720.  Artikel  von  Günther.  —  A.  von  Braunmühl,  Christoph  Scheiner  als 
Mathematiker,  Physiker  und  Astronom  (Bamberg  1891).  ^)  A.  von  Braun- 

mühl 1.  c.  und  Zeitschr.  Math.  Phys.  XXXV,  Histor.-liter.  Abthlg.    S.  163—164. 


Praktische  und  theoretische  Mechanik.  693 

dass  sie  wenig  Beiftill  fanden.  Bramer  beschrieb  sie^)  in  seinem 
Apollonius  Cattiis  oder  Kern  der  ganzen  Geometrie.  Entstanden  ist 
dieses  Buch  1634,  die  Vorrede  führt  die  Jahreszahl  164G,  gedruckt 
wurde  der  Aj)ollonius  Cattus  erst  1684.  Den  Namen  hat  Bramer 
dem  Apollonius  Gallus  des  Vieta  und  dem  Apollonius  Batavus  des 
Willebrord  Snellius  nachgebildet.  Ausser  der  Beschreibung  des 
Werkzeuges  zum  Zeichnen  von  Kegelschnitten  enthält  das  Buch  aller- 
lei Sätze  über  jene  krummen  Linien  nebst  deren  Beweise. 

Mit  der  Aufgabe,  Kegelschnitte  auf  mechanischem  Wege  her- 
zustellen, hat  auch  der  jüngere  Franciscus  van  Schooten  in 
seinen  Exercitationcs  mafhentaticae  sich  beschäftigt.  Deren  4.  Buch 
führt  geradezu  die  Ueberschrift  De  organica  conicanim  sediommi  in 
piano  descriptione.  Seine  Methoden  sind  aber  wesentlich  andere  als 
die  seither  geschilderten.  Die  Kegelschnitte  sind  nicht  als  solche, 
sondern  als  ebene  Curven  ins  Auge  gefasst,  beziehungsweise  van  Schooten 
bedient  sich  zu  ihrer  Zeichnung  solcher  Eigenschaften,  die  von  der 
Entstehung  auf  einem  geschnittenen  Kegel  unabhängig  sind.  Er  er- 
klärt in  der  Vorrede,  keine  Schrift  ähnlichen  Inhaltes  zu  kennen. 
Er  wisse  wohl,  dass  Aiguillon  eine  solche  geplant  habe,  aber  durch 
dessen  Tod  sei  die  Vollendung  verhindert  worden.  Auch  von  Otter 
heisse  es,  dass  er  viel  über  den  Gegenstand  nachgedacht  habe,  heraus- 
gegeben habe  aber  auch  dieser  nichts.  Auf  Aiguillon  kommen  wir 
noch  zurück.  Otter  ist  zweifellos  Christian  Otter ^)  (1598—1660) 
aus  Ragnit  in  Preussen,  welcher  zuerst  Hofmathematicus  des  Kur- 
fürsten Friedrich  Wilhelm  von  Brandenburg,  später  Professor  der 
Mathematik  in  Nimwegen  war,  und  der  in  der  Geschichte  des  Festungs- 
baues mit  grossen  Ehren  genannt  wird.  Der  Natur  der  Eigen- 
schaften entsprechend,  von  welchen  van  Schooten  Gebrauch  machte, 
und  unter  welchen  die  Eigenschaften  der  Brennstrahlen  vorzugsweise 
häufig  in  Wirksamkeit  treten,  bestehen  die  Vorrichtungen  vielfach 
aus  drei,  auch  aus  vier  Linealen,  welche  an  und  in  einander  eine 
gewisse  immerhin  durch  Scharnierverbindungen  behinderte,  durch 
Schlitze  ermöglichte  Beweglichkeit  besitzen.  Sie  erinnern  dadurch 
im  Allgemeinen  wenigstens  an  jene  erste  Erfindung  Scheiner's,  von 
welcher  ankündigungsweise  die  Rede  war. 

Seh  einer  ^)  hat  1631  seine  Pantographlcc  seil  ars  delineandi  res 
qiiasUbet  per  parallel ogrammum  herausgegeben,  will  aber  schon  1603, 
mithin    in   seiner  Freiburger  Zeit,    darauf   gekommen    sein.     Damals 


*)  Kästner  III,  195—196.    —    A.   von  Braunmühl    in    Zeitschr.  Math. 
Phys.  XXXV,  Histor.-liter.  Abthlg.  S.  164—165.  '^)  Poggendorff  II,  338. 

^)  Klügel,  Mathematisches  Wörterbuch  III,  710—712  s.  v.  Pantograph. 


694 


72.  Kapitel. 


will  er  die  Bekanntschaft  eines  Malers  gemacht  haben,  welcher  ihm 
die  Eigenschaften  einer  in  seinem  Besitze  befindlichen  Vorrichtung 
zur  mechanischen  Wiederholung  eines  beliebigen  Originals  in  anderem 
Maassstabe  rühmte,  den  Anblick  aber  ihm  verweigerte.  Daraufhin 
grübelte  Scheiner  so  lange,  bis  er  den  Pantographen  oder  Storch- 
schnabel   ersann,    über    welchen    der  Maler   nicht   genug  erstaunen 

konnte  (Figur  135).  Vier  Stangen 
BF,  BH,  CI,  DG  sind  in  Ge- 
lenken B,  C,  D,  E  mit  einander 
verbunden  und  bilden  ein  unter 
Beibehaltung  seiner  Seitenlängen 
verschiebbares  Parallelogramm. 
Wird  der  Apparat  bei  dem  auf 
BF  befindlichen  Punkte  P  mit 
einem  Stifte  befestigt,  und  ist  ein 
Punkt  Ä  der  BH  mit  irgend  einem 
Punkte  des  nachzubildenden  Ori- 
ginals zur  Deckung  gebracht,  so  giebt  es  einen  Punkt  a  der  CI, 
welcher  A  so  entspricht,  dass  die  drei  Punkte  P,  a,  Ä  in  einer  Ge- 
raden liegen.  Ein  in  a  befindlicher  Zeichenstift  wird  diesen  Punkt 
auf  einer  auf  dem  Originale  aufliegenden  Zeichenfläche  bildlich  dar- 
stellen. Dreiecksähnlichkeiten  lassen  erkennen,  dass  dabei  die  Längen- 
verhältnisse stattfinden  Pa  :  PÄ  =  PC:  PB=  Ca :  BÄ.  Ist  alsdann 
das  Parallelogramm  unter  Festhaltung  von  P  verschoben,  so  dass 
der  Punkt  Ä  auf  einen  neuen  Punkt  Ä'  des  Originals  fällt,  so 
schneidet  die  Gerade  PA'  jetzt  die  CI  in  einem  Punkte  a,  und  es 
wird  zugleich  Pa  :  PA'  =  PC :  PB  =  Ca  :  BA'  sein  müssen.  Nun 
ist  angenommenermassen  BA'  =  BA,  also  muss  auch  Ca'  =  Ca  sein^ 
d.  h.  der  Zeichenstift  darf  in  dem  Punkte  a  der  CI  befestigt  werden 
und  durchläuft  alsdann,  während  A  auf  den  Umrissen  des  Originals 
herumgeführt  wird,  lauter  Lagen,  die  der  Verbinduugsgeraden  von  P 
nach  A  angehören  und  dieselbe  in  dem  unveränderlichen  Verhältnisse 
PC :  PB  schneiden.  Der  Zeichenstift  a  entwirft  also  bei  dieser  Be- 
wegung des  Storchschnabels  eine  dem  Originale  ähnliche  und  ähnlich- 
liegende verkleinerte  Abbildung.  Wird  a  auf  den  Umrissen  des  Ori- 
ginals umhergeführt,  und  der  Zeichenstift  in  A  befestigt,  so  entsteht 
eine  entsprechend  vergrösserte  Abbildung. 

Die  Indienststellung  mathematischen  Wissens  für  Zwecke  des 
Künstlers  ist  uns,  wenn  auch  in  verschiedenartiger  Ausführung,  wie- 
derholt begegnet.  Eine  richtige  Perspective  mathematisch  herzustellen 
hatte  Dürer,  wie  wir  uns  erinnern,  als  lohnende  Aufgabe  erkannt, 
mid  Andere    vor    ihm.     Ueber    mathematische  Abbildung   hat   schon 


Praktische  und  theoretische  Mechanik.  695 

Ptolemiius  (Bd.  I,  S.  394 — 395)  gescliriebeu,  und  die  Kartographen  des 
XVI.  Jahrhunderts  (S.  608)  gehören  wieder  in  dieselbe  Gruppe  von 
Künstlergelehrten.  Ein  hierzu  zu  rechnendes  Werk  von  grosser  Be- 
deutung fällt  in  die  Zeit,  welche  uns  gegenwärtig  beschäftigt.  Franz 
von  Aiguillon^)  oder  Aguillon  oder  Aquilonius  (1566 — 161'?), 
ein  Mitglied  des  Jesuitenordens,  geboren  in  Brüssel  und  seit  1596  in 
Antwerpen  als  Lehrer  thätig,  scheint  der  Erste  seines  Ordens  ge- 
wesen zu  sein,  welcher  in  Belgien  Mathematik  lehrte.  Er  gab  1613 
ein  Werk  über  Optik  in  sechs  Büchern  heraus.  Eine  Katoptrik  und 
eine  Dioptrik  sollten  folgen,  blieben  aber  bei  dem  plötzlichen  Tode 
des  Verfassers  unvollendet.  Die  fünf  ersten  Bücher  der  Optik  han- 
deln vom  Sehen,  von  optischen  Täuschungen,  von  der  Natur  des 
Lichtes  u.  s.  w.,  sind  also  physiologischer  und  physikalischer  Natur. 
Das  6.  Buch  gehört  der  Projectionslehre  an,  und  in  ihm  sind  die 
Namen  der  orthographischen,  der  stereographischen,  der  sceno- 
graphi scheu  Projection  zuerst  gebraucht.  Orthographisch  wird 
ein  Gegenstand  auf  die  Entwerfungsebene  projicirt,  Avenn  auf  sie  von 
jedem  abzubildenden  Punkte  senkrechte  Entwerfungslinien  gefällt 
werden;  das  sehende  Auge  ist  also  in  unendlicher  Entfernung  gedacht. 
Bei  der  stereographischen  Projection  ist  das  Auge  im  Pole  einer 
Kugel  befindlich,  deren  Aequatorialebene  die  Zeichnuugsfiäche  ab- 
giebt,  während  die  abzubildenden  Punkte  der  Kugeloberfläche  selbst 
angehören.  Die  scenographische  Projection  ist  die  ebene  Durchschnei- 
dung des  von  irgend  einem  Augenpunkte  ausgehenden  Sehkegels. 

Haben  wir  hier  eine  Anzahl  von  Leistungen  besprochen,  welche  wir 
in  der  Kapitelüberschrift  als  praktisch-mechanische  bezeichneten,  weil 
uns  ein  anderer  zusammenfassender  Name  nicht  gegenwärtig  war  und 
es  sich  schliesslich  um  Dinge  handelte,  welche  auf  praktische  An- 
wendung zielten  und  mehr  oder  weniger  mechanischer  Ausführungen 
bedurften,  so  ist  das  XVII.  Jahrhundert  ungleich  wichtiger  für  die 
theoretische  Mechanik  gewesen. 

Zunächst  wurde  die  Lehre  vom  Schwerpunkte,  der  Comman- 
dinus  und  Maurolycus  ihre  Bemühungen  gewidmet  hatten,  weiter 
ausgebildet.  Luca  Valerio")  (1552 — 1618j  ist  hier  in  erster  Linie 
zu  nennen.  Er  war  Neapolitaner,  lehrte  aber  in  Rom  und  war  Mit- 
glied der  dortigen  Accademia  de'  Lincei,  bis  er  1616  aus  ihr  ausge- 
stossen  wurde,  weil  er  öffentlich  Galilei  für  einen  Koppernicaner 
erklärt  hatte.     Schon   1604   gab   er   drei  Bücher    De  centro  gravitatis 


')  Kästner  IV,  79—80.   —   Quetelet  pag.  192—198.  ^~)  Kästner 

IV,  30—32.    —    Poggendorff  II,  1167  mit  Berufung  auf  Colangelo,  Storia 
dei  fUosofi  e  dei  matematici  Napolitani. 


696  72.  Kapitel. 

solidorum  heraus,  von  welchen  1661  eine  neue  Ausgabe  veranstaltet 
wurde.  Als  nachgelassene  Schrift  erschien  auch  1660  eine  Qiiadra- 
tura  paraholae  des  Valerio,  welche  die  Schwerpunktsbestimmung  zum 
Ausgangspunkte  nimmt. 

Aehnliche  Betrachtungen  waren  allerdings  damals  (1660)  schon 
längere  Zeit  veröffentlicht.  Jean  Charles  de  la  Faille^),  ein  bel- 
gischer Jesuit,  hatte  1632  in  Antwerpen  Theoremata  de  centro  gra- 
vitatis  partium  circuli  et  ellypsis  zum  Drucke  befördert  und  darin  den 
doppelten  Nachweis  zu  führen  gesucht,  dass,  wenn  die  Quadratur  des 
Kreises  bekannt  wäre,  man  den  Schwerpmikt  jedes  Kreisabschnittes 
zu  finden  im  Stande  sei,  und  dass  umgekehrt  die  Kenntniss  dieser 
Schwerpunkte  zu  gebrauchen  sei,  um  die  Quadratur  abzuleiten. 

Valerio 's  vorgenannte  Schrift  fand,  wie  wir  gleich  sehen  werden, 
1638  im  vierten  Gespräche  Galilei's  über  Mechanik,  zu  welchem 
wir  uns  wenden  müssen,  eine  hohe  Anerkeimung  von  berufener  Seite, 
lieber  die  Schwerpuuktsbestimmungen  von  Paul  Guldin,  von  Fermat 
u.  s.  w.  können  wir  erst  im  Zusammenhange  mit  den  von  diesen 
angewandten  Betrachtungen  des  Unendlichkleinen  berichten.  Galilei's 
Discorsi  e  demostrazioni  matematiche  intorno  a  diie  nuove  scienze^) 
riefen  eine  ganz  neue  Wissenschaft,  die  Bewegungslehre  oder  Mechanik 
im  engeren  Sinne  ins  Leben,  während,  was  vorher  von  mechanischem 
Wissen  vorhanden  war,  sich  fast  ausschliesslich  auf  Statik  bezog, 
d.  h.  auf  das  Gleichgewicht  der  Kräfte,  welches  die  Ruhelage  durch 
gegenseitig  sich  vernichtende  Wirkung  ungestört  Hess.  Galilei  hatte 
schon  frühzeitig  der  Mechanik  erfolgreiches  Nachdenken  gewidmet. 
Er  hatte  1583  als  Student  in  Pisa  durch  Beobachtungen  festgestellt, 
dass  ein  Pendel  die  gleiche  Schwingungsdauer  besitze,  möge  es  viel 
oder  wenig  aus  seiner  Gleichgewichtslage  entfernt  worden  sein,  sofern 
nur  die  Länge  des  Pendels  unverändert  bleibt.  Er  hatte  auch  Manches 
über  die  Mechanik  zu  Papier  gebracht,  veröffentlicht  aber  hat  er  die 
neuen  Gesetze  erst  in  den  Discorsi  von  1638.  Gleich  im  ersten 
Gespräche  tritt  die  Erklärung  des  Rades  des  Aristoteles  auf 
(Figur  136);  Galilei  verbindet  die  Zeichnung  von  drei  concentri- 
schen  Kreisen  mit  der  von  ebensovielen  demselben  einbeschriebenen 
ähnlich  liegenden  regelmässigen  Sechsecken  und  lässt  die  rollende 
Bewegung  des  mittleren  unter  den  drei  Kreisen  so  vollziehen,  dass 
die  sechs  Sechsecksseiten  dieses  Kreises  nach  einander  in  horizontale 
Lage  kommen  und  eine  fortlaufende  gerade  Linie  bilden.  Dabei 
nehmen  auch  die  entsprechenden  Sechsecksseiten   der  beiden  anderen 


1)  Kästner  II,  211—215.  —  Quetelct  pag.  203—205.       ^)  Kästner  IV, 
-27.  —  Montucla  II,  183—191. 


Praktische  und  theoretische  Mechanik. 


697 


Kreise  horizontale  Lage  an,  aber  die  des  äusseren  Kreises  sind  über 
einander  weggeschoben,  die  des  inneren  Kreises  weisen  zwischen  ein- 
ander Lücken   auf.     Bei   dem  inneren  wie    bei   dem    äusseren  Kreise 


Fig.  136. 

ist  daher  ein  einfaches  Rollen  nicht  vorhanden,  und  die  Schwierigkeit 
der  scheinbar  gleichen  Länge  dreier  wesentlich  verschiedener  Kreis- 
linien ist  damit  beseitigt.  Der  Uebergang  vom  Sechsecke  zum  Kreise 
besteht  nämlich  einzig  in  dem  Unendlichwerden  der  Seitenzahl  der 
einander  ähnlich  liegenden  regelmässigen  Vielecke.  Bei  dem  äusseren 
Kreise  findet  das  Uebereinandergreifen  dieser  Seiten  weiter  statt,  bei 
dem  inneren  Kreise  das  Lückenhafte,  nur  sind  es  unendliche  viele 
unendlich  kleine  Lücken,  welche  auftreten  und  wegen  dieser  ihrer 
Eigenschaft  nicht  bemerkt  werden  können.  Dem  ersten  Gespräche 
gehört  auch  der  Beweis  an,  dass,  entgegengesetzt  der  Aristotelischen 
Behauptung,  Körper  verschiedenen  Gewichtes  darum  doch  nicht  ver- 
schiedene Fallzeit  besitzen.  Fiele  ein  Körper  vom  Gewichte  10,  wie 
Aristoteles  glaubte,  lOmal  so  schnell  als  ein  Körper  vom  Gewichte  1, 
und  vereinigte  man  beide  Körper,  so  müsste  der  langsamere  etwas 
von  der  Geschwindigkeit  des  schnelleren  aufheben,  d.  h.  der  Körper 
vom  Gewichte  11  müsste  langsamer  fallen  als  der  vom  Gewichte  10, 
und  das  widerspräche  der  anfänglichen  Annahme.  Auch  Pendelver- 
suche mit  Kugeln  von  Blei  und  von  Zucker,  also  bei  einem  Gewichts- 
verhältnisse von  1  :  100  etwa  angestellt,  ergaben  bei  gleicher  Faden- 
länge, dass  in  gleicher  Zeit  gleich  viele  Schwingungen  durch  gleiche 
Bögen  gemacht  wurden,  mochte  man  die  Zahl  der  beobachteten 
Schwingungen  auch  1000  übersteigen  lassen.  Das  zweite  Gespräch 
beschäftigt  sich  der  Hauptsache  nach  mit  dem  inneren  Zusammen- 
hange fester  Körper  und  mit  der  Kraft,  welche  erforderlich  ist,  den- 
selben zu  lösen,  beziehungsweise  mit  der  Frage,  wie  gross  das  Ge- 
wicht eines  an  einem  Ende  gestützten  Körpers  sein  müsse,  damit 
derselbe  breche.  Dabei  ist  auch  von  an  beiden  Endpunkten  aufgehängten 


698  72.  Kapitel. 

Ketten  und  von  der  Gestalt  der  so  entstehenden  Curve  die  Rede. 
Galilei  hält  dieselbe  für  eine  Parabel,  und  dies  ist  der  einzige 
wesentliche  Irrthum,  den  man  ihm  vorwerfen  kann.  Das  dritte  Ge- 
spräch bringt  die  eigentlichen  Bewegungsgesetze,  die  der  gleich- 
förmigen sowie  der  natürlich  beschleunigten  Bewegung.  Letz- 
tere werden  in  zwei  Lehrsätzen  zusammengefasst.  Erstens :  die  Zeit, 
in  welcher  ein  gleichförmig  beschleunigter  Körper  einen  Weg  durch- 
läuft, ist  genau  so  gross  wie  diejenige,  in  welcher  er  den  gleichen 
Weg  mit  gleichförmiger  Geschwindigkeit  durchlaufen  würde,  sofern 
diese  gleichförmige  Geschwindigkeit  halb  so  gross  wäre  als  diejenige, 
welche  der  Körper  am  Ende  seiner  beschleunigten  Bewegung  erzielt. 
Zweitens:  bei  gleichförmig  beschleunigter  Geschwindigkeit  verhalten 
sich  die  durchlaufenen  Räume  wie  die  Quadrate  der  Zeiten.  Im  vier- 
ten Gespräche  endlich  wird  die  parabolische  Wurfbewegung 
von  den  verschiedensten  Gesichtspunkten  aus  erörtert.  Ein  Anhang 
beschäftigt  sich  mit  Schwerpunktsbestimmungen.  Galilei  hatte,  von 
Del  Monte  aufgefordert,  diesem  von  Commandinus  noch  nicht 
erschöpften  Gegenstande  seine  Aufmerksamkeit  zugewandt.  Später 
fand  er  in  einem  Werke  des  Lucas  Valerius  eine  methodisch  von 
seinen  eigenen  Untersuchungen  abweichende,  aber  sie  inhaltlich  über- 
ragende Darstellung  und  setzte  desshalb  seine  Arbeit  nicht  weiter 
fort,  damit  die  höchste  Anerkennung  jenes  Werkes  aussprechend. 

Gleichzeitig  mit  Galilei's  Discorsi  erschien  1638  eine  Schrift  De 
motu  naturali  gravhim  fhiidorum  et  solidorum  von  Giovanni  Bat- 
tista  Baliani^),  einem  Geuueser  Edelmanne,  welcher  die  beschleu- 
nigte Bewegung  in  ähnlicher  Weise  auffasste,  wie  es  bei  Galilei  der 
Fall  war.  Zum  besonderen  Ruhme  darf  mau  aber  Baliani  dieses 
Zusammentreffen  um  so  weniger  anrechnen,  als  er  in  einer  zweiten 
Auflage  von  1646  die  richtige  Meinung  zu  Gunsten  einer  falschen 
wieder  aufgab.  Damit  nach  Galilei's  Behauptung  die  unter  Beschleu- 
nigung durchlaufenen  Räume  im  Verhältnisse  der  Quadrate  der  Zeiten 
stehen,  ist  es  nothwendig,  dass  die  in  den  aufeinanderfolgenden  Zeit- 
einheiten durchlaufenen  Einzelräume  nach  den  ungeraden  Zahlen  der 
Zahlenreihe  sich  bemessen,  weil  1  -|-  3  -j-  ••  -|-  (2« —  1)  ==«^.  Galilei 
sah  dieses  ein  und  gab  auch  seinem  zweiten  Lehrsatze  der  beschleu- 
nigten Bewegung  die  hier  ausgesprochene  Form.  Baliani  dagegen 
behauptete  in  seiner  zweiten  Auflage,  jene  Einzelräume  seien  freilich 
durch  eine  steigende  Reihe  zu  bemessen,  aber  nicht  durch  die  der 
ungeraden  Zahlen,  sondern  durch  die  der  natürlichen  Zahlen,  also 
durch    1,  2,  3,  4  .  .  .     Die    Verwunderung;    über   diesen    Rückschritt 


1)  Montucla  II,  194—196. 


Praktische  und  theoretische  Mechanik.  699 

Baliani's  nimmt  noch  zu,  wenn  mau  weiss,  dass  er  in  ebenderselben 
Ausgabe  von  164r)  andere  in  der  Ausgabe  von  1638  unbewiesen  ge- 
lassene Gesetze  mit  Begründungen  versehen  hat,  welche  denen  Galilei's 
von  1638  nachgebildet  sind,  und  welche  daher  Galilei's  Meinung  als 
Grundlage  besitzen. 

Schon  zehn  Jahre  vor  den  Discorsi  erschien  ein  mechanisch  be- 
deutendes Werk  eines  hervorragenden  Schülers  von  Galilei.  Bene- 
detto  Castelli^)  (1577 — 1644j,  ein  Benedictinermönch  und  Professor 
der  Mathematik  am  Collegio  di  Sapienza  in  Rom,  schuf  mit  seinem 
Werke  Bdla  misura  ddV  acque  correnti  von  1628  eine  wissenschaft- 
liche Hydraulik,  deren  wesentliche  Gedanken  allerdings  auch  wieder 
Galilei  entlehnt  waren. 

Evangelista  Torricelli")  (1608 — 1647)  empfing  seinen  ersten 
Unterricht  durch  einen  Onkel  von  mütterlicher  Seite,  welcher  dem 
Camaldulenserordeu  angehörte.  Gegen  1628  kam  er  nach  Rom,  wo  er 
der  Schüler  CasteUi's  wurde.  Nach  dem  Erscheinen  von  Galilei's 
mechanischen  Gesprächen  von  1638  verfasste  Torricelli  1641  einen 
Trattato  del  moto,  der  als  eine  Weiterführung  der  Galilei'schen  Ge- 
danken bezeichnet  werden  dai-f.  Dieses  Buch,  Galilei  durch  Castelli 
vorgelegt,  gab  die  Veranlassung  zu  dem  Vorschlage,  Torricelli  solle 
in  der  Eigenschaft  eines  mehr  oder  weniger  selbständigen  Mitarbeiters 
seine  noch  junge  Kraft  dem  erblindeten  Greise  zur  Verfügung  stellen. 
Im  October  1641  kam  Torricelli  bei  Galilei  an,  drei  Monate  später 
war  dieser  eine  Leiche.  Torricelli  wollte  nach  Rom  zurückkehren, 
wurde  aber  in  Florenz  in  der  Stellung,  welche  Galilei  einst  inne  ge- 
habt hatte,  als  grossherzoglicher  Mathematiker  zurückgehalten.  Dort 
wurde  1643  durch  Viviani  der  von  Torricelli  angegebene  Versuch 
veranstaltet,  zuzusehen,  wieviel  Quecksilber  durch  den  Luftdruck  ge- 
hoben würde,  ein  Versuch,  der  als  Erfindung  des  Quecksilberbaro- 
meters gefeiert  wird.  Der  Trattato  del  moto  von  1641  enthält  den 
wichtigen  Satz,  dass  zwei  mit  einander  verbundene  Körper  im  Gleich- 
gewichte sich  befinden,  wenn  ihr  gemeinschaftlicher  Schwerpunkt 
durch  irgend  welche  Lag^nänderung  weder  gehoben  noch  gesenkt 
wird.  Im  Jahre  1644  gab  dann  Torricelli  einen  Sammelband  unter 
dem  Titel  Opera  geomctrica  heraus.  Darin  befand  sich  eine  Abhand- 
lung De  motu  gravium  naturaliter  desccndentium,  welche  für  die  Lehre 
von  den  ausströmenden  Flüssigkeiten  bahnbrechend  geworden  ist. 
Torricelli  sprach  darin  bereits  die  sechs  wichtigsten  Sätze  aus^): 
1.  Das  Wasser,   welches  aus  einer  Oefihung   in  der  Seitenwand  eines 


1)    Helfer,    Geschichte   der  Physik  II,  111.  ^)    Ebenda  II,  102—110. 

^)  Wir  entnehmen  die  Fassung  dieser  Sätze  wörtlich  aus  Heller  I.e.  II,  106. 


700  ''3.  Kapitel. 

Gefässes  fliesst,  bildet  den  Gesetzen  der  Wurfbewegung  zufolge  einen 
parabolischen  Strahl;  2.  der  Parameter  der  Parabel  ist  am  grössten, 
wenn  sich  die  Oefinung  in  der  Mitte  der  Wasserhöhe  befindet;  3.  die 
Oeffnungeu,  welche  sich  in  gleicher  Entfernung  über  oder  unter  der 
mittleren  Oeffnuug  befinden,  geben  Flüssigkeitsstrahlen  von  kleinerer, 
aber  gleicher  Bogenweite;  4.  für  gleiche  Oeffnungen  verhalten  sich 
die  in  gleichen  Zeiten  ausfliessenden  Wassermengen  wie  die  Quadrat- 
wurzeln aus  den  entsprechenden  Flüssigkeitshöhen;  5.  die  Zeiten,  in 
welchen  sich  gleiche  Gefässe  durch  gleiche  Oeffnungen  entleeren,  ver- 
halten sich  ebenfalls  wie  die  Quadratwurzeln  aus  den  Flüssigkeits- 
höhen; 6.  wenn  man  für  den  Fall  einer  im  horizontalen  Boden  des 
Gefässes  befindlichen  AusÜussöffnung  sich  die  Zeit,  welche  zur  gänz- 
lichen Entleeining  des  Gefässes  nothwendig  ist,  in  gleiche  Zeiträume 
zerlegt  denkt,  so  bilden  die  denselben  entsprechenden  Ausflnssmengen 
eine  bis  zur  Einheit  abnehmende  Reihe  von  ungeraden  Zahlen. 


73.  Kapitel. 

Trigonometrie  und  Cyclometrie. 

Noch  weit  mehr  als  die  Mechanik  schliessen  Trigonometrie  und 
Cyclometrie  sich  den  geometrischen  Forschungen  an.  Als  ältesten 
Schriftsteller  auf  diesem  Gebiete,  mit  einem  Fusse  noch  im  XVI.  Jahr- 
hunderte stehend,  nennen  wir  Philipp  van  Lansberge^)  (1561 — 
1632)  aus  Gent.  Er  war  Theologe  und  hatte  die  noth wendigen  Stu- 
dien in  England  gemacht.  Aus  Antwerpen,  wo  er  zuerst  die  Stellung 
eines  Predigers  der  reformirten  Lehre  einnahm,  musste  er  1585  fliehen, 
als  die  Spanier  sich  der  Stadt  neuerdings  bemächtigten.  Er  fand  in 
Goes  in  Zeeland  einen  neuen  ähnlichen  Wirkungskreis,  dem  er  bis 
1615  vorstand,  dann  siedelte  er  nach  Middelburg  über,  wo  er  nur 
noch  mit  Mathematik  sich  beschäftigte.  Die  älteste  Schrift  Trian- 
gulorum  geomdykorum  libri  quaiuor  scheint  indessen  schon  in  Goes 
entstanden  zu  sein,  wenigstens  ist  ein  als  Vorrede  dienender  AVid- 
mungsbrief  mit  der  Jahreszahl  1591  versehen^).  Späterer  Entstehung 
(entweder  1616  oder  1628)  ist  die  Cydometria  nova,  welche  die  Be- 
rechnung der  Zahl  ^  mit  einer  bis  zur  30.  Decimalstelle  sich  er- 
streckenden Genauigkeit  lehrt. 

Praetorius^)  hat  in  seiner  wiederholt  (S.  589  und  619)  genann- 


*)  Quetelet  pag.  168—179.  —  Delambre,  Histoire  de  l'astronomie  mo- 
derne. T.  IV  passim.  ^)  Delambre  1.  c.  II,  40.  ^)  CurtzS  in  Zeitschr. 
Math.  Phys.  XL,  Hist.-litcr.  Abtblg.  S.  11. 


Trigonometrie  und  Cyclomotrie.  701 

ten  HandscLrift  von  1599  die  vollständige  Auflösung  des  rechtwink- 
ligen und  des  schiefwinkligen  sphärischen  Dreiecks  sehr  übersichtlich 
in  Tabellenform  gebracht. 

Gleich  zu  Beginn  des  Jahrhunderts  finden  wir  dann  einen  engli- 
schen Schriftsteller  zu  erwähnen :  Nathaniel  Torporley^)  mit 
seinem  Werke  Dididcs  caelometrica  sive  Valvac  astronomicae  univer- 
sales etc.  von  1602.  Er  war,  nachdem  er  in  Oxford  studirt  hatte, 
einige  Jahre  hindurch  Schreiber  bei  Vieta.  Später  kehrte  er  nach 
England  zurück,  wo  er  der  Gunst  eines  Grafen  von  Northumberland 
sich  erfreute.  In  Vieta's  Umgange  mag  Torporley  sich  die  Gewohn- 
heit angeeignet  haben,  neue  Wörter  zu  erfinden  und  solche  so  un- 
zweckmässig als  denkbar  auszuwählen.  Die  Aufgabe,  welche  Torj)orley 
in  dem  zweiten  Theile  seines  Buches  (der  erste  Theil  ist  astrologi- 
schen Inhaltes)  sich  stellte,  ist  die  Auflösung  sämmtlicher  Fälle  des 
rechtwinklig  sphärischen  Dreiecks.  Die  Fälle  selbst  nennt  er  Tripli- 
ci täten,  weil  jedesmal  ausser  dem  rechten  Winkel  noch  drei  Stücke 
vorkommen,  deren  eines  durch  die  beiden  anderen  bestimmt  ist.  Eine 
Triplicität  heisst  solilateralis,  weil  nur  Seiten,  d,  h.  die  Hypotenuse 
und  beide  Katheten  vorkommen.  Die  anderen  Triplicitäten  heissen 
mixtae  und  sind  der  Anzahl  nach  5,  nämlich  3  plurüaterales  mit 
2  Seiten  und  1  Winkel  (Hypotenuse,  Kathete  und  der  letzteren 
anliegender  Winkel;  Hypotenuse,  Kathete  und  der  letzteren  gegen- 
überliegender Winkel;  beide  Katheten  und  ein  Winkel)  und  2  ^j/wr- 
angulares  mit  3  Winkeln  und  1  Seite  (Hypotenuse  oder  eine  Ka- 
thete). Diesen  im  Ganzen  sechs  Fällen  hat  aber  Torporley  auch  noch 
besondere  Namen  beigelegt.  In  der  Reihenfolge,  in  welcher  wir  sie 
hier  erwähnt  haben,  heissen  sie  bei  ihm:  carccr  (Gefängniss),  forfex 
(Schneiderscheere),  si2}ho  (Heber),  corviis  (Enterhaken),  hasta  (Spiess), 
fimda  (Schleuder),  weil  er  in  den  betreifeudeu  Figuren,  bei  welchen 
die  jeder  Triplicität  zugehörigen 
Stücke  stärker  gezogen  sind,  jene 
Gestaltungen  zu  erkennen  glaubte. 
Alle  Triplicitäten  vereinigt  ^  findet 
er  in  einer  Figur,  welche  er  mitra 
(Bischofsmütze)  nennt  (Figur  137). 
FR  und  IR  sind  unter  einander 
gleiche,  zu  einander  senkrechte  Bögen 
grösster  Kreise,  und  zwar  jeder 
von    ihnen    kleiner    als    ein    Quadrant.     FO,    RO,    RE,    IE    sind 

»)  Kästner  III,  101—107.  —  Montucla  II,  120.  —  v.  Zach  in  Bode's 
Jahrbuch  u.  s.  w.  Suppl.  I,  2.3.  —  De  Morgan  im  Philosophical  Magazine 
(1843)  XXII,  351. 


702  "3.  Kapitel. 

Quadranten ,.  welche  auf  FR,  beziehungsweise  auf  B,I  senkrecht 
stehen.  Auch  FM  =  IT  sind  Quadranten,  und  durch  M  und  T  ist 
der  gi-össte  Kreisbogen  PMTC  gelegt.  Torporley  nennt  dsLunFOREI 
die  Mitra  und  PMTC  eine  an  ihr  befestigte  Binde.  Mit  der  mehr- 
fach wiederholten  Figur  ist  ein  bald  von  rechts,  bald  von  links  ge- 
zeichneter Kopf  in  Verbindung  und  hilft  die  einzelnen  Triplicitäten 
zur  Anschauung  zu  bringen,  und  in  gleicher  Absicht  sind  noch  andere 
nicht  minder  eigenthümliche  Abbildungen  vorhanden,  welche  vielleicht 
den  entgegengesetzten  Erfolg  hatten,  den  sie  haben  sollten,  und  der 
Verbreitung  des  Buches  mehr  schadeten  als  nützten. 

Um  so  mehr  Anklang  fand  eine  andere  Zusammenstellung  der 
gleichen  sechs  Fälle  des  rechtwinkligen  sphärischen  Dreiecks,  welche 
1614  in  Edinburg  die  Fresse  verliess.  Der  Name  des  Verfassers  ist 
in  den  verschiedensten  Formen  bekannt:  John  Neper^),  oder  Na- 
pier,  oder  Napeir,  oder  Napair  u.  s.  w.  Er  ist  1550  unweit 
Edinburg  in  Merchiston,  welches  der  Familie  den  Namen  der  Barone 
von  Merchiston  verlieh,  geboren,  1617  gestorben.  Der  Name  Nepair 
soll  einer  Legende  nach  daher  rühren,  dass  der  Erste,  welcher  ihn 
führen  durfte,  im  XIV.  Jahrhunderte  in  einer  Schlacht  sich  so  aus- 
zeichnete, dass  Niemand  ihm  gleichkam.  Neper's  erste  geistige  Nei- 
gung war  der  Erklärung  der  Apokalypse  zugewandt,  über  welche  er 
eine  1593  gedruckte  Schrift  in  englischer  Sprache  mit  einem  John 
Napeir  unterzeichneten  Widmungsbriefe  au  König  Jacolj  VI.  verfasste. 
Die  späteren  Schriften  sind  mathematischen  Inhaltes,  in  lateinischer 
Sprache  abgefasst  und  tragen  den  Namen  Joannes  Neperus.  Wir 
werden  allerdings  der  Hauptsache  nach  erst  später  von  ihnen  zu 
reden  haben,  da  die  Bildung  und  Benutzung  von  Logarithmentafeln 
in  ihnen  gelehrt  wird.  Eine  Druckschrift  von  1614,  die  Descriptio 
mirißci  logarithmorum  canonis  (kürzer  Neper's  Descriptio  genannt) 
verlangt  schon  jetzt  unsere  Aufmerksamkeit.  Desshalb  vereinigen 
wir  auch  hier  die  Mittheilung  dessen,  was  wir  von  Neper's  Bildungs- 
gange wissen,  dass  er  nämlich  als  ganz  junger  Mann  eine  Reise  durch 
Deutschland,  Frankreich  und  Italien  machte,  von  der  er  1571  wieder 
nach  Schottland  zurückkehrte,  welches  er  nie  wieder  verliess.  Von 
dieser  Reise  wird  der  als  Einundzwanzigjähriger  Zurückkehrende  kaum 
Nutzen   gezogen   haben   können,  und   was   Neper  erlernte,    muss   ihm 


^)  Biot's  Bericht  über  die  1834  verötfentlicliten  Denkwürdigkeiten  von 
Neper  im  Journal  des  Savants  von  1835,  pag.  151 — 162.  lieber  Neiier's  mathe- 
matische Verdienste  ebenda  pag.  257 — 270.  —  TJie  construction  of  tlie  wonderful 
canon  of  logarithmes  hy  John  Napier  Baron  of  Merchiston  translated  hy  W.  B. 
Macdonald  (1889).  Introduction  und  die  Anmerkung  auf  S.  84.  Diese  Ausgabe 
citiren  wir-  als  Neper,  Constriictio. 


Trigonometrie  und  Cyclomotrie.  703 

in  Scliottland  ■  zugänglich  gewesen  sein.  Dieses  war  entschieden, 
ausser  mit  den  älteren  Schriften  eines  Regiomontau,  eines  Kop- 
pernicus,  auch  der  Fall  mit  Van  Lansberge's  Büchern  über  die 
Dreiecke,  mit  Torporley's  Diclides  caelometricae  und  mit  der  1600 
in  London  gedruckten  englischen  Uebersetzung  der  Trigonometrie 
des  Pitiscus  von  Hamson.  Möglicherweise  hat  Neper  den  Pitiscus 
auch  in  dem  lateinischen  Originale  gelesen.  Die  Benutzung  aller 
dieser  Bücher  durch  Neper  steht  fest.  Regiomontan,  Eoppernicus, 
Van  Lansberge  und  Pitiscus  sind  in  der  Descriptio  ausdrücklich  an- 
geführt^), an  einer  späteren  Stelle -J  auch  Adriaen  Metius.  Die  Be- 
nutzung des  Torporley  folgern  wir  aus  der  Anwendung  des  nur  von 
jenem  Schriftsteller  gebrauchten  Wortes  Triplicitüt  bei  Neper  ^),  und 
wenn,  wie  wir  überzeugt  sind,  aus  solchen  Wortbenutzungen  sichere 
Schlüsse  gezogen  werden  können,  so  muss  Neper,  der  fortwährend 
tangens  sagt^),  auch  die  Geometria  rotundi  des  Thomas  Finck  ge- 
kannt haben.  Wahrscheinlich  ist  uns  endlich  auch,  dass  Neper  die 
Arithmetica  integra  Michael  Stifel's  kannte,  weil  er  die  negativen 
Zahlen  minores  nihilo  nennt ^),  wie  es  dort  der  Fall  ist  (S.  442). 
Nach  diesen  allgemeinen  Bemerkungen,  an  welche  wir  gelegentlich 
uns  zu  erinnern  haben  werden,  nennen  wir  die  trigonometrischen 
Leistungen  Neper  s,  welche  ihn  gerade  in  diesem  Kapitel  unserer  Be- 
achtung empfahlen.  Die  erste  ist  die  sicherlich  an  Torporley  an- 
knüpfende, aber  glücklicher  ersonuene  Zusammenfassung  sämmtlicher 
Fälle  des  rechtwinkligen  sphärischen  Dreiecks  in  zwei  Sätze '^):  Der 
Cosinus  eines  mittleren  Stückes  ist  gleich  dem  Producte 
der  Cotangenten  der  anliegenden  Stücke,  beziehungsweise 
der  Sinusse  der  getrennten  Stücke,  sofern  man  dabei  die 
Katheten  jeweil  durch  ihre  Complemente  zu  90°  ersetzt. 
Mittleres  Stück  hiess  dabei  pars  intermedia,  die  äusseren  Stücke 
heissen  partes  extremae,  und  zwar  extremae  vicinae  aut  circumpositae 
und  extremae  remotae  aut  oppositae,  je  nachdem  sie  dem  mittleren 
Stücke  anliegen  oder  von  ihm  getrennt  sind,  während  der  rechte  Winkel 
bei  Feststellung  dieser  Unterscheidung  bekanntlich  als  nicht  vorhan- 
den gilt.  Eine  zweite  Leistung  ist  von  grösserer  Wichtigkeit  und 
grösserer  Selbständigkeit  der  Erfindung.    Ausgebend  von  dem  2.  Satze 


^)  Neper,  Descriptio,  pag.  34:    qiiod  fiisius   a   Regiomontano ,    Copernico, 
Lansbergio,  Pitisco  .et  aliis  demonstrattir.  ")  Ebenda  pag.  56.  ^)  Ebenda 

pag.  34:  Verum  quia  in  omnibus  Ms  triplicitatibus  Tangens  alterius  extremae 
est  ad  sinumrectum  intermediae  ut  sinus  totns  ad  tangentem  reliquae  extremae  etc. 
*)  Ausser  in  der  eben  angeführten  Stelle  der  Descriptio  pag.  34  kommt  tangens 
noch  vor  ebenda  pag.  26,  49  u.  s.  w.  ^)  Ebenda  pag.  4  und  ö.  ®)  Ebenda 

pag.  33 — 3o. 


704  "3-  Kapitel. 

im    V.  Buche   von   Regiomontan's   Trigonometrie  (S.  272),   dass  unter 

Bezeichnung  der  Winkel  und  der  denselben  gegenüberliegenden  Bögen 

im     sphärischen    Dreiecke     durch    Ä,  JB,  G,  a,  h,  c    die    Gleichung 

.     ,  siu  vers.  c  —  sin  vers.  (a  —  h)       ,    , ,  c    t  t  ^ 

Sin  a  ■  sm  b  =  -. j-, — ^ stattnnde ,     welche     wegen 

sm  vers.  C  '  ° 

sin  vers.  0=1  —  cos  C  u.  s.  w.    überführbar    ist   in    die    Form    cos  c 

=  cosrt  •  cos 6  4"  sin«  •  sin  6  •  cos  C,  gelangt  Neper  zu  Gleichungen^), 

welche  in  moderner  Schreibweise 


.     C 
sm-— 


/     _ 

siu  - 

-a 

-1- ! —  •  sm  — 

- 

b 

T 

+_ 

c 

sm  a 

•  sin  b 

/  .    a 
sin- 

j+ 

&  +  c 
2 

.    a  + 

b 

2 

— 

-  c 

2  sm  a  ■  sm  & 

heissen.  Schon  in  der  vor  der  Descriptio  verfassten,  aber,  wie  wir 
im  74.  Kapitel  sehen  werden,  erst  1619  gedruckten  sogenannten  Con- 
structio  hatte  Neper  seine  dritte  und  wichtigste  trigonometrische  Erfin- 
dung niedergelegt,  diejenigen  Gleichungen-),  welche  man  gegenwärtig 
die  Neper'schen  Analogien  nennt,  und  welche  man  in  moderner 
Schreibweise 

,      a-\-b  A  —  B        ^      a—b  .    A  —  B 

tng  — —         cos tnff  ■ sin 

°      2  2  °      2  2 


,       c                  A-\-B           ,       c       =    .    A  +  B' 
tngy  cos ^ ^«^^Y  ^'" 2 

a—b  .a—b 

,       A  +  B     ,       C         ^"'^-        ,       A-B     ^       C         ''""-^ 

^"^ ^2—  •  ^"g -2  =  -^rp; '    ^"g  —2—  •  *"^ Y  =  T-a-^b 

cos— ^ —  sm — ^ — 

schreibt. 

Hatte  Torporley,  hatte  insbesondere  Neper  die  sphärische  Trigo- 
nometrie wesentlich  gefördert,  so  wandte  sich  Willebrord  Snellius 
beiden  Trigonometrieen,  der  der  geradlinigen  Gebilde  und  der  der 
Kugel,  erfolgreich  zu.  Die  hier  in  Betracht  kommenden  Schriften 
sind  der  Eratosthenes  JBatavus  von  1G17,  die  Cyclometria  von  1621 
und  die  Doctrina  trianguloruni  canonica,  welche  kurz  nach  dem  Tode 
des  Verfassers  1627  im  Drucke  erschien.  Der  Eratosthenes  Batavus 
ist  in  erster  Linie  von  geodätischer  Bedeutung^).  Es  kam  Snellius 
darauf  an,  eine  riclitige  Bestimmung  des  Umfanges  der  Erde,  be- 
ziehungsweise eine  richtige  Gradmessung  zu  liefern,  und  zu  diesem 
Zwecke  stellte  er  zunächst  zusammen,  was  über  ältere  Gradmessungen 


^)  Neper,  Descriptio  pag.  48  sqq.        -)  Ebenda  pag.  68  sqq.        ^)  Kästner 
IV,  108  sqq. 


Trigonometrie  und  Cjclometrie.  705 

ihm  bekannt  war.  Schon  dieser  Abschnitt  des  Werkes  ist  höchst 
lesenswerth  und  zeigt  Snellius  als  gelehrten  Kenner  der  gesammten 
Litteratur,  so  weit  sie  damals  vorhanden  war.  Vorzugsweise  eine  Auf- 
gabe der  Feldmesskunst,  welche  Snellius  als  der  Erste  behandelt  hat, 
verdient  hervorgehoben  zu  werden:  das  sogenannte  Rückwärtsein- 
schneiden, welches  als  11.  Aufgabe  des  10.  Kapitels  des  IL  Buches 
gelehrt  wird^).  Diese  Aufgabe  besteht  in  der  Auffindung  der  Ent- 
fernung eines  Punktes  der  Erdoberfläche  von  den  drei  Eckpunkten 
eines  schon  bekannten  terrestrischen  Dreiecks  mit  Hilfe  der  Winkel, 
welche  in  dem  zu  bestimmenden  Punkte  durch  die  Sehstrahlen  nach 
jenen  drei  Eckpunkten  gebildet  werden.  So  wichtig  diese  Aufgabe 
für  die  Herstellung  genauer  Karten  ist,  entging  sie  in  der  Bearbei- 
tung des  Snellius  so  sehr  der  allgemeinen  Beachtung,  dass  sie  wieder- 
holt den  Gegenstand  von  einander  unabhängiger  Untersuchungen  bil- 
dete. Wilhelm  Schickard^)  (1592—1635)  hatte  1624  eine  Karte 
von  Württemberg  zu  entwerfen  und  löste,  wie  aus  seinen  an  Kepler 
gerichteten  Briefen  hervorgeht,  damals  selbständiger  Weise  die  ge- 
nannte Aufgabe.  Ja  noch  1730  wurde  eine  Auflösung  derselben 
durch  Pothenot^)  als  wichtige  Entdeckung  angesehen,  welche  den 
Namen  des  Bearbeiters  zu  tragen  verdiente  und  desshalb  als  Pothe- 
not'sche  Aufgabe  bezeichnet  wurde.  Erwies  sich  die  Nachwelt 
hier  ungerecht  gegen  Snellius,  so  übte  sie  eine  ähnliche  Ungerech- 
tigkeit zu  seinen  Gunsten  in  Bezug  auf  die  Cyclometria.    Dort  ist  die 

Gleichung  x  =  ^-^ benutzt,    um   den   Bogen   aus  seinen   trigo- 

lu  — j—  cos  iC 

nometrischen  Functionen  zu  berechnen,  und  von  dort  ist  das  Ver- 
fahren, welches  Nicolaus  von  Cusa  einst  erfunden  hatte  (S.  201), 
als  Eigenthum  des  Snellius  in  viele  Werke  übergegangen*).  Das 
wird  man  allerdings  zugestehen  müssen,  dass,  wenn  Snellius  die 
Schriften  des  Cusanus  kannte,  er  das  Verdienst  hatte,  unter  dessen 
vielen  ungeordneten  Versuchen  denjenigen  herauszufinden ,  welcher 
wenigstens  bei  kleinen  Winkeln  sich  vortheilhaft  anwenden  lässt, 
und  dass  unzweifelhaft  die  Ableitung  jener  Formel  bei  Snellius  mit 
der  bei  Cusanus  nicht  die  geringste  Aehnlichkeit  besitzt  (Figur  138, 
folg.  Seite).  Der  Durchmesser  AJ^  eines  um  C  als  Mittelpunkt  be- 
schriebenen Halbkreises  wird  über  A  hinaus  um 


^)  P.  van  Geer,  Notice  sur  la  vie  et  les   travaux   de  WiUehrorä  Snellius 
{Archives  Neerlandaises  Bd.  18  vom  December  1883),  pag.  12.  -)  Allgemeine 

Deutsche  Biographie  XXXI,  174 — 175.  Artikel  von  S.  Günther.  ^)  Memoires 
de  l'Academie  royale  des  sciences  de  Paris.  Tome  X,  1730.  *)  Kästner,  Geo- 
metrische Abhandlungen,  1.  Sammlung  (Göttingen  1790),  S.  158—163.  —  Mon- 
tucla  II,  7.  —  Le  Paige  in  der  Zeitschrift  Mathesis  X,  34—36  (1890). 

Caktob,  Greschiclite  der  Mathem.    11.     2.  Aufl.  45 


706 


73.  Kapitel 


verlängert   und   EGH  geradlinig   bis   zum  Durchschnitte   mit   der  in 
B    errichteten    Berührungslinie    an    den   Kreis   gezogen.     Ist   alsdann 

^GCB=a  und  zieht 
man  ausser  dem  Halb- 
messer CG  noch  die 
Senkrechte  GL  zum 
T  Durchmesser,  so  zeigt 
sich  sofort 

EL:GL  =  EB:  HB 


H 


E  F 


Fig.  138. 

indem  r  den  Kreishalbmesser  bedeutet,  d.  b. 


oder 
ß       (2r -[- r  •  cos«)  :'r  •  sin  a 
=  3r  :  RB, 


HB^ 


sm  a 


2  -f-  cos  a 

und  nach  Snellius  ist  BH<,qxcBG.  Andererseits  ist  nach  seiner 
Behauptung  IB^  arc BG,  sofern  7  Durchschnittspunkt  der  Kreis- 
tangente in  B  mit  der  Geraden  FDG  ist,  welche  so  gezogen  wurde, 
dass  I)F  =  r.     Da  endlich   /  und  H  sehr  nahe  bei  einander  liegen, 

wenn   a   klein   ist,   so   könne  man   _   ,   als   Näherungswerth    des 

'  2  -j-  cos  a  * 

Bogens  ra  benutzen.     Der   Beweis    der   beiden   dieser  Folgerung  zu 

Grunde  liegenden  Ungleichheiten    (IB  ^  aic  BG  ^  HB)    scheint  die 

wunde  Stelle   der   Entwickelung   zu   sein    und   jedenfalls   der  Klarheit 

zu  entbehren.    Einer  der  Schriftsteller,  welcher  sehr  bald  (schon  1626) 

die   Formel    als    die   des   Snellius   mittheilte,   war   Albert   Girard^). 

In  dem  an  dritter  Stelle  erwähnten  Buche  Doctrina  triangulorum  ist 

Buch  II  Satz  4   ein   Beweis   des   Sinussatzes  gegeben,   welcher   heute 

noch  in  den  holländischen  Lehrbüchern  den 

Namen  des  Beweises  von  Snellius  führt ^) 

(Figur  139).      0  ist    der  Mittelpunkt    des 

dem  Dreiecke  ABC  umschriebenen  Kreises 

und    des    diesem   concentrischen    Einlieits- 

kreises,    in   welchen    das  kleinere  Dreieck 

aßy  dem  ABC  ähnlich  und  ähnlichliegend 

eingezeichnet  ist.     Od  steht  senkrecht  auf 

aß.     Nun   ist    ^aOß  =  2C,  aOd  =  C, 

1 
also  sin  C  =  sin  aOö  ^=  a 


Fig.  139. 


—  ccß,   mit- 


*)  Le  Paige  1.  c.  pag.  35.         ^)  Van  Geer  1.  c.  pag.  6. 


Trigonometrie  und  Cyclomctrie.  707 

hin  ft/3  =  2sinC.  Ganz  ebenso  findet  man  ßy  ^^=2smÄ,  'ya  =  '2aiuB. 
Ausserdem  ist  AB  :  BC :  CA  =^  aß  :  ßy  :  ya,  mithin  auch 

^  5  :  5  C :  0 J.  =  sin  (7 :  sin  ^  :  sin  J5 . 

Buch  III,  Satz  8  wird  von  Snellius  selbst  als  für  die  sphärische  Tri- 
gonometrie sehr  nutzbar  erklärt^).  Hier  ist  nämlich  das  sphärische 
Polar dreieck  deutlicher  als  bei  Vieta  (S.  605)  gezeichnet,  welches 
zu  einem  gegebenen  sphärischen  Dreiecke  in  der  wechselseitigen  Be- 
ziehung steht,  dass  die  Winkel  des  einen  mit  den  ihnen  gegenüber- 
liegenden Seiten  des  anderen  sich  zu  180°  ergänzen.  Da  wir  von 
Snellius  nicht  weiter  zu  reden  haben,  so  sei  wenigstens  der  Titel 
eines  Werkes  Tiphys  Batavus  von  ihm  genannt-),  welches  1624  die 
Presse  verliess,  und  in  welchem  ein  wirkliches  Lehrbuch  der  Schiff- 
fahrtskunde  zu  erkennen  ist.  Der  Name  der  Loxodromen  trat  hier 
zum  ersten  Male  auf,  welcher  seitdem  unbeschränktes  Bürgerrecht 
sich  erwarb.  Aus  dem  Commentare  zu  den  ins  Lateinische  über- 
setzten Schriften  des  Ludolph  van  Genien,  welche  Snellius  1619 
herausgab,  ist  die  Formel  für  den  Flächeninhalt  des  Sehnen  Vier- 
ecks zu  erwähnen,  von  der  Snellius  als  von  seiner  Erfindung  spricht^). 
Es  ist  der  gleiche  Ausdruck 

■)/(s  —  a){s  —h){s  —  c){s  —  d)  mit    g_»  +  &  +  ^+_j, 

welchen  die  Inder  kannten  (Bd.  I,  S.  005),  welcher  aber  in  Europa 
vor  Snellius  nicht  mit  Bestimmtheit  nachgewiesen  werden  kann.  Wir 
wollen  Snellius  nicht  verlassen,  ohne  ihn  als  das  zu  bezeichnen,  was 
er  in  der  Geschichte  der  Mathematik  uns  ist:  ein  geistvoller,  kennt- 
nissreicher, vorzugsweise  auf  praktische  Anwendungen  bedachter  Schrift- 
steller, welcher  desshalb  am  meisten  in  denjenigen  Abschnitten  leistete, 
welche  dem  Schifffahrer  und  dem  Kartenzeichner  unentbehrlich  sind. 
Von  dem  Brechungsgesetze  des  Snellius  hat  die  Geschichte  der  Physik 
Kenutniss  zu  nehmen. 

Snellius  hat  in  Anwendung  der  Formel  x  =  -^— , das  Beispiel 

^  2  -)-  cos  rK  ^ 

einer  Gleichung  gegeben,  in  welcher  ebensowohl  ein  Kreisbogen  als 
trigonometrische  Functionen  desselben  vorkamen.  Eine  noch  weit 
schwierigere  Aufgabe  war  es,  den  Bogen  zu  finden,  welcher  einer  in 
dem  erläuterten  Sinne  gemischten  Gleichung  genügen  kann,  und  eine 


^)  Chasles,  Apercu  hist.  pag.  55_(deutsch  S.  52).  —  A.  von  B raun- 
müh 1,  Zur  Geschichte  des  sphärischen  Polardreiecks  in  der  Biblioth.  mathem. 
1898,  S.  6.5—72.  -)  Kästner  IV,  111.  —  Günther,  Studien  zur  Geschichte 
der  mathematischen  und  physikalischen  Geographie,  S.  354—362.  ^)  Chasles, 
Ä2}ergu  hist.  pag.  292  und  432  (deutsch  S.  297  und  481). 

45* 


708 


73.  Kapitel. 


solche  Aufgabe  stellte   Kepler^)   schon   in   der  Astronomia  nova  von 


1609.      Es   handelt    sich    darum 


(Figur  140)  von  einem  Punkte  D 
des  Durehmessers  eines  Halbkreises 
eine  Gerade  D3I  zu  ziehen,  welche 
die  Halbkreisfläche  in  zwei  Fläch  en- 
theile AD 31  und  BDM  zerlege, 
deren  Verhältniss  m :  n  gegeben  ist. 
Mau  ziehe  DE  senkrecht  zu  C3I, 
ferner  sei 
CD  =  e,   CM=r,  ^BCM  =  x, 

Alsdann  ist 


ADC3I 


Sector  ACM  ='^  (ISO'' ~x), 
=   1  •  DE  ^  ^  •  sina?,      Fläche 


ADM  =  y  [r(180«— a;)—  esina-],  Fläche  BDM=~  [rx  +  e  •  sin  x] 
Folglich 

—  [r(180°  —  x)  —  e  •  sina-]  :  -^[rx  -f-  «"  sin x]  =  m  :  n 


und  di 


rx  -\-  e  •  sin  x  = 


180»  =  h. 


VI  -\-  n 

Kepler  stellte  die  Frage,  welche  den  Namen  der  Kepler'schen  Auf- 
gabe behalten  hat,  aber  er  glaubte,  eine  directe  Auflösung  sei  wegen 
der  Heterogeneität  von  Winkel  und  Sinus  unmöglich. 

In  der  Untersuchung  des  Sehnenvierecks,  mit  welcher,  wie  wir 
oben  sahen,  Snellius  sich  erfolgreich  beschäftigt  hat,  ging  Albert 
Girard  noch  einen  wesentlichen  Schritt  weiter.  Girard  hat  1626  im 
Haag  Tahles  de  simis,  tanyentcs  et  secantes  sehn  Je  raid  de  10000  par- 
ties-)  veröffentlicht,  von  welchen  1629  auch  eine  holländische  Ueber- 
setzung  erschien.  In  der  Einleitung  zu  diesen  Tafeln  findet  sich  das 
hier  Gemeinte.  Wenn  a,  h,  c,  d  als  Seiten  eines  Sehnenvierecks  im 
Kreise  vom  Halbmesser  r  benutzt  werden  können,  so  ist  einleuchtend, 
dass  die  Reihenfolge  der  Seiten  keinen  Einfluss  auf  diese  Eigenschaft 
besitzt,  dass  es  vielmehr  drei  verschieden  aussehende  Sehnenvierecke 
ahcd,  ahdc,  achd  geben  wird.  Deren  Flächeninhalt  i^  ist  aber  einer 
und  derselbe,  nämlich  der  des  Kreises  vermindert  um  die  vier  Kreis- 
abschnitte über  «,  h,  c,  d.    Diagonalen  kommen  in  allen  diesen  Sehnen- 


0  Opera  Kepleri  (ed.  Frisch)  III,  401.  -)  Kästner  III,  101 

Cbasles,  Ajyer^u  liist.  pag.  440,  Note  1  (deutsch  S.  492,  Note  120). 


-110.  — 


Trigonometrie  und  Cyclometrie.  709 

Vierecken  drei  vor,  d^,  d^j  ^3;  welche  als  Seimen  die  Bögen  «-(-&, 
a  -\-  c,  a  -\-  d  bespannen,  wenn  wir  diese  leicht  verständliche  Ab- 
kürzung uns  gestatten  dürfen.  Girard's  Formel  lautet  in  dieser  Be- 
zeichnung F  =    '   ^,  ^  •    Eine  sehr  wichtige  Neuerung  besteht  in  einer 

allerdings  nicht  folgerichtigen  Bezeichnung,  deren  Girard  bei  recht- 
winkligen sphärischen  Dreiecken  sich  bedient  hat.  Die  Hypotenuse 
nannte  er  H,  die  perpendicular  gezeichnete  Kathete  F,  die  als  Basis 
dienende  B,  den  Winkel  an  der  Spitze  A,  den  zwischen  Basis  und 
Hypotenuse  V.  Die  Ergänzungen  aller  dieser  Grössen  zu  90''  stellte 
er  durch  die  entsprechenden  kleinen  Buchstaben  dar:  a  =  90^  —  Ä, 
&  =:  90"  —  B  u.  s.  w.  Alle  diese  Buchstaben  werden  von  ihm 
aber  auch  ohne  jeden  Zusatz  gebraucht,  wenn  ein  Sinus  ge- 
meint ist,  also  B  statt  sini?,  h  statt  sin  &  beziehungsweise  statt 
cos  5.  Tangente  und  Secante  sind  durch  die  Silben  tan  und 
sec  ausgedrückt:  ianH,  secyl,  tana  u.  s.w. 

Der  sphärischen  Trigonometrie  brachte  Girard  auch  in  einer 
späteren  Schrift,  in  welcher  man  der  Ueberschrift  nach  kaum  Tri- 
gonometrisches erwarten  sollte,  einen  wesentlichen  Zuwachs.  In  der 
1629  gedruckten  Invention  nouvelle  en  Valgebre  ist  nämlich  die  sphä- 
rische Flächen formel  erstmalig  gegeben.  Ein  ebenes  «-eck  hat 
die  Winkelsumme  {2n — 4)90",  ein  sphärisches  n-eok  eine  um  e 
grössere  Winkelsumme.  Dieser  Ueberschuss  c  verhält  sich  nach  Girard 
zu  acht  Rechten,  wie  die  sphärische  Vielecksflächc  zur  ganzen  Kugel- 
oberfläche. 

Trigonometrische  Tafeln  erschienen  in  grosser  Anzahl. 
Mathias  Bernegger^)  (S.  690)  gab  sowohl  1612  als  1619  in  Strass- 
burg  Tafeln  der  Sinus,  Tangenten  und  Secanten  heraus.  Girard's 
Tafelöl  von  1626  haben  wir  erst  erwähnt.  Ein  Jahr  später  gab 
Franciscus  van  Schooten  der  Vater  eben  solche  heraus:  Ta- 
hiilae  sinuuni,  tangentium,  secantnmi,  ad  Radium  10000000  avecq  l'usage 
d'iceUes  en  trkmgles  plans  (Amsterdam  1627j.  Die  in  französischer 
Sprache  verfasste  ebene  Trigonometrie  giebt  zu  Bemerkungen  keinen 
Anlass.  Das  Format  der  Tafeln  ist  aber  vermuthlich  das  kleinste, 
welches  für  trigonometrische  Tafeln  benutzt  worden  ist.  Es  ist  ein 
wah  res  Westentaschenbüchelchen . 

Nunmehr  haben  wir  einen  italienischen  Schriftsteller  zu  nennen: 
Bonaventura  Cavalieri^).  Sein  Geburtsjahr  wird  zu  1598,  sein 
Todesjahr  zu  1647  angegeben,  doch  scheint  die  erstere  Angabe  durch 
1591  ersetzt  werden  zu  müssen.    Auch  der  Name  ist  Zweifeln  unter- 


')  Kästner  III,  310.       ^)  Piola,   Elogio   di  Bonaventura  Cuvalieri  (1844). 
Favaro,  Bonaventura  Cavalieri  neUo  studio  dt  Bologna  (1888). 


710  73.  Kapitel. 

werfen,  da  die  Formen  Cavalieri,  Cavallieri,  Cavaglieri,  Ca- 
valerius,  de  Cavalleriis  sich  sämmtlich  actenmässig  nachweisen 
lassen.  Die  hier  festgehaltene  Schreibweise  Cavalieri  entspricht  der 
Unterschrift  zahlreicher  Briefe.  Ein  Schüler  Cavalieri's,  Urbano 
Daviso,  ist  der  Urheber  der  Erzählung,  Cavalieri  habe  als  23  jähriger 
Jüngling  in  Pisa  zuerst  einen  Euklid  in  die  Hand  bekommen,  habe 
ihn  in  wenigen  Tagen  studiert  und  sich  dann  weiter  mit  Mathematik 
beschäftigt.  Mit  welchem  Erfolge  geht  daraus  hervor,  dass  er  schon 
im  Mai  1619  Castelli  in  Pisa  als  Lehrer  der  Mathematik  vertreten 
durfte  und  kurz  darauf  sich  um  eine  in  Bologna  seit  zwei  Jahren 
offene  Professur  der  Mathematik  bewarb,  die  ihm  allerdings  nicht  zu 
Theil  ward,  weil  schrifstellerische  Leistungen  unerlässliche  Bedingung 
der  Anstellung  waren,  und  Cavalieri  verfügte  noch  nicht  über  solche. 
Gedruckt  war  von  ihm  ebenso  1629  noch  nichts,  als  er  neuerdings 
um  die  Stelle  zu  Bologna  sich  bewarb,  deren  Besetzung  jetzt  um  so 
dringlicher  erschien,  als  auch  der  Inhaber  der  zweiten  Professur  der 
Mathematik  1626  gestorben  war,  mithin  seit  zwei  Jahren  keinerlei 
mathematischer  Lehrstuhl  mehr  besetzt  war.  Cavalieri  konnte  sich 
diesesmal  auf  handschriftlich  vorgelegte  Arbeiten  und  auf  eindring- 
liche Empfehlungen  so  einflussreicher  Gelehrten  wie  Castelli  und  Ga- 
lilei stützen.  La  Galileis  damaligem  Briefe  ist  ausdrücklich  von  den 
glänzenden  Fortschritten  die  Rede,  welche  Cavalieri  gemacht  habe, 
als  er  vor  etwa  15  Jahren  durch  Castelli  in  Pisa  auf  die  Mathematik 
hingewiesen  wurde.  Das  muss  also  1614  gewesen  sein,  und  23  Jahre 
früher  schrieb  man  1591.  An  Daviso's  Angabe  von  dem  23.  Lebens- 
jahre, zu  welchem  Cavalieri  erstmalig  mit  Mathematik  sieh  beschäftigte, 
halten  wir  aus  folgendem  Grunde  fest:  wäre  Cavalieri  1598  geboren, 
1614  erst  16  Jahre  alt  gewesen,  so  hätte  in  so  viel  ji,mgeren  Jahren 
ein  unerhört  rasches  Fortschreiten  in  der  Mathematik  ihm  nur  «noch 
grössere  Ehre  gemacht,  und  Daviso  hätte  sich  mit  Vergnügen  dieses 
weiteren  Grundes  den  von  ihm  verehrten  Lehrer  hoch  zu  preisen  be- 
dient. Die  Anstellung  in  Bologna  erfolgte  1629  auf  3  Jahre,  wurde 
dann  1632  auf  weitere  4,  1636  auf  weitere  7  Jahre  erneuert,  1643 
auf  3  Jahre,  1646  auf  12  Jahre,  von  welchen  Cavalieri  aber  nur 
eines  noch  erlebte.  Neben  seiner  Universitätsstellung  gehörte  Cava- 
lieri dem  Orden  der  Jesuaten  an.  Das  Erscheinen  seiner  Schriften 
trifft  ziemlich  genau  mit  dem  Ablaufe  der  Zeiten  zusammen,  auf 
welche  seine  jedesmalige  Anstellung  in  Bologna  lautete.  Man  geht 
also  kaum  fehl,  wenn  man  dasselbe  mit  seinem  Wunsche  nach  einer 
Erneuerung  der  Anstellung  in  Zusammenhang  bringt.  Er  gab  1632 
zwei  Werke  gleichzeitig  heraus:  Lo  specchio  ustorio,  ovvero  Trattato 
delle  settioni  coniche  und   Directorium  generale  uranomeiricum ,  in  quo 


Trigonometrie  und  Cyclometrie.  711 

Trigonometriae  logar'dhmicae  fimdamenta  ac  rajula  dcmonstrantur.  Dem 
Jalire  1G43  gehört  die  Trigonomdria  plana  et  spliaerka  linearis  et 
logarithniica  an. 

Den  Specchio  ustorio  hätten  wir  im  72.  Kapitel  bei  der  Be- 
sprechung der  Mechanik  erwähnen  können,  weil  in  ihm  Cavalieri  die 
Parabel  als  Falllinie  bezeichnete,  allerdings  unter  Nennung  Ga- 
lilei's  als  Entdecker  dieser  Eigenschaft,  aber  ohne  dessen  Erlaubuiss 
dazu  einzuholen,  eine  gerade  in  jenem  Augenblicke,  wo  die  Angriffe 
auf  den  Verfasser  der  Gespräche  über  die  beiden  Weltsysteme  schon 
anfingen ,  fast  unverzeihliche  Tactlosigkeit. 

Das  Directorium  von  1632,  welches  zur  Trigonomclria  von  1643 
beinahe  im  Verhältnisse  einer  ersten  zu  einer  zweiten  Auflage  des 
gleichen  Werkes  steht,  enthält  unter  Anderem  die  Formel  für  die 
sphärische  Dreiecks  fläche  mit  einem  Cavalieri  angehörenden  Be- 
weise des  Satzes,  Zu  ganz  allgemein  verbreiteter  Kenntniss  gelangte 
der  Satz  aber  1643  so  wenig  wie  1632,  so  wenig  wie  1629,  als  Girard 
ihn  aussprach,  denn  noch  am  Ende  des  Jahres  1655  machte  Rober- 
vaP)  die  Flächenformel  Huygens  gegenüber  als  seine  Entdeckung 
geltend  und  gab  ihm  zu  Ende  des  Jahres  1656  brieflich  seinen  Be- 
weis, wenn  auch  eine  gedruckte  Veröffentlichung  durch  Roberval 
nicht  bekannt  ist.  Mit  dem  Verhältnisse  von  Kugelvielecken  zur 
Kugeloberfläche  beschäftigte  sich  auch  Broscius^)  einigermassen  in 
seinem  gegen  Ramus  gerichteten  Werke  von  1652,  das  uns  (S.  685) 
bei  Gelegenheit  der  Untersuchungen  über  Sternvielecke  beschäftigt  hat. 

Emanuel  Porto ■'),  ein  italienischer  Jude,  der  in  der  ersten 
Hälfte  des  XVII.  Jahrhunderts  in  Triest  und  Padua  als  Talmudlehrer 
gewirkt  hat,  verfasste  auch  einige  mathematische  Schriften  und  zwar 
in  italienischer  Sprache.  Es  sind  diese  der  Porto  astronomico  von 
1636  und  eine  Brevc  e  facil  introduzione  alla  geografia  e  trigono- 
metria  von  1640.  Das  erstere  Werk  ist  eine  Goniometrie  und  sphä- 
rische Trigonometrie  nebst  einer  Tafel  der  Sinus,  Tangenten  und 
Secanten  der  Winkel  unter  v90*^  von  Minute  zu  Minute  für  den 
Halbmesser  100000;  das  letztere  ist  eine  mathematische  Geographie, 
an  welche  eine  ebene  Trigonometrie  sich  anschliesst.  Im  Porto  astro- 
nomico wird  auch  von  der  Prostaphaeresis  umfassender  Gebrauch  ge- 
macht, welche  durch  Josteglio  erweitert  und  allgemein  gemacht 
worden  sei.     Es  kann  kaum  bezweifelt  werden,   dass   unter  Josteglio 


^)  Oeuvres  completes  de  Christiaan  Hmjgens,  T.  I  (Haag  1888),  pag.  370  u. 
518.  *)  Kästner  III,  203  und  Derselbe  in  den  Geometrischen  Abhandlungen, 
II.  Sammlung,  Abhandlung  31,  S.  416—420.  ^)  G.  Wertheim  in  der  Monats- 
schrift für  Geschichte  und  Wissenschaft  des  Judenthums.   Jahrgang  41,  S.  616 — 

622  und  42,  S.  375— 3f5U. 


712 


73.  Kapitel. 


der  Wittenberger  Mathematiker  Melchior  Jöstel  gemeint  ist,  der 
in  Briefwechsel  mit  Tycho  Brahe  stand,  von  welchem  eine  Lofjistica 
7tQoö&ag)cciQa6ig  astronomica  vom  Jahre  1619  noch  in  der  zweiten 
Hälfte  des  XVIII.  Jahrhunderts  handschriftlich  vorhanden  war,  aber 
vermuthlich  niemals  gedruckt  worden  ist^). 

Johannes  Tonski  ^)  veröffentlichte  1640  in  erster,  1645  in 
zweiter  bedeutend  vermehrter  Ausgabe  eine  Arithmetica  vulgaris  et 
trigonometria  rectüineoriün ,  in  welcher  die  allerdings  von  Rhäticus 
(S.  602)  bemerkte,  aber  noch  immer  nicht  allgemein  bekannte  Un- 
bestimmtheit des  Dreiecks  durch  zwei  Seiten  und  den  der  einen  Seite 
gegenüberstehenden  Winkel  hervorgehoben  ist. 

Einige  Männer  wandten  ihr  Augenmerk  der  Aufgabe  zu,  das 
Verhältniss  zwischen  Kreisumfang  und  Kreisdurchmesser  zu  bestimmen, 
doch  sind  diese  cyclo  metrischen  Arbeiten  gleichwie  die  in  dem 
früheren  Abschnitte  von  sehr  verschiedenem  schriftstellerischen  Werthe. 
Christian  Loiigomontanus"'),  ein  dänischer  Astronom,  welcher 
als    Gehilfe   Tycho   Brahe's    mit  Ehren  genannt    wird,   glaubte  einen 

vollständig  genauen  Werth  von  tc 
ermittelt  zu  haben  und  veröffent- 
lichte seine  vermeintliche  Ent- 
deckung in  Schriften  von  1638  und 
1644.  Seine  Construction  ist  fol- 
gende (Figur  141):  AC  ist  der 
Kreisdurchmesser,  AB  gleich  dem 
Halbmesser   r   von    43    Einheiten. 


r,^F=^r=27. 


Fig.  141. 


Ferner  ist  CE- 

Dann  schneidet  FG  senkrecht   zu 
BC  gezogen   das   dem  Halbkreise 
gleiche  Stück  BG  ab.     Warum   diese   Gleichheit  stattfinde,   ist  nicht 
ausgeführt.     Die  Rechnung  aber  ergiebt  folgenden  Werth: 

Ci^=43  +  27  =  70,     0^  =  86,     BC  =  y862  —  43^  =  y5547 . 
Wegen  der  Aehnlichkeit  der  Dreiecke  CFG  und  CAB  ist  ferner 


sehr  nahezu  und 


BG  =  BC+  CG^  =  ^y5547  =  1/18252  fxj  135,1 

3 141 86  j2^ 


135,: 
~43" 


100000 


^)  A.  V.  Braunmühl  in  der  Biblioth.  mathem.  1898,  S.  94—95.  ^)  Dick- 
stein in  der  Biblioth.  mathem.  1894,  S.  24.  ^)  Kästner  III,  58.  —  Mon- 
tucla,  Histoire  des  recherches  sur  la  quadrature  da  cerclc  (2.  edition  1831), 
pag.  207—208. 


Trigonometrie  und  C^'clometrie.  713 

Das  ist  aber  der  von  Longomontaiius  für  richtig  erachtete  Werth.  An 
denselben  knüj)fte  sich  ein  heftiger  htterarischer  Streit  mit  dem  eng- 
lischen Mathematiker  John  Pell  (1610 — 1685),  welcher  1646  seine 
Controversy  ivith  Longomontanus  concerning  the  quadrature  of  the  circle 
und  1647  eine  lateinische  Uebersetzung  der  gleichen  Schrift  heraus- 
gab. Andere  Mathematiker,  wie  Roberval,  Descartes,  Cava- 
lieri  u.  s,  w.  wurden  als  Schiedsrichter  in  den  Streit  hereingezogen, 
der  zu  einem  eigentlichen  Ergebnisse  nicht  führte^). 

Gleich  unfruchtbar  waren  Streitschriften,  welche  zwischen  einigen 
holländischen  Schriftstellern  gewechselt  wurden^).  Corneli.s  van 
Leeuwen,  Abraham  de  Graaf,  Claas  Gietermaker,  Christiaan 
Martini  Anhaltin  erschöpften  den  Reichthum  ihrer  Muttersprache 
an  Schimpfwörtern  in  Veröffentlichungen  von  1663  und  1664,  welche 
von  trigonometrischen  und  Schifffahrtsaufgaben  ihren  bald  verlassenen 
Ausgangspunkt  nahmen,  um  in  ein  wüstes  Geschimpfe  ohne  wissen- 
schaftlichen Werth  auszuarten. 

Philipp  Uffenbach^),  ein  Maler  in  Frankfurt  am  Main,  lehrte 
1653  geometrische  Constructionen,  welche  geeignet  waren,  die  Länge 
des  Kreisumfanges  nahezu  richtig  herzustellen. 

Ein  Schriftsteller  ganz  anderer  Bedeutung  war  Gregorius  von 
Sanct  Vincentius'^)  (1584  —  1667),  wenn  wir  ihn  auch  in  diesem 
Kapitel  von  seiner  wenigst  vortheilhaften  Seite  kennen  lernen.  Er 
ist  in  Brügge  geboren,  in  Gent  gestorben,  hat  aber  eine  Anzahl  von 
Jahren  ausserhalb  seines  belgischen  Vaterlandes  verlebt.  Seine  Studien- 
zeit brachte  er  in  Rom  zu,  wo  Clavius  sein  Lehrer  war.  Von  1629 
bis  1631  weilte  er  als  Professor  der  Mathematik  in  Prag,  wo  er  alle 
Schrecknisse  des  Krieges  durchmachte,  und  wo  ein  schon  druckreifes 
Werk  in  den  Flammen  zu  Grunde  ging.  Es  waren  drei  stattliche 
Bände  über  Statik  und  Geometrie,  welche  so  vernichtet  wurden.  An- 
dere Papiere,  deren  Niederschrift  bis  auf  1625  zurückgeht,  wurden 
gerettet,  fuhren  aber  zehn  Jahre  in  der  Welt  herum,  bis  sie  in  Gent 
wieder  in  den  Besitz  ihres  Verfassers  gelangten.  Sie  bildeten  dann 
kaum  verändert  das  grosse  Werk,  w^elches  Gregorius  1647  als  einen 
Folioband  von  1225  Seiten  in  10  Bücher  eingetheilt  zum  Drucke 
beförderte:  Oj/hs  geomdrkiim  cßiadraturae  circuli  et  sectionimi  com. 
Die  Methode,  welche  Gregorius  hier  zur  Erzielung  einer  genauen 
Quadratur  des  Kreises  und  ebenso  auch  der  Kegelschnitte  vorschlug, 
soll  uns  später  beschäftigen.     Hier  muss  genügen  zu  berichten,   dass 

*)  E.  Jacoli  im.  Biilktino  Bo)icompa(ini  II,  299—312.  ^)  Bierens  de  Haan 
im  BuUetino  Boncomixujni  XI,  383 — 452,  sowie  Bouwstoff'en  etc.  II,  53—111  und 
137—172.  ^)  Kästner  III,  54.  ^)  Allgemeine  deutsche  Biographie  IX,  631 
—633. 


714  ''3.  Kapitel. 

Gregorius    nicht    weniger    als   vier   Verfahrungsarten    schilderte,    ver- 
mittels deren  man  zur  Quadratur  des  Kreises  gelangen  könne. 

Kaum  war  das  umfang-  und  inhaltreiche  Werk  erschienen,  als  es 
die  verschiedensten  Urtheile  hervorrief.  Neben  solchen,  die  es  be- 
wunderten, waren  Verkleinerer  desselben  auf  dem  Platze,  deren  Stimme 
sehr  viel  galt.  Descartes^)  fand  in  einem  Briefe  an  den  jüngeren 
Franciscus  van  Schooten  vom  Frühjahre  1649  nichts  Gutes  darin; 
er  habe  die  Schlüsse,  so  weit  sie  überhaupt  verständlich  seien,  rück- 
wärts verfolgt,  und  er  sei  auf  offenkundige  Fehler  gestossen.  Rober- 
val  und  Mersenne  traten  noch  früher  öffentlich  auf,  und  Letzterer 
insbesondere  sprach  auf  S.  72  seines  1647  gedruckten  Buches:  No- 
vamm  ohservationum  pliysico-mathematicarum  tomiis  terüus,  quihiis 
accessit  Aristarchiis  Saniius  de  mundi  systemate^)  in  verächtlichster 
Weise  von  dem  Werke,  ohne  dessen  Verfasser  zu  nennen.  Gegen 
diese  Angriffe  waudte  sich  ein  Anhänger  des  Gregorius,  wie  er  Belgier, 
wie  er  Mitglied  des  Jesuitenordens,  Alfons  Anton  de  Sarasa''') 
(1618 — 1667).  Seine  Solutio  FrobJematis  a.  R.  P.  Marino  Mersenno 
propositi  von  1649  war  indessen  weniger  eine  Erläuterung  des  Opus 
geometricum  des  Gregorius  —  eine  solche  stellte  Sarasa  für  später  in 
Aussicht,  ohne  alsdann  sein  Versprechen  einzulösen  —  als  ein  Gegen- 
angriff gegen  Mersenne.  Letzterer  hatte  die  erwähnte  Kritik  mit  den 
Worten  beschlossen,  dass  die  Mathematiker  gegen  jenes  Werk  Tadel 
erhöben ,  weil  der  Verfasser  den  in  die  Augen  fallenden  Titel  der 
Zirkelquadratur  ihm  beigelegt,  jedoch  nichts  zur  Sache  Gehöriges 
vorgebracht  habe,  als  was  schon  vorher  gefunden  gewesen  sei.  Die 
Sache  komme  nämlich  auf  folgende  Aufgabe  hinaus,  deren  Lösung 
vielleicht  noch  viel  schwieriger  als  die  Quadratur  des  Kreises  sei:  mit 
Hilfe  von  Geometrie  den  Logarithmen  einer  dritten  Grösse  zu  finden, 
sofern  die  Logarithmen  zweier  anderer  gegeben  seien,  mögen  jene 
drei  Grössen  beliebig  rational  oder  irrational  gewählt  werden.  An 
diese  Schlusssätze  klammerte  sich  Sarasa,  d.  h.  an  die  Beantwortung 
der  Frage,  ob  drei  Grössen  Ä,  C,  L  immer  einer  und  derselben  geo- 
metrischen Reihe  angehören,  und  ob  man,  wenn  die  Stellung  von  Ä 
und  C  innerhalb  der  Reihe  gegeben  ist,  stets  die  Stellung  von  L  er- 
kennen könne,  indem  man  geometrischer  Hilfsmittel  sich  bediene. 
Sarasa  stützt  sich  dabei  auf  das  VL  Buch  des  Opus  geometricum^ 
welches  von  der  Hyperbel  handelt.  Gregorius  hatte  dort  nachgewiesen 
dass  Flächenräume,  welche  durch  eine  Hyberbel,  deren  eine  Asymptote 


^)  Oeuvres  de  Descartes  (edit.  Cousin)  X,  319.  ^)  Die  betreffende  Stelle 
ist  abgedruckt  bei  Kästner  III,  251.  Vergl.  auch  Montucla,  Histoire  des 
reclierches  sur  la  quadrature  da  cercle  (1831),  pag.  8'.».     ^)  Kästner  III^  251—254. 


Trigonometrie  und  Cjclometrie.  715 

und  Parallele  zur  anderen  Asymptote  begrenzt  seien,  in  einem  Ver- 
hältnisse stehen,  welches  gleich  sei  dem  Exponenten  der  Potenzen, 
als  welche  die  abschliessenden  Ordiuaten  sich  kundgeben.  Mit  anderen 
Worten,  Gregorius  hatte  das  Auftreten  von  Logarithmen  bei 
den  erwähnten  Flächenräumen  erkannt,  wenn  auch  nicht  mit 
Namen  genannt.  Letzteres  that  Sarasa,  und  darin  liegt  das  wirkliche 
Verdienst  seiner  Streitschrift. 

Nun  trat  1()51  ein  neuer,  damals  noch  ganz  unbekannter  junger 
Schriftsteller  in  die  Kampfbahn  ein,  der  eben  22jährige  Christian 
Hujgens^)  (1629 — 1690).  Zweiter  Sohn  des  Constantin  Iluygens-), 
eines  als  Dichter  und  Staatsmann  bekannten,  aber  auch  die  Natur- 
wissenschaften pflegenden,  Descartes  eifrig  bewundernden  und  nicht 
minder  selbst  in  hohem  Ansehen  stehenden  Vaters  sollte  Huygens 
gleichfalls  einer  diplomatischen  Laufbahn  sich  widmen  und  studirte 
deshalb  die  Rechtsgelehrsamkeit,,  bis  er  1655  den  Doctorgrad  beider 
Rechte  sich  erwerben  konnte.  Schon  vorher  trat  er  aber  als  Schrift- 
steller auf  dem  Gebiete  auf,  auf  welches  seine  Begabung  ihn  vorzugs- 
weise hinwies.  Es  war  das  mathematische,  das  physikalische,  das 
astronomische  Gebiet,  und  der  jüngere  Franciscus  van  Schooten 
war  auf  demselben  seit  1645  sein  Lehrer,  später  sein  Freund  und  Be- 
wunderer. Zunächst  haben  wir  es  mit  Schriften  von  Huygens  über 
die  Kreisquadratur  zu  thun.  Wir  werden  ihm  dann  im  75.  Kapitel 
als  Schriftsteller  über  Wahrscheinlichkeitsrechnung  zuerst  wieder  be- 
gegnen. 1651  veröffentlichte  Huygens  Theorcnuda  de  quadratura 
hyperholes,  eJJqysis  d  circidi  ex  dato  portionum  gravitaiis  ccntro,  in 
Avelchem  er  sich  auf  De  la  Faille's  Standpunkt  stellte,  wonach  aus 
dem  Schwerpunkte  einer  Figur  deren  Flächeninhalt  abgeleitet  werden 
könne  (S.  696).  Zugleich  versprach  er  eine  Widerlegung  von  Gregorius, 
und  diese  fand  ihren  Platz  in  der  kleinen  Abhandlung  'Eh,tra6is  Cyclo- 
metriac  clarissimi  Grcgorii  a.  S.  Vinccutio.  Sie  war  gegen  die  erste 
im  Opus  geometricum  empfohlerie  Methode  gerichtet  und  wies  deren 
Hinfälligkeit  nach.  Schon  diese  Abhandlung  erwarb  ihrem  jungen 
Verfasser  laute  Anerkennung,  noch  lauter  durch  den  Wiederhall  des 
immer  lebhafter  werdenden  Streites. 

Neue  Schriften  für  und   gegen   Gregorius   wechselten   anhaltend. 


*)  Allgem.  deutsche  Biographie  XIII,  480 — 48G.  —  Vergl.  auch  den  Brief- 
wechsel von  Huygens  in  den  acht  ersten  Bänden  der  grossen  Ausgabe : 
Oeuvres  completes  de  CJiristiaan  Huygens  x>iüjlices  par  la  soeiete  Hollandaise  des 
Sciences  1888  ügg.  Die  Schreibweise  Huygens  dürfte  vor  der  gleichfalls  vor- 
kommenden Huyghens  den  Vorzug  verdienen.  ^)  D.  J.  Korteweg,  Notes  sur 
Constantijn  Huygens  conside're  comme  amateur  des  sciences  exactes  et  sur  ses 
relations  avec  Descartes  in  den  Archives  Neerlandaises.  T.  XXII. 


716  73.  Kapitel. 

Für  ihn  trat  1653  Aloysius  Kinner  von  Löwenthurm^)  aus 
Prag  mit  seiner  Elucidatio  geometrica  problcmatis  austriaci,  sive  qiia- 
draturae  circuli  feliciter  tandem  detedae  per  R.  P.  Gregormm  a.  Sto. 
Vincentio  ein,  gegen  ihn  1654  ein  Ordensgenosse  des  Gregorius,  wo- 
durch die  Bekämpfung  schon  äusserlich  an  Kraft  gewann.  Vincent 
Leotaud  (1595 — 1672),  der  Lehrer  am  Jesuitencollegium  in  Lyon, 
hob  überdies  in  seinem  Etymon  quadraturae  ciradi  hactenus  editoriim 
ccleberrmiae  et  examen  ciradi  quadraturae  Gregor  a  St.  Vincentio  einen 
wunden  Punkt  hervor,  welcher  von  nun  an  den  Gegnern  stets  als 
Zielpunkt  diente.  Gregorius  hatte,  wie  früher  erwähnt,  ganze  vier 
Methoden  vorgeschlagen,  welche  zur  Quadratur  des  Kreises,  mithin 
zur  Berechnung  der  Verhältnisszahl  7t  führen  mussten.  Warum  brachte 
er  keine  dieser  angeblich  sicheren  Methoden  in  Anwendung?  Hielt 
er  das  eigentliche  Auffinden  von  7t  für  nebensächlich,  oder  hatte  er 
erkannt  und  nur  verschwiegen,  dass  seine  Vorschläge  sich  in  Rech- 
nung nicht  umsetzen  Hessen,  mithin  ihre  eigene  Widerlegung  in  sich 
trugen? 

In  dem  gleichen  Jahre  1654  erschien  Huygens'  De  circidi 
tnagnittidine  invcnta^),  in  welcher  nicht  bloss  die  von  Snellius  unbe- 
wiesen gelassenen  Sätze  (S.  706)  mittels  Schwerpunktbetrachtungen, 
also  auf  Grundlage  von  Huygens'  Schrift  von  1651,  gesichert  wurden, 
sondern  auch  zahlreiche  andere  Sätze  mit  ebenso  strengen  als  elemen- 
taren Beweisen  versehen   wurden.     Als   die  wichtigsten  Sätze  gelten: 

Satz  5.  Jeder  Kreis  ist  grösser  als  ein  gleichseitiges  Sehnen- 
vieleck vermehrt  um  ---  des  Ueberschusses,  um  welchen  es  das  gleich- 
seitige Sehnenvieleck  von  halb  so  vielen  Seiten  übertrifft. 

2 

Satz  6.  Jeder  Kreis  ist  kleiner  als  -^  eines  gleichseitigen  Tan- 
gentenvielecks vermehrt  um  -,-  des  ihm  ähnlichen  Sehneuvielecks. 

Satz  7.  Jeder  Kreisumfang  ist  grösser  als  der  Umfang  eines 
gleichseitigen  Sehnenvielecks  vermehrt  um  -—  des  Ueberschusses,  um 
welchen  dieser  den  Umfang  des  gleichseitigen  Sehnenvielecks  von  halb 
so  vielen  Seiten  übertrifft. 

Satz  11.  Der  Umfang  jedes  Kreises  ist  kleiner  als  die  kleinere 
der  beiden  mittleren  Proportionalen  zwischen  den  Umfangen  einander 
ähnlicher  gleichseitiger  Sehnen-  und  Tangentenvielecke.  Die  Kreis- 
fläche aber  ist  kleiner  als  das  zu  jenen  ähnliche  Vieleck,  dessen  Um- 
fang die  grössere  jener  beiden  mittleren  Proportionalen  ist. 


^)  Quetelet  pag.  218.  *)  ßudio,  Archimedes ,  Huygens,  Lambert, 

Legendre.     Vier  Abhandlungen  über  die  Kreismessung  1892.     Der  Bericht  über 
die  Abhandlung  von  Huygens  S.  39 — 41,  die  Abhandlung  selbst  S.  85—131. 


Trigonometrie  vmd  Cyclometrie.  717 

Satz  10.     Bezeichnet  a  die  Länge  eines  Bogens,  welcher  kleiner 
als  der  Halbkreis  ist,  s  dessen  Sinus,  s'  dessen  Sehne,  so  ist  stets 
'    ,    s'  —  s    ^        ^    ,    ,    s'  —  s     4s'  4-  s 
^    +^-<^*<^'^    +-^-27-^s- 

Die  Fassung  von  Satz  16  entspricht  dem  Sinne,  aber  nicht  dem  Wort- 
laute bei  Huygens,  in  welchem  Formeln  durchweg  vermieden  sind. 
Huygeus  gewinnt  mittels  seiner  Sätze  schon  durch  Anwendung  regel- 
mässiger 60 -ecke  die  Grenzen: 

3,1415926533  <  tt  <  3,1415926538. 

Franciscus  Xaverius  Aynscom^)  (1624 — 1600)  veröffeut- 
lichtete  1()56  seine  ExposUio  ac  dedudio  (/eomefrica  quadraturarum  dr- 
cidi  R.  P.  Gregor ii  a  S.  Vinccntio,  ohne  auf  den  soeben  erörterten 
Einwand  sich  einzulassen.  Huygens  antwortete  noch  im  gleichen 
Jahre  1656  in  einem  Briefe  an  Aynscom,  und  endlich  gab  auch 
Leotaud  1663  noch  eine  Schrift  Cydomatkia  heraus,  welche  als  die 
letzte  derer  betrachtet  werden  kann,  die  in  diesem  wissenschaftlichen 
Streite  gewechselt  wurden,  an  welchem  —  und  das  verdient  bemerkt 
zu  werden  ■ —  Gregor  ins  selbst  sich  nie  betheiligt  hat.  Er  erhielt, 
wie  aus  dem  Briefwechsel  von  Huygens  zu  ersehen  ist,  alle  gegen 
wie  für  ihn  verfassten  Schriften,  er  beantwortete  die  Zusendungen  in 
liebenswürdiger  Weise  durch  Dankbriefe,  auf  den  sachlichen  Inhalt 
ginor  er  nicht  ein. 

Von  ganz  anderer  Seite  fasste  ein  ojiglisC&er  Schriftsteller, 
James  Gregory")  (1638 — 1675),  die  Aufgabe  der  Quadratur  in  seiner 
1667  gedruckten  Vera  circuli  et  Jiyperholae  qnadratura.  Gregory  zeigte 
in  einer  für  Kreis,  Ellipse  und  Hyperbel  gemeinschaftlichen  Beweis- 
führung, dass,  sofern  Vielecke,  deren  Seitenzahl  fortwährend  zunimmt, 
der  Curve  einbesehrieben  und  umschrieben  werden,  die  Vielecke  höherer 
Seitenzahl  einen  immer  weniger  von  einander  verschiedenen  Flächen- 
inhalt besitzen.  Er  zeigt  ferner,  dass,  wenn 
A  das  erste  Sehnenvieleck,  B  das"  erste  Tan- 
gentenvieleck, 6',  D  das  zweite  Sehnen-  be- 
ziehungsweise Tangentenvieleck  ist,  alsdann 
C  =  yAB,  D  =  j^  ,  fi sein  muss,  d.  h.  ersteres 
das  geometrische  Mittel  zwischen  den  den  Aus- 
gangspunkt bildenden  Vielecken,  letzteres  das 
harmonische  Mittel  zwischen  dem  ersten  Tan- 
gentenvieleck und  dem  zweiten  Sehuenvieleck- 
Sei  (Figur  142)  der  Halbmesser  0  G  des  Kreises 

^)  Kästner  III,  2G1 — 265.  -)  Montucla,  Histoire  des  recherches  stir  la 
quadrature  du  cercle  (18;J1),  pag.  95 — 101. 


718  Ti    Kapitel. 

als  Einheit  gedacht  und  ^HOG  =  2(p  der  Centriwinkel,  welchen 
die  Seite  GH  des  regelmässigen  Sehnenvielecks  von  oi  Seiten  be- 
spannt.    Man  sieht  sofort,  dass  alsdann 

A  =  71  sin  (p  •  cos  q) 

B  =  n  tng  (p 

C  =  n  sin  (p 

B  =  2ntng^ 

ist,  und  diese  Werthe  entsprechen  den  obigen  Zusammenhängen. 
Ebenso  entstehen  natürlich  weitere  Sehneu-  und  Tangentenvielecke 
E,  F  aus  C,  D  u.  s.  w.  Es  bildet  sich,  wie  Gregory  schon  in  seiner 
'Vorrede  sagt,  eine  Scrics  polygonorum  convcrgens,  mjus  tcrminaüo  est 
circulus,  und  dieses  Wort  der  Convergenz  kehrt  im  Verlaufe  der 
Schrift  immer  und  immer  wieder  und  ist  von  da  an  der  W^issenschaft 
erhalten  geblieben.  Der  Kreis  ist  also  die  Grenze,  welcher  beide 
Vielecksreihen  zustreben,  und  zwar  unter  Anwendung  eines  Namens 
unserer  Neuzeit  als  harmonisch-geometrisches  Mittel.  Der  Grenzwerth, 
um  dessen  Auffindung  es  sich  handelt^),  wird  erst  nach  unend- 
licher Glieder  zahl  der  Reihe  angetroffen,  ist  also  von  A,  B  eben- 
soweit entfernt  als  z.  B.  von  E,  F  oder  einem  anderen  Gliederpaare 
endlicher  Rangordnung.  Der  Grenzwerth  muss  also  in  ganz  gleicher 
Weise  aus  E,  F  wie  aus  A,  B  sich  bilden,  Ist  ein  endliches  Ver- 
fahren dazu  nicht  vorhanden,  so  ist  die  Grenze  nicht  zu  finden.  Wir 
sagen  statt  dessen  heute,  der  Grenzwerth  sei  eine  Transcendente,  aber 
wir  verbinden  damit  den  gleichen  Sinn,  der  in  Gregory 's  Ausdrucks- 
weise sich  verbarg.  Für  die  damalige  Zeit  war  diese  Auffassung 
allerdings  so  überraschend  neu,  dass  Huygens  sie  nicht  verstand  und 
ihr  im  Journal  des  Savans  vom  Juli  1668  entgegentrat,  worauf  Gre- 
gory in  den  Philosophical  Transactions  noch  des  gleichen  Jahres 
widersprach.  Die  weitere  wissenschaftliche  Thätigkeit  Gregory's,  ins- 
besondere auf  dem  Gebiete  der  Reihenlehre,  fällt  jenseits  1668,  mit- 
hin jenseits  der  Zeitgrenze,  welche  wir  diesem  Bande  gesteckt  haben. 


74.  Kapitel. 

Rechnen.     Logarithmen. 

Gehen  wir  nun  zu  dem  zweiten  grossen  Gebiete  der  Mathematik 
über,  das  von  den  Zahlengrössen  ausgehend  die  zuletzt  besprochenen 
Untersuchungen,    bei    welchen    gleichfalls    ein    Rechnen    hilfeleistend 

(^  Proposiiio   VII:  Oportet  pruedictue  seriei  terminationem  invenire. 


Rechnen.     Logarithmen.  719 

stattfaud,  als  grenzbenachbarte  besitzt,  von  wo  der  Uebergang  um  so 
leichter  erfolgt,  und  beginnen  wir  mit  den  ersten  Anfangsgründen, 
dem  einfachen  Rechnen. 

Dasselbe  war  aUmälig  auch  über  die  dem  alltäglichen  Gebrauche 
dienenden  Rechnungsarten  mit  ganzen,  und  zwar  kleinen  ganzen 
Zahlen  hinaus  Volkseigenthum  geworden,  und  dem  entsprechend  hatte 
die  wissenschaftliche  Berechtigung  sowohl  als  die  Behandlung  der 
Lehre  vom  Rechnen  sich  geändert.  Umfassende  Handbücher  der  Ge- 
sammtmathematik,  die  es  auch  im  XVII.  Jahrhunderte  gab,  konnten 
nicht  umhin,  das  Rechnen  zu  lehren,  ohne  jedoch  mehr  das  Haupt- 
gewicht gerade  darauf  zu  legen.  Besondere  Schriften  suchten  dann 
das  Rechnen  auch  mit  grossen  und  sehr  grossen  Zahlen  zu  erleichtern 
theils  dadurch,  dass  sie  instrumentale  Hilfsmittel  erfanden,  theils 
durch  Einführung  neuer  Kunstgriffe,  unter  welchen  die  Erfindung  der 
Logarithmen  unsere  Aufmerksamkeit  besonders  in  Anspruch  nehmen 
muss.  Dann  treten  neu  hinzu  gewisse  Betrachtungen,  welche  etwa 
den  Uebergang  von  der  allgemeinen  Arithmetik  zu  denjenigen  Unter- 
suchungen bilden,  die  später  den  Namen  der  algebraischen  Analysis 
erhalten  haben.  Endlich  werden  wir  von  gewissen  Aufgabensamm- 
lungen sprechen  müssen,  welche  alle  Theilgebiete  der  Mathematik 
zusammenfassen  und  uns  überleiten  werden  zur  Geschichte  der  zahlen- 
theoretischen Untersuchungen  und  der  Algebra. 

Von  den  zuerst  zu  erwähnenden  grösseren  Handbüchern 
neuneu  wir  die  Encjclopädie  von  Johann  Heinrich  Alsted^) 
(1588 — 1638)  von  Herborn,  ein  1620  in  vier  Foliobänden  heraus- 
gegebenes encyclopädisches  Werk,  dem  man  nicht  viel  mehr  nach- 
rühmen kann,  als  dass  es  das  erste  derai-tige  Druckwerk  war,  welches 
in  Deutschland  erschien.  Leibniz-)  nannte  es  ein  dem  Fassungsver- 
mögen jener  Zeit  entsprechend  lobenswerthes  Werk,  und  ein  späterer 
Schriftsteller^)  erzählt,  man  habe  die  Buchstaben  des  Namens  des 
Verfassers  Alstedius  versetzt,  um  das  Wort  sedulitas  zu  erhalten. 

Wir  nennen  die  Disciplinae  mathematicae  des  Pater  Johann 
Gier  maus'*)  von  1640.  Der  in  Herzogenbusch  geborene  Verfasser 
gehörte  dem  Jesuitenorden  an,  lehrte  in  Löwen  und  Antwerpen  und 
starb  1648,  als  er  im  Begriffe  stand,  von  Portugal  aus  eine  Missions- 
reise nach  China  anzutreten.    Das  Werk  ist  in  zwölf  Monate  getheilt. 


')  Kästner  III,  434—438.  —  Poggendorff  I,  34.  *)  Leibniz,  Phi- 

losophische Schriften  (herau.sgegeben  von  C.  J.  Gerhardt)  VII,  67:  DiligenUssi- 
mus  Joh.  Henr.  Alstedius  cuius  Encyclopaedia  mihi  pro  captu  illoriim  temponim 
certe   Imidanda  videtur.  ^)  Joh.   Friedr.   Stockhausen,    Historische  An- 

fangsgründe der  Mathematik,  Berlin  1752,  S.  30.  ^  Kästner  III,  438—442. 
—  Quetelet  pag.  202— 203. 


720  74.  Kapitel. 

in  welchen  die  betreifenden  Gegenstände  nach  dem  Berichte  des  Ver- 
fassers thatsächlich  gelehrt  zu  werdei?  pflegten.  Das  Schuljahr  be- 
ginnt mit  October,  endigt  mit  September.  Jeder  Monat  zerfällt 
sonderbarer  Weise  in  drei  Wochen,  der  September  hat  deren  gar 
nur  zwei;  vielleicht  sind  die  noth wendigen  Feier-  und  Erholuugstage 
auf  diese  Weise  in  Rechnung  gebracht.  Im  October  wurde  Geometrie 
vorgetragen,  im  November  Arithmetik,  im  December  Optik  u.  s.  w.; 
zuletzt  im  September  Chronologie.  In  der  zweiten  Novemberwoche 
ist  von  einer  mit  Rädern  versehenen  Vorrichtung  die  Rede,  welche 
Ciermans  erfunden  haben  will,  und  welche  jede  Multiplication  und  Divi- 
sion fehlerlos  vollziehen  lasse,  also  von  einer  Rechenmaschine; 
eine  Beschreibung  ist  nicht  beigegeben. 

Wir  nennen  den  Cursus  mathematicus  von  Pierre  Herigone 
aus  dem  Jahre  1644,  den  wir  schon  (S.  G56)  zu  erwähnen  hatten,  als 
wir  die  Ausgaben  alter  Geometer  besprachen. 

Wir  nennen  das  Directorium  mathematicum  von  Abdias  Trew^) 
von  1651,  ein  grosses  Lehrbuch  der  gesammten  reinen  und  ange- 
wandten Mathematik,  welches  durch  Breite  zu  ei-setzen  suchte,  was 
ihm  an  Tiefe  abging. 

Wir  nennen  den  Cursus  mathematicus  des  Kaspar  Schott") 
(1608 — 1666),  eines  in  Königshofen  bei  Würzburg  geborenen,  in 
Würzburg  selbst  als  Professor  der  Mathematik  gestorbenen  Mitgliedes 
des  Jesuitenordens.  Schott  war  übrigens  nicht  ausschliesslich  in  seiner 
Heimath  thätig,  sondern  fand  zeitweise  auch  in  Palermo  Verwendung 
als  Lehrer  der  Mathematik  und  Moral.  Der  Cursus  mathematicus 
wurde  erstmals  1661,  später  wiederholt  als  starker  Folioband  gedruckt. 

Wir  nennen  den  uns  gleichfalls  schon  bekannt  gewordenen  Pater 
Andreas  Tacquet,  von  welchem  zwar  nicht  innerhalb  seiner  Opera 
mathematica,  aber  als  besonderes  Bäudchen  von  1664  eine  Arithmetik^) 
erschien. 

Damit  ist  zugleich  der  Uebergang  zu  einem  anderen  Einzelwerke 
gewonnen,  welches  einen  bedeutenden  Einfluss  ausübte:  die  Clavis 
mathematica  von  1631,  welche  1652  in  neuem  Abdrucke  erschien. 
Ihr  Verfasser  William  Oughtred'^)  (1574—1660)  ist  in  Eton  ge- 
boren, war  Zögling  der  Universität  Cambridge,  seit  1603  Pfarrer  in 
einem  Landorte  und  konnte  seiner  Lieblingswisseuschaft,  der  Mathe- 
matik, nur  spärliche  freie  Stunden  widmen,  obendrein  nur,  wenn  sie 


*)  Günther,  Die  mathematischen  und  Naturwissenschaften  an  der  nüm- 
bergischen  Universität  Altdorf,  S.  27  (Separatabdruck  aus  dem  .3.  Hefte  der  Mit- 
theilungen des  Vereins  für  Geschichte  der  Stadt  Nürnberg  1881).  *)  Poggen- 
dorff  11,  838.  ^)  Kästner  lU.  449.  ")  Ebenda   IE,  39—42.  —  Rouse 

Ball,  A  history  of  the  study  of  mathematics  at  Cambridge,  pag.  30—31. 


Rechnen.     Logarithmen.  721 

in  die  Tageszeit  fielen,  denn  am  Abend  entzog  ihm  seine  haushälterisch 
gesinnte  Frau  das  Licht,  so  dass  er  sieh  schmerzlich  beklagt,  dadurch 
sei  manche  Aufgabe  nicht  zur  Lösung  gelangt.  Oughtred's  Tod  er- 
folgte aus  Freude  über  die  ihm  unerwartete  Nachricht  von  der  Wieder- 
herstellung des  englischen  Königthums.  Zwei  Neuerungen  sind  vor- 
nehmlich in  der  Clavis  mathematica  enthalten,  welche  rasch  sich  ein- 
bürgerten, das  Multip  licationskreuz  X  und  ein  aus  vier  Punkten 
gebildetes  Zeichen  gleicher  Proportionen  ::,  dessen  man  wenig 
stens  in  England  sich  noch  bedient,  a  -J)  '.'.  c  ■  d  bedeutet  also  bei 
Oughtred,  a  verhalte  sich  zu  h  wie  c  zu  d.  Der  einfache  Punkt  zwischen 
den  beiden  in  Verhältniss  gestellten  Grössen  musste  allerdings  später 
einem  Doppelpunkte  weichen,  nachdem  im  XVIIL  Jahrhunderte  durch 
Christian  von  Wolf  der  einfache  Punkt  das  häufigste  Multipli- 
cationszeichen  geworden  war.  Als  Gleichheitszeichen  bediente  sich 
Oughtred  des  Recorde'schen  = .  Ausserdem  benutzte  er  die  Zeichen  ~Ij 
für  grösser  als  und  _Zi  für  kleiner  als,  sowie  noch  eine  ganze  Menge 
anderer  Zeichen  ^).  Bei  dieser  grossen  Zahl  neuer  Abkürzungen 
dürfte  es  vergebliche  Mühe  sein ,  Gründe  ausfindig  machen  zu 
wollen,  warum  Oughtred  gei-ade  dieses  oder  jenes  Zeichen,  also  bei- 
spielsweise das  Multiplicationskreuz,  wählte.  Vielleicht  kann  es  von 
Interesse  sein,  dass  Lord  Brouncker  1668  dieses  Zeichen  gar  nicht 
als  Kreuz  auffasste,  sondern  den  Buchstaben  x  darin  sah^).  Auch 
neue  Namen  kommen  bei  Oughtred  vor,  so  der  Name  ünciae,  Klam- 
mergrössen,  für  die  Binomialcoefficienten,  denen  er  lange  geblieben  ist. 

Wir  sagten  oben,  es  sei  in  der  Richtung  der  Zeit  .gelegen,  das 
Rechnen  mit  grossen  Zahlen  zu  erleichtern.  Wir  fanden  eine 
Veranlassung  dazu  in  dem  Umstände,  dass  das  Rechnen  überhaupt 
mehr  und  mehr  in  alle  Volksschichten  eindrang,  und  dass  den  ge- 
bildeten Classen  ein  gewisses  üebergewicht  bewahrt  werden  wollte. 
Wir  hätten  auch  auf  die  Verbreitung  trigonometrischer  Betrachtungen 
hinweisen  können,  welche  ein  Rechnen  mit  trigonometrischen  Func- 
tionen nöthig  machte,  und  diese  waren  in  Gestalt  grosser  Zahlen  be- 
kannt, da  nur  ein  sehr  grosser  Kreishalbmesser  eine  genügende  An- 
nähemng  in  den  Schlussergebnissen  der  Rechnung  versprach.  Der 
Rechnung  mit  den  trigonometrischen  Functionen  zu  lieb  war  ja  auch 
die  Prosthaphaeresis  erfunden  worden. 

Den  Namen  dieses  Kunstgriffes,  aber  in  ganz  anderer  Bedeutung 
als  ihm  ursprünglich  inne  wohnte,  legte  ein  bayerischer  Gelehrter, 
Hans    Georg    Herwarth     (oder    Hoerwarth)     von    Hohen- 

^)  Elügel,  Mathematisches  Wörterbuch  V,  1179  und  1181. —Briefliche 
Mittheilung  von  Herrn  N.  L.  W.  A.  Gravelaar  in  Deventer.  ^)  PhilosopJiical 
rmnsocho»is  11,466:  And  note  ihat  the  letter  x  everytvhere  Stands  for  Multiplication. 

Caxtor,  Geschichte  der  Mathem.    II.     2.  Aufl.  46 


722  "*•  Kapitel. 

burg^)  (1553 — 1622),  einem  1610  herausgegebenen  Bande  bei.  Er 
war  in  erster  Linie  Staatsmann  und  leistete  als  bayerischer  Kanzler 
seinem  Fürsteuhause  namhafte  Dienste,  aber  auch  sein  wissenschaft- 
licher Ruhm  ist  fest  begründet.  Von  ihm  stammt  die  erste  Beschrei- 
bung der  griechischen  Handschriften  der  herzoglichen  Bibliothek,  er 
war  in  nicht  unwichtigem  fortgesetzten  brieflichen  Verkehre  mit 
Mathematikern  wie  Praetorius  und  Kepler,  von  ihm  wurde  das 
Tabellen  werk  berechnet,  welches  uns  Veranlassung  bot,  von  ihm  zu 
reden,  und  dessen  genauer  Titel  Tahidae  ArUhneücae  UPOZ&A- 
^AIPEEESIZ  universales  lautet.  Eine  Blattgrösse  von  52  auf  27  cm, 
eine  Dicke  von  lO-r-  cm  machen  den  Band  unhandlich,  aber  wie  wäre 
auf  viel  geringerem  Räume  auszukommen  gewesen  zu  einer  Zeit, 
welche  auf  die  Handlichkeit  noch  kein  so  grosses  Gewicht  zu  legen 
ofewohnt  war.  dass  sie  auf  besondere  Abkürzungen  sann,  welche  ge- 
eignet  wären,  Raumersparniss  zu  ermöglichen?  Herwarth's  Tabellen 
gestatten  die  Auffindung  des  Productes  zweier  Factoren,  deren  jeder 
innerhalb  der  Zahlen  1  bis  999  eingeschlossen  ist,  durch  einmaliges 
Aufschlagen,  und  so  konnten  auch  Producte  noch  grösserer  Factoren 
durch  Addition  der  Ergebnisse  wiederholten  Aufschiagens,  mindestens 
ohne  eigentliche  Multiplicationsfehler  befürchten  zu  müssen,  erhalten 
werden.  Sollte  789654  mal  461235987  gefunden  werden,  so  verfuhr 
man  wie  folgt.  Jede  Seite  enthielt  die  Producte  der  Zahlen  1  bis  999 
in  einen  und  denselben  Factor,  so  dass  die  1.  Seite  dem  Producte  iu  2, 
die  2.  dem  in  3,  die  653.  dem  in  654,  die  788.  dem  in  789  u.  s.  w.  ge- 
widmet war.  Auf  der  653.  und  auf  der  788.  Seite,  mithin  unter  zwei- 
maligem Aufschlagen  des  Bandes,  fand  man  also  die  zu  addirenden 
Theilproducte 


654 

987  = 

645498 

654 

235  = 

153690 

654 

461  = 

301494 

789 

987  = 

778743 

789 

235  = 

185415 

789 

461  = 

363729 

364216842078498 

deren  Summe: 

Ob  damit  ein  wesentlicher  Zeitgewinn  gegenüber  von  dem  un- 
tabeUarischen  Multipliciren ,  oder  eine  grössere  Sicherheit  verbunden 
war,  sei  dahingestellt. 

Jedenfalls  kamen  andere  Hilfsmittel  häufiger  als  Herwarth's  Tafeln 
zur  Verwendung.  Bis  zu  einem  gewissen  Grade  müssen  wir  hier  an 
die  Proportionalzirkel  erinnern,    deren  Name   sie   der  Geometrie, 

*)  Allgem.  deutsche  Biographie  XEI,  169—175.  Artikel  von  Eisenhart. 
—  Unger  S.  126—130. 


Reclinen.     Logarithmen.  723 

deren  Anfertigung  sie  der  praktischen  Mechanik,  deren  Anwendung  sie 
dem  Rechenunterrichte  zuweist.  Wir  meinen  aber  noch  bestimmter  ein 
Hilfsmittel,  welches  etwas  später,  als  die  Proportionalzirkel  in  Deutsch- 
land beziehungsweise  den  Niederlanden  und  Italien  entstanden,  von 
England  ausging  und  eine  sehr  rasche  Verbreitung  auch  auf  dem  euro- 
päischen Festlande  erwarb:  die  Rechenstäbe  von  John  Neper,  welche 
von  ihrem  Erfinder  mit  lateinischem  Namen  virgidae  numeratrices  ge- 
nannt wurden,  wofür  englisch  das  Wort  NepersBones  Aufnahme  fand. 
Die  erste  Beschreibung  gab  Neper  in  seiner  Bhabdologia  (Edin- 
burgh 1617),  welche  in  lateinischer  Sprache  in  Leiden  wiederholt 
nachgedruckt,  aber  auch  ins  Holländische  und  in  das  Italienische 
übersetzt  worden  ist.  Zehn  Stäbchen  besitzen  die  Gestalt  vierseitiger 
Parallelopipeda.  Die  vier  Längsflächen  jedes  Stäbchens  sind  in  je 
neun  kleine  Quadrate  abgetheilt,  deren  jedes  durch  eine  von  rechts 
oben  nach  links  unten  verlaufende  Diagonale  in  zwei  Dreiecke  zerfällt. 
Die  Quadratchen  einer  Fläche  sind  mit  den  9  ersten  Vielfachen  einer 
der  9  Zahlen  1  bis  9  beschrieben;  ist  ein  solches  Vielfache  zweiziffrig, 
so  trennt  die  erwähnte  Diagonale  die  Stelle  der  Einer  von  der  der 
Zehner.  Eine  solche  Fläche,  z.  B.  die  der  Vielfachen  von  3,  sieht  also 
so  aus:  Auf  demselben  Stäbchen  stellen  die  drei  anderen  Flächen 
etwa  die  Vielfachen  von  2,  von  6,  und  von  7  dar.  Will  man 
nun  multipliciren ,  so  hat  man  eine  Multiplicatorziffer  mit 
jeder  der  Multiplicandusziffern  zu  vervielfachen,  und  dieses  er- 
reicht man,  indem  man  die  Stäbchen  so  nebeneinander  legt, 
dass  deren  oberste  Zahlen  die  aufeinanderfolgenden  Ziffern  des 
Multiplicandus  sind.  Kommen  im  Multiplicandus  Nullen  vor, 
so  müssen  auch  ganz  leere  Stäbchen  zu  Gebote  stehen,  welche 
hier  einzuschalten  sind.  Die  in  gleicher  Höhe  befindlichen 
Quadratchen  sämmtlicher  neben  einander  liegender  Stäbchen 
lassen  alsdann  die  einzelnen  Theilproducte  ablesen,  indem 
man  durch  diagonale  Addition  jeden  Zehner  mit  dem  folgen- 
den Einer  vereinigt.  Will  man  z.  B.  7632  mal  49375  rechnen, 
so  sieht  die  erste  Multiplicationszeile  so  aus: 


i 

X' 

/ei 

/i 

X 

H 

1/ 

/8 

2  / 

A 

2/ 

2/t 

A 

A  A 

//6 

1/ 
A 

1  / 

/o 

oder  98750  u.  s.  w.  Wollte  man  die  Rechenstäbe  zur  Division 
benutzen,  so  schrieb  man  den  Dividenden  hin,  setzte  den  Divisor 
aus  den  obersten  Zahlen  von  Rechenstäbchen  zusammen  und  über- 
zeugte sich  dann,  welches  Vielfache  des  Divisors  jedesmal  als  Theih 
product  des  Divisors  in  eine  Quotientenstelle  vom  Dividenden  abge- 
zogen werden  konnte. 

46* 


724  74.  Kapitel. 

Es  ist  fast  unbegreiflich,  dass  dieses  unbehilfliche  Verfahren 
sich  lautesten  Beifall  erringen  konnte,  dass  Lobverse  in  lateinischer 
Sprache  auf  die  Erfindung  und  den  Erfinder  angefertigt  wurden,  dass 
noch  in  unserem  Jahrhunderte  Neper's  Büchelchen  von  einem  so 
tüchtigen  Gelehrten,  wie  Georg  Simon  Klügel  es  war,  als  ein 
kunstreiches  hat  bezeichnet  werden  können^).  Der  gleiche  Gedanke 
der  Rechenstäbchen  scheint  auch  einem  Lütticher  Schriftsteller  Jean 
Galle  gekommen  zu  sein,  der  ihn  in  einem  1616  gedruckten  Buche 
äusserte  und  sich  ungemein  viel  darauf  zu  gute  that.  Eine  eigent- 
liche Beschreibung  seiner  dix  petits  hastons  scheint  er  aber  nicht  ge- 
geben zu  haben  ^). 

Eine  Verbesserung  der  Rechenstäbe  machte  Kaspar  Schott 
(S.  720)  in  dem  1668  nach  dem  Tode  des  Verfassers  gedruckten 
Organum  mathematimm  bekannt^).  Er  brachte  nämlich  das  Einmal- 
eins auf  drehbare  Cylinder  und  vereinigte  diese  in  einem  „Rechen- 
kasten". Andere  wirkliche  oder  vermeintliche  Verbesserungen  folgten 
bis  zum  Ende  des  Jahrhunderts. 

Noch  instrumentaler,  wenn  dieser  Ausdruck  gestattet  ist,  ge- 
staltete sich  das  Rechnen  durch  die  Erfindung  wirklicher  Rechen- 
maschinen. Eine  solche  scheint,  wie  wir  (S.  720)  gesagt  haben, 
Ciermans  seit  1640  besessen  zu  haben.  Der  Oejffentlichkeit  wurde 
aber  erst  einige  Jahre  später  eine  solche  Vorrichtung  übergeben*), 
welche  Blaise  Pascal  mit  19  Jahren,  also  etwa  1642,  herstellte, 
und  für  welche  er  1649  ein  königliches  Privilegium  erwarb.  Kurbel- 
umdrehungen setzten  ein  Räderwerk  in  Bewegung,  welches  nach 
wenigen  vorhergegangenen  Einstellungen  ohne  weitere  Ueberlegung 
von  Seiten  des  Rechnenden  die  vier  einfachen  Rechnungsarten  voll- 
zog. So  vollkommen  indessen  die  Einrichtung  in  der  Theorie  war, 
die  Mechaniker  der  damaligen  Zeit  waren  noch  nicht  im  Stande,  die 
Wünsche  des  Erfinders  so  genau  zu  erfüllen,  dass  die  Vorrichtung 
wirklich  leistungsfähig  wurde,  dass  Irrthümer,  sobald  einmal  richtig 
eingestellt  war,  der  Benutzer  also  seine  Schuldigkeit  gethan  hatte, 
nicht  mehr  vorkommen  konnten.  Pascal  selbst  hielt  an  •  der  Hoff- 
nung fest,  man  werde  eine  derartige  Vollkommenheit  erreichen,  aber 
das  noch  in  Paris  vorhandene  Exemplar  seiner  Rechenmaschine  hat 
trotz  mancherlei  mit  demselben  angestellten  Versuchen  immer  erkennen 
lassen,  wie  voreilig  noch  jene  Hoffnung  war.  Die  Kühnheit  von  Pas- 
cal's  Gedanken  bleibt  selbstverständlich  von  der  mangelnden  Geschick- 


')  Klügel,  Mathematisches  Wörterbuch  II,  738—739  s.  v.  Instrumentale 
Arithmetik.  ^)  Le  Paige  in  dem  BuUetin  de  Vinstitut  archeologique  Liegeois 
XXI,  502—504.         =>)  Unger  S.  119.         ")  Pascal  IH,  185—208. 


Rechnen.     Logarithmen.  725 

lichkeit  seiner  Hilfsarbeiter  unberührt,  und  sie  wurde  auch  von  Allen, 
welche  später  yervoUkommnete  Apparate  erdachten,  zuerst  1673  von 
Leibniz,  rühmend  anerkannt. 

Wir  sagten  oben,  es  sei  fast  unbegreiflich,  wie  Neper's  Rechen- 
stäbe Anklang  finden  konnten.  Fast  noch  unbegreiflicher  ist  es,  dass 
Neper  eine  derartige  Erfindung,  wenn  sie  überhaupt  als  solche  zu 
bezeichnen  ist,  da  die  schachbrettartige  Multiplication,  seit  lange  vor- 
handen, den  gleichen  Gedanken  zum  Ausdrucke  brachte,  noch  der 
Veröfi'entlichung  werth  hielt,  nachdem  er  schon  die  Erfindung  der 
Logarithmen  im  Drucke  bekannt  gemacht  hatte. 

Bevor  wir  indessen  von  dieser  handeln,  ist  es  wohl  richtiger, 
von  einer  später  veröffentlichten,  doch  mit  grosser  Wahrscheinlich- 
keit früher  entstandenen  verwandten  Leistung  zu  berichten,  von  den 
Progress  Tabulen  des  Jobst  Bürgi^).  Wir  wissen  (S.  691),  dass 
Benjamin  Bramer,  Bürgi's  Schwager,  von  1603 — 1611  in  dessen 
Hause  in  Prag  lebte,  dann  aber  ihn  verliess.  Nur  in  jenen  Jahren 
kann  daher  eine  Arbeit  vollzogen  Worden  sein,  von  welcher  Bramer 
später  (1630)  in  einer  Vorrede  sagte,  dass  Bürgi  ihr  obgelegen  habe, 
und  diese  Zeitbestimmung  deckt  sich  überdies  vollkommen  mit  den 
von  Bramer  gebrauchten  Worten:  „Auff  diesem  Fundament  hat  mein 
lieber  Schwager  und  Praeceptor  Jobst  Burgi  vor  zwantzig  und  mehr 
Jahren  eine  schöne  progress  tabul  ....  calculirt^',  denn  mehr  als 
20  Jahre  von  1630  abgezogen,  führt  eben  in  den  Zwischenraum 
zwischen  1603  und  1611.  Der  Druck  der  Tafeln  erfolgte  1620  in 
Prag  unter  dem  Titel:  „Arithmetische  und  Geometrische  Progress- 
Tabulen,  sambt  gründlichen  vnterricht,  wie  solche  nützlich  in  allerley 
Rechnungen  zu  gebrauchen  vnd  verstanden  werden  sol",  und  nur 
wenige  Exemplare  davon  haben  sich  erhalten.  Der  im  Titel  ver- 
sprochene „gründliche  vnterricht"  vollends  ist  in  altem  Drucke  gar 
nicht  vorhanden  und  nur  handschriftlich  einem  in  Danzig  befindlichen 
Exemplare  beigeheftet,  woraus  eine  Veröffentlichung  erfolgte^).  Ob 
der  gründliche  Unterricht  vorher  überhaupt  nie  gedruckt  worden 
war,  ist  unmöglich  zu  entscheiden..  Denkbar  wäre  es  allerdings  bei 
der  grossen  Bedächtigkeit,  um  kein  schärferes  Wort  zu  gebrauchen, 
welche  Bürgi  als  Schriftsteller  an  den  Tag  legte.  Bürgi  ging  aus 
von  dem  Gedanken  zweier  zusammengehörenden  Reihen,  einer  arith- 
metischen und  einer  geometrischen,  wie  er  z.  B.  von  Michael  Stifel, 
wenn  auch  weder  von  diesem  zuerst  noch  von  diesem  allein,  deutlich 


'■)  Grieswald,  Justus  Byrg  als  Mathematiker  und  dessen  Einleitung  in 
seine  Logarithmen.  Danzig  1856.  —  Gerhardt,  Math.  Deutschi.  S.  116 — 120. 
^)  Durch    Gieswald    in    dem    genannten    Danziger    Schulprogramm    von    1856. 


720  74.  Kapitel. 

in  seiner  Arithmetica  integra  ausgesprochen  war^).  Da  Bürgi  be- 
kanntlich in  der  lateinischen  Sprache  nicht  geübt  war,  auch  Stifel 
nirgend  nennt,  so  wird  er  nur  mittelbar  aus  anderer  Quelle  jenen 
Gedanken  sich  angeeignet  haben,  und  wir  haben  keinen  Grund  zu 
zweifeln,  die  von  ihm  ausdrücklich  als  seine  Vorgänger  angeführten 
Schriftsteller  seien  es  gewesen,  aus  welchen  er  schöpfte-),  „auch  von 
etlichen  Arithmeticis  Simon  Jacob,  Moritius  Zons  und  andere  ist  be- 
rürt  worden,  das  was  in  der  Geometrischen  Progress  oder  in  der 
Schwarzen  Zahl  Multipliciert,  dasselbige  ist  in  der  Arithmetischen 
Progress  oder  in  der  rothen  Zahl  addiern".  Der  Erstgenannte,  Simon 
Jacob,  hat  uns  früher  beschäftigt.  Von  Moritius  Zons  dagegen 
ist  nichts  weiter  bekannt,  als  dass  er  1602  eine  Wortrechnuug  her- 
ausgegeben hat^).  Wie  er  diese  Schwäche  mit  Stifel  theilte,  wird  er 
wohl  auch  den  wissenschaftlich  werthvollen  Gedanken  ebendemselben 
entlehnt  haben.  Bürgi  nennt  an  der  hier  aufgenommenen  Stelle 
schwarze  und  rothe  Zahlen  als  gleichbedeutend  mit  Zahlen  der 
geometrischen,  beziehungsweise  der  arithmetischen  Reihe.  Er  hat  diese 
Benennung  fortwährend  festgehalten,  und  der  Drucker  hat  sich  ihr  an- 
schliessen  müssen,  indem  thatsächlich  schwarze,  beziehungsweise  rothe 
Farbe  bei  jenen  Zahlen  in  Anwendung  kam.  Die  Tafel  ist  nach  den 
in  arithmetischer  Reihenfolge  auftretenden  rothen  Zahlen  zu  einer  Tafel 
doppelten  Einganges  geordnet.  Da  nun  offenbar  die  rothen  Zahlen 
das  sind,  was  andere  Schriftsteller  die  Logarithmen  genannt  haben, 
während  die  schwarzgedruckten  Zahlen  die  jenen  Logarithmen  ent- 
sprechenden Zahlen  sind,  so  ist  Bürgi's  Pj-ogresstabul  eine 
antilogarithmische  Tafel,  dergleichen  nach  ihr  nicht  viele  zum 
Drucke  befördert  worden  sind. 

Von  Wichtigkeit  ist  es,  die  Basis  seiner  Tafel  zu  kennen  und, 
zu  dieser  Kenntniss  führt  uns  eine  etwas  eingehendere  Schilderung*). 
Die  arithmetische  Reihe  der  rothen  Zahlen  beginnt  bei  Bürgi  mit  0 
und  setzt  sich  dann  mit  10,  20  u.  s.  w.  fort,  d.  h.  besitzt  10  als 
Differenz.  Die  geometrische  Reihe  der  schwarzen  Zahlen  beginnt  mit 
100000000  und  setzt  sich  mit  100010000,  100020001  u.  s.  w.  fort,  d.  h. 
besitzt  Iytjt^aa  ^^s  Quotient  der  Division  jedes  folgenden  Gliedes  durch 
das  vorhergehende.  Eine  Logarithmentafel  nach  der  Auffassung  un- 
serer Zeit  ist  dieses,  wie  man  erkennt,  nicht.  Nachdem  die  Loga- 
rithmen  als  Exponenten  solcher  Potenzen   der  Basis   erkannt   waren, 


^)  Arithmetica  integra  f'ol.  '6b.     *)  Gieswald  1.  c.  S.  27,  Z.  3 — 5.    ^)  Ebenda 
S.  22.  *)  Kästner,    Fortsetzung  der  Rechenkunst   (Göttingen  1801),   S.  94 

—106.    —    Klügel,  Mathematisches  Wörterbuch  HI,  531—533.    —    Gieswald 
1.  c.  S.  23-25. 


Rechnen.     Logarithmen.  727 

welche  den  entsprechenden  Zahlen  sich  gleich  erwiesen,  musste  wegen 
?jO  =  1  j  h^  =  J)  immer  dem  Logarithmen  0  die  Zahl  1 ,  dem  Loga- 
rithmen 1  die  Basis  h  als  Zahl  gegenüberstehen,  und  das  Bürgi'sche 
schwarze  100000000  neben  der  rothen  0  könnte  nur  so  Berechtigung 
erlangen,  dass  man  es  als  1  mit  einem  achtstelligen  aus  lauter  Nullen 
bestehenden  Decimalbruche  läse.  Ebenso  wäre  die  zum  Logarithmen 
10  gehörige  Zahl  100010000  als  1,00010000  zu  verstehen  u.  s.  w. 
Aber  Bürgi  war  von  der  Erklärung  der  beiden  Reihen  mittels  des 
Potenzbegriffes  mit  Einschluss  der  Potenz  mit  dem  Exponenten  0 
weit  entfernt.  Es  waren  für  ihn  nur  zwei  Reihen,  eine  rothe  und 
eine  schwarze  vorhanden,  die  eine  eine  arithmetische,  die  andere  eine 
geometrische.  Anfang  und  Fortschreitungsgesetz  waren  beliebig,  so- 
fern nur  eine  Zusammengehörigkeit  solcher  Glieder  festgehalten  wurde, 
welche  in  beiden  Reihen  mit  gleichem  Stellenzeiger  auftreten.  Von 
einer  Basis  der  Progresstabul  im  heutigen  Sinne  des  Wortes  kann 
nur  in  abgeleiteter  Weise  die  Rede  sein,  und  zu  dieser  Ableitung 
führt  die  folgende  Betrachtung.  Nennen  wir  die  rothen  Zahlen  oder 
Logarithmen  x,  die  schwarzen  Zahlen  oder  Logarithmanden  y,  so 
ist  unter  Berücksichtigung    der  als  nothwendig  erkannten  Divisionen 

x=10n,         y  =  10«(l  +  ji,)". 

Unter  den  zu  einander  gehörigen  rothen  und  schwarzen  Zahlen  findet 
sich  aber 

:,  =  100000  ^  =  27184593 

X  =  230270022        y  =  1000000000. 
Abgesehen  von  angehängten  Nullen  ist  also 

1  der  Logarithme  von  2,7184593, 
2,30270022  der  Logarithme  von  10. 
In    dem   später  sogenannten    natürlichen    Logarithmensysteme, 
dessen  Basis  seit  Euler  durch  e  bezeichnet  wird,  ist  aber 

e  =  2,718281828  ...     und     log.  nat.  10  =  2,302585  .  .  . 
Beide  Zahlen  stimmen  mit  den  bei  Bürgi  vorkommenden  nahe  genug 
überein,  um  behaupten  zu  können:  Bürgi's  Logarithmen  sind  die 
Logarithmen  mit  der  Basis  e  ^). 

Eine  weitere  Frage  geht  nothwendig  dahin,  wie  Bürgi  wohl  die 
schwarzen  Zahlen  interpolirte,  welche  zu  solchen  rothen  Zahlen  ge- 
hörten, die  in  der  tafelmässig  in  Unterschieden  von  10  fortschreiten- 


Ke witsch,    Die  Basis   der  Bürgi'schen  Logarithmen  ist  e,    der  Neper- 

L 

333  (1896). 


sehen Zeitschr.   f.   mathem.   und  naturwissensch.  Unterricht    XXVII,  321- 


728  74.  Kapitel. 

den  Liste  rother  Zahlen  fehlten?  Der  kurze  Bericht  bleibt  auf  diese 
Frage  die  Antwort  schuldig.  Dagegen  lehrt  er  die  Interpolation  der 
rothen  Zahlen,  um  diejenige  derselben  zu  finden,  welche  einer  in  der 
Tafel  nicht  vorhandenen,  gegebenen  schwarzen  Zahl  entspricht^).  Zu 
suchen  sei  die  rothe  Zahl  zu  der  schwarzen  Zahl  36.  Keine  schwarze 
Zahl  unterhalb  der  neunziffrigen  100000000  steht  in  der  Tabelle, 
folglich  ist,  damit  die  Tabelle  überhaupt  benutzbar  werde,  36  durch 
Anhängung  von  7  Nullen  zu  360000000  zu  verlängern.  Die  nächst- 
kleinere und  nächstgrössere  schwarze  Zahl  der  Tabelle  ist  359964763 
neben  der  rothen  Zahl  128090  und  360000759  neben  der  rothen  Zahl 
128100.  Man  kann  an  diesen  beiden  schwarzen  Zahlen  beiläufig 
prüfen,  ob  die  Berechnung  der  Progresstabul  überall  nach  dem 
gleichen  Verfahren  stattfand.  Zunahme  der  rothen  Zahl  um  10  ent- 
sprach, sagten  wir,  in   den  Anfangszahlen    eine  Vervielfältigung  der 

schwarzen  Zahl  mit  It^^qqq  •     Nun  ist 

l_i_  .  359964763  =  359964763  +  35996  =  360000759, 

wie  es  in  der  Tabelle  gedruckt  ist.  Zugleich  erkennen  wir  den  Unter- 
schied 35996  der  beiden  tabellarisch  auf  einander  folgenden  schwarzen 
Zahlen.  Der  Unterschied  von  359964763  bis  zu  360000000  ist  etwas 
geringer,  nämlich  35237.  Nun  wird  die  Proportionalität  des  Zu- 
wachses der  schwarzen  und  der  rothen  Zahlen  in  einem  engen  Spiel- 
räume ohne  weitere  Begründung  angenommen  und 
35996  :  35237  =  10000  :  9789 
gerechnet.  Eigentlich  sollte  10  das  dritte  Glied  der  Proportion  sein, 
statt  welches  nur  zum  Zwecke  genauer  Rechnung  10000  gewählt 
wurde.     Das  vierte  Glied  9789   ist   daher   auch   auf  9,789  zurückzu- 

0 

führen,  wofür  Bürgi  9789  druckt  mit  der  Bemerkung  „und  werden 
alle  Zeit  biss  unter  die  0  ganze  verstanden  und  die  folgen  der  Bruch". 
So  ist  also  128099,789  die  rothe  Zahl,  welche  neben  die  schwarze 
Zahl  360000000  gehört.  Dass  diesem  Interpolationsverfahren  der  rothen 
Zahlen  ein  ganz  ähnliches  auch  auf  Proportionalrechnung  beruhendes 
für  die  schwarzen  Zahlen  zur  Seite  gestanden  haben  muss,  liegt  so 
ungemein  nahe,  dass  wir  kaum  daran  zweifeln,  Bürgi  habe  deren 
Schilderung  nur  als  überflüssig  unterlassen. 

Wir  sagten  oben,  die  Progresstafel  sei  nach  um  je  10  Einheiten 
wachsenden  rothen  Zahlen  geordnet.  Nur  am  Schlüsse  der  Tafel  ist 
eine  Abweichung  von  dieser  Anordnung  vorhanden.  Aus  gleich  zu 
erörternden  Gründen  sollte  nämlich  die  Tafel,  wie  sie  mit  der  runden 


')  Gieswald   1.  c.  Ö.  28— 2y. 


Eechnen.     Logarithmen.  729 

schwarzen  Zahl  100000000  begann,  mit  der  nächsthöheren  runden 
schwarzen  Zahl  1000000000  abschliessen,  deren  rothe  Zahl  230270,022 
ist,  und  diese  bildet  wirklich  den  Schluss  der  Tafel.  Diese  Zahl 
230270,022,  welche  also  die  Gleichung  &230-27o,o22  _  100000,0000  er- 
füllt, wobei  J)  =  1,000009990550012,  führt  den  Namen  der  ganzen 
rothen  Zahl^)  und  soll  bei  manchen  Anwendungen  der  Tafel,  z.  B. 
bei  Divisionen,  deren  Quotient  als  echtgebrochen  sich  erweist,  den 
gleichen  Vortheil  gewähren,  welchen  man  bei  den  wirklichen  Loga- 
rithmen durch  ganzzahlige  Vergrösserung  der  Charakteristik  erreicht. 
Sei  154030185  durch  205518112  zu  dividireu.  Zu  diesen  schwarzen 
Zahlen  gehören  als  rothe  Zahlen  43200  und  72040,  deren  zweite  von 
der  ersten  nicht  abgezogen  werden  kann.  Statt  43200 — 72040  rechnet 
desshalb  Bürgi  230270,022  +  43200—72040  =  201430,022,  zu  welcher 
rothen  Zahl  die  schwarze  Zahl  749472554  gehört,  wie  ohne  nähere 
Begründung  behauptet  wird,  unter  offenbarer  Verschweigung  der  er- 
wähntermassen  hier  nothwendig  gewesenen  Proportionalrechnung. 
Dann  fährt  Bürgi  fort:  „ihr  gebüreudt  schwarze  Zahl  ist  749472554 
und  soviel  kombt  so  man  154030185  durch  205518112  dividirt,  welches 
doch  keine  ganze  sondern  lauter  Bruch  vom  ganzen  alss  0749472554 

j        ^749472554    ,, 
^^^^  ^1000000000- 

So,  Bürgi's  Progresstafeln,  welche  also  zwischen  1603  und  1611 
entstanden,  erst  1620  im  Drucke  erschienen,  das  bestätigend,  was  der 
Verfasser  in  seinem  gründlichen  Unterricht  sagt^):  „obwol  ich  mit 
diesen  Tabulen  vor  etlichen  Jahren  hin  umbgang  so  hat  doch  mein 
Beruff  von  der  Edition  derselben  enthalten."  Noch  deutlicher  sprach 
sich  Kepler  1627  in  der  Einleitung  zu  den  Rudolphini'schen  Tafeln 
aus,  Bürgi  habe  viele  Jahre  (multis  annis)  vor  der  Neper'schen  Ver- 
öffentlichung seine  Tafel  besessen,  „aber  der  zögernde  Geheimniss- 
krämer überliess  das  eben  geborene  Kind  sich  selbst,  statt  es  zum 
öffentlichen  Nutzen  gross  zu  ziehen"^). 

Schützen  diese  verschiedenen  Berichte  das  unabhängige  Erfinder- 
recht Bürgi's  und  stellen  ihn,  den  wir  im  vorigen  Abschnitte  auch 
als  Neuerer  auf  dem  Gebiete  der  Gleichungslehre,  als  im  Besitze  des 
Gedankens  der  Decimalbrüche,  als  Anwender  dieses  Gedankens  bei 
trigonometrischen  Rechnungen,  bei  der  abgekürzten  Multiplication 
kennen  gelernt  haben,  in  die  Reihe  der  erfindungsreichsten  Rechner, 
so  spricht  doch  gerade  Kepler  in  scharfer  Weise  das  Urtheil  aus, 
welches   dem  Erfinder,   falls  er  als    solcher  gelten    will,    die   Pflicht 


^)  Gieswald  1.  c.  S.  ."50  und  häufiger.  -)  Ebenda  S.  26.  ^)  Etsi  homo 
eunctator  et  secretorum  suorum  custos  foetum  in  partu  destituit,  non  ad  usus 
publicos  jducavit. 


730  74.  Kapitel. 

auferlegt;    sein    Eigenthum    nicht    zu    verschliessen ,    sondern    es    der 
Allgemeinheit  dienstbar  zu  machen,  und  solches  that  Neper. 

Neper  wurde  desshalb  in  unbestrittener  Weise  mit  dem  Ruhme 
belohnt,  das  logarithmische  Rechnen  eingeführt  zu  haben,  und  wir 
müssen  nun  seine  Descriptio  von  1614,  seine  Construdio  von  1619, 
welche  wir  schon  erwähnt  haben,  als  die  trigonometrischen  Leistungen 
Neper's  uns  beschäftigten,  nach  ihrem  wesentlichsten  und  wichtigsten 
Inhalte  kennen  lernen.  Damals  machten  wir  (S.  703)  auf  einige 
Schriften  aufmerksam,  welche  Neper  offenbar  studirt  hat.  Pitiscus 
erwähnt  er  selbst,  das  Studium  Michael  Stifel's  glaubten  wir  wahr- 
scheinlich machen  zu  können,  und  wenn  unsere  Muthmassung  die 
Wahrheit  traf,  so  ist  damit  zugleich  die  Quelle  erkannt,  aus  welcher 
Neper  unmittelbar  das  Gleiche  entnahm,  was  Bürgi  mittelbar  aus  ihr 
schöpfte,  den  Gedanken,  die  Verbindung  einer  arithmetischen  und 
einer  geometrischen  Reihe  für  das  praktische  Rechnen  fruchtbar  zu 
machen,  indem  ein  für  alle  mal  solche  einander  entsprechende  Reihen 
hergestellt  wurden.  Die  Glieder  der  arithmetischen  Reihe  nannte 
Neper  Logarithmen^).  Unabhängig  von  Stifel  ist  jedenfalls  die 
Art,  wie  Neper  durch  einen  mechanischen  Vorgang,  durch  das 
Fli essen,  fluxus,  eines  Punktes  jede  der  beiden  auf  einander  be- 
zogenen Reihen  entstehen  liess.  Das  Wort  fluere  selbst  entnahm  er 
er  vielleicht  Clavius  (S.  556).  Von  einem  Punkte  A  aus  fliesst  ein 
Punkt  B,  welcher  zuerst  in  der  Zeiteinheit  den  Weg  von  A  nach  C 
durchfliesst,  in  der  zweiten  Einheit  den  von  C  nach  B  u.  s.  w.^).  Sind 
die  durchflossenen  Wege  einander  gleich,  so  stellt  die  am  Schlüsse 
jeder  der  Zeiteinheiten  vom  Anfange  der  Bewegung  an  bis  dahin 
zurückgelegte  Entfernung  jeweils  ein  Glied  der  arithmetischen  Reihe, 
mithin  einen  Logarithmus  dar.  Nun  findet  aber  eine  zweite  Be- 
wegung^) gleichzeitig,  synchronus  motus,  mit  der  ersteren  statt,  d.  h. 
eben  dieselben  Zeiteinheiten  wie  bei  der  ersten  Bewegung  werden  bei 
der  zweiten  der  Betrachtung  zu  Grunde  gelegt,  nur  ist  der  durch- 
laufene Weg  nicht  in  jeder  Zeiteinheit  derselbe.    Er  nimmt  vielmehr 

proportional  ab.    Ist  in  der  1.  Zeiteinheit  —  des  ganz  zu  durchfliessenden 

Weges  zurückgelegt,  so  liefert  der  Punkt  in  der  2.  Zeiteinheit  —  des 

noch  übrigen  Weges  u.  s   w.,  oder  die  jeweils  zurückgelegten  Wege 


')  Neper,  Descriptio  pag.  .5  Cap.  11,  propositio  1:  Proportionalium  nume- 
rorum,  aut  quantitatum,  aeqiii-differentes  sunt  Logarithmi.  ^)  Ebenda  pag.  1—2 : 
Sit  punctus  A,  a  qtio  clncenda  sit  Tinea  fiuxu  alterius  pmicti,  qui  sit  B;  fluat 
ergo  jirimo  momento  B  ab  A  in  G,  secundo  momento  a  C  in  D  etc.  ^)  Ebenda 
pag.  3—4. 


Rechnen.     Logarithmen.  731 

sind  -,  ±.'''-\    ±-.('1^11^..       Uebriff  bleiben  jedesmal   noch 
die  Wege: 


m  —  1       1      /m 

-ly 

m      '     m      \ 

VI      ) 

1          wi  —  1 
m             m 

m  —  1 
m 

.   ..„        .         ...        -  Im—  1 


(^) 


1\2         1      (m  —  1\2         [m  —  1\3 


«i      \     m     I  \     m 


d.  h.  die  am  Ende  der  einzelnen  Zeiteinheiten  noch  übrigen  Wege 
stellen  die  fallende  geometrische  Reihe  dar,  welche  der  erstgebildeten 
arithmetischen  Reihe  Glied  für  Glied  zugeordnet  ist. 

Neper  hat  demnach  zwei  Reihen  von  entgegengesetzter 
Wachsthumsrichtung.  Während  die  Logarithmen  zunehmen,  neh- 
men die  Zahlen  ab,  mit  zunehmenden  Zahlen  werden  die  Logarithmen 
kleiner.  Es  ist  das  ein  Gegensatz  zu  der  Gewohnheit  Bürgi's,  ein 
Gegensatz  auch  zu  dem,  was  nicht  lange  später  auch  unter  den 
Berechnern  von  Logarithmen  nach  Neper'schem  Vorbilde  sich  ein- 
bürgerte. 

Grundsätzlich  war  Neper  auch  schon  1614  für  die  von  ihm  ge- 
troffene Einrichtung  nicht  eingenommen.  Nur  Nützlichkeitsgründe 
bestimmten  ihn.  Es  stehe,  sagt  er  in  einer  Ermahnung  an  den 
Leser  ^),  von  Anfang  frei,  welchem  Sinus  und  welcher  Zahl  man  den 
Logarithmus  0  beilegen  wolle,  häufig  sei  aber  mit  dem  Sinustotus 
(d.  h.  sin  90'^)  zu  multipliciren  oder  zu  dividiren,  dessen  Logarithmus 
also  zu  addiren  oder  zu  subtrahiren,  und  da  erscheine  die  Gleich- 
setzung gerade  dieses  Logarithmus  mit  0  zweckmässig,  weil  die  ge- 
ringsten Beschwerden  hervorbringend.  Ueberdies  kommen  meistens 
Sinusse,  beziehungsweise  Zahlen  vor,  welche  kleiner  seien  als  der 
Sinustotus.  Diese  habe  er  mit  positiven,  abundantes ,  Logarithmen 
bedacht,  andere  mit  negativen,  defectivos,  man  hätte  aber  auch  die 
entgegengesetzte  Wahl  treffen  können. 

Die  Tafel  selbst  ist  in  sieben  Kolumnen  auf  jeder  Seite  geordnet, 
und  je  zwei  neben  einander  befindliche  Seiten  sind  Winkelgraden  ge- 
widmet, welche  oben  am  Blatte  angegeben  sind;  am  unteren  Rande  steht 
die  Zahl  der  Winkelgrade,  welche  die  obere  zu  89°  ergänzt.  In  der 
1.  Kolumne  sind  von  oben  nach  unten  Minuten  von  1  bis  30  und 
von  30  bis  60  angegeben;  in  der  7.  und  letzten  Kolumne  wiederholt 


^)  Neper,  Descriptio  pag.  6:  Ädmonitio.  Erat  quidem  initio  liberum  cuilibet 
sinui  aut  quantitati  nullum  seu  0  pro  logarühmo  atribuisse:  sed  praestat  id  prae 
caeteris  sinui  toti  accommodasse:  ne  unquam  in  posterum  vel  minimam  molestiam 
parturiret  nobis  addUio  et  suhtractio  eins  logarithmi  in  omni  calculo  frequen- 
iissimi.  Caeterum  etiam  qiiia  sinuum  et  numerorum  sinu  toto  minorum  frequen- 
tior  est  usus,  eorum  igiiur  logarithmos  abundantes  ponimus:  aliorum  vero  defec- 
tivos, etsi  contra  fecisse  initio  liberum  erat. 


732  74.  Kapitel. 

sich  diese  Minutenaugabe  von  unten  nach  oben.  Die  2.  und  6.  Ko- 
lumne mit  der  Ueberschrift  Sinus  enthalten  die  Sinusse  der  zunächst 
neben  ihnen  angegebenen  Winkel,  also  auch  die  Cosinusse  derjenigen 
Winkel,  deren  Maass  auf  der  gleichen  Zeile,  aber  um  Blattbreite 
entfernt,  angegeben  ist.  Die  3.  und  5.  Kolumne  mit  der  Ueberschrift 
Logarithmi  enthalten  die  Logarithmen  der  daneben  befindlichen 
Sinusse.  Endlich  die  4.  mittlere  Kolumne  ist  Biffereniiae  überschrieben 
und  enthält  die  Differenz  der  links  und  rechts  stehenden  Logarithmen. 
Das  sind  die  Logarithmen  der  Tangenten,  da  ja  log  sin  rp  —  log  cos  (p 
=  log  tang  (p .  Nehmen  wir  als  Beispiel  eine  Zeile  der  rechts  stehen- 
den Seite  desjenigen  Blattes,  welches  die  obere  Bezeichnung  Gr.  9, 
die  untere  Gr.  80  führt,  etwa  die  Zeile 

46 I 1G96362 | 17740985 | 17594992  145993 | 9855068 | 14. 
Der  Sinn  derselben  ist: 

sin  9°  46'  =  1696362,      sin  89"  14'  =  cos  9*^  46'  =  9855068, 
log  sin  9"  46'  =  17740985,     log  cos  9»  46'  =  145993, 
log  tang  90  46'=  17740985  —  145993  =  17594992. 
Die  Kolumnen  der  Sinusse  und  Cosinusse  gestatten   die  doppelte  Be- 
nutzung   der  Tafel    als    logarithmisch-trigonometrische   und    zugleich 
als    logarithmische    für    Zahlen,    vorausgesetzt,    dass  man  noch  rein- 
trigonometrische Tafeln  von  ausreichender  Genauigkeit  zur  Verfügung 
hat.     Man  will  z.B.  log  137  finden^).     Einer  Secantentafel  entnimmt 
man  13703048  =  sec  43°  8'.     Nach  Neper's  Tafel  ist 

log  cos  43°  8' =3150332, 
und  da  log  sec  43°  8' =  ^  log  cos  43°  8',  so  ist  log  137  fast  überein- 
stimmend mit  —  3150332.  Freilich  wäre  bei  Benutzung  dieses  Lo- 
garithmen 137  als  gleichwerthig  mit  13703048  angesehen,  während 
zum  mindesten  der  Unterschied  zu  beachten  ist,  dass  letztere  Zahl 
um  fünf  Stellen  zu  lang  ist.  Diese  nothwendige  Correctur  deutet 
Neper  durch  Hinschreiben  so  vieler  Nullen,  als  Stellen  wegzulassen 
waren,  mit  vorgesetztem  Minuszeichen  an.     Er  schreibt  also 

log  137  =  —  3150332  —  00000. 
Auch  eine  Proportionalrechnung  muss  Neper  besessen  haben,  wie  aus 
vielfachen  Beispielen  hervorgeht.    So  ist  einmaP)  6994224  Logarithme 
des  Cosinus  eines  gesuchten  Winkels.     Nach  den  Tafeln  ist 

log  cos  60°  12'=  6992177,     log  cos  60°  13'=  6997258. 
Neper  behauptet,   es  sei  6994224  =  log  cos  60°  12' 24,f  3).     An  einer 


*)  Neper,  Descriptio  pag.  11.     -)  Ebenda  pag.  53.     =*)  Richtiger  wäre  24-   • 


Rechnen.     Logarithmen.  733 

früheren  Stelle  behält  sich  übrigens  Neper  ausdrücklich  vor^),  bei 
anderer  Gelegenheit  ausdrücklich  zu  erörtern,  wie  auf  das  Genaueste 
zu  jeder  Zahl  der  Logarithmus,  zu  jedem  Logarithmen  die  Zahl  ge- 
funden werde.  An  einer  noch  früheren  Stelle^)  will  er  erst  das 
Urtheil  der  Gelehrten  über  die  Tafel  selbst  kenneu  lernen,  bevor  er 
seine  Methoden  zur  Herstellung  derselben  veröif entliche,  und  diese 
Zusage  wiederholt  er  am  Schlüsse  der  Descriptio  in  einer  Bemerkung 
des  letzten  Blattes  mit  dem  Zusätze:  Nichts  sei  von  Entstehung  an 
vollkommen,  Nihil  in  ortu  perfedmn. 

Die  Erfüllung  der  Zusage  war  der  Zweck  der  Constructio.  Diese 
war,  wie  aus  der  Vorrede  hervorgeht,  noch  vor  der  Descriptio  ge- 
schrieben. Die  Logarithmen  heissen  in  ihr  noch  numeri  artificiahs, 
der  in  der  Descriptio  eingeführte  Kunstausdruck  war  demnach  noch 
nicht  erfunden.  Neper  starb,  ohne  seine  Anweisung  zur  Herstellung 
der  Logarithmentafel  dem  Drucke  übergeben  zu  haben.  Sein  Sohn 
Robert  hielt  es  für  seine  Pflicht,  die  vorgefundene  Handschrift  zu 
veröffentlichen,  wenn  sie  auch  der  letzten  Feile  entbehrte,  und  so 
erfolgte  der  Druck  der  Constructio  von  1619,  welcher  ausserdem  noch 
Zusätze  von  Henry  Briggs  und  Trigonometrisches  von  John 
Neper,  insbesondere  Ausführlicheres  über  die  Neper'schen  Analogien 
brachte  ^). 

Die  geometrische  Reihe,  welche  Neper  bildete,  und  welche  die 
Zahlen  enthielt,  während  deren  Stellung  in  der  Reihe  als  in  arith- 
metischer Folge  stehend  mit  dem  jedesmaligen  Logarithmus  verwandt 
ist,  hat  eine  sehr  zusammengesetzte  Bildungs weise  mit  Hilfe  von 
vier  Reihen,  welche  Ä,  B,  C,  D  heissen  mögen*).  Die  Reihe  A  be- 
ginnt mit  10000000  und  zieht  bei  jedem  folgenden  Gliede  ein  Zehn- 
millionstel des  vorhergehenden  ab,  mit  anderen  Worten  hat  als  Factor, 
mit  welchem  die  Glieder  fortwährend  zu  vervielfachen  sind,  um  das 
nächstfolgende  zu  bilden,  den  Bruch  q^  =  0,9999999.  Unter  Benutzung 
von  sieben  Decimalstellen,  welche  in  der  Constructio  durch  einen  Punkt 
von  der  ganzen  Zahl  getrennt  sind,  wie  Neper  es  aber  nicht  bei 
Pitiscus,  den  er  freilich  sowohl  in  der  Descriptio  als  in  der  Rhab- 
dologie  wiederholt  erwähnt,  aber  dessen  Trigonometrie  er  nur  in 
der  älteren  Ausgabe  gelesen  hatte,  kennen  lernte^),  ist  also  die 
Reihenfolge  der  Glieder  erstens  10000000,  zweitens  9999999,  drittens 


^)  Neper,  Descriptio  pag.  16,  Admonitio.  *)  Ebenda  pag.  7,  Admonitio. 
^)  Beschreibungen  der  Constructio  bei  Kästner  III,  72 — 86. —  Klügel,  Mathe- 
matisches Wörterbuch  III,  53.5 — 539.  —  G-ünther,  Vermischte  Untersuchungen 
zur  Geschichte  der  mathematischen  Wissenschaften,   S.  271 — 290.  '')  Neper, 

Constructio  pag.  12 — 16.  ®)  Briefliche  Mittheilung  von  H.  Gravelaar,  wel- 

cher diese  Behauptung  sehr  wahrscheinlich  zu  machen  weiss. 


734  ''i-  Kapitel. 

9999998  •  0000001 ,  viertens  9999997  •  0000003,  endlicli  als  hundert- 
imderstes  Glied  9999900  •  0004950.  Die  zweite  Reihe  B  hat  das  erste 
Glied  mit  Ä  gemeinschaftlich  und  lässt  ihm  als  zweites  das  letzte 
Glied  von  Ä  oder  doch  eine  von  demselben  kaum  abweichende  Zahl 
9999900  folgen.  Zur  bequemeren  Uebersicht  mögen  die  Glieder  von 
A  durch  a  mit  den  Stellenzeigern  1  bis  101,  die  Glieder  von  B  durch 
h    wieder    mit    Stellenzeigern    versehen    dargestellt  werden,    und    wie 

vorher    g[i  =  ~ ,  möge  jetzt  g.,  =  y^  sein.     Nun  war 

&^  =  a^  =  10000000,     &2  =  «101  =  9999900, 
zwischen  welchen  die  Glieder  a.^  bis   %oo   eingeschaltet  sind  und  mit 
hl  und  ^2  ßiii©  geometrische  Reihe  bilden.    Die  Reihe  B  wird  mittels 

q^  =  YTT^i^TT^  fortgesetzt.      Nach   den  uns   schon  bekannten  h^   und  h^ 

kommt  63  =  9999800  •  001000,  b^  =  9999700  •  003000,  endlich 
&g^  =  9995001 -224804,  statt  welcher  Zahl  in  Folge  eines  Rechen- 
fehlers bei  Neper  9995001  •  222927  angegeben  ist.  Wie  die  Glieder 
«2  bis  «100  zwischen  \  und  \  eingeschaltet  waren,  müssen  mittels 
des  gleichen  Factors  q^  zwischen  je  zwei  auf  einander  folgende  h  sich 
99  Glieder  a  einschalten  lassen,  so  dass  die  Gleichungen  stattfinden 
Z^i  =  «1,  &2  =  ^1017  ^^3  =  ^201?  ^51  =  %oou  ^^^^  ^^6S6  Reihe  von  5001 
Gliedern  beginnt  mit  10000000,  endigt  mit  einer  Zahl,  welche  nicht 
sehr  von  9995000  sich  unterscheidet.  Nun  fährt  man  ähnlich  fort 
und  verschafft  sich  eine  Reihe  C,  deren  Glieder  c  mit  Stellenzeigeru 
heissen.     Man  nimmt 

f^  =  &^  =  a^  =  10000000,     C2  =  &51  =  rfjooi  =  9995000, 

Cj   9995    1999 

^3      ;^      10000  ~"  2000  ■ 

Neper  rechnet  bis  c.^^  =  9900473  •  5780,  welcheg  wenig  verschieden 
von  9900000  =  d.i  ist.  Nimmt  man  bei  der  jetzt  beginnenden  Bil- 
dung   der   Reihe    D   als   Anfangsglieder    d^  =  q    und    das    eben    an- 

d  99 

gegebene  de, ,  mithin  g^  =  -^  =  — ,  so  wird  d.^  =  q^ 

c^j  übereinstimmen,  wie  d^  nahezu  mit  c^i,  und  man  erhält  wenig- 
stens in  naher  Uebereinstimmung  d^^  =  ^35^  =  5048858  •  8900.  Neper 
rechnet  aber  noch  ein  d.jQ  =  c^^^^  =  4998609  •  4034  (indem  er  die 
C- Reihe  mittels  des  Factors  q^  so  weit  fortsetzt)  und  betrachtet  dieses 
Schlussglied  als  in  Uebereinstimmung  mit  5000000  oder  mit  der  Hälfte 
des  allen  vier  Reihen  gemeinsamen  Anfangsgliedes  10000000.  Nun 
haben  wir  schon  erörtert,  dass  neben  c^  =  a^,  Cg  =  %ooi  stattfindet. 
Der  Stellenzeiger  des  mit  Cjggi  übereinstimmenden  a  ist  daher 


1  -f  1380  X  5000  =  6900001, 


Reclinen.     Logarithmen.  735 

oder  es  ist  eine  geometrische  Reihe  von  6900001  Gliedern,  mit  den 
GrenzgHedern  10000000  und  5000000  hergestellt,  in  welcher  jedes 
Glied  ans  dem  ihm  vorhergehenden  durch  Vervielfachung  mit 

q,  =  0.  9999999 

entsteht.  Die  Logarithmen  zu  diesen  Zahlen  müssen,  wie  wir  schon 
andeuteten,  eine  arithmetische  Reihe  bilden  und  vermöge  dessen  den 
Ordnungszahlen  oder  den  Stellenzeigern  ihrer  Zahlen  verwandt  sein, 
ohne  sich  mit  ihnen  decken  zu  müssen. 

Neper  vergleicht  in  der  Constructio  wie  in  der  Descriptio  die 
Bildung  der  geometrischen  und  der  arithmetischen  Reihe  mit  Be- 
wegungen i)    (Figur  143).      Auf  o  T       d  S 

der    Linie    hi   bewegt    sich    ein . . 

Punkt  a  mit  gleichförmiger  Ge- 
schwindigkeit  und    legt    in    der     . — . . . 

Zeiteinheit  den  Weg  hc  zurück.  rig.  us. 

Auf  der  Linie  TS  bewegt  sich 

gleichzeitig  ein  Punkt  g,  dessen  Geschwindigkeit  in  T  selbst  mit 
der  von  a  übereinstimmt,  aber  fortwährend  gleichförmig  abnimmt. 
In  der  ersten  Zeiteinheit  legt  er  den  Weg  Tel  zurück.  Denken  wir 
uns  seinen  Bewegungsanfang  um  eine  Zeiteinheit  zurückverlegt  und 
auch  räumlich  nach  o  verschoben,  so  muss  wegen  der  gleichförmigen 
Verlangsamung  oS  :  TS  =  TS  :  dS  sein.  Daraus  folgt 
{oS—TS):TS=(TS  —  dS)  :  dS,  (oS—TS)  :  {TS—dS)  =  TS:dS 
und  wegen  TS^dS  auch  oT^Td.  Der  Punkt  ist  also  zwischen 
0  und  T  schneller,  zwischen  T  und  d  langsamer  als  der  Punkt  a, 
und  man  kann  etwa  die  Schnelligkeit  von  a  dem  arithmetischen 
Mittel  der  Bewegungen  oT  und  Td  gleichsetzen. 

Darin  liegt  auf  der  einen  Seite  eine  ungemein  klare  Begriffs- 
fassung dessen,  was  man  später  Geschwindigkeit  im  Entstehungs- 
zustande oder  Streben  nach  Bewegung  genannt  hat,  aber  es  liegt 
noch  mehr  darin.  Stellt  TS  eine  ein  für  alle  Mal  gegebene  Zahl, 
dS  einen  bestimmten  Werth  einer  veränderlichen  Zahl  und  hc  den- 
Logarithmus  von  dS  dar,  so  ist  immer  noch  annähernd 

bc  =  ^(oT+Td) 

zu  setzen.     Sei  etwa  TS=  10000000,  dS=  9999999,  so  ist 

Td=l,     oT=  ^^^^  =  ^^  =  1,00000010000001 

und    log  9999999    ziemlich    genau    auf  1,00000005  bestimmt,   sofern 


^)  Neper,  Constructio,  pag.  20—21. 


736  74.  Kapitel. 

wir  der  bei  Neper  noch  nicht  vorkommenden  Abkürzungssilbe  log 
nns  bedienen.  Gleichzeitig  setzt  Neper  log  10000000  =  0.  Die  Dif- 
ferenz der  arithmetischen  Reihe  der  Logarithmen  ist  somit 

1/J0000005  —  "0  =  1,00000005, 
der    Gliederquotient    der   geometrischen  Reihe    der    Zahlen  ^-- , 

unser  früheres  q^.  Bei  der  letzten  Zahl  der  Neper'schen  Rechnung, 
bei  5000000,  giebt  die  Descriptio  als  Logarithmen  6931469  an^),  in 
der  Constructio  dagegen  heisst  es^),  die  logarithmische  Differenz 
solcher  Zahlen,  die  im  Verhältnisse  von  2  :  1  stehen,  sei  6931469,22. 
Aus  diesem  Logarithmus  und  ähnlicherweise  aus  einigen  anderen 
hat  man  in  späterer  Zeit  die  Basis  von  Neper's  Tafeln  herzustellen 
unternommen^),  wiewohl  dieser  Begriff  Neper  zunächst,  wenn  auch 
nicht  später,  gerade  so  fremd  war,  wie  er  es  Bürgi  war.  Die  Rech- 
nung zeigt  erstlich,  dass  die  Logarithmentafel  Neper's  zuvor  einer 
Division  durch  10000000  in  den  Zahlen  wie  in  den  Logarithmen 
bedarf,  ehe  man  sie  als  eigentliche  Logarithmentafeln  betrachten  kann, 
zweitens,  dass  dann  der  Logarithme  einer  Zahl  ti  im  Neper'schen 
Systeme,  welches  als  das  von  der  Basis  N  bezeichnet  werden  mag, 
keineswegs  der  natürliche  Logarithme  von  u  ist,  oder  mit  an- 
deren Worten,  dass  iV^  keineswegs  2,718281828  .  .  :=  e  ist.  In  der 
Neper'schen  Tabelle  steht 

0,693146922  als  Logarithmus  der  Zahl  0,5 

gegenüber.     Aber  es  ist 

log  nat.  2  =  0,6931472 

fast  ■  genau  übereinstimmend  mit  dem  bei  Neper  angegebenen  Loga- 
rithmen von  —  •  Oder  es  ist  iV'"^  ''''*  -  =  •  Daraus  folgt  aber 
iV  =  -    oder  die  Basis  der  Neper'schen  Logarithmen    ist  — 

Neper  hat  der  Constructio  noch  einen  Appendix  hinzugefügf^) 
und  in  diesem  Anhange  über  Methoden  der  Logarithmenberechnung 
sich  ausgesprochen,  welche  unter  der  Voraussetzung  Platz  greifen, 
dass  die  Zahl  1  den  Logarithmus  0  besitze.  Hier  ist  also 
erstmalige,  wenn  auch  nicht  besonders  hervorgehobene  Ueberein- 
stimmung   zwischen    Logarithmen    und    Exponenten,    erstmalige   An- 


^)   Neper,    Descriptio  bei  log  sin  30*.  *)  Neper,  Constructio,  pag.  39. 

^)  Wackerbarth  in  Les  mondes  XXVI,  26  und  J.  W.  L.  Glaislier  in  dem 
Beport  of  tlie  Committee  of  mathematical  l'ables,  pag.  71 — 73  (Separatabdruck  aus 
dem  Beport  of  the  British  Association  for  the  Advaneement  of  Science  for  1873). 
Dessen  irrige  Behauptungen  sind  widerlegt  durch  Kewitsch  in  der  Zeitschr.  f. 
mathem.  und  naturwissensch.  Unterricht  XXVII,  321—333  (1806).  *)  Neper, 

Constructio,  pag.  48 — 54. 


Rechnen.     Logarithmen.  737 

Wendung  einer  wirklichen  Basis  des  Logarithmensystems,  indem  von 
der  Zahl    gesprochen    wird,    welche    1    zum   Logarithmus    habe,    und 

zwar  wird  entweder  10  oder  —   als  solche  Zahl  vorgeschlagen,  deren 

Logarithmus  1   mit  beliebig  vielen  Nullen    dahinter    sein    solle.     Ist 

1  =  log  10,  .so  wird  0,2  =  log  (>/lo),  0,04=  log  (iVf/lo)  u.  s.  w.  bis 
zur  zehnmaligen  Ausziehuug  von  Wurzeln  5.  Grades.  Neper  scheint 
indessen  vor  der  furchtbaren  Rechenaufgabe,  welche  er  damit  sich 
und  solchen,  die  seineu  Spuren  folgen  wollten,  stellte,  zurück- 
geschreckt zu  sein,  wenigstens  giebt  er  keine  einzige  der  Zahlen 
wirklich  an,   deren  Berechnung  er  doch  selbst  verlangte. 

Dagegen  lässt  er  eine  Methode  folgen,  welche  nur  Quadratwurzel- 
ausziehungen verlangt,  und  von  deren  Ergebnissen  er  wenigstens 
einige  anschreibt.  Bei  log  10  =  1  ist  log  5  folgendermassen  zu 
suchen,     log  j/l  •  10  =  log  3,16227766017  =  0,5.     Ferner 

log"|/lO- 3,16227766017  =  log  5,62341325191  =  0,75 
u.  s.  w.,  wo  man  leicht  sieht,  wie  man  durch  fernere  Quadratwurzel- 
ausziehung  aus  dem  Producte  von  3,16  ...  in  5,62  ...  zu  einer 
zwischen  4  und  5  liegenden  Zahl  mit  dem  Logarithmen  0,625  ge- 
langt. Ueber  die  beiden  auf  11  Decimalstellen  hier  angegebenen 
Zahlen  hinaus  setzt  Neper  allerdings  die  Rechnung  wieder  nicht  fort. 

Endlich  drittens  lehrt  Neper,  wie  man,  immer  unter  der  Voraus- 
setzung log  10=1,  nur  durch  fortgesetzte  Multiplication  die  Loga- 
rithmen zu  finden  im  Staude  sei.  Bilde  man  das  Product  von 
10000000000  Factoren,  deren  jeder  2  heisst,  so  entstehe  eine  Zahl 
von  801029996  SteUen,  und  daraus  folge  log  2  =  0,301029996. 

Sind  die  in  jenem  Anhange  geäusserten  Gedanken  sämmtlich 
Neper's  Eigenthum?  Es  scheint  nicht,  aber  ebensowenig  scheint  die- 
jenige Auffassung  richtig  zu  sein,  welche  Neper  gar  keinen  Antheil 
an  den  so  wesentlichen  Aeuderungen  des  ursprünglichen  Gedankens 
gestatten  wilF).  Edward  Wright,  dessen  Name  in  der  Geschichte 
der  Schifffahrtskunde  und  der  Kartographie  einen  ehrenvollen  Platz 
einnimmt,  war  von  Neper's  Descriptio  in  hohem  Grade  entzückt.  Er 
sah  die  Grösse  der  Erfindung,  ihre  Tragweite  für  alle  praktischen 
Zwecke  der  Sternkunde  in  vollem  Maasse  ein,  und  setzte  seine  ganze 
Kraft  in  Bewegung,  zur  Verbreitung  der  Logarithmen  beizutragen. 
Er  übersetzte  die  Descriptio  ins  Englische  und  schickte  die  Hand- 
schrift Neper  zur  Begutachtung.  Dieser  erklärte  sich  durchaus  ein- 
verstanden  und   befriedigt.     Der   Druck  begann,   aber   bevor  derselbe 


')  Glaisher  1.  c.  pag.  49— 52.  —  Ball,  Ristory  of  the  study  of  mathematics 
at  Cambridge,  pag.  27 — 30. 

Cantor.  Geschichte  der  Mathem.    II.    2.  Aufl.  47 


738  74.  Kapitel. 

161G  vollendet  war,  starb  Wright  bereits  1015.  Seine  Einwirkung 
war  demnach  nur  geringfügig.  Um  so  erheblicher  war  die  von 
Henry  Briggs  (1556  —  IGSO).  In  Cambridge  aufgewachsen  begann 
Briggs  dort  seine  Lehrthätigkeit  1592.  Vier  Jahre  später  trat  er  in 
eine  damals  durch  eine  Stiftung  von  Sir  Thomas  Gresham  ge- 
gründete und  nach  dem  Stifter  genannte  Anstalt  in  London  als  Pro- 
fessor und  verblieb  daselbst,  bis  er  1019  nach  Oxford  übersiedelte, 
wohin  er  als  erster  Inhaber  eines  dort  neu  gegründeten  Lehrstuhls, 
der  Savile'schen  Professur  der  Geometrie,  berufen  wurde. 
Als  1614  die  Descriptio  erschien,  lebte  Briggs  demnach  in  London. 
Das  Werk  entzückte  ihn.  Neu  und  wundervoll  nannte  er  in  einem 
Briefe  die  Logarithmen.  Sein  Kopf  und  seine  Hände  seien  jetzt  in 
voller  Thätigkeit,  und  er  hoffe  im  nächsten  Sommer  mit  dem  Ver- 
fasser eines  Buches  zusammenzutreffen,  welches  wie  kein  anderes  ihm 
gefallen  und  sein  Erstaunen  erweckt  habe^).  Brigg's  Wunsch  erfüllte 
sich  durch  einen  1615  Neper  erstatteten  Besuch,  der  bis  zu  einem 
Monate  sich  ausdehnte,  ein  zweiter  Besuch  erfolgte  1616,  ein  dritter 
war  für  1617  in  Aussicht  genommen  und  unterblieb  nur,  weil  Neper 
am  4.  April  dieses  Jahres  schon  starb.  Gleich  1615  schlug  Briggs 
vor,  der  Zahl  10  den  Logarithmen  — 1  zuzuweisen,  im  Uebrigen 
aber  die  Anordnung  Neper's  beizubehalten,  d.  h.  die  Zahl  abnehmen 
zu  lassen,  während  der  Logarithme  positiv  wachse.  Neper  ergänzte 
den  Vorschlag,  welcher  ihm  ohnedies  nicht  ganz  überraschend  kam, 
da  ja  er  selbst  schon  daran  gedacht  hatte,  die  beiden  Progressionen 
etwas  anders  zu  wählen^),  dahin,  der  Zahl  10  den  Logarithmus  1  zu 
geben,  also  Zahlen  und  Logarithmen  gleichzeitig  wachsen  zu  lassen. 
So  muss  man  die  im  Anhange  zur  Constructio  empfohlene  Anordnung 
als  gemeinsames  Eigenthum  von  Neper  und  Briggs  löfetrachten.  Die 
Niederschriften  müssen  in  der  Reihenfolge  stattgefunden  haben,  dass 
erst  die  Constructio,  dann  die  Descriptio,  zuletzt  und  nicht  vor  1616 
der  Appendix  entstand.  Briggs  rechnete  allein  weiter  und  gab  1617 
seine  Logarithmorum  Chilias  prima  heraus  ^) ,  in  welcher  die  Loga- 
rithmen der  Zahlen  1  bis  1000  für  die  Basis  10  auf  8  Decimalen 
gerechnet  waren.  Briggs  begnügte  sich  nicht  damit.  Er  liess  1624 
eine  Ärithmctica  logarühniica  erscheinen,  welche  14stellige  Logarithmen 


^)  Neper ,  lord  of  Murkinsto}i, ,  hath  sei  my  head  and  liands  at  icork  witli 
Ins  new  and  admirable  logarithms.  I  hope  to  see  Mm  this  summer,  if  it  please 
God;  for  I  never  saw  a  book  wliich  pleased  me  better,  and  made  me  more  wonder. 
-)  Neper,  Descriptio  pag.  5  Admonitio.  *)  Wir  folgen  in  der  Angabe  der 

Jahreszahlen  Glaisher  1.  c.  Andere  setzen  die  Besuche  Briggs'  bei  Neper  in 
die  Jahre  1615  und  1617,  Neper's  Tod  1618  und  in  eben  dieses  Jahr  den  Druck 
der  CJnlias  prima. 


Rechnen.     Logarithmen.  739 

der  Zahlen  von  1  bis  20000  und  von  90000  bis  100000  (in  einzelnen 
Abzügen  bis  101000)  enthielten. 

Die  Neper'schen  Logarithmen  fanden  ihren  ersten  Neubearbeiter 
in  Deutschland  in  der  Person  von  Benjamin  Ursinus^),  ursprüng- 
lich Behr  (1587^ — 1633  oder  1634).  Er  ist  in  Schlesien  geboren,  in 
Frankfurt  a.  d.  0.  als  Professor  an  der  dortigen  Universität  gestorben. 
Bevor  er  nach  Frankfurt  berufen  wurde,  war  er  seit  1615  am 
Joachimsthal'schen  Gymnasium  in  Berlin  thätig,  und  dort  erschienen 
seine  logarithmischen  Schriften;  der  Druckort  Köln  ist  demnach  als 
Köln  an  der  Spree,  nicht  als  Köln  am  Rhein  zu  verstehen.  Die 
Descriptio  war  noch  nicht  lange  erschienen,  so  gab  Ursinus  1618 
mit  einer  sogar  schon  vom  17.  Mai  1617  datirten  Vorrede  eine  Tri- 
gonometria  logarWimica  loJiannis  Neperi  heraus.  Es  ist  die  Tafel  der 
Descriptio,  nur  überall,  in  Zahlen  wie  Logarithmen,  um  die  zwei 
letzten  Stellen  gekürzt.  Dazu  gehörte  allerdings  keine  eigene  Arbeit. 
Ursinus  liess  aber  1624  seinen  Magnus  Canon  Triangulorum  Loga- 
rithmicus  folgen,  welcher  um  eine  Stelle  über  Neper  hinausging.  Die 
Winkel,  deren  Sinus  nebst  deren  Logarithmen  angegeben  sind,  wachsen, 
in  Zwischenräumen  von  je  10".  Einzelne  Sinusse  sind  zur  schärferen 
Prüfung  anderer  aus  ihnen  abgeleiteter  besonders  genau  berechnet, 
nämlich  für  einen  Halbmesser  10^**.  Ihn  wandte  Ursinus  beispiels- 
weise bei  den  Winkeln  von  30,  45,  18,  72,  36,  54,  9  Graden  an. 
Sei  es  beim  Druck,  sei  es  wahrscheinlicher  bei  der  Rechnung, 
schlichen  in  der  letzten  gegen  Neper's  Tafel  neu  hinzugetretenen 
Stelle  sich  manche  von  Ursinus  nachträglich  erkannte  Fehler  ein.  Die 
Berliner  Bibliothek  besitzt  ein  Exemplar,  in  welchem  die  nöthigen 
Verbesserungen  dieser  letzten  Ziffer  von  Ursinus'  Hand  vielfach  vor- 
kommen. Ein  Jahr  früher  als  der  grosse  Canon  erschien,  veran- 
staltete Ursinus  auch  eine  deutsche  Ausgabe  der  Neper'schen  Rab- 
dologie "). 

Nächst  Ursinus  war  Kepler  um  die  Verbreitung  der  Neper'schen 
Logarithmen  in  Deutschland  bemüht,  eine  Thatsache,  welche  um  so 
auffallender  erscheinen  könnte,  als  diese  Bemühungen  1620  beginnen, 
genau  in  dem  Jahre  des  Druckes  von  Bürgi's  Progresstafeln, 
und  dass  von  diesen  gar  nicht  die  Rede  ist.  Bei  den  freundschaft- 
lichen Beziehungen  Keplers  zu  deren  Erfinder  können  wir  uns  die 
Sache  kaum  anders  vorstellen,  als  dass  Kepler  über  die  Saumseligkeit 
Bürgi's,   der  selbst  den  gedruckten  Tafeln   den   versprochenen  gründ- 


^)  Neiser,  Constructio  pag.  157—160.  —  Kästner  III,  87—91.  —  Klügel, 
Mathematisches  Wörterbuch  111,541 — 542.  —  Gerhardt,  Math.  Deutschi. 
S.  1-20—122.         -)  Neper,  Constructio,  pag.  152— 153. 

47* 


740  74.  Kapitel. 

liehen  Unterricht  beizugeben  noch  zögerte,  erzürnt  war,  dass  er  dess- 
halb  damals  sich  nicht  bemüssigt  fühlte,  für  einen  wenn  auch  be- 
freundeten Mann  einzutreten,  der  mit  den  gedruckten  Belegen  seiner 
Leistungen  zurückhaltend  Kepler's  etwaiger  Absicht,  ihm  zu  nützen, 
jeden  festen  Boden  entzog,  dass  Kepler  dagegen  die  schon  veröffent- 
lichten Neperschen  Tafeln  für  so  unendlich  wichtig  hielt,  dass  er 
ihre  Benutzung  zu  empfehlen  als  wissenschaftliche  Pflicht  erachtete. 
Mit  blossen  Empfehlungen  begnügte  ein  Kepler  sich  nicht  ^).  Er 
hatte  gleich  nach  Erscheinen  der  Descriptio  von  ihr  gehört,  wenn 
auch  in  etwas  anzweifelndem  Tone.  Er  hatte  dann  durch  des  Ursinus 
Trigonometria  logarithmica  einen  etwas  genaueren  Einblick  gewinnen 
können.  Er  gelangte  endlich  im  Juli  1619  in  Linz  in  den  Besitz 
der  Descriptio  selbst.  Die  georhetrisch- mechanische  Einkleidung, 
welche  in  der  Descriptio,  wenn  auch  nicht  so  ausgeführt  wie  in  der 
Constructio ,  hervortrat ,  behagte  den  deutschen  Gelehrten  im  All- 
gemeinen nicht,  und  Kepler  machte  darin  keine  Ausnahme.  Auch 
die  Anordnung  der  Neper'schen  Tafel  nach  gleichmässig  wachsenden 
Winkelgraden,  deren  trigonometrische  Functionen  eine  nicht  gleich- 
mässig sich  ändernde  Zahlenreihe  bildeten,  sagte  ihm  nicht  zu  und 
in  beiden  Beziehungen  wollte  er  bessernde  Hand  anlegen.  Zu  Maass- 
zahlen von  Verhältnissen,  ägtO-^ol  rot)  ^.öyov,  werden  ihm  die  Loga- 
rithmen, und  er  berechnet  sie  nicht  in  der  verhältnissmässig  be- 
quemen Weise  Neper's  mittels  fortgesetzter  Subtractionen  gleicher 
und  zwar  einfacher  Bruchtheile,  sondern  durch  fortgesetzte  Berech- 
nung mittlerer  geometrischer  Proportionalzahlen,  also  ähnlich  wie  es 
im  Anhange  zur  Constructio  vorgeschlagen  ist,  wobei  allerdings  nicht 
zu  vergessen  ist,  dass  Kepler  in  dem,  was  er  unterliess,  wie  in  dem, 
was  er  that,  ganz  unabhängig  dasteht,  indem  die  Descriptio  die  Tafeln 
zwar  enthielt,  aber  ihre  Herstellung  nicht  lehrte.  Die  Veränderung 
der  Anordnung,  welche  Kepler  vornahm,  bestand  darin,  dass  er  die 
Zahlen  in  arithmetischer  Progression  zunehmen  liess.  Freilich  setzte 
er  die  Winkelgrössen,  als  deren  Sinusse  die  Zahlen  zu  betrachten 
seien,  wie  es  bei  Neper  der  Fall  war,  in  einer  ersten  Kolumne 
nebenan,  aber  während,  wie  wir  erst  gesagt  haben,  bei  Neper  Regel- 
mässigkeit der  Zunahme  in  der  ersten,  Unregelmässigkeit  derselben 
in  der  zweiten  Kolumne  stattfand,  war  es  bei  Kepler  umgekehrt. 
Die  Zahlen  der  zweiten  Kolumne  zeigen  gleichbleibende,  die  der  ersten 
veränderliche    Zunahme.      Im    Uebriwen     herrscht     selbstverständlich 


')  Kästner,  Geometrische  Abhandlungen,  I.  Sammlung  (Göttingen  1790), 
S.  495—508.  —  Gerhardt,  Math.  Deutschi.,  S.  l-24-l'29.  —  Glaisher  1.  c. 
pag.  73—74. 


Rechnen.     Logarithmen.  741 

zwischen  den  Tafeln  Kepler's  und  Neper's  Uebereinstimmung  des 
Planes.  Auch  bei  Kepler  gehörte  zur  grösseren  Zahl  der  kleinere 
Logarithmus j  und  wo  in  den  Tafeln  Neper's  und  Kepler's  gleiche 
Zahlen  irgend  einmal  vorkommen,  weichen  deren  Logarithmen  höch- 
stens in  den  allerletzten  Stellen  von  einander  ab,  eine  Folge  der 
verschiedenartigen  Berechnung  bei  gleichartigem  Grundgedanken. 
Kepler's  Tafel,  die  Zahlen  1  bis  1000  enthaltend,  wurde  im  Winter 
1621  auf  1(322  vollendet.  Er  fügte  ihr  eine  Demonstratio  structurae 
logarWtmorum  in  30  Lehrsätzen  bei  und  schickte  das  druckfertige 
Werk  seinem  alten  Lehrer  Mästlin,  dem  Tübinger  Astronomen,  zu, 
welchem  er  fortgesetzt  die  Zuneigung  eines  dankerfüllten  Schülers 
bewahrte.  Mästlin,  der  früher,  wie  oben  angedeutet  wurde,  Neper's 
Tafeln  grosses  Misstrauen  entgegenbrachte,  sollte  die  Kepler'sche 
Arbeit  prüfen,  sollte  sie  einem  der  Tübinger  Drucker  zur  Herausgabe 
empfehlen;  aber  sei  es,  dass  jenes  frühere  Misstrauen  ihn  nicht  ver- 
lassen wollte,  sei  es,  dass  er  etwa  früher  allzu  wegwerfend  von  der 
neuen  Erfindung  gesprochen  hatte,  als  dass  es  ihm  möglich  gewesen 
wäre,  nunmehr  selbst  einer  Logarithmentafel  zum  Drucke  zu  verhelfen, 
er  erfüllte  Kepler's  Wunsch  nicht.  Das  Manuscript  lag  nutzlos  in 
Tübingen.  Erst  ein  Jahr  später  wandte  sich  Kepler  an  einen  hoch- 
gestellten Gönner,  den  Landgrafen  Philipp  von  Hessen-Butz- 
bach,  welcher  einen  gelehrten  Briefwechsel  mit  ihm  eröffnet  hatte, 
mit  der  Bitte,  ob  dieser  nicht  für  den  Druck  der  Tafeln  etwas  thun 
wolle.  Die  Bitte  fiel  auf  den  denkbar  günstigsten  Boden.  Der  fürst- 
liche Freund  der  Sternkunde  Hess  die  Handschrift  sofort  nach  Mar- 
burg kommen  und  dort  drucken,  ohne  dass  Kepler  davon  erfuhr,  bis 
1624  die  Chilias  Logarithnoi'um  ad  totidem  numerus  rotimdos  erschien. 
Eine  Anweisung  zum  Gebrauche  der  Logarithmen  hatte  Kepler  zuerst 
nicht  niedergeschrieben.  Auf  den  Wunsch  des  Landgrafen  verfasste 
er  sie  nachträglich,  und  im  folgenden  Jahre  1625  erschien  in  acht 
Kapiteln  Kepler's  Supplementum  Chiliadis  Logarithmorum  continens 
pra£cepta  de  eorum  usu.  Kepler  benützte  diese  Logarithmen  in  seinen 
1627  herausgegebenen  Rudolphinischen  Tafeln.  Er  beabsichtigte  auch 
eine  Veröff'entlichung  in  erweitertem  Umfange,  aber  sein  1630  erfol- 
gender Tod  unterbrach  das  begonnene  Unternehmen. 

Jacob  Bartsch^),  Kepler's  Schwiegersohn,  führte  es  zu  Ende. 
Er  war  1600  in  Lauban  in  der  Lausitz  geboren  und  starb  ebenda 
1633,  als  er  im  Begriffe*  war,  eine  Stellung  als  Professor  der  Astro- 
nomie   in    Strassburg    anzutreten.      Die    Tahidae   novae   logarlthmico- 


^)  Kästner  III,  92.  —  Poggeudorff  I,  111.  —  R.  Wolf,  Geschichte  der 
Astronomie,  S.  304. 


742  74.  Kapitel. 

logisticae  sind  1630  in  Sagan  gedruckt,  an  demselben  Orte  1631  die 
Tdbulae  nianuales  logarithmicac  I.  Kepleri  et  I.  JBartschii. 

Die  ausführlichste  Tafel  Neper'scher  Logarithmen  ist  die  von 
Peter  Crüger^)  (1580 — 1639)  aus  Königsberg,  Lehrer  der  Mathe- 
matik lind  Poesie  am  Gymnasium  zu  Danzig  seit  1607.  Seine  Praxis 
trigonometriae  logarWunicae  mm  Logarithmorum  tahulis  ad  triangula 
tarn  plana  quam  spliaerica  sufficientihns  trägt  die  Jahreszahl  1634.  Das 
Bemerkenswerthe  an  seinen  Tafeln  ist  die  Trennung  der  Zahlenloga- 
rithmen von  denen  der  trigonometrischen  Functionen.  Wenn  bei 
Neper  die  Aufsuchung  der  Logarithmen  einer  ßruchtheile  nicht  mit 
sieh  führenden  Zahl  meistens  eine  Interpolationsrechnung  nöthig 
machte,  wenn  bei  Kepler  das  Gleiche  der  Fall  war,  so  oft  der  Loga- 
rithme  einer  trigonometrischen  Function  eines  in  Graden  und  Minuten 
ohne  sonstige  Bruchtheile  gegebenen  Winkels  verlangt  wurde,  so 
wollte  Crüger  beide  Unannehmlichkeiten  vermeiden.  In  einer  ersten 
Tafel  stellte  er  desshalb  die  Logarithmen  der  ganzen  Zahlen  von  1 
bis  10000  zusammen.  In  einer  zweiten  Tafel  folgten  die  Logarithmen 
der  Sinusse  und  Tangenten  aller  Winkel  von  Minute  zu  Minute 
unter  Angabe  der  Proportion  altheile  für  je  10".  Die  Sinusse  selbst 
sind  nicht  mit  abgedruckt,  und  darin  liegt  eine  Schmälerung  des 
Tafelinhaltes  gegen  die  ursprüngliche  Neper'sche  Anordnung.  Bei 
Neper  hatten  die  Logarithmen  der  trigonometrischen  Tangenten,  wie 
wir  uns  erinnern  (S.  732),  die  mittelste  Stelle  inne.  Crüger  nannte 
sie,  offenbar  aus  diesem  Grunde,  Mesologaritlimi .  Eine  dritte  Tafel 
enthält  die  Logarithmen  der  Sinusse  der  von  Secunde  zu  Secunde 
wachsenden  Winkel  des  ersten  Winkelgrades.  Endlich  ist  eine  vierte 
Tafel  beigefügt,  als  deren  Berechner  Bartsch  genannt  wird.  Sie 
liefert  die  Logarithmen  der  Cosinusse  der  Winkel  bis  zu  1"41'  in 
Zwischenräumen  von  je  2"  unter  dem  Namen  der  Antilogarühmi,  den 
man  sich  daher  wohl  hüten  muss  in  dem  Sinne  zu  verstehen,  welchen 
das  Wort  nachmals  erhalten  hat.  Es  kann  auffallend  erscheinen,  dass 
Crüger  noch  1634,  nachdem,  wie  wir  bald  sehen  werden,  die  Briggi- 
schen Logarithmen  auch  in  Deutschland  schon  Eingang  gefunden 
hatten,  dennoch  das  Neper'sche  System  seiner  Bearbeitung  zu  Grunde 
legte.  Er  fühlte  selbst,  dass  sein  Verfahren  einer  Rechtfertigung  be- 
durfte und  sprach  sie  aus.  Für  ihn  gab  der  Umstand  den  Ausschlag, 
dass  alle  Rechnungen  der  Rudolphinischen  Tafeln  mit  Hilfe  von 
Neper'schen  Logarithmen  ausgeführt,  beziehungsweise  gelehrt  waren, 
und  so  lange  die  Hauptbenutzer  der  Logarithmen  Astronomen  waren. 


*)  Kästner,    Geometrische    Abhandlungen,   I.  Sammlung,   S.  508 — 511. 
Poggendorff  I,  501.—  Gerhardt,  Math.  Deutschi.,  S.  122— 124. 


Rechnen.     Log-aritlimen.  743 

so  lange  diese  wesentlich  des  in  den  Rudolphiniselien  Tafeln  anf- 
gezeichneten  Materials  sich  bedienten,  war  es  wohl  gerechtfertigt,  be- 
sondere Rücksicht  auf  eben  jene  Tafeln  zu  nehmen. 

Wir  kehren  zu  Briggs  und  dessen  1617  und  1624  gedruckten 
Logarithmentafeln  zurück.  Er  beabsichtigte  eine  Ergänzung  derselben 
durch  logarithmisch -trigonometrische  Tafeln  und  hinterliess  1631  bei 
seinem  Tode  eine  auf  10  Decimalen  berechnete  nahezu  vollendete 
Tafel ,  welche  die  Eigenthümlichkeit  besass  ^) ,  den  Winkelgraden 
decimale  Unterabtheilungen  beizulegen,  also  mit  deren  sexagesimaler 
Theilung  in  Minuten  und  Secunden,  der  mehrtausendjährigen  Gewohn- 
heit, zu  brechen.  Wohl  wurde  diese  Tafel,  wie  wir  noch  sehen 
werden,  1633  gedruckt  aber  die  wichtige  Neuerung,  welche  sich, 
wenn  Briggs'  Tafel  die  erste  für  die  Basis  10  veröffentlichte  gewesen 
wäre,  vermuthlich  eingebürgert  hätte,  ging  nun  verloren,  denn  es 
waren  bereits  Tafeln  vorhanden,  welche  die  Basis  10  bei  sexagesi- 
maler Winkeltheihmg  benutzten,  ihren  Besitzern  also  nicht  das  Auf- 
geben des  zur  zweiten  Natur  Gewordenen  auferlegte. 

Der  Verfasser  dieser  schon  1620  gedruckten  auf  7  Decimalen 
sich  erstreckenden  logarithmisch -trigonometrischen  Tafel  war  Ed- 
mund Gunter^),  und  sein  Vorgang  beherrschte  die  künftige  Zeit. 
Wir  haben  (S.  691)  Gunter  als  Erfinder  einer  Art  von  Proportional- 
zirkel kennen  gelernt.  Im  Jahre  1624  fertigte  er  Rechenstäbe  an, 
welche  beim  logarithmischen  Rechnen  in  Gebrauch  genommen  wer- 
den sollten,  ähnlich  wie  die  Neper'schen  beim  gewöhnlichen  Rechnen. 
Sie  erhielten  den  Namen  Gunter's  Scale ^). 

Die  Tafeln  von  Briggs  von  1624  gaben,  sagten  wir  (S.  738), 
14stellige  Logarithmen  der  Zahlen  von  1  bis  20000  und  von  90000 
bis  100000,  beziehungsweise  101000.  Eine  grosse  Lücke  von  20000 
bis  90000  war  noch  auszufüllen,  und  Briggs  war  emsig  mit  dieser 
Arbeit  beschäftigt,  aber  ohne  sein  Wissen  und  Zuthun  hatte  ein 
Anderer,  der  die  Arithmetica  logarithmica  von  1624  kennen  gelernt 
hatte,  an  die  gleiche  Arbeit  sich  gemacht:  Adriaen  Vlack'^j.  Ueber 
Vlack's  Geburtsjahr  sind  wir  nicht  unterrichtet.  Wir  wissen  nur, 
dass  er  in  der  holländischen  Stadt  Gouda  geboren  ist,  einer  ange- 
sehenen Familie  angehörte,  dass  er  wissenschaftliche  Bildung  besass, 
insbesondere  der  lateinischen  Sprache  mächtig  war,  dass  es  ihm  auch 
an  mathematischen    reicheren   Kenntnissen  nicht    fehlte,    dass    er  in- 


')  Glaisher  1.  c.  pag.  6.5—64.  -)  Ebenda  pag.  65.         ^;  Poggendorff 

I,  980.  Eine  Beschreibung  von  Gunter's  Scale  gab  John  Robertson  in  den 
Phüoaophical  Transactions,  Vol.  48,  Part.  I,  pag.  96  sqq.  ^)  Kästner  IE,  97 — 
98.  —  Glaisher  1.  c.  pag.  .51 — 53.  —  Bierens  de  Haan,  Boiiwstoffen  etc. 
pag.  1 — 25  und  1*— 37. 


744  74.  Kapitel. 

dessen  nie  dem  Lehrberufe  oblag.  Im  Jahre  1626  war  er  in  seiner 
Vaterstadt  bei  der  buehhändlerischeu  Firma  Pieter  Rammaseyn  be- 
schäftigt, der  er  vielleicht  als  Theilhaber  angehörte.  Von  1633 — 
1642  lebte  Vlack  in  London  als  Buchhändler,  wesentlich  dem  Ver- 
triebe von  in  Holland  bei  dem  eben  genannten  Geschäfte  erschiene- 
nen Werken  sich  widmend.  Da  vollzog  sich  in  England  die  grosse 
staatliche  Umwälzung,  welche  nach  16jährigen  Kämpfen  1649  zur 
Hinrichtung  Karl  L,  nach  weiteren  elf  Jahren  1660  zur  Wiederein- 
setzung des  Königthnms  führte.  Es  scheint  gewiss,  dass  persönliche 
Gefahren,  welche  Vlack  bei  Beginn  jener  bürgerlichen  Entzweiungen 
lief,  seine  vielleicht  etwas  beschleunigte  Abreise  aus  dem  ihm 
ungastlich  gewordenen  Lande  veranlassten.  Er  siedelte  1642  nach 
Paris  über,  wo  er  bis  1648  verweilte,  um  sich  dann  im  Jahre  des 
westfälischen  Friedens  als  Buchhändler  im  Haag  niederzulassen.  Dort 
lebte  er  noch  1655,  und  einer  Vorrede  eines  damals  bei  ihm  gedruck- 
ten Buches  entstammen  die  angegebenen  Einzelheiten.  Während  der 
Gouda'schen  Zeit  stand  Vlack  einem  dortigen  Feldmesser  und  Lehrer 
der  Mathematik  Ezechiel  de  Decker  nahe,  und  beide  zusammen 
studirten  die  auf  Logarithmen  bezüglichen  Schriften,  welche  in  England 
gedruckt  worden  waren,  wobei  De  Decker,  als  des  Lateinischen  un- 
kundig, mindestens  ebensosehr  der  Beihilfe  Vlack's  bedurfte,  als  diesem 
De  Decker's  mathematische  Unterstützung  erwünscht  sein  mochte. 
Neper's  Descriptio  von  1614,  dessen  Rabdologia  von  1617,  dessen 
Constructio  von  1619,  Gunter's  Canon  triangulorum  von  1620  und 
von  1623,  endlich  die  Arithmetica  logarithmica  von  Briggs  von  1624 
wurden  gemeinschaftlich  durchgearbeitet.  Bei  diesen  Studien  kam 
der  Plan  zur  Reife,  in  holländischer  Spi-ache  und  unter  dem  Titel 
Niemve  Tellonst,  neue  Zahlenkunde,  den  Lihalt  jener  Werke  neuer- 
dings zu  veröffentlichen;  und  in  der  That  erschien  1626  bei  Pieter 
Rammaseyn  in  Gouda,  d.  h.  also  unter  Vlack's  buchhändlerischer  Bei- 
hilfe, ein  erster  Band  der  Nieuwe  Telkonst.  Den  Inhalt  bildet 
Neper's  Rabdologie  durch  Adriaen  Vlack  aus  dem  Lateinischen  über- 
setzt, kaufmännische  Rechnungsvortheile ,  Zinstafeln  u.  s.  w.  von 
De  Decker,  endlich  Stevin's  Rechnung  mit  Decimalbrüchen.  Das 
Format  war  Quart.  Im  gleichen  Jahre  1626  erschien  aus  der  gleichen 
Druckerei  ein  Octavband,  welcher  ebenfalls  Nieuwe  Telkonst  über- 
schrieben ist,  aber  nur  De  Decker  als  Herausgeber  nennt  und  Vlack's 
Namen  ganz  verschweigt,  auch  die  Bezeichnung  als  zweiter  Band 
vollständig  vermissen  lässt;  dagegen  sind  auf  dem  Titelblatte  neben 
Neper  auch  Briggs  und  Gunter  als  Quellenschriftsteller  erwähnt. 
Ein  zweiter  Band  der  Nieuwe  Telkonst,  der  in  dem  ersten  Bande 
von  Vlack  und  De  Decker  in  Aussicht  gestellt  worden  war,  ist  niemals 


Rechnen.     Logarithmen.  .  745 

erscliieneu,  inui  docli  war  er  als  der  imüangreicliere  angekündigt. 
Man  nimmt  au,  als  Ersatz  für  ihn  habe  die  ÄrifJimetica  logarit/onica 
dienen  sollen,  welche  als  stattlicher  Foliant  1628  von  Rammaseyu's 
Druckerwerkstätte  ausging.  Bei  ihr  ist  jetzt  De  Decker's  Name  weg- 
geblieben, während  Neper  und  Briggs  auf  dem  Titelblatte  weiter 
erscheinen.  Vlack  von  Gouda  nennt  sich  bescheiden  der  Vermehrer 
der  zweiten  Ausgabe^).  Die  Vermehrung  besteht  in  der  Ausfüllung 
der  bei  den  Briggischen  Tafeln  von  1624  noch  vorhandenen  Lücke, 
so  dass,  indem  auch  die  von  Briggs  berechneten  Logarithmen  nur 
um  4  Decimalen  gekürzt  wieder  abgedruckt  waren,  jetzt  die  zehn- 
stelligen  Logarithmen  sämmtlicher  Zahlen  von  1  bis  100000  vereinigt 
im  Drucke  vorlagen.  Irgend  eine  Vereinfachung  des  Druckes  Avar 
nicht  vorhanden,  vielmehr  war  zu  jeder  Zahl  der  Logarithme  voll- 
ziffrig  mit  Einschluss  der  Charakteristik  abgedruckt.  Am  25.  October 
1628  richtete  Briggs  einen  Brief  an  John  Pell^),  in  welchem  die 
Ausgabe  besprochen  wird.  Vlack  habe  davon  1000  Exemplare  in 
lateinischer,  holländischer  und  französischer  Sprache  gedruckt,  und 
die  meisten  seien  bereits  verkauft.  Dieser  fast  unglaublich  rasche 
Verkauf  erklärt  sich  dadurch,  dass  eine  Anzahl  von  Exemplaren  in 
den  Besitz  eines  Londoner  Buchhändlers  Miller  übergegangen  sein 
wird.  Wenigstens  gab  dieser  1631  Logarithmentafeln  heraus,  welche, 
abgesehen  von  einer  Vorrede  in  englischer  Sprache,  so  vollständig 
mit  der  Arithmetica  logarithmica  übereinstimmen,  dass  man  schon 
daraufhin  den  Verdacht  hegen  konnte,  es  handle  sich  nur  um  eine 
neue  Titelausgabe,  ein  Verdacht,  der  sich  zur  Grewissheit  erhob,  als 
man  in  einzelnen  englischen  Exemplaren  noch  an  dem  unteren  Rande 
der  Blätter  holländische  Druckvermerke  wahrnahm,  welche  man  bei 
ihm  zu  entfernen  vergessen  hatte.  Was  die  Zuverlässigkeit  der  Vlack- 
schen  Berechnung  betrifPt,  so  sind  in  seinen  Tafeln  im  Ganzen  etwa 
oOO  Fehler  nachgewiesen  worden,  welche  nicht  auf  die  letzte  Deci- 
male  der  Logarithmen  sich  beziehen^). 

Man  kann  die  Vermuthung  kaum  zurückweisen,  dass  der  starke 
Absatz,  welchen  Vlack's  Arithmetica  logarithmica  in  England  fand, 
mit  zu  den  Beweggründen  gehörte,  die  den  Herausgeber  1633  zur 
Uebersiedelung  veranlassten,  in  demselben  Jahre,  in  welchem  wieder 
ein  neues  Logarithmenwerk  bei  Rammaseyn  herauskam,  welches  nicht 
zum  mindesten  auf  den  englischen  Vertrieb  angewiesen  war,  die 
Trigonometria  Britannica    von   Henry   Gellibraud'*)    (1597 — 1637), 


^)  Editio  secunda  aucta  per  Adrianum  Vlack  Goiidanum.  ^)  Phüosophical 
Magazine  vom  Mai  1873.  ^j  Glaisher  1.  c.  pag.  53.  *)  Kästner  III,  98— 
99.  —  Glaisher  I.  c.  pag.  G4.  —  Poggendorff  I,  870—871. 


746  74.  Kapitel. 

der  als  Theologe  begann,  dann  im  Mannesalter  der  Mathematik  sich 
zuwandte,  seit  1627  der  Nachfolger  Gunter's  in  der  astronomischen 
Professur  am  Gresham- College  war.  Gellibrand's  Mitwirkung  an  der 
Trigonometria  Britannica  war  keine  sehr  bedeutende.  Wenig  mehr 
als  die  Einleitung  rührt  von  ihm  her.  Die  Tafeln  sind  solche,  die 
er  bereits  fertig  berechnet  vorfand,  z.  B.  die  früher  erwähnte  loga- 
rithmisch-trigonometrische Tafel  von  Briggs,  welche  auf  der  Ein- 
theilung  eines  Winkelgrades  in  Centesimaltheile  sich  aufbaut. 

Und  wieder  in  demselben  Jahre  1633  brachte  die  gleiche  Druckerei 
ein  Tabellenwerk  unter  Vlack's  eigenem  Namen,  die  Trigonometria 
ariificialis  sive  magnus  Canon  triangulorum  logarithmicus.  Die  Loga- 
rithmen sind  zehnstellig,  die  Winkel,  für  deren  trigonometrische  Func- 
tionen man  dort  die  Logarithmen  findet,  wachsen  in  Zwischenräumen 
von  je  10".  Vlack  hat  durch  seine  rechnerischen  Bemühungen,  durch 
seine  buchhändlerische  Thätigkeit  entschieden  am  meisten  zur  Ver- 
allgemeinei-ung  des  Gebrauches  Briggischer  Logarithmen  beigetragen, 
und  dieses  Verdienst  wird  ihm  nicht  geschmälert,  wenn  auch  einige 
andere  Mathematiker  gleichzeitig,  aber  mit  geringerem  Eifer,  jeden- 
falls mit  geringerem  buchhändlerischem  Erfolge,  das  gleiche  Bestreben 
an  den  Tag  legten. 

Hier  wäre  etwa  zunächst  Edmund  Wingate^)  (1593 — 1656) 
zu  erwähnen,  ein  Londoner  Advocat,  der  aus  Liebhaberei  auch  mathe- 
matische Studien  betrieb.  Er  ging  1624  auf  einige  Jahre  nach  Paris 
und  veröffentlichte  dort  erst  eine  Nachahmung  der  Gunter'schen 
Rechenstäbe:  Constriiction ,  description  et  iisage  de  Ja  regle  de  Pro- 
portion, dann  1626  eine  Ärithmetique  logarithmique,  von  welcher  eine 
englische  Uebersetzung  1635  in  London  erschien. 

Denis  Henri on^),  Professor  der  Mathematik  in  Paris,  gab  dort 
1626  einen  Traicte  des  logarithmes  heraus,  die  erste  in  Frankreich 
gedruckte  eigentliche  Logarithmentafel. 

In  Deutschland  folgte  Johann  Faulhaber^),  welcher  in  seiner 
Ingenieurs- Schul  von  1630  lehrte,  wie  man  trigonometrische  Rech- 
nungen logarithmisch  zu  vollziehen  habe.  Die  Berufung  auf  Vlack 
und  Briggs,  welche  neben  Neper,  Pitiscus,  Bernegger  auf  dem  Titel- 
blatte erscheinen,  lässt  erkennen,  dass  hier  vermuthlich  zuerst  in 
Deutschland  die  Neper'schen  Logarithmen  verlassen  sind. 

Kehren  wir  zu  dem  Jahre  1633  zurück,  aus  welchem  wir  schon 
zwei  Tafel  werke  zu   erwähnen  hatten,   so  lernen  wir  es  als  das  Ver- 


')  Marie,   Histoire   des  sciences  mathematiques   et  physiques  III,  225 — 226. 
'j  Ebenda  III,  226.  —  Glaisher  1.  c.  pag.  106  und  151.  »)  Ebenda  pag.  99 

und  148. 


Rechnen.     Logarithmen.  747 

öffentlichungsjahr  noch  eines  drftten  bedeutsamen  Bandes  kennen. 
Nathaniel  Roe's^)  Tafeln  der  Briggischen  Logarithmen  der  Zahlen 
von  1  bis  100000  zeichnen  sich  nämlich  in  doppelter  Weise  aus. 
Erstens  ist  es  eine  durchweg  siebenstellige  Logarithmentafel  und  aus  der 
zehnstelligen  Vlack'schen  Tafel  durch  Weglassen  von  drei  Endziffern 
gebildet.  Von  der  etwaigen  Erhöhung  der  letztbleibenden  Ziffer  um 
eine  Einheit,  wenn  die  gestrichenen  Stellen  den  Werth  500  erreichen 
oder  übertreffen,  ist  dabei  nicht  die  Rede.  Zweitens  ist  ein  Schritt 
zur  übersichtlichen  und  raumsparenden  Anordnung  der  Tafel  voll- 
zogen. Die  Zahlen  stehen,  soweit  sie  von  den  Hundertern  aufwärts 
reichen,  an  der  Spitze  der  Logarithmencolumnen,  die  beiden  Rand- 
ziffern von  00  bis  99  sind  daneben  gedruckt.  Bei  den  Logarithmen 
sind  die  vier  Anfangsstellen  links,  also  die  einziffrige  Charakteristik 
und  die  drei  ersten,  Decimalen,  gleichfalls  abgesondert  gedruckt,  wäh- 
rend die  vier  letzten  Stellen  dann  bei  jeder  Zahl  voll  gedruckt  sich 
finden. 

Die  Vollendung  der  Raumersparniss  durch  Umwandlung  der  Lo- 
garithmentafel in  eine  Tafel  doppelten  Einganges,  als  welche  sie 
gegenwärtig  allzubekannt  ist,  als  dass  sie  einer  besonderen  Be- 
schreibung bedürfte,  vollzog  John  Newton^)  in  seiner  Trigono- 
metria  Britannica  von  16,58,  welche  nicht  mit  der  früher  erwähnten 
1633  in  Gouda  gedruckten  Trigonometria  Britannica  verwechselt  wer- 
den darf,  so  wenig  wie  der  Herausgeber  mit  dem  berühmten  Verfasser 
der  Philosophiae  naturalis  principia  mathematica.  Die  Newton'schen 
Logarithmen  sind  die  ersten  achtstelligen  gewesen. 

Eine  eigenthümliche  Methode  zur  Berechnung  Briggischer  Loga- 
rithmen  hat  Huygens    1666    der  Pariser  Academie    in    einer   ihrer 

ersten  Sitzungen  vorgelegt^).  Man  solle  y  10  und  y  10  durch  wieder- 
holte Quadratwurzelausziehung  berechnen.  Nach  Multiplication  mit 
d  =  10^^  zur  Entfernung  der  Decimalbrüche  wird  der  erstere  Werth 
a  =  10746078283213,    der    zweite    h  =  10366329284377.      Alsdann 

wird  '^-^-i^^^^-TT  +  40Z>  —  3a  —  3d  =  559661035184532  gebildet 
und  diese  Zahl  mit  a  —  h  vervielfacht.  Wieder  ganzzahlig  geschrieben 
erscheint  das  Product  p  =  4175509443116778.  Soll  dann  etwa 
log  2  gesucht  werden,  so  berechnet  man  wieder  unter  Weglassung 
der  Decimalkomma 

/■  =  '|/2  =  102189171486541  und  g  =  ^2  =  10108892860517. 


>}   Glaisher  1.  c.  pag.  l24  und  159.  -)   Ebenda  pag.  118  und  156. 

^)  Durch  J.  Bertrand  aus   den  bisher  ungedruckten   Protokollen  veröflFentlicht 
in  den  Comptes  rendus  de  VAcademie  des  Sciences  LXVI,  565 — 567  (1868). 


748  «'S.  Kapitel. 

Mittels  d,  f,  (j  bildet  mau  eine  Hilfsgrösse  gauz  ähuliclier  Art  wie 
vorher  mittels  d,  a,  h,  uämlich 

3d~l^^Ag  +  "^^^  ~  '^f~  ^'^  =  545869542830178 
i;nd  multiplicirt  sie  mit   a —  •     Man  erhält  das  Product 

q  =  1256953589206. 

Dann  ist  endlich  jKg  =  f?:log2  und  log  2  =  30102999567  natürüch 
immer  ohne  Decimalkomma.  Die  zehn  ersten  Stelleu  von  links  sind 
richtig,  die  elfte  ist  um  eine  Einheit  zu  hoch.  Einen  Beweis  dieses 
Verfahrens  scheint  Huygens  nicht  vorgelegt  zvi  haben,  wenigstens 
hat  ein  solcher  nicht  unter  den  Protokollen  der  Akademie  aufs^efunden 
werden  können. 


75.  Kapitel. 

Erftndiiii,:?  von  .Methoden.    Wahrsclieinlichkeitsreclinnng. 
Kettenbrüche.    Aufgabensammlungen. 

Nach  der  Entwickelungsgeschichte  der  Lehre  von  den  Loga- 
rithmen kündigten  wir  (S.  719)  ein  Eingehen  auf  Untersuchungen 
an,  welche  die  Vorläufer  der  späteren  algebi-ai scheu  Analysis  genannt 
zu  werden  verdienen. 

Insofern  die  sogenannten  Wortrechnungen,  denen  Michael 
Stifel,  wie  wir  uns  erinnern,  nur  zuviel  Zeit  und  Mühe  widmete,  statt 
der  Buchstaben  ihnen  entsprechende  Zahlen  aus  der  Reihe  der  natür- 
lichen Zahlenfolge  oder  aus  der  der  Dreieckszahlen  einsetzten,  gaben 
sie  Veranlassung,  mit  diesen  Dreieckszahlen  sich  näher  zu  beschäf- 
tigen, aber  auch  sonstige  Zahlenreihen  zu  untersuchen.  Die  Wort- 
rechner erwarben  sich  dadurch  wenigstens  mittelbar  einige  Verdienste. 

Unter  ihnen  ragt  nächst  Stifel  Johann  Faulhaber ^)  von  Ulm 
weit  hervor  und  nach  ihm  sein  Freund  und  Mitarbeiter  Johann 
Kemmelin.  Von  1612  bis  1619  gaben  diese  Beiden  Schriften  heraus, 
in  welchen  die  Lehre  von  den  arithmetischen  Reihen  wesentliche 
Fördenmg  fand.  Faulhaber  gab  Summen  formein  für  die  Poten- 
zen der  aufeinanderfolgenden  Zahlen  der  natürlichen  Zah- 
lenreihe bis  zur  Summe  der  elften  Potenzen  einschliesslich. 
Er  sagt  zwar  nirgend,  wie  er  zu  diesen  Formeln  gelangte,  es  kann 
aber  kaum   ein   Zweifel  sein,    dass    er    sich   fortgesetzte    Differenzen- 


Kästner  ni,  29—33  und  114—124. 


p]rfiiuUmg  vou  Methoden.    Wahrsclieinliohkeitsreclin.    Kettenbrüclie  u.  s.  w.    749 

reihen  bildete,  dass  er  so  den  Begriff  der  arithmetischen  Reihe 
höherer  Ordnung  gewann,  dass  er  von  ihm  aus  empirisch  die 
Summenformel  sich  verschaffte  und  mit  dem  Zutreffen  in  einigen 
wenigen  Fällen  statt  jeden  Beweises  sich  begnügte.  Es  war  also  eine 
ungenügende  Induction,  auf  welche  Faulliaber  sich  verliess,  und  nur 
die  G^uld  und  der  rechnerische  Scharfsinn  sind  zu  rühmen,  welche 
auf  so  wenig  gesichertem  Boden  sich  mit  Glück  zu  bewegen  ver- 
mochten. 

"  Die  Zeit  war  gekommen,  in  welcher  die  ungenügende  Induction 
der  sogenannten  vollständigen  Induction  den  Platz  räumen 
musste,  oder  anders  ausgesprochen:  die  Erfindung  des  Beweises 
von  n  auf  n  -\-  1  stand  bevor,  und  der  ihn  lieferte,  war  Blaise 
Pascal.  Die  Zeit  der  Erfindung  genau  anzugeben  ist  nicht  möglich, 
jedenfalls  fiel  sie  vor  1654.  In  dem  Traite  da  tricmgle  arithmetique, 
welcher  1662  bei  Pascal's  Tode  in  gedrucktem  Zustande  sich  vorfand 
und  dann  1665  in  den  Buchhandel  kam,  auf  welchen  aber  in  Briefen 
zwischen  Pascal  und  Fermat  aus  dem  Sommer  1654  deutlich  an- 
gespielt ist,  findet  sich  eine  12.  Folgerung,  Consequence  XII ^),  zu 
deren  Beweis  Pascal  sich  zweier  Hilfssätze  bedient.  Erstlich  sei  die 
von  ihm  ausgesprochene  Wahrheit  in  der  zweiten  Reihe  von  Zahlen 
augenscheinlich  erfüllt,  und  dauu  behauptet  der  zweite  Hilfssatz  que 
si  cette  proporüon  se  trouve  dans  tine  hase  quelconqne,  eile  se  trouvera 
necessairement  dans  la  hase  suivante.  Die  Vereinigung  der  beiden 
Wahrheiten,  dass  was  in  einem  Falle  als  richtig  sich  erweist,  im 
nächsten  Falle  auch  richtig  sein  muss  mit  der  durch  Augenschein 
erwiesenen  Richtigkeit  in  einem  bestimmten  Falle,  bildet  aber  die 
Methode  der  vollständigen  Induction,  eine  der  fruchtbarsten  der  ge- 
sammten  Mathematik. 

Noch  28  Jahre  früher  als  die  Methode  der  vollständigen  Induction 
war  1637  eine  andere  Methode  von  grösster  Fruchtbarkeit  bekannt 
gemacht  worden:  die  Methode  der  unbestimmten  Coefficien- 
ten.  Ihr  Erfinder  war  Descartes.  In  dessen  Geometrie  von  1637 
findet  sich  die  Beschreibung  der  Methode,  welche  in  der  mehr  ver- 
breiteten lateinischen  Ausgabe'^)  folgenden  Wortlaut  besitzt:  Attamen 
vos  monere  volo,  qiiod  inventio  liaec  suppouendi  duas  eiusdem  formae 
aequationes  ad  comparandum  separatim  omnes  terminos  unius  cum 
Omnibus  terminis  alterius ,  ut  inde  ex  una  sola  nascantur  plures 
aliae,  infinitis  aliis  Problematis  inservire  possit,  neque  una  ex  minimis 
metJiodis,  qua  utor  existatj  d.  h.:  Im  Vorbeigehen  will  ich  einschärfen, 


\)  Pascal  III,  248.  ^)  Geometria  a  Benato  Descartes  anno  1637  gaUice 

eclita  (ed.  Franciscus  van  Schooten.     Amsterdam  1659)  I,  49. 


750  75.  Kapitel. 

dass  die  Erfindung  der  Annahme  zweier  Ausdrücke  gleicher  Gestalt, 
deren  Glieder  einzeln  verglichen  werden  und  so  eine  Gleichung  mehrere 
andere  erzeugen  lassen,  bei  unendlich  vielen  anderen  Aufgaben  dienen 
kann,  ja  dass  sie  keineswegs  die  geringste  unter  den  von  mir  be- 
nutzten Methoden  ist.  Wenn  irgendwo,  so  war  hier  Descartes'  selbst- 
bewusster  Stolz  vollkommen  an  seinem  Platze,  und  man  kann  fast  so 
weit  gehen,  eben  dieses  volle  Bewusstsein  von  der  Wichtigkeit  der 
neuen  Methode  ihrer  Erfindung  an  die  Seite  zu  stellen. 

Die  Dinge,  bei  welchen  Descartes  seine  Methode  in  Anwendung 
brachte,  gehören  erst  einem  etwas  später  von  uns  zu  erörternden 
Kapitel  der  mathematischen  Wissenschaften  an.  Hier  musste  es  ge- 
nügen, ihren  ganz  abgesehen  von  etwaigen  Ergebnissen  vorhandenen 
analytischen  Charakter  hervortreten  zu  lassen.  Anders  verhält  es 
sich  mit  Pascal's  vollständiger  Induction.  Die  ganze  Abhandlung 
vom  arithmetischen  Dreiecke  gehört  nebst  anderen  sich  ihr  unmittel- 
bar anschliessenden  Untersuchungen  ^)  ihrem  Inhalte  nach  hierher  und 
muss  besprochen  werden. 

Das  arithmetische  Dreieck  erinnert  durch  äussere  Gestalt 
wie  durch  die  zu  erreichenden  Zwecke  an  die  Art,  wie  Stifel  seine 
Binomialcoefficienten  ordnet,  ohne  jedoch  irgend  damit  verwechselt 
werden  zu  können.  Schon  darin,  dass  die  Zeilenlänge  von  oben  nach 
unten  gerechnet  bei  Stifel  zunimmt,  bei  Pascal  abnimmt,  ist  ein 
wesentlicher  Unterschied  zu  erkennen,  und  ebenso  darin,  dass  bei 
Pascal  eine  erste  Horizontalzeile  sowie  eine  erste  Kolumne  aus  lauter 
Einsern  gebildet  vorhanden  ist,  welche  bei  Stifel  fehlen.  Es  wäre 
also  im  höchsten  Grade  ungerecht,  eine  Abhängigkeit  Pascal's  von 
Stifel  zu  vermuthen.  Selbst  wenn  Pascal  die  Arithmetica  integra  ge- 
kannt hat,  was  wir  noch  sehr  bezweifeln,  war  das  arithmetische 
Dreieck  durchaus  sein  geistiges  Eigenthum.  Die  Entstehung  ist  fol- 
gende: Eine  Anzahl  von  Einsem,  etwa  10  an  der  Zahl,  füllen  eben- 
soviele  in  einer  ersten  Horizontalzeile  neben  einander  befindliche 
Zellen.  Eine  zweite  Horizontalzeile  enthält  eine  Zelle  weniger,  also 
deren  9,  und  das  geht  so  weiter  bis  zur  zehnten  einzelligen  Hori- 
zontalzeile. Jede  untere  Horizontalzeile  füllt  ihre  Zellen  mit  Zahlen, 
die  mit  1  beginnen  und  nach  dem  Gesetze  fortschreiten,  dass  jede 
Zelle  die  Summe  der  ihr  links  stehenden  und  der  genau  senkrecht 
über  ihr  stehenden  Zahl  enthält. 


1)  Pascal  lU,  -243—3: 


Erfindung  von  Methoden.    Walirscheinliclikeitsrechn.    Kettenbrüche  u.  s.  w.    751 


// 

/l 

/  1    . 

/l 

/    1 

/ 
/  1 

/■   1 

/l 

/   1 

A 

/l 

/  2 

/ 

/ 

/ö 

/6 

/    7 

/» 

/   9 

/ 

/  ^ 

/    3 

/e 

/lO 

/» 

/  21 

% 

/  36 

/    1 

/    4 

/lo 

/20 

/35 

/ö6 

/84 

- 

// 

/    5 

/. 

/35 

/70 

/126 

X 

X 

/21 

/56 

^26 

// 

/    7 

Ä 

/84 

/ 

/    8 

/ 

/  36 

/4 

X 

Die  Ä;***  Zelle  der  r"^"  Zeile  mag  durch  (r)x,  die  darüber  befindliche 
also  durch  (r — 1)^.,  die  links  stehende  durch  rr)i_i  bezeichnet  werden, 
so  ist  immer  (>■)/[■  =  (>'  —  1  )i. -|- (O-^  —  1  •  ■'^^^  entstandene  Zahlendreieck 
besitzt  ebensoviele  Verticalkolumnen  als  Horizontalzeilen,  und  die  r*" 
Kolumne  stimmt  genau  mit  der  r*^°  Zeile  überein.  Ihr  U^^  Feld  ist  aber 
die  r'^  Zelle  der  Z:*'"'  Zeile,  also  das  weitere  Gesetz  vorhanden  (rj^-  =  (A'),.. 
Ausser  den  Zeilen  und  Kolumnen,  welchen  Pascal  die  Namen  beilegt 
cellules  d\in  nicme  rang  imrallHe  und  cellules  d'un  nwme  rang  perpen- 
dkidaire,  unterscheidet  er  noch  als  cellules  d'une  meme  hase  diejenigen, 
welche  von  einer  gemeinsamen  Geraden  als  Diagonale  durchschnitten 
werden.  Sie  nehmen  von  links  oben  nach  rechts  unten  je  um  eine 
Zelle  zu,  und  jede  enthält,  wie  der  Augenschein  lehrt,  die  Combina- 
tionszahlen  von  Elementen  in  einer  um  die  Einheit  anwachsenden 
Anzahl  zu  allen  bei  dieser  Seitenzahl  möglichen  Classen.  Eine  Be- 
zeichnung ähnlich  der  von  uns  zum  Ausspruch  einiger  Gesetze  in 
Anwendung  genommenen  kennt  Pascal  nicht,  erst  Leibniz  hat 
Buchstaben  mit  Stellenzeigern  in  die  Mathematik  einzu- 
führen gewusst.  Die  ausgesprochenen  Sätze  dagegen  kennt  er. 
Die  Bildungsregel  heisst:  Le  nombre  de  cJiaque  cellule  est  egal  d  celui 
de  la  cellule  qiii  la  precede  dans  son  rang  perpendiculaire  plus  ä  celui 
de  la  cellule  qui  la  precede  dans  son  rang  parallele^).  Dass  (r)^.  =  (Z;),. 
lautet:  En  taut  triangle  aritlimetiqiie  chaque  cellide  est  egale  ä  sa  reci- 
1)  Pascal  III,  245. 


752  75.  Kapitel. 

proque  ^).  Die  Uebereiostimmung  der  ganzen  Zeilen  nnd  Kolumnen 
spricht  Pascal  mit  den  Worten  aus:  En  tout  triangle  arithmetique  un 
rang  parallele  et  nn  perpendiculaire  qui  ont  im  meme  exposant  sont 
composes  de  cellules  toutes  pareiUes  ks  wies  aux  autres^).  Jede  Basis 
besitzt  ferner  nach  Pascal  die  doppelte  Summe  der  ihr  vorhergehen- 
den^). In  der  fünften  Basis  z.  B.  ist  in  Folge  des  Bildungsgesetzes 
des  Dreiecks  1  =  1,  4=1  +  3,  6  =  3  +  3,  4  =  3  +  1,  1  =  1, 
also  1  +  4  +  (3  +  4  +  1  =  2(1  +  3  +  3  +  1).  Da  nun  die  Summe 
der  ersten  Basis  1  ist,  so  wird  die  der  zweiten  2,  die  der  dritten  4, 
und  jede  weitere  Summe  einer  Basis  ein  weiteres  Glied  der  mit  1 
beginnenden  geometrischen  Reihe  1,  2,  4,...  sein,  nämlich  das  so- 
vielte,  als  die  Reihennummer  der  Basis  ist^).  Die  Bestimmung  einer 
einzelnen  Zellenzahl  (r)it  wird  nach  folgender  Vorschrift  vorgenom- 
men^). Man  bildet  das  Product  der  Zahlen  1  •  2  •  ■  ■  (Je  —  1),  ferner 
das  der  Zahlen  r  •  {r  -\-  1)  •  •  ■  (/•  -j-  /.•  —  2),  so  ist  (r)^.  der  Quotient 
der  Division  des  zweiten  Productes  durch  das  erste,  z.  B. 

/o\  3  ■  4  •  5  •  6  ^  ~ 

Die  in  der  Eckzelle  links  oben  befindliche  Zahl,  gewöhnlich  eine  1, 
heisst  die  Erzeugungszahl,  gmerateur,  des  Dreiecks*').  Ihr  gleich 
müssen  alle  Zahlen  der  ersten  Zeile  und  der  ersten  Kolumne  gewählt 
werden,  damit  auch  bei  diesen  (rj^.  ^(r — 1);;.-|- (r)A._i  sei,  und  nach 
demselben  Gesetze  füllen  alsdann  die  übrigen  Zellen  sich  an.  Die 
Sätze,  welche  wir  ausgesprochen  haben,  ändern  sich  naturgemäss  in 
einigen  Beziehungen,  wenn  eine  andere  Zahl  als  1  zur  Erzeugungszahl 
genommen  wird.  Das  Einheitsdreieck,  wie  wir  jenes  kurz  nennen 
wollen,  dessen  Erzeuguugszahl  1  heisst,  hat  vielfache  Anwendung. 
Erstlich  sind  seine  Zeilen  und  ebenso  die  denselben  gleichen  Kolumnen 
mit  lauter  arithmetischen  Reihen  steigender  Ordnung  besetzt,  welche 
also  einfach  daraus  abgeschrieben  werden  können.  Die  zweite  An- 
wendung bildet  die  Auffindung  der  Combinationszahlen'), 
d.  h.  der  Zahlen,  welche  angeben,  auf  wie  viele  verschiedene  Arten 
man  eine  gegebene  Anzahl  von  Elementen  aus  einer  ebenfalls  ge- 
gebenen nicht  kleineren  Anzahl  von  Elementen  auswählen  kann.  Der 
moderne  Sprachgebrauch  sagt:  n  Elemente  sollen  zur  Klasse  Ic  com- 
binirt  werden;  bei  Pascal  heisst  es,  man  suche  la  muUitude  des  coni- 
hinaisons  des  Je  dans  n.  Eines  Zeichens  bedient  sich  Pascal  nicht  für 
die  Combinationszahlen,  dagegen  kannte  er  deren  meiste  Eigenschaften. 


'}  Pascal  in,  246  Consequence  V.         -)  Ebenda  III,  247  Consequenee  VI. 
")  Ebenda  IQ,  247  Consequence  VII.  '')  dont  Vexposant  est  le  meme  que  celiii 

de  la  lose.        ^)  Pascal  III,  251  Probleme.        ^)  Ebenda  m,  245.         ';  Ebenda 
III,  253 — 257:  Usage  du  triangle  arithmetique  ponr  les  combinaisons. 


Erfindung  von  Metboden.    Wahi-scheinliclikeitsrechn.    Kettenbniche  u.  s.  w.     753 

Schreiben  wir  (  j  für  die  Combinationszahl  von  7i  Elementen  zur 
Klasse  ]i,  so  weiss  Pascal,  dass  (  )  =  1,  dass  (.)  =  n,  dass 

g)+u")-g::)-^ 

Pascal  unterscheidet  ferner  ein  1.,  2.,  .  .  «*^'  Dreieck,  je  nachdem  die 
erste  Zeile  und  die  erste  Kolumne  aus  1,  2, .  .  n  Zellen  bestehen.    Er 

zeigt  alsdann,  dass  LI  die  Summe  sämmtlicher  Zahlen  der  Z.**^"  Zeile, 

oder,  was  auf  das  Gleiche  herauskommt,  die  (k  -\-  1)*'^  Zelle  der 
(n  -«f-  1)*®"  Basis,  wenn  dieselbe  von  links  unten  nach  rechts  oben  in 
jener  Basis  abgezählt  ist. 

Pascal  schickte  seine  Abhandlung  über  das  arithmetische  Dreieck 
im  August  1654  nach  Toulouse  an  Fermat,  und  mit  dieser  Sendung 
kreuzte  sich^)  eine  solche  von  Fermat  an  Pascal  fast  gleichen  In- 
haltes, nämlich  über  figurirte  Zahlen.  Fermat  befasste  sich  aber  mit 
diesem  Gegenstande  sicherlich  schon  1636,  wo  er  in  einem  Briefe  an 
Roberval  vom  16.  December  von  einer  Methode  der  Summirung 
beliebiger  Potenzen  der  ganzen  Zahlen  spricht-),  mithin  von  der 
wissenschaftlichen  Vollendung  dessen,  was  Faulhaber  wieder  etwa 
20  Jahre  früher  angebahnt  hatte  (S.  748).  Von  dessen  Arbeiten  hatte 
allerdings  Fermat  ganz  gewiss  keine  Kenntniss.  Fermat  sagte  in 
jenem  Briefe  an  Roberval,  er  werde  ihm  die  aufgeschriebene  Er- 
findung sammt  Beweis  vorlegen,  sobald  er  es  wünsche^);  erfüllt  hat 
er  die  Zusage  nie. 

Mit  dem  Traite  du  triangle  arithmetique  vereinigt  kam  auch  der 
Traue  des  ardres  nume'riques^)  heraus,  welcher  gewissermassen  als  Er- 
gänzung des  ersteren  angesehen  werden  kann.  Manche  von  den  Sätzen 
jener  Abhandlung  kehren  hier  in  veränderter  Form  wieder.  Der 
XL  Satz^),  von  welchem  Pascal  ausdrücklich  berichtet,  Fermat  habe 
ihn  gleichzeitig  und  ganz  unabhängig  von  seinem  Gedankengauge 
erkannt,  ist  folgender:  Eine  Zahl  beliebiger  Ordnung  mit  der  voraus- 
gehenden Wurzel  vervielfacht  und  getheilt  durch  den  Exponenten 
ihrer  Ordnung  giebt  zum  Quotienten  die  aus  dieser  Wurzel  hervor- 
gehende Zahl  der  folgenden  Ordnung.     In  Zeichen  geschrieben  heisst 

der  Satz:  L  l^=  (n  —  k)  Q  :  (/^  +  1).  Unzweifelhaft  haben  Pas- 
cal und  Fermat  die  grosse  Bedeutung  dieses  Satzes  für  die  Lehre 
von  den  figurirten  Zahlen  eingesehen.    Ob  sie  sich  ebenso  klar  seiner 


^)  Pascal  III,  231.  ^)  Varia  Opera  Petri  de  Fermat  pag.  148.  ^)  J'en 
ecriray  cepenclant  Vinvention  et  clemonstration  que  voiis  verres  lorsqu'il  vous 
plairra.         ^)  Pascal  III,  268—271.         ^)  Ebenda  III,  271. 

Caxtor  ,  Geschichte  der  Mathem.    II.    2.  Aufl.  48 


754  75.  Kapitel. 

Wichtigkeit   für   die   Binomialentwicklung   bewusst   waren,   lässt   sich 
aus  dem  Wortlaute  nicht  entnehmen,  auch  nicht  ob  sie  die  indepen- 

deute  Formel  L]  = ~ — 2        7- —    —    jemals    kannten   oder   zu 

kennen  suchten. 

Eine  besonders  bedeutsame  Anwendung  des  arithmetischen  Drei- 
ecks ist  die  auf  die  Wahrscheinlichkeitsrechnung.  Wir  haben 
(S.  678)  als  wir  Pascal  zum  ersten  Male  nannten,  nur  in  nothdürf- 
tigster  Weise  seine  Lebensgeschichte  berührt.  Im  Jahre  1649  kehrte 
Pascal  aus  Rouen,  wo  er  eine  Zeit  lang  Beamtendienste  leistete,  nach 
Paris  zurück.  Neben  dem  Verkehre  mit  den  hervorragendsten  Mathe- 
matikern, denen  er  seit  seiner  Kindheit  nahe  stand,  fesselte  ihn  auch 
das  wilde  und  nicht  selten  wüste  Leben  der  Hauptstadt,  und  er 
stürzte  sich  in  dasselbe  mit  der  jugendlichen  Gier  seiner  26  Jahre, 
gehörte  auch  bis  etwa  zum  September  1654  den  lockeren  Kreisen 
an,  in  denen  er  sich  wohler  fühlte,  als  es  seiner  Gesundheit  und 
seiner  Börse  zuträglich  war.  Zu  seinen  damaligen  nahen  Bekannten 
gehörte  ein  Spieler  De  Mere,  von  dessen  Verkehr  mit  Pascal  einige 
Briefe  erhalten  sind.  In  einem  Briefe  meint  er,  Pascal  habe  ihm 
zwar  gesagt,  er  halte  nicht  mehr  viel  von  der  Mathematik,  aber,  so 
sehr  er  sich  dieser  Sinnesänderung  freue,  glaube  er  nicht  vollständig 
daran,  weil  in  mancherlei  Trugschlüssen,  die  Jener  sich  zu  Schulden 
kommen  lasse,  noch  immer  der  schädliche  Einfluss  mathematischen 
Denkens  zu  Tage  trete  ^).  Eben  dieser  De  Mere  stellte  Pascal  gegen 
Ende  jenes  lockeren  Lebens  zwei  Aufgaben  der  Wahrscheinlichkeits- 
lehre: Die  eine  fragte,  ob  es  von  Vortheil  sei  zu  wetten,  dass  man 
in  einer  gewissen  Anzahl  von  Würfen  mit  zwei  Würfeln  den  Sechser- 
pasch, sonnez,  werfen  werde;  die  zweite  verlangte  zu  wissen,  wie  man 
theilen  solle,  les  partis'-),  wenn  man  ein  auf  eine  gewisse  Anzahl  ge- 
wonnener Einzelspiele  gerichtetes  Spiel  zu  unterbrechen  gezwungen  sei, 
bevor  es  zur  Entscheidung  kam.  Die  zweite  Aufgabe  fesselte  Pascal 
ganz  besonders,  und  er  erfand  eine  Methode,  methode  des  partis,  zu 
ihrer  Lösung.  Man  kann  ihren  Kern  darin  finden,  dass  immer  die 
Frage  nach  dem  Betrage  aufgeworfen  wird,  über  welchen 
eigentlich    ein    bestimmtes    Einzelspiel     die    Entscheidung 


^)  Der  Brief  ist  zum  grossen  Theile  abgedruckt  in  Bayle,  Dictionnaire 
Jiistorique  et  critique.  'S.  Ausgabe.  Rotterdam  1715,  Bd.  III,  S.  917  in  den  An- 
merkungen zum  Artikel  Zenon.  Für  die  Geschichte  der  Wahrscheinlichkeits- 
rechnung überhaupt  benutzten  wir  häufig  das  sehr  umfangreiche  und  zuver- 
lässige Werk  von  J.  Todhunter,  A  history  of  the  mathematical  theory  of  pro- 
hability  from  the  time  of  Pascal  to  that  of  Laplace.  Cambridge  and  London  18G5. 
*)  Le  parti  ==  die  Theiluug  ist  nicht  zu  verwechseln  mit  Ja  partie  =  das  Ein- 
zelspiel, die  Partie. 


Erfindung  von  Methoden.    Wahrscheinlichkeitsrechn.     Kettenbrüche  u.  s.  w.     755 

giebt^).  Gesetzt,  das  Spiel  werde  durch  dreimaligen  Gewinn  ent- 
schieden und  die  Theilung  solle  vollzogen  werden,  wenn  ein  Spieler 
schon  einmal,  der  andere  noch  gar  nicht  gewonnen  hat.  Pascal  sagt 
dann  so:  Hätte  der  erste  Spieler  Ä  2  Gewinne,  der  zweite  B  1  Gewinn, 
und  sie  spielen  weiter,  so  kann  zweierlei  sich  ereignen:  Ä  gewinnt  und 
erhält  den  ganzen  Einsatz,  oder  B  gewinnt  und  steht  dann  mit  Ä  gleich- 
auf,  so  dass  jedem  die  Hälfte  des  Einsatzes  zukommt.  A  erhält  also 
unter  allen  Umständen  die  eine  Hälfte  des  Einsatzes,  spielt  daher  nur 
um  die  andere  Hälfte.  Diese  letztere  Hälfte  ist,  wenn  das  Spiel  unter- 
bleibt, zwischen  Ä  und  B  hälftig  zu  th eilen,  d.  h.  wenn  der  Gesammt- 

einsatz  1  beträgt,  hat  A  ~-  zu  erhalten  und  B  nur  -^  ■    Nun  stehe  zwei- 

tens  Ä  mit  2  Gewinnen  gegen  B  ohne  Gewinn  oder  mit  0  Gewinnen. 
Fällt  ein  neu  zu  spielendes  Spiel  zu  Gunsten  von  Ä  aus,  so  hat  er  ge- 
wonnen  und   zieht   den   ganzen  Einsatz;    fällt   es   zu  Gunsten   von  B 

aus,  so  ist  der  vorige  Fall  hergestellt,  und  A  hat  ^  zu  fordern.  So 
viel  bekommt  er  also  mindestens  und  spielt  nur  um  —  •    Dieses  letzte 

4 

Viertel  ist,  wenn  das  Spiel  unterbleibt,  zwischen  A  und  B  hälftig  zu 

7  1 

theilen,  d.  h.  A  hat  -~  und  B  -^r  zu  erhalten.  Endlich  stehe  das  Spiel 
auf  1  gegen  0,  wonach  eigentlich  gefragt  wurde.  Gewinnt  A  in  einem 
weiter  angenommeneu  Spiele,  so  ist  der  zuletzt  erörterte  Zustand  ge- 
schaffen, und  A  bekommt  -— •  Gewinnt  dagegen  B,  so  stehen  die 
beiden  Spieler  gleichauf,  und  jeder  erhält  die  Hälfte.  A  hat  also 
diese  Hälfte  unter  allen  Umständen  zu  fordern  und  würde  ein  etwaiges 
Spiel  nur  um  — T  ^^  TT  spielen,  wovon  ihm  bei  Unterbleiben  des 

3 
Spieles  die  Hälfte  mit        zukommt.    Die  Theilung  muss  desshalb  dem 

A  — ,  dem  B  —  zusprechen. 

Schon  vor  der  Erfindung  dieser  sinnreichen  Methode  hatte  Pascal, 
einer  Aeusserung  in  einem  Briefe  an  Fermat  vom  29.  Juli  1654  zu- 
folge'), daran  gedacht,  durch  Bildung  von  Combinationsformen 
die  Aufgabe  zu  erledigen,  wobei  ihm  aber  die  Umständlichkeit  dieser 
Arbeit  abschreckend  erschien.  Fermat  fiel  auf  den  gleichen  Gedanken 
und  muss  ihn  in  einem  verloren  gegangenen  Schreiben  an  Pascal 
auseinandergesetzt  haben,  wie  aus  der  Antwort  Pascal's  vom  24.  August 
zu  ersehen  ist^).     Aus  einem  anderen  Briefe  Pascal's  an  Fermat  vom 


^)  Pascal  III,  221—225.  ^)  Ebenda  III,  221:  Votre  methode  est  tres  süre, 
et  c'est  la  premiere  qui  m'est  venue  ä  la  pensee  dans  cette  recherche.  Mais  par- 
ceque  la  peine  des  eombinaisons  est  excessive,  j'en  ai  trouve  un  abrege.  ^)  Ebenda 
III,  226—231. 

48* 


756  75.  Kapitel. 

27.  October  1654  erfahrea  wir  aber  auch,  dass,  was  Pascal  als  com- 
binatorische  Methode  sich  dachte,  von  der  Fermat's  durchaus  ver- 
schieden war^).  Die  Fermat'sche  Methode  ist  für  die  oben  aus- 
einandergesetzte Aufgabe  folgende:  Wird  auf  3  Gewinnspiele  ge- 
spielt, und  A  steht  auf  1,  JB  auf  0,  so  ist  in  spätestens  4  Einzelspielen 
das  Spiel  zu  Ende.  Bezeichnet  man  nun  jedes  durch  einen  der  Spieler 
gewonnene  Einzelspiel  durch  den  seinem  Namen  entsprechenden 
kleinen  Buchstaben,  so  giebt  es  16  Möglichkeiten:  aaaa,  aaab, 
aaha,  aahh,  ahaa,  ahal),  ahha,  ahhh,  haaa,  haah,  haha, 
hahh,  hhaa,  hhah,  hhha,  hhhh.  Davon  sind  die  8.,  12.,  14.,  15., 
16.,  also  insgesammt  deren  5  dem  JB  günstig  und  die  übrigen  11  dem 
A.  Fermat  dehnte  diese  seine  Methode  auch  auf  mehr  als  nur  zwei 
Spieler  aus,  blieb  aber  damit  Pascal  unverständlich,  bis  er  ihm  am 
25.  September  die  Sache  klarer  auseinanderlegte^),  worauf  Pascal's 
erwähnte  volle  Zustimmung  vom  27.  October  erfolgte. 

Pascal  hörte  aber  desshalb  keineswegs  auf,  die  ihm  eigenthüm- 
liche  Methode  zu  vervollkommnen,  und  bei  ihrer  Anwendung  sich  des 
arithmetischen  Dreiecks  bedienen  zu  können,  erschien  ihm  mit  Recht 
bemei'kenswerth^).  Man  müsse,  sagt  Pascal,  beachten,  wie  viele  Ge- 
winnspiele jedem  der  beiden  Spieler,  zwischen  denen  die  Theilung 
erfolgen  soll,  noch  fehlen,  um  überhaupt  gewonnen  zu  haben.  Die 
beiden  Zahlen  addirt  man  zusammen  und  sucht  die  sovielte  Basis 
im  arithmetischen  Dreiecke,  als  jene  Summe  als  Ordnungszahl  be- 
trachtet angiebt.  Addirt  man  die  Zellenzahlen  von  sovielen  von 
unten,  beziehungsweise  von  oben  an  gezählten  Zellen  dieser  Basis, 
als  durch  die  jedem  Spieler  fehlende  Anzahl  von  Gewinnspielen  vor- 
geschrieben wird,  so  liefern  die  beiden  Summen  die  Verhältnisszahlen, 
nach  welchen  die  Theilung  in  umgekehrter  Reihenfolge  der  Spieler 
vor  sich  zu  gehen  hat.  Fehlen  beispielsweise  dem  ersten  Spieler  2, 
dem  zweiten  4  Gewinnspiele,  so  muss  man  zur  2  -}-  4  =  6.  Basis  über- 
gehen, und  die  Summe  von  4  Zellen  1  -j-  ^  -f-  10  -|-  10  =  26  nebst 
der  von  2  Zellen  1  -}-  5  =  6  geben  das  Verhältniss  an,  in  welchem 
der  erste,  beziehungsweise  der  zweite  Spieler  am  Gesammteinsatze 
betheiligt  ist.  Der  Beweis  wird  nach  der  Methode  der  vollständigen 
Induction  geliefert^).  Fehlten  dem  einen  Spieler  2,  dem  anderen 
3  Gewinnspiele  und  man  müsste  zur  5.  Basis  übergehen,  so  solle  man 


^)  Pascal  III,  23.Ö:  J'admire  votre  rnethode  pour  les  partis,  d'autant  mieux 
que  je  l'entends  fort  bien;  eile  est  entierement  votre,  et  n'a  rien  de  commiin  avec 
la  mienne.  *)  Ebenda  EI,  232—234.  ')  Ebenda  III,  257—266:    Usage  du 

ti-iangle  arithmetique  pour  determiner  les  partis  qu'on  doit  faire  entre  deux  joueurs 
qui  jouent  en  plusieurs  parties.  Veigl.  besonders  pag.  261  Probleme  I.  *)  Ebenda 
III,  263. 


Erfiudimg  von  Methoden.    Wahrsclieinliehkeitsrechn.    Kettenbrüche  u.  s.  w.     757 

tlie  Voraussetzung  machen,  es  werde  ein  weiteres  Spiel  gespielt,  wel- 
ches entweder  A  oder  B  gewinnt.     Dann   fehlen   entweder  dem  Ä  1, 
dem  B  3  oder  dem  Ä  2,  dem  B  2  Gewiunspiele.     Da 
1+3=2+2=4 

ist,  so  hat  man  es  jetzt  mit  einer  um   1  niedrigeren  Anzahl  von  beiden 
Spielern  zusammen  fehlenden  Gewinnspielen  zu  thun,  für  welche  die 
Methode  schon  als  bewiesen  gilt.     In  den  beiden  angeführten  Fällen 
haben  also  die  beiden  Spieler  folgende  Ansprüche: 
A  fordert  1  +  3  +  3  und  B  fordert  1 , 
A  fordert  1  +  3  und  B  fordert  1  +  3. 

Die  beiden  Möglichkeiten  vereinigen  sich  so,  dass 

A  fordert  1  +  (1  +  3)  +  (3  +  3)   und  B  fordert  1  +  (1  +  3). 

Das  sind  aber  gerade  die  dem  A,  beziehungsweise  dem  B  durch  die 
Regel  zugewiesenen  Zellenzahlen  der  5.  Basis,  d.  h.  die  Regel  gilt 
für  n  -\-  1 ,  wenn  sie  für  n  gilt.  Ihre  Geltung  bei  n  =  2  ist  aber 
augenscheinlich,  da  alsdann  nur  zwei  Fälle  denkbar  sind:  entweder 
einem  Spieler  fehlen  2,  dem   anderen  0   Gewinnspiele,    dann  theilen 

sie  nach  den  Brüchen  --^  und  y;  oder  jedem  Spieler  fehlt  1  Ge- 
winnspiel, dann  theilen  sie  nach  den  Brüchen  -_-  und  -—  •     Beides  ist 

aber  in  Uebereinstimmung  mit  der  Regel,  die  dadurch  allgemein  be- 
wiesen erscheint.  Die  grosse  Eleganz  dieser  Untersuchung  ist  be- 
strickend, und  nur  der  Vorzug  erhebt  Fermat's  combinatorische  Methode 
über  die  Pascal's,  dass  sie  noch  anwendbar  bleibt,  wo  jene  versagt, 
nämlich  wenn  es  um  mehr  als  zwei  Spieler  sich  handelt, 

Pascal  hielt  mit  diesen  Untersuchungen  nicht  zurück.  Wie  er 
gegen  Fermat  rückhaltslos  sich  äusserte,  theilte  er  auch  den  Pariser 
Freunden,  besonders  Roberval,  die  beiderseitigen  Ergebnisse  mit^), 
ohne  aber  Verständniss  oder  gar  Anerkennung  zu  finden.  Einige 
Einwürfe  mehr  philosophischer  als  mathematischer  Natur  waren  die 
ganze  Frucht  der  Besprechung.  Gleichwohl  muss  die  Kunde  von 
den  eigenartigen,  ganz  neue  Ergebnisse  zu  Tage  fördernden  Unter- 
suchungen sich  ziemlich  herumgesprochen  haben ,  wenn  auch  der 
Traite  du  Triangle  erst  1665  in  den  Buchhandel  kam  (S.  749),  der 
Briefwechsel  zwischen  Pascal  und  Fermat  noch  viel  später  in  die 
Oefi'entlichkeit  gelangte. 

Von  einer  Abhängigkeit  der  1657  gedruckten  Exercitationes  mathe- 


^)  Pascal  III,  227:  Je  commimiquai  votre  methode  ä  nos  messieurs;  sur 
quoi  M.  de  Roberval  nie  fit  cette  objection  (Brief  Pascal's  an  Fermat  vom 
24.  August  1654). 


75H  75.  Kapitel. 

maticae  des  jüngerera  Francisciis  van  Schooten  von  Pascal  wird  man 
nicht  reden  können,  wenn  auch  dort  ^)  mancherlei  combinatorische  Unter- 
suchungen sich  finden,  von  welchen  namentlich  eine  in  Dreiecksgestalt 
geordnete  Vereinigung  sämmtlicher  aus  gegebenen  Buchstaben  zu  bil- 
denden Combinationen  Erwähnung  verdient.  Jeder  neue  Buchstabe 
beginnt  eine  neue  Zeile  und  tritt  in  derselben  hinter  alle  bereits  ge- 
bildeten Formen,  beiläufig  bemerkt  genau  das  gleiche  Verfahren, 
welches  Buckley  (S.  480)  einhielt.     Das  Dreieck  sieht  so  aus: 

a  . 
h  .  ah  . 
c  .  ac  .  hc . ahc  . 
d  .  ad  .  l>d  .  ahd  .  cd  .  acd  .  hcd  .  ahcd. 
Dagegen  behaupten  wir  eine  gewisse  Abhängigkeit  von  Pascal  für 
einen  Anhang  zu  den  Exercitationes  mathematicae,  eine  14  Druckseiten 
starke  Abhandlung  De  ratiociniis  in  ludo  aleae  von  Christian 
Huygens.  Seine  geometrischen  Erstlingswerke  aus  den  Jahren  1651, 
1654,  1656  haben  uns  (S.  715)  beschäftigt.  Sie  führten  dazu,  den 
Namen  des  noch  jugendlichen  Verfassers  rasch  bekannt  zu  machen, 
und  als  Huygens  im  Sommer  1655  nach  Paris  kam,  trat  er  schon  in 
fast  gleichberechtigten  Verkehr  mit  Roberval  und  anderen  Mathe- 
matikern. Dort  erfuhr  Huygens  jedenfalls  von  dem  zwischen  Pascal 
und  Fermat  brieflich  Verhandelten.  Als  er  nach  Holland  zurück- 
kehrte, blieb  er  in  Briefwechsel  mit  französischen  Gelehrten,  so  auch 
mit  Pierre  de  Carcavy^).  Dieser  war  der  Sohn  eines  reichen 
Bankiers.  Am  Anfange  des  XVII.  Jahrhunderts  geboren,  nahm  er 
1622 — 1636,  also  gleichzeitig  mit  Fermat,  die  Stellung  eines  Parla- 
mentsrathes  in  Toulouse  ein.  Im  Jahre  1636  siedelte  er  als  Rath 
nach  Paris  über.  Vermögens  Verlust  nöthigte  ihn  1647  seine  dortige 
Stelle  zu  verkaufen,  und  nun  trat  er  1648  in  den  Dienst  des  Herzogs 
von  Liancourt.  Seit  1663  war  er  dann  an  der  königlichen  Bibliothek 
in  Paris  augestellt,  welcher  bei  seinem  Tode  1684  die  werthvollen 
Sammlungen  zufielen,  die  er  angelegt  hatte.  Carcavy  also  schrieb 
unter  dem  22.  Juni  1656  an  Huygens  und  legte  einen  vor  wenigen 
Tagen  von  ihm  erhaltenen  Brief  Fermat's  bei,»  in  welchem  Ergebnisse 
der  Wahrscheinlichkeitsrechnung,  nicht  aber  das  Verfahren  zu  denselben 
zu  gelangen  mitgetheilt  waren  ^).  Huygens  wies  desshalb  mit  Recht 
in  der  am  27.  April  1657   niedergeschriebenen   Vorrede   zur  Abhand- 


^)  Van  Schooten,  Exercitationes  mathematicae,  pag.  373—387.  *)  Vergl. 
eine  ausführliche  Abhandlung  von  C  h.  Henry  im  Bulletino  Boncompagni 
T.  XVII  (1884).  Ergänzungen  und  Berichtigungen  dazu  von  P.  Tannery  im 
Bulletin  Darhoux  XXVIII,  61  (1893).     ■')  Oeuvres  de  Huygens  I,  431—434. 


Erfindung  von  Methoden.    Wahrscheinlichkeitsrechn.    Kettcnbrüehe  u.  s.  w.     759 

lung  über  das  Würfelspiel  die  Ehre  erster  Erfindung  zu  Gunsten 
seiner  französischen  Vorgänger  zurück,  fügte  aber  mit  gleichem  Rechte 
hinzu,  jene  hätten  ihre  Methoden  so  geheim  gehalten,  dass  er  ge- 
zwungen gewesen  sei,  den  ganzen  Gegenstand  von  den  ersten  An- 
fängen an  zu  entwickeln^).  Schon  am  10.  März  1656  waren  Huygens 
Untersuchungen  über  die  Wahrscheinlichkeitsrechnung  im  Gange,  am 
20.  April  war  Einiges  druckfertig,  am  6.  Mai  hatte  Franciscus  van 
Schooten  schon  zugesagt,  vielleicht  schon  begonnen,  die  holländisch 
geschriebene  Abhandlung  ins  Lateinische  zu  übersetzen-),  um  sie  dann 
1657  unter  dem  oben  angegebenen  Titel  seinen  eigenen  vermischten 
Untersuchungen  als  Anhang  anzuschliessen,  und  alle  diese  Daten  liegen 
vor  dem  des  Briefes,  in  welchem  Carcavy  die  Fermat'sche  Einlage 
übersandte,  eine  Bestätigung  unserer  Behauptung,  dass  der  Keim  zu 
Huygens'  Untersuchungen  in  Gesprächen  gelegt  wurde,  welche  bereits 
in  Paris  stattfanden. 

Die  Grundlage,  auf  welche  Huygens  seine  Betrachtungen  stützt, 
ist  die  des  arithmetischen  Mittels.  Wenn,  sagt  er  unter  An- 
wendung allgemeiner  Buchstaben,  in  p  Fällen  jeweil  eine  Summe  er, 
in  q  Fällen  jeweil  eine  Summe  h  mir  zufällt,  so  ist  in  jedem  einzelnen 

Falle  meine  Erwartung  -^^—r, —        Daran  knüpft   er   dann  Theilungs- 

aufgaben,  welche  er  vollständig  in  Pascal's  Sinne,  bevor  dieser  das 
arithmetische  Dreieck  anwandte,  behandelt,  so  dass  es  wahrscheinlich 
wird,  er  habe  durch  Roberval  mehr  Andeutungen  über  das  Verfahren 
Pascal's  als  über  dasjenige  Fermat's  erhalten.  An  die  Theilung  zwischen 
zwei  Spielern  knüjjfen  sich  ähnliche  Aufgaben  unter  Annahme  von 
drei  oder  noch  mehr  Spielern  und  wir  erinnern  uns,  dass  hier  Pascal 
rathlos  geblieben  war,  wenigstens  seines  Dreiecks  Bequemlichkeit  ein- 
büsste.  Huygens  wendet  auch  hier  ein  recurrirendes  Verfahren  an. 
Es  wird  berechnet,  wieviel  jedem  einzelnen  Spieler  unter  der  Voraus- 
setzung zukomme,  es  sei  ein  weiteres  Spiel  gemacht  worden  und  der 
Reihe  nach  zu  Gunsten  jedes  der  betheiligten  Spieler  ausgefallen. 

Ausser  den  Theilungsaufgaben  waren  von  De  Mere  seiner  Zeit 
auch  Würfelaufgaben  gestellt  worden.  Pascal  und  Fermat  Hessen  sich 
diese,  als  leichter,  wenig  angelegen  sein.  Huygens  dagegen  setzt  sie 
von  Propositio  X  seiner  Abhandlung  an  auseinander,  und  wieder  auf 


*)  Sciendum  vero,  qiiod  jam  pridem  inter  prazstantissnnos  tota,  Gallia  geo- 
metras  calculus  hie  agitatus  fuerit,  nequis  indebitam  mihi  primae  inventionis  glo- 
riam  hac  in  re  tribuat.  .Caeterum  Uli,  difficillimis  quibusque  quaestionibus  se 
invicem  exercere  soliti,  methodum  suam  quisque  occultam  retinuere,  adeo  ut  a 
primis  elementis  universam  hanc  materiam  evoluere  mihi  necesse  fuerit.  ^)  Oeuvres 
de  Huygens  I,  389,  405,  413. 


760  '<•''•  Kapitel 

der  Grundlage  des  arithmetischen  Mittels  aus  den  unter  den  ver- 
schiedenen möglichen  Voraussetzungen  zu  erwartenden  Gewinnen, 
sors  oder  aestimaüo  expedationis.  Will  man  mit  einem  Würfel  auf 
einen  Wurf  6  Augen  werfen,  so  sind  sechserlei  Würfe  möglich,  von 
welchen  einer  den  Gewinn  a  liefert  und  fünf  den  Gewinn  0,  die  Er- 
wartung ist  also  — "  ^   ;    .    -  =  -^  •     Stehen  zwei  Würfe  frei,  so  lie- 

°  1  -j-  o  b  ' 

fert  von  sechs  Möglichkeiten  des  ersten  Wurfes  eine  den  Gewinn  a, 
die  fünf  anderen  liefern  wenigstens  die  Möglichkeit  im  zweiten  Wurfe 

zu  gewinnen,  welche  als  mit  —  zu  veranschlagende  bekannt  ist.  Die 
Erwartung  ist  also  jetzt: 


1+5  36     ' 

'  .25  .  . 

und  dem  Gegenspieler  kommen  folglich  ^a  zu,  so  dass  die  beider- 
seitigen Erwartungen  sich  wie  11  :  25  verhalten^).  Dieses  Wettver- 
hältniss  geht  bei  3  Würfen  in  91  :  125,  bei  4  Würfen  in  671  :  625, 
bei  5  Würfen  in  4651  :  3125,  bei  6  Würfen  in  31031  :  15625  oder 
annähernd  in  2  :  1  über.  Huygens  hebt  weiter  auch  noch  hervor, 
dass  die  Zahl  der  Würfe  durch  die  Zahl  der  bei  einmaligem  Wurfe 
gebrauchten  Würfel  ersetzt  werden  können ,  ohne  übrigens  diese  Be- 
hauptimg zu  begründen,  und  fügt  die  mathematische  Betrachtung 
einiger  zusammengesetzten  Spielarten  mit  Würfeln  hinzu. 

Auch  nach  dem  Erscheinen  der  Ratiocinia  in  ludo  aleae  dauerte 
es  wieder  14  Jahre,  bis  abermals  in  Holland  eine  Schrift  über  Wahr- 
scheinlichkeitsrechnung gedruckt  wurde.  Das  Jahr  1671  liegt  aber 
bereits  jenseits  der  Zeitgrenze  dieses  Bandes,  und  wenn  wir  auch  mit 
einzelnen  Abschnitten  es  weniger  genau  nehmen,  über  den  Band 
hinaus  wollen  wir  nicht  greifen  und  versagen  es  uns  desshalb,  auf 
Jan  de  Witt's  Waerchje  von  kjf-renten  nar  proportie  van  los-reuten^) 
irgend  näher  einzugehen. 

Dagegen  erwähnen  wir,  dass  John  Graunt^)  (1620 — 1674)  sich 
mit  Statistik  beschäftigte  und  1662  ein  Buch  unter  dem  Titel: 
Natural  and  political  ohservations  mentionecl  in  a  folloiving  index  and 
niade  upon  tlie  hills  of  martality  veröffentlichte.  Darin  soll  zuerst  das 
Uebergewicht   der  Knabengeburten   gegen   Mädchengeburten   im  Ver- 


')  unde  contracertanti  lusori  cedit  reliquum  ^  a,  adeo  ut  sors  utriiisque  sive 
aestimaüo  expectationis  eam  servet  rationem  quam  11  ad  25.  *)  Ein  Abdruck 

der  sehr  selten  gewordenen  Schrift  erschien  1879  als  Festgabe  zum  100jährigen 
Jubiläum  der  Wiskimig  Genootschap  te  Amsterdam.  *)  Dictionarij  of  national 
hiography  (;London  1890)  XXII,  427—428. 


Erfindung  von  Methoden.    Wiilir.soheinlichkeitsrechn.    Kettenbnichc  u.  s.  w.     761 

hältnisse  von  10G8  :  1000  aus  über  32  Jahre  sich  erstreckenden  Be- 
ol)achtnngen  gefolgert  worden  sein^). 

Die  Besprechung  solcher  Untersuchungen,  welche  an  das  Gebiet 
der  algebraischen  Analysis  anstreifen,  führt  uns  weiter  zur  Erfindung 
der  Kettenbrüohe. 

Wir  haben  Pietro  Antonio  Cataldi  als  einen  der  Schriftsteller 
genannt  (S.  596),  welche  ihre  Stimmen  gegen  Scaliger  erhoben, 
als  er  behauptete,  die  Kreisquadratur  gefunden  zu  haben.  Wir  hätten 
ihn  noch  bei  verschiedenen  anderen  Gelegenheiten  nennen  können, 
denn  er  war  ein  fruchtbarer  Schriftsteller,  wie  ein  beliebter  Lehrer^). 
Schon  1563  war  Cataldi  Professor  in  Florenz;  1572  lehrte  er  in 
Perugia;  1584  trat  er  in  den  Verband  der  Universität  Bologna, 
welchem  er  bis  zu  seinem  Tode  1626  angehörte.  Ueber  30  Schriften 
werden  von  ihm  genannt.  Die  letzte,  eine  Vertheidigung  Euklid's 
aus  seinem  Todesjahre  1626,  muss  er,  da  er  die  Florenzer  Professur 
nicht  leicht  früher  als  mit  20  Jahren  inne  gehabt  haben  kann,  in 
einem  Alter  von  mindestens  83  Jahren  geschrieben  haben.  Die  erste 
Veröffentlichung  Cataldi's  ist  aus  dem  Jahre  1572.  Eine  Pratica 
aritmetica  hat  er  zwar  mit  17  Jahren  verfasst,  aber  ihr  erster  Theil 
kam  erst  1602  unter  dem  aus  Pietro  Antonio  umgestellten  Pseudonym 
Perito  Annotio  im  Drucke  heraus,  während  der  zweite  Theil  unter 
Cataldi's  vollem  Namen  1606  folgte.  Die  erste  Schrift,  welche  Ca- 
taldi in  Bologna  vollendete,  war  eine  Abhandlung  über  vollkommene 
Zahlen  vom  Jahre  1588.  Das  Manuscript  kam  ihm  aber  abhanden, 
und  er  war  genöthigt,  die  ganze  Arbeit  neu  zu  vollenden,  so  dass 
der  Druck  erst  1603  erfolgen  konnte.  Aus  dem  gleichen  Jahre  ist 
eine  Schrift  über  das  Parallelenaxiom,  Operetta  delle  linee  rette  equi- 
distanfi,  welches  auf  einem  Trugschlüsse  beruhen  soll.  Die  Parallel- 
linien werden  darin  als  Linien  gleichbleibenden  Abstandes  erklärt, 
eine  Erklärung,  welche  Petrus  Ramus  wieder  in  die  Geometrie  ein- 
geführt zu  haben  scheint,  nachdem  Posidonius  (von  Rhodos?)  sie 
im  Wesentlichen  schon  ausgesprochen  hatte  ^).  Fernere  geometrische 
Schriften  sind  eine  angenäherte  Kreisquadratur  von  1612,  eine  gegen 
Scaliger  gerichtete  Vertheidigung  der  Kreismessung  Archimed's  von 
1620,  eine  Abhandlung  über  Dürers  Construction  des  regelmässigen 
Fünfecks  gleichfalls  von  1620,  eine  dreibändige  Euklidausgabe  von 
1620 — 1625.  Von  diesen  Schriften  hätten  wir  die  über  vollkommene 
Zahlen  dem  76.  Kapitel  aufsparen,  die  übrigen,  wie  gesagt,  schon 
früher    erwähnen    müssen,    wenn    nicht    nach    dem    uns    vorliegenden 


')  Moser,  Die  Gesetze  der  Lebensdauer  (Berlin  1839),  S.  210.         ^)  Libri 
IV,  87—97.         ^)  Proclus  (ed.  Friedlein),  pag.  176  lin.  6—10. 


762  75.  Kapitel. 

Berichte  deren  Menge  über  ihren  inneren  Gehalt  das  Uebergewicht 
besessen  zu  haben  schiene.  Wir  beschäftigen  uns  genauer  nur  mit 
einer  1613  gedruckten  Abhandlung  Cataldi's :  Trattato  del  modo  hre- 
vissimo  di  trovare  la  radice  quadra  delli  nunieri  ^)  (S.  623)^  weil  in  ihr  eine 
Quadratwurzelausziehung  mittels  eines  unendlichen  Ketten- 
bruches gelehrt  ist.  Zunächst  ist  allerdings  ein  anderer  Weg  ein- 
geschlagen. Ist  eine  Zahl  N  =^  er  -\-  h,  und  soll  ]/iV"  ermittelt 
werden,  so  ist  in  erster  Annäherung  "j/iVnoa  zu  klein,  in  zweiter 
Annäherung  YN  ro  (i  -^  -^  ==  ä   zu  gross.     Wird  A^  —  N  gebildet 

und  durch  2Ä  getheilt,   etwa  — ^ —  =  B   gesetzt,  so  ist  eine  neue 

Annäherung  YNcoÄ  —  B  wieder  zu  gross.  Man  kann  sich  unter 
Einsetzung   der  Werthe   der   einzelnen   Buchstaben    überzeugen,    dass 

(A  -  Bf  =  J^+  .,„,(,„"4  +  ,^)-  Setzt  man  ferner  ?^-^  =  C 
und  wählt  YNcxjIj  —  C  als  weitere  Annäherung,  so  wird  auch  diese 
zu  gross,  wenn  auch  wieder  dem  wahren  Werthe  "|/iV  beträchtlich 
näher  kommend,  und  in  ähnlicher  Weise  kann  man  fortfahren,  immer 
andere  Wurzelwerthe  sich  zu  verschaffen,  welche  zwei  Eigenschaften 
mit  einander  gemein  haben:  immer  über  dem  wahren  Werthe  zu 
liegen  und  demselben  näher  und  näher  zu  kommen.  Einen  all- 
gemeinen Beweis  führt  Cataldi  nicht  und  kann  er  nicht  führen,  weil 
er  keiner  allgemeinen  Buchstaben  sich  bedient,  sondern  nur  mit  be- 
stimmten Zahlenwerthen  rechnet.  Bestimmte  Zahlenwerthe  sind  es 
auch  wieder,  mit  denen  allein  er  sich  befasst,  wo  er  die  Kettenbruch- 
methode  lehrt.  In  allgemeiner  Darstellung  ist  sein  Verfahren  fol- 
gendes.    Ist  y«^  -\-  1)  =  a  -\-  X,    so  ist  &  =  (2  a  -f~  ^)^y 


und  folglich 

2«  -f  •  •  •. 

also  beispielsweise 

8  +...   . 

Die  Schreibweise  Cataldi's  sieht  fast  genau  so  aus  ^),  Cataldi  schreibt 
nämlich  zuerst 


')  Libri  IV,  92  Note  1  und  9.3  Note  1.  —  Favaro,  Notizie  storiche  suUe 
frazioni  continue  im  Bulletino  Boncompagni  VII,  534 — 547.  *)  Favafo  1.  c. 
P3,g.  535  hat  die  Stelle  aus  pag.  70 — 71  von  Cataldi,  Trattato  del  modo  bre- 
vissimo  etc.  zum  Abdrucke  gebracht. 


Ertimlung  von  Methoden.    Wahrsclieinlicbkeitsreebn.    Kettenbrüche  u.  s.  w.     763 

Er  sagt  aber  dann,  im  Drucke  sei  ein  so  geformter  Ausdruck  schwer 

2         2  2 

wiederzugeben,   dessbalb   ziehe  er  vor,   künftig  4&  — &^&y  setzen 

zu  lassen,  wo  das  Pünktchen,  welches  hinter  der  als  Nenner  auftre- 
tenden 8  stehe,  die  Bedeutung  habe,  der  nächstfolgende  Bruch  solle 
ein  gebrochener  Theil  eben  dieses  Nenners  sein^).  Dass  Cataldi  in 
Bologna  die  Algebra  Bombelli's  kennen  lernen  konnte,  wenn  nicht  kennen 
lernen  musste,  und  dass  er  in  ihr  die  Anregung  zu  seinem  Verfahren 
finden  konnte  (S.  622),  ist  nicht  zu  bezweifeln.  Nicht  weniger  un- 
zweifelhaft ist  aber  der  ungeheure  formale  Fortschritt  von  Bombelli 
zu  Cataldi  bei  einem  Gegenstande,  dessen  Hauptvorzug  gerade  in  der 
Form  liegt. 

Der  nächste  Schriftsteller,  bei  welchem  Kettenbrüche  sich  finden, 
war  Daniel  Schwenter.  Seine  Geometria  practica  von  1618  ist 
uns  schon  bekannt  geworden  und  bekannt  auch,  dass  er  in  derselben 
der  Kettenbrttche  sich  bediente,  um  gewisse  Verhältnisse  in  kleineren 
Zahlen  auszudrücken.  Darauf  haben  wir  jetzt  genauer  zurückzukom- 
men-). „Wie  man  aber  zwo  grosse  Zahlen,  sagt  Schwenter"'),  so 
numeri  primi  und  Arithmetice  nicht  können  auffgehebt  werden,  dem 
Gebrauch  nach,  kleiner  machen  soll,  seynd  bei  den  Logisticis  und 
Rechenmeistern  viel  feine  Regeln  zu  finden.  Die  beste,  geheimeste 
und  künstlichste  will  ich  hierher  setzen.  Ich  soll  die  zwo  Zahlen 
233  und  177,  als  welche  für  sich  numeri  primi,  oder  aber  die  Proportion 

-^  in  kleineren   Zahlen  Meehanice   aussprechen:    So   mache   ich  nun 

folgende  Disposition  oder  Ordnung.     Wann  nun  ordentlich   hierinnen 

177 

verfahren,  finde  ich,    aus  gemeldter  Tafel,   dass   ich  für  —  nehmen 

kann  —  oder  —   oder   endlich   —- ,  welches  denn  eine  sehr  nützliche 
104  2o  4  ' 

Regel  zu  diesem  unserm  Messen."  Schwenter  fügt  hinzu,  er  habe 
aus  gewissen  Gründen  in  der  ersten  Auflage  (das  war  1618)  sich  be- 
gnügt, das  Ergebniss  anzusetzen,  ohne  zu  enthüllen,  wie  er  dazu  ge- 
langt sei-  jetzt  wolle  er  Alles  auseinandersetzen.  Nun  folgt  eine 
Figur,  deren  Entstehung  er  beschreibt: 


^)  faciendo  un  punto  all'  8  denominatore  di  ciascun  rotto,  a  significare.  che 
ü  sequente  rotto  e  rotto  d'esso  denominatore.  ^)  Günther,  Beiträge  zur  Erfin- 
dungsgeschichte der  Kettenbräche,  S.  7— 11  (Weissenburg  1872).  ^)  Schwenter, 
Geometria  practica  (III.  Auflage  von  1641),  S.  68  des  zweiten  Tractates. 


764 


Kapitel. 


1 

233 

1 

0 

177 

1 

0  1 

1 

56 

3 

1  1 

1 

9 

6 

3  i 

4 

2 

4 

19 

25 

1 

2 

79 

104 

0 

0 

i„  i 

233 

Zuerst  werde  in  dem  Felde  links  233  und  darunter,  aber  durch  einen 
Strich  getrennt,  177  angeschrieben.  In  dem  mittleren  Felde  auf  dessen 
rechter  Seite  wird  „hinter  die  grösste  Zahl,  als  hie  233,  allzeit  1, 
hinter  die  kleiner,  als  hie  177,  allzeit  0"  geschrieben.  Nun  dividire 
mau:  177  in  233  gehe  1  mal,  Rest  56,  desshalb  stehe  56  unter  177 
und  1  dicht  neben  177;  56  in  177  gehe  3  mal,  Rest  9,  von  diesen 
Zahlen  stehe  3  neben,  9  unter  56;  9  in  56  gehe  6  mal  mit  dem  Reste  2; 
2  in  9  gehe  4  mal  mit  dem  Reste  1 ;  1  in  2  gehe  2  mal  mit  dem 
Reste  0.  Alle  diese  Zahlen  finden  ihren  gleichmässigen  Platz,  die 
Quotienten  neben,  die  Reste  unter  den  jedesmaligen  Divisoren.  Neben 
dem  letzten  Reste  0,  der  wieder  durch  einen  Horizontalstrich  von  den 
über  ihm  befindlichen  Zahlen  getrennt  ist,  erscheint  eine  zweite  0. 
Nunmehr  geht  es  an  die  Bildung  der  im  mittleren  Felde  auf  der 
rechten  Seite  befindlichen  Zahlen,  deren  beide  obersten  1  und  0  durch 
einen  Horizontalstrich  von  einander  getrennt  schon  vorhanden  sind. 
Jede  Zahl  wird  mit  ihrer  linken  Nachbarzahl  des  gleichen  Mittelfeldes 
vervielfacht,  die  über  ihr  stehende  Zahl  hinzuaddirt,  die  Summe 
darunter  gesetzt;  also 

1-0+1  =  1,     3-1+0  =  3,     6-3  +  1  =  19,     4-19  +  3  =  79, 

2-79  +  19  =  177. 
Das  letzte  Feld  rechter  Hand ,  in  dessen  oberste  Sonderabtheilung 
man  1,  0  unter  einander  schreibt,  wird  in  ganz  ähnlichei'  Weise  ge- 
füllt. Multiplicatoren  sind  wieder  die  linksstehenden  Zahlen  des  Mittel- 
feldes, vor  deren  Benutzung  aber  die  in  der  oberen  Sonderabtheilung 
des  Mittelfeldes  allein  stehende  1  in  Anwendung  tritt.  Die  Zahlen- 
bidung  ist  mithin 
1-0+1  =  1,      1-1  +  0  =  1,      3-1  +  1  =  4,     6-4+1  =  25, 

4  .  25  +  4  =  104,      2  •  104  +  25  =  233, 
und   diese   letzte  Zahl   ist  abermals  durch   einen  Horizontalstrich  von 
der  ihr  vorhergehenden  104  getrennt.     Die  Zahlen  rechts  im  Mittel- 
felde und  die  gleicher  Zeile  im  letzten  Felde  rechts  stehen  in  nahezu 
gleichem   Verhältnisse  und   geben    von  unten  nach   oben   die  Brüche 


Erfiudimg  von  Methoden.    Wahrscheinlichkeitsrechn.    Kettenbrüche  u.  s.  w.     765 

--— ,   -,-,   — ,   -r  ,   -—,   -— ■      Deutlich    srenuff    ist    diese    Beschreibung 
233 '    104 '    -25 '     4  '     1  '     1  o         &  a 

Schwenter's  der  Kettenbruchentwickehing 
177  _    1 
233         T  H ,     1 

^  2  ' 
und  vou  besonderer  Geschicklichkeit  zeigt  die  Einführung  des 
Näherungswerthes  -  zur  bequemeren  Fortsetzung  des  einmal  be- 
gonnenen Rechnungsverfahrens  bei  Bildung  der  Näherungswerthe.  Dass 
ein  eigentlicher  Beweis  fehlt,  wird  man  Schwenter  kaum  verübeln. 
Schwenter  starb  1636,  und  noch  in  dem  gleichen  Jahre  gaben 
seine  „hinterlassenen  Söhne  und  Töchter",  wie  die  Unterschrift  eines 
an  Herzog  August  zu  Braunschweig  und  Lüneburg  gerichteten  Wid- 
mungsschreibens besagt,  eine  Sammlung  unter  dem  Titel  Deliciae 
physico-matliemaücac  oder  Mathematische  und  pliilosophische  Erquiclc- 
stunden  heraus,  deren  wir  bald  wiederholt  gedenken  müssen.  Für 
den  Augenblick  haben  wir  es  nur  mit  der  87.  Aufgabe  des  I.  Theils 
dieser  Erquickstunden  zu  thun^),  in  welcher  unter  Berufung  auf  die 
Geometrica   practica    ebendieselbe    Aufgabe    wie    dort    behandelt    ist, 

177 
nämhch  Näherungswerthe  für  den  Bruch  — ^  in  kleineren  Zahlen  aus- 
findig zu  machen.  Die  Methode  ist  die  gleiche  geblieben,  ein  Beweis 
findet  sich  auch  hier  nicht,  aber  eine  wesentliche  Zwischenbemerkung 
hat  Schwenter  über  die  Art  der  Annäherung  eingeschaltet:  „je  weiter 
man  von  dem  untersten  hinaufsteiget,  je  mehr  es  fehlet.  Zum  Exempel 

TTTT  seynd   näher  bei  ~-  als  -rr,  und  -^-  näher  als    '     und    so  fortan." 
104        -^  233  25'  2o  4 

Schwenter  und  Cataldi,  das  kann  man  wohl  mit  voller  Sicherheit 
behaupten,  waren  unabhängig  von  einander  zur  Erfindung  der  Ketten- 
brüche gelangt,  denn  hätte  Schwenter  von  Cataldi's  Wurzelaus- 
ziehungsmethode  Kenntniss  gehabt,  so  hätte  er  sie  zweifellos  mit- 
getheilt,  und  ohne  diese  Methode  gab  es  für  Cataldi  keine  Kettenbrüche. 
Noch  ein  dritter,  jedenfalls  nicht  minder  unabhängiger  Erfinder  der 
Kettenbrüche  trat  in  England  auf.  Es  war  Lord  Broun ck er -J 
(etwa  1620 — 1684),  ein  eifriger  Anhänger  der  Monarchie  und  nach 
deren  Wiederherstellung  Kanzler  und  Grosssiegelbewahrer  Karl  IL,  in 
wissenschaftlicher  Beziehung  hochverdient  um  die  Begründung  der 
Royal  Society,  deren  erster  Vorsitzender  er  war.  Zu  den  Freunden 
Brouncker's  gehörte  John  Wallis  (1616 — 1703),  gleichfalls  in  nahen 
Beziehungen  zu  König  Karl  IL  als  dessen  Kaplan  stehend,  und  eines 


>)  Erqiiickstimden,  S.  111—113.         ^  Poggendorff  I,  .309. 


766  "o-  Kapitel. 

der  ersten  Mitglieder  der  Royal  Society.  In  dessen  Ariihmetica  in- 
finitorum  von  1659  war  nun  eine  später  nach  dem  Erfinder  benannte 
Darstellung  von  :;t  als  Product  unendlich  vieler  Factoren  veröffent- 
licht, auf  welche  wir  in  anderem  Zusammenhange  zurückkommen. 
Wallis  selbst  war  bei  der  ganz  ungewohnten  Form  des  von  ihm  ge- 
gebenen Ausdruckes  seiner  Sache  nicht  ganz  sicher.  Er  legte  seine 
Ent Wickelung  Lord  Broun cker  vor,  und  dieser  brachte   das  Product 

3       3       5       5       7       7.. 

^r  •  -r  •  ^^  •  ^  •  -r  •  -^  •  •  •   in  die  Form  des  Kettenbruches 

2       4       4       6       6       8 

1+1 

2  +^ 

Y+25 

2  -|-  49 

Y+  .  .  . . 

Wie  Lord  Brouncker  diese  Umwandlung  vollzogen  hat,  ist  nicht  be- 
kannt. 

Ein  von  Wallis  gegebener  Beweis  ist  derart  gekünstelt,  dass  man 
unmöglich  annehmen  kann,  die  Erfindung  sei  auf  einem  ihm  ent- 
sprechenden Wege  gemacht  worden^).  Dagegen  ist  aus  dem  von 
Wallis  Entwickelten  deutlich  zu  erkennen,  dass  ihm  die  Bildungs- 
weise der  aufeinander  folgenden  Näherungswerthe  "~'' ,  "~  ,  — 
des  Kettenbruches  "~^  "^^ 
^1 

«^+••.4.^ 

nicht  minder  gut  bekannt  war,  als  sie  Schwenter  in  dem  besonderen 
Falle  h^  =  h.^  =  ■  ■  =  bn  =  1  zu  Gebote  stand.  Mit  anderen  Worten, 
wir  müssen  für  Wallis  die  Kenntniss  der  Formeln 

beanspruchen. 

Auch  Christian  Huygens  nimmt  in  der  Geschichte  der  Ketten- 
brüche einen  ehrenvollen  Platz  ein;  aber  was  er  auf  diesem  Gebiete 
leistete,  ist  erst  in  seiner  Descriptio  automaü  planetarii  1703  ver- 
öffentlicht worden  und  entzieht  sich  dadurch  unserer  Besprechung.' 

Wir  haben  zugesagt,  auf  Schwenter's  Mathematische  Erquick- 
stunden zurückzukommen;  wir  haben  früher  eine  Besprechung  ge- 
wisser Aufgabensammlungen  in  Aussicht  gestellt.  Beide  Zusagen 
werden  gemeinsam  erfüllt. 

Dass  in  allen  Werken,  welche  der  Arithmetik  und  der  Alg-ebra, 


^)  Reiff,  Geschichte  der  uuendlichen  Reihen  (Tübingen  1889),  S.  14. 


Erfindung  von  Methoden.    Wahrscheinlichkeitsrechn.    Kettenbrüche  u.  s.  w.     767 

SO  weit  sie  in  deu  einzelnen  Zeiträumen  schon  vorhanden  gewesen 
ist,  gewidmet  waren,  stets  ein  Hauptgewicht  auf  zahlreiche  Beispiele 
gelegt  wurde,  zeigt  ein  Blick  in  die  Geschichte  fast  jedes  Jahrhunderts, 
von  welchem  in  diesem  Bande  die  Rede  war,  und  um  so  deutlicher, 
je  weiter  man  gegen  rückwärts  blättert.  Im  XV.  Jahrhunderte  wurden 
besondere  Sammlungen  von  Aufgaben  angelegt,  wie  die  aus  Pamiers 
und  die,  welche  dem  Triparty  folgt  (S.  359).  Anderwärts  fand  dieses 
Beispiel  noch  keine  Nachahmung,  noch  weniger  aber  begnügte  man 
sich  mit  der  alten  Form  der  Lehrbücher,  welche  man  fast  beschreiben 
könnte  als  Aufgaben  mit  darangeknüpften  Ei-örterungen.  Je  mehr 
die  Theorie  sich  vordrängte,  um  so  mehr  wurden  die  Lehrbücher  zu 
Erörterungen  mit  als  Beispiele  dienenden  Aufgaben.  Im  XVIL  Jahr- 
hunderte spaltete  sich  vollends  das  bisher  Verbundene.  Das  Lehr- 
buch warf  die  Menge  der  Aufgaben  als  einen  nicht  an  und  für  sich, 
aber  für  das  Lehrbuch  unnützen  Ballast  bei  Seite  und  dafür  erschienen 
wieder  eigene  Sammlungen  von  Aufgaben,  in  denen  die  Theorie  kaum 
vorgetragen  war,  und  die  ihr  Bestreben  darauf  richteten,  die  Auf- 
gaben recht  anmuthig  und  ergötzlich  zu  gestalten,  den  Lesern  diese 
Eigenschaft  auch  im  Titel  so  verlockend  als  möglich  anzupreisen. 

Der  erste  Schriftsteller,  welcher  dieses  bald  von  Anderen  befolgte 
Beispiel  gab,  war  ein  Franzose  Claude  Gaspard  Bachet  de  Mezi- 
riac,  der  Herausgeber  des  Diophant  im  griechischen  Urtexte  (S.  655), 
welcher  1612  seine  Frobllmes  plaisants  et  deledables  qui  se  fönt  par 
les  nonibres  dem  Drucke  übergab.  Diesen  folgte  erst  der  Diophant 
1621  und  eine  zweite  Ausgabe  der  Problemes  plaisants  1624.  Von 
deren  ersten  Ausgabe  scheint  kein  einziges  Exemplar  mehr  nachweis- 
bar zu  sein.  Auch  Exemplare  der  zweiten  Auflage  gehören  zu  den 
grössten  Seltenheiten  französischer  Büchersammlungen,  und  es  war 
ein,  wie  der  Erfolg  gezeigt  hat,  glücklicher  Gedanke,  in  neuester  Zeit 
weitere  Auflagen  des  alten  Werkes  zu  veranstalten^).  Die  Vorrede 
zur  zweiten  Auflage  beginnt  mit  einer  Erklärung  Bachet's,  welcher 
wir  entnahmen,  was  wir  über  den  Zweck  des  Titels  Problemes  plaisants 
gesagt  haben.  „Elf  Jahre,  heisst  es  in  jener  Vorrede  weiter,  sind 
seit  der  ersten  Druckgebung  dieses  Buches  verflossen.  Ich  wollte  es 
ans  Licht  bringen,  ebensowohl  um  meine  Kräfte  zu  versuchen,  als 
um  zu  sondiren,  wie  man  meine  Leistungen  beurtheilen  werde,  und 
damit  es  als  Vorläufer  zu  meinem  Diophant  diene.  Das  kleine  Werk 
ist  von  den  hervorragendsten  Geistern  Frankreichs  günstig  aufgenom- 
men worden;   mit   des   Himmels    Hilfe    ist    Diophant    im   Erscheinen 


^)  Einer    3.  Auflage  folgten  rasch   eine  4.    und  5.     Letztere  von   1884   ist 
bezeichnet  als  Cinquieme  edition  revue,  simplifiee  et  augmentee  par  A.  Labosne. 


768  ''ö.  Kapitel. 

begriffen;  es  will  mir  dalier  scheinen,  als  könnte  ich  mit  grösserer 
Zuversicht  das  Buch  neuerdings  veröffentlichen  und  mir  eine  gute 
Aufnahme  desselben  versprechen,  da  es  in  vollkommnerem  Zustande 
erscheint  als  vordem."  Worin  die  Vervollkommnung  bestehe,  spricht 
Bachet  immer  in  ebenderselben  Vorrede  an  einer  etwas  späteren 
Stelle  aus:  Fehler  seien  in  geringerer  Anzahl  vorhanden,  mehrere 
neue  Aufgaben  seien  hinzugefügt,  der  Beweis,  der  zu  dem  6.  (in  der 
früheren  Ausgabe  5.)  Probleme  gehöre,  sei  vervollständigt.  Ueber- 
dies,  meint  Bachet,  seien  Dinge,  wie  sie  in  seinem  Buche  vorkommen, 
keineswegs  ohne  Nutzen,  und  beispielsweise  erzählt  er  nun  die  Ge- 
schichte von  Josephus,  der  nach  der  Einnahme  von  Jerusalem  sein 
Leben  rettete,  indem  er  von  einer  Anordnung  der  mit  ihm  in  einer 
Höhle  eingeschlossenen  Gefährten  Gebrauch  machte,  welche  dem  Ge- 
danken nach  mit  der  von  uns  schon  früher  (S.  326  und  501 )  angeführten 
Aufgabe  von  den  15  Türken,  welche  mit  15  Christen  auf  einem  Schiffe 
befindlich  sind,  während  die  Hälfte  der  Bemannung  über  Bord  muss, 
übereinstimmt.  Unter  den  von  Bachet  behandelten  Aufgaben  ist  die 
der  Zauber quadrate  hervorzuheben,  welche  er  nach  einer  Methode 
bildet,  der  der  Name  der  Terrassenmethode  beigelegt  worden 
ist^).  Am  wichtigsten  ist  aber  unzweifelhaft,  wie  Bachet  selbst  er- 
kannte, jene  6.  Aufgabe  der  zweiten  Auflage.  Sie  ist  eine  zahlen- 
theoretische und  wird  uns  am  Anfange  des  nächsten  Kapitels  be- 
schäftigen. Jetzt  haben  wir  noch  von  einigen  Sammlungen  zu 
sprechen,  die  in  Nachahmung  der  Bachet'schen  entstanden. 

In  dem  gleichen  Jahre  1624,  welches  die  zweite  Auflage  von 
Bachet's  Problemes  plaisants  erscheinen  sah,  kam  in  Pont-ä-Mousson 
ein  Buch  unter  dem  Titel  Recreations  mathematiques  heraus.  Als 
Verfasser  nannte  sich  ein  Van  Etten.  Es  blieb  aber  nicht  unbe- 
kannt, dass  dieses  nur  ein  Borgname  war,  und  dass  der  Verfasser 
Jean  Leurechon-)  (etwa  1591 — 1670)  hiess,  ein  Jesuit,  welcher  im 
Kloster  seines  Ordens  in  Bar-le-Duc  in  Lothringen  Theologie,  Philo- 
sophie und  Mathematik  lehrte.  Leurechon  hat  in  seine  Sammlung 
die  leichteren  Aufgaben  Bachet's  übernommen,  daneben  eine  Menge 
anderer  Dinge,  welche  zum  Theil  aus  Cardano's  Büchern  De  suh- 
iüifate  stammen  mochten:  an  Bachet's  wirklich  werthvollen  Kapiteln 
ist  er  vorbeigegangen. 

Claude  Mydorge  gab  1630  im  Anschlüsse  an  die  rasch  verbrei- 
teten Recreations  ein  Examen  du  livre  des  recreations  matheniatiqties 
et  de  ses  prohVmes  heraus,  vielleicht  etwas  höher  zu  schätzen  als  das 


^)  Clünther,    Venuischte    Untersuchungen   zur  Geschichte    der  mathemati- 
schen Wissenschaften.         -)  Poggendorff  I,  14.S8. 


Erfindung  von  Methoden.    Wahrscheinlichkeitsrechn.    Kettenbriiche  u.  s.  w.     769 

Buch,    dessen   Prüfung   ausgesprochene   Aufgabe   war,    aber   den   geo- 
metrischen Leistungen  Mydorge's  (S.  673)  nicht  ebenbürtig. 

Leurechon's  Buch  kam  auch  nach  Deutschland.  Ein  Gönner 
Schwenter's,  wer  es  war,  wissen  wir  nicht,  schickte  es  ihm  von 
Paris  aus  zum  Geschenk.  Schwenter,  welcher  in  der  Vorrede  zu 
seinen  Erquickstunden  dieses  erzählt,  fügt  hinzu,  er  sei  der  fran- 
zösischen Sprache  nicht  so  mächtig  gewesen,  dass  er  sofort  Alles  ver- 
standen hätte,  aber  der  Inhalt  habe  an  und  für  sich  zum  Verständ- 
niss  der  Sprache  mitgeholfen,  und  sodann  habe  er  Mühe  und  Kosten 
nicht  gescheut,  eine  Persönlichkeit  aufzufinden,  welche  des  Französi- 
schen vollkommen  kundig  gewesen  sei  und  ihn  gegen  Bezahlung  beim 
Uebersetzen  unterstützte.  Anderes  habe  er  lange  Zeit  vorbereitet  und 
gesammelt  gehabt  und  so  sei  endlich  dieser  Band  zusammengekommen, 
der  an  Fülle  des  Inhaltes  mit  jenem  französischen  Musterwerkehen 
gar  nicht  mehr  verglichen  werden  könne.  Dass  diese  Behauptung 
Schwenter's  nicht  auf  Ruhmredigkeit  sich  zurückführt,  beweisen  die 
574  Druckseiten  der  Mathematischen  Erquickstunden,  beweisen  Be- 
rufungen auch  auf  solche  Werke,  welche  in  hebräischer  Sprache  ver- 
fasst  nur  einem  so  gewandten  Orientalisten,  wie  Schwenter  es  war, 
sich  erschlossen,  beweisen  ihm  eigene  Untersuchungen,  von  welchen 
wir  die  über  Kettenbrüche  oben  erörtert  haben.  Auch  von  den  aus 
hebräischen  Vorlagen  stammenden  Dingen  wollen  wir  wenigstens  ein 
Beispiel  geben.  Die  Aufgabe  von  den  30  Menschen,  welche  so  ge- 
schickt geordnet  werden  müssen,  dass  ein  gewisses  Abzählen  eine  zum 
voraus  bestimmte  Hälfte  derselben  dem  Tode  weiht,  während  die 
Anderen  gerettet  sind,  und  der  Beziehung  dieser  Aufgabe  zu  Josephus 
haben  wir  wiederholt  gedacht.  Bei  Schwenter  tritt  sie  gleichfalls 
auf^).  Auch  ihr  Vorkommen  bei  Christoph  Rudolff,  bei  L eu- 
re chon  wird  erwähnt,  die  Stelle  des  Josephus  wieder  angeführt. 
Ueberdies  aber  ist  eine  älteste  Quelle  der  Aufgabe  als  solcher  ge- 
nannt, welche  Schwenter  aufgestöbert  habe.  Elias  Levita  der 
Deutsche^)  (1472 — ^1549)  verfasste  ein  1518  in  Rom  gedrucktes  Buch 
Eaharlava,  Abhandlungen  über  gemischte  unregelmässige  Sprach- 
formen. Dort  sei  Ihn  Esra  als  Erfinder  des  Kunststückchens  ge- 
nannt, welches  er  im  Buche  der  Thaten  beschrieben  habe^J.  iDie  30 
zu  ordnenden  Leute  sind '  dort  zur  Hälfte  Ihn  Esra's  Schüler,  zur 
Hälfte  leichtfertige  Gesellen.  Ob  das  angeführte  Buch  der  Thaten 
wirklich  von  Ihn  Esra  herrührt,  ist  eine  andere,  hier  und  für  uns 
ziemlich  gleichgiltige  Frage.    Sicher  ist,  dass  ein  sogenanntes  „Maser- 

')  Mathematische  Erquickstunden    S.  79 — 82.  ^)  Allgem.  deutsche  Bio- 

graphie XVni,  505 — 507,  Artikel  von  Ludw.  Geiger.       ^)  Vergl.  auch  Stein- 
schneider    in     der    Zeitschr.   Math.    Phys.  XXV,    Supplementheft   S.  123—124. 
Cantoe,  Geschichte  der  Mathem.    11.     2.  Aufl.  49 


770  75.  Kapitel. 

Buch"  mehrfach  vorkommt  und  Erzählungen  mannigfacher  Art  von  und 
über  jüdische  Gelehrte  enthält^).  Sicher  ist  aber  auch,  dass  Ibn  Esra 
(1093 — 1168)  nicht  der  Erfinder  des  Kunststückchens  sein  kann,  da 
es  mit  der  für  dessen  Ausführung  zu  benutzenden  Regel  schon  in 
einer  Handschrift  des  X.  Jahrhunderts  sich  vorfindet^).  Spätere  Vor- 
kommen gehören  dem  XL  Jahrhunderte  u.  s.  w.  an^). 

Schwenter's  Buch  fand  rasch  Nachahmung  und  Erweiterung  durch 
Georg  Philipp  Harsdörfer '^)  (1607 — 1658),  einen  Nürnberger 
Rathsherrn  und  vielseitigen,  auch  einflussreichen  Schriftsteller,  der 
sich  besonders  durch  acht  Bände  Gesprächsspiele  (1642 — 1649)  und 
durch  die  Gründung  des  Blumenordens  an  der  Pegnitz  (1644)  in 
weiten  Kreisen  bekannt  gemacht  hat.  Er  gab  1651  und  1653  zwei 
Bände  Fortsetzungen  zu  den  Erquickstunden  heraus,  aus  welchen  der 
Mathematiker  allerdings  Erquickliches  kaum  zu  melden  hat.  Harsdörfer 
war  oifenbar  bei  riesiger  allgemeiner  Belesenheit  in  der  Mathematik 
am  wenigsten  bewandert,  und  was  geometrisch  interessant  bei  ihm 
auftritt,  dürfte  sicherlich  nicht  sein  Eigenthum  sein,  wenn  wir  auch 
nicht  überall  seine  Quelle  nachzuweisen  vermögen. 

Mit  dieser  Fortsetzung  blieb  Schwenter's  Buch  Jahre  lang  das 
vollständigste  seiner  Ai-t,  dann  liefen  ihm  1697,  also  wieder  zu  einer 
Zeit,  welche  uns  näheres  Eingehen  verbietet,  die  Becreatdons  mathe- 
niatiques  von  Jaques  Ozanam  den  Rang  ab.  Es  bedürfte  der  Unter- 
suchung, ob  Ozanam  mit  Wahrscheinlichkeit  die  Erquickstunden 
kannte  und  benutzte,  oder  nicht.    Genannt  hat  er  sie  jedenfalls  nicht. 

Ob  und  in  wie  weit  die  drei  Bände  Apiaria  universae  philosophiae 
mathematicae  in  quibus  paradoxa  et  nova  pleraque  machinamenta 
exhibentur,  welche  der  italienische  Jesuit  Mario  Bettini^)  (1582 — 
1657)  in  den  Jahren  1641 — 1642  herausgab,  und  deren  dritter  Band 
1660  unter  dem  Namen  Recreationum  mathematicarum  Apiaria  XII 
novissima  neu  aufgelegt  wurde,  als  ein  durchaus  selbständiges  Werk 
betrachtet  werden  müssen,  wissen  wir  nicht.  Harsdörfer  hat  es  jeden- 
falls ausgenutzt. 

Der  1665  in  Schleswig  gedruckte  Arithmetische  Lustgarten  von 
Johann  Mohr^)  dürfte  dagegen  sicherlich  eine  Nachahmung 
Schwenter's  sein. 

*)  Private  Mittheilung  von  Hrn.  Herrn.  Schapira.  -)  Curtze  in  der 

BihUoth.  mathem.  1895,  S.  34—36.  =*)  Curtze  ebenda  1894,  S.  116  und  Zeitschr. 
Math.  Phys.  XL,  Supplementheft  S.  112  Note  (1895).  *)  Allgem.  deutsche  Biogra- 
phie X,  644 — 646.  Artikel  von  W.  Greiz enach.  Dann  besonders  K.  Rudel  in 
der  Festschrift  des  Pegnesischen  Blumenordens  (Nürnberg  1894),  S.  301—403 
über  Harsdörfer  als  Physiker,  Mechaniker  u.  s.  w.  ^)  Kästner,  Geometrische 
Abhandlungen,  I.  Sammlung,  S.  25 — 27.—  Poggendorff  I,  179.  •*)  Poggen- 
dorff  II,  170. 


Zahlentlieorie.     Algebra.  771 

76.  Kapitel. 
Zaiileiitheorie.     Algebra. 

Zahlen  theo  retische  Untersuchungen  mannigfacher 
Art  waren  niemals  ganz  ausser  Uebung  gekommen,  aber  wesentlich 
Neues  hatten  sie  weder  nach  der  Richtung  gebracht,  dass  die  seit 
altgriechischer  Zeit  vorhandenen  Gattungen  von  Aufgaben  vermehrt 
worden  wären,  noch  nach  der  Richtung,  dass  neue  Methoden  Anwen- 
dung gefunden  hätten.  Wenn  Cataldi  1603  über  vollkommene 
Zahlen  schrieb  (S.  761)  und  eine  Divisorentabelle  der  Zahlen  bis  1000 
beigab,  so  ist  darin  wieder  nichts  Neues  zu  finden.  Die  Schrift  hätte 
mehrere  Jahrhunderte  früher  genau  ebenso  verfasst  werden  können. 
Das  Gleiche  gilt  von  der  Tabelle  mit  den  Primzahlen  unterhalb 
10000,  gilt  beinahe  auch  von  der  Abhandlung  über  befreundete 
Zahlen,  welche  der  jüngere  Franciscus  .van  Schooten  1657  in 
seinen  Exercitationes  mathematicae  drucken  Hess. 

Ausserhalb  der  längst  und  wiederholt  betretenen  Pfade  liegt  die 
Mathesis  hiceps  vetus  et  nova,  welche  1670  ein  gelehrter  Bischof 
Johann  Caramuel  y  Lobkowitz^)  (1606 — 1682)  veröffentlichte, 
und  die  wir  bei  der  geringfügigen  Zeitüberschreitung  von  zwei  Jahren, 
deren  wir  uns  dabei  schuldig  machen,  noch  in  diesem  Bande  er- 
wähnen. Caramuel  trennte  den  Gedanken  eines  Zahlensystems  über- 
haupt von  dem  auf  der  Grundzahl  10  sich  aufbauenden  decadischen 
System;  er  beschrieb  vielmehr  solche  Systeme,  deren  Grundzahlen 
sämmtliche  Zahlen  von  2  bis  zur  10  einschliesslich  und  überdies  12 
und  60  sind.  Im  2.  Bande  des  umfangreichen  Werkes  ist  ein  beson- 
derer Abschnitt  der  Combinatorik  gewidmet,  und  in  diesem  heisst  ein 
Kapitel  Kyheia.  Es  enthält  ziemlich  unbedeutende  Untersuchungen 
über  das  Würfelspiel"). 

Vollends  neue  Bahnen  eröffnete  der  Mann,  welcher  1621  erst- 
malig den  griechischen  Diophant  im  Drucke  herausgab:  Bache t  de 
Meziriac.  Unter  dem  vollen  Eindrucke  des  gewaltigen  Virtuosen 
in  der  Kunst  der  unbestimmten  Analytik  (Bd.  I,  S.  448)  stehend  hat 
Bachet  häufig  Erörterungen  und  Zusätze  eingestreut,  welche  den 
Werth  der  Ausgabe  um  ein  Beträchtliches  erhöhten.  Am  wichtigsten 
ist  der  Zusatz^)  zu  der  Aufgabe  IV,  41  des  Diophant.    Sein  Inhalt  ist 


')  Klügel,  Mathematisches  Wörterbuch  I,  943 — 944.  —  Quetelet 
pag.  225 — 226.  — Allgem.  deutsche  Biographie  III,  778 — 781.  Artikel  von  Stieve. 
•)  Briefliche  Mittheilung  von  H.  Ambr.  Sturm.  ^)  In  der  II.  Ausgabe  (Tou- 
louse 1670)  auf  pag.  194—198  abgedruckt, 

49* 


772  ''ß-  Kapitel. 

unter  Anwendung  von  Bezeichnungen,  deren  Backet  sich  freilich  nicht 
bediente,  die  aber  dem  heutigen  Leser  am  geläufigsten  sind,  folgender. 
Die  beiden  Gleichungen 

X -\- y -\- s  =  41     und     4ä;  +  3?/ +  y-^  =^40 

sollen  erfüllt  werden.     Wenn  3^  -f-  ---  =40  —  Ax,  so  ist 

9^  +  ^  =  120  —  12a;. 
Daneben  ist  y  -\-  z  =  AI  —  x,  also  mittels  Subtraetion 

8y  =  79  —  IIa;    d.  h.    y  =  9^  -  l^x 
und 

2=^4:l—x  —  y  =  31—  +  —X . 

Jede  Wahl  von  x  würde  daher  Werthe  von  y  und  z  finden  lassen, 
welche  mit  x  zusammen  die  beiden  Gleichungen  erfüllen.  Nun  ver- 
langt Bachet  nicht  bloss  positive  Werthe  für  x,  y,  z,  sondern  hierin 
über    Diophant    hinausgehend     auch    ganzzahlige    Werthe.      In 

9I 

73  8 

erster  Linie   muss   also   9- 1— a;  positiv  sein,   d.  h.  x  <,  — ^   oder 

80  ^    o 

^¥ 
2 
X  <  7^^  •     Für  X  stehen  daher  die  Möglichkeiten  der  Werthe  x  =  1 

1  3 

bis  a;  =  7   zur  Verfügung.     Dabei   soll  auch    31—  -|-  —x  ganzzahlig, 

mithin  1  -\-  ?>x  durch  8  theilbar  sein,  und  dieses  Verlangen  wird 
durch  a;  =  5  erfüllt.  So  findet  Bachet  a7  =  5,  ?/  =  3,  ^  =  33.  Die 
Auffindung  von  a?  =  5  gelingt  freilich  nur  durch  versuchsweise  An- 
wendung der  in  Frage  kommenden  möglichen  Werthe,  und  insofern 
ist  das  Verfahren  zweifellos  recht  langwierig,  aber  immerhin  ist  so 
eine  Methode  vorhanden  zur  Auflösung  einer  der  Haupt- 
sache nach  neuen  Aufgabe,  denn  —  wir  wiederholen  es  —  in 
Europa  ist  vor  Bachet  niemals  mit  gleicher  Bestimmtheit  wie  von 
ihm  darauf  abgehoben  worden,  dass  es  ausschliesslich  um  ganzzahlige 
positive  Auflösungen  der  unbestimmten  Aufgabe  sich  handle. 

Dieser  Zusatz  in  der  Diophantausgabe  war  für  Bachet  nicht  die 
erste,  nicht  die  letzte  Gelegenheit,  sich  über  unbestimmte  Aufgaben 
ersten  Grades  auszusprechen.  Schon  in  den  ProhUmes  iilaisants  et  de- 
Uctables  von  1612  war  in  der  5.  Aufgabe  die  Behauptung  enthalten, 
man  könne  stets  ein  kleinstes  ganzes  Vielfaches  einer  ge- 
gebenen Zahl  finden,  welches  ein  ganzes  Vielfaches  einer 
zweiten  gegebenen  Zahl  um  eine  dritte  gegebene  Zahl  über- 
treffe, vorausgesetzt,  dass  die  beiden  ersten  gegebenen  Zah- 
len   theil erfremd   seien.     In   der   zweiten   Auflage    der   Sammlung 


Zahlentheorie.     Algebra.  773 

von  1624  ist  die  5.  Aufgabe  zur  6.  geworden,  die  blosse  Behauptung 
zu  einem  bewiesenen  Lehrsatze,  und  zum  Zwecke  des  Beweises  hat 
Bach  et  aus  einem  anderen  Werke  Elements  d'arithmetiqiie,  welches 
er  noch  herausgeben  wollte,  aber  niemals  herausgegeben  zu  haben 
scheint,  etwa  zehn  Sätze  entnommen  und  hier  eingeschaltet^).  Da- 
runter war  der  für  jede  wissenschaftliche  Zahlentheorie  grundlegende 
Satz,  dass,  wenn  a,l),  c  .  .  .  unter  einander  theilerfremde  Zahlen  sind, 
und  M  deren  Product  ahc .  .  .  bedeutet,  wenn  überdies  n^  und  w, 
Zahlen  unterhalb  31  sind,  welche  der  Reihe  nach  durch  a,  h,  c  .  .  . 
dividirt  die  Reste  ^i,  ßx,  fx  •  ■  •  beziehungsweise  a.^,  ß.,^,  y.>  .  .  .  übrig 
lassen,  das  System  der  ersten  Reste  mit  dem  der  zweiten  nicht  in 
Uebereinstimmung  sein   kann. 

Bachet's  Diophant  übte  durch  seine  eigenen  Zusätze  bereichert 
eine  um  so  mächtigere  Wirkung  aus,  und  insbesondere  war  es  Pierre 
de  Fermat,  welcher  im  Besitze  eines  Exemplars  dieses  Werkes  die 
Blätter  desselben  mit  Randbemerkungen  füllte,  welche  dann  später 
1670  in  einer  neuen,  durch  Fermat's  Sohn  besorgten  Diophantausgabe 
ihren  Abdruck  fanden.  Andere  zahlentheoretische  Sätze  Fermat's 
wurden  in  den  Opera  varia  veröffentlicht,  deren  Druck  gleichfalls 
der  Sohn  überwachte,  noch  Anderes  steht  in  dem  Commercium  episto- 
licum,  welchen  John  Wallis  1658  herausgab^).  Eine  Frage,  deren 
Beantwortung  schwierig,  wenn  nicht  unmöglich  ist,  betrifft  die  Rand- 
bemerkungen zum  Diophant.  Was  war  Fermat's  Absicht,  als  er  sie 
niederschrieb?  Dachte  er  an  den  Druck  einer  neuen  Ausgabe,  wie 
sie  wirklich  nach  seinem  Tode  veranstaltet  wurde,  oder  machte  er 
nur  zum  eigenen  Gebrauche  flüchtige  Aufzeichnungen  über  das,  was 
ihm  beim  Studium  auffiel,  und  was  künftigen  Arbeiten  als  Gegenstand 
dienen  sollte?  Im  zweiten  Falle  wären  gewisse  Aeusserungen  über 
von  Fermat  besessene  Beweise  nicht  haarscharf  zu  nehmen.  Welcher 
Mathematiker  hätte  sich  bei  ganz  neuen  Untersuchungen  nicht  schon 
getäuscht  und  Beweise  für  streng  und  vollwichtig  gehalten,  die  später, 
wenn  sie  der  Oeffentlichkeit  übergeben  werden  sollten,  sich  als  allzu- 
leicht erwiesen?  Im  ersteren  Falle  hätte  man  dagegen  bei  dem  La- 
konismus jener  ebenerwähnten  Aeusserungen  an  ein  absichtliches 
Schweigen  zu  denken,  welches  vielleicht  die  neue  Ausgabe  mit  einem 
Reize  mehr  versehen  sollte,  und  welches  zu  brechen  Fermat  sich  vor- 
behielt, wann  und  wie  es  ihm  beliebte,  vielleicht  richtiger  gesagt 
wann   und   wie   er   der   ihm    angeborenen   Scheu   vor  Ausarbeitungen 


^)  Vergl.  die  Vorrede  von  1624,  S.  10  des  neuen  Abdrucks.  *)  Der  Com- 
mercium epistolicum  ist  auch  in  den  Gesammtwerken  von  Wallis  (Oxford  1695 
—1699)  abgedruckt. 


774  76.  Kapitel. 

Herr  zu  werden  vermochte.  Jedenfalls  fehlen  uns  die  Beweise,  von 
denen  wir  hier  reden,  und  ebenso  sicher  ist,  dass  Fermat  sie  be- 
sessen hat  oder  besessen  zu  haben  glaubte,  da  es  sonst  unbegreif- 
lich wäre,  dass  er  sie  den  Gelehrten,  mit  welchen  er  einen  regen 
Briefwechsel  zu  führen  pflegte,  hie  und  da  anbot.  Unbegreiflich  frei- 
lich ist  es  auch,  dass  dieses  Anerbieten  niemals  angenommen  wurde, 
wodurch  der  von  uns  betrauerte  Verlust  nirgend,  wo  es  gelohnt  hätte, 
abgewendet  worden  ist.  Wir  wollen  nun  einige  der  Fermat'schen 
Sätze  in  der  Reihenfolge,  in  welcher  sie  in  der  Diophantausgabe  von 
1670  erschienen,  angeben. 

1.  „Es  ist  ganz  unmöglich,  einen  Kubus  in  zwei  Kuben,  ein 
Biquadrat  in  zwei  Biquadrate  und  allgemein  irgend  eine  Potenz 
ausser  dem  Quadrate  in  zwei  Potenzen  von  demselben  Exponenten 
zu  zerfallen.  Hierfür  habe  ich  einen  wahrhaft  wunderbaren  Beweis 
entdeckt,  aber  der  Rand  ist  zu  schmal,  ihn  zu  fassen"  ^).  Dieser 
Satz,  welchem  seine  zufällige  Stellung  als  Randnote  den  ersten  Platz 
in  unserem  Berichte  anweist,  ist  zugleich  der  berühmteste  von  allen, 
welche  die  Wissenschaft  Fermat  verdankt.  Wie  es  sich  mit  jenem 
wirklichen  oder  vermeintlichen  Beweise  Fermat's  verhielt,  gehört  zu 
den  unlösbaren  Räthseln.  Nur  sehr  allmälig  ist  es  verschiedenen  her- 
vorragenden Zahlentheoretikern')  gelungen,  die  Wahrheit  des  Satzes 
festzustellen.  Sie  benutzten  dazu  Beweismittel,  welche  Fermat  zuver- 
lässig nicht  in  seiner  Gewalt  hatte.  Im  Februar  1877  tauchte  zwar 
in  italienischen  Zeitungen  die  Nachricht  auf,  ein  H.  Paolo  Gorini 
habe  einen  einfachen  Beweis  entdeckt,  doch  ist  in  die  eigentliche 
Fachliteratur  nichts  gedrungen,  so  dass  jene  Mittheilung  gleich  so 
manchen  ähnlichen  aus  verschiedenen  Ländern  und  Zeiten  auf  Irrthum 
beruht  haben  dürfte.  Ganz  zweifellos  ist  auch  nicht  der  Zeitpunkt, 
zu  welchem  Fermat  seinem  Satze  die  erwähnte  Form  gab  ^):  Wahr- 
scheinlich im  September  oder  October  163G  schickte  Fermat  an 
Pater  Mersenne  eine  Anzahl  von  Aufgaben,  welche  einem  Herrn 
de  Sainte-Croix  vorgelegt  werden  sollten.  Vermuthlich  ist  damit 
der  Prior  des  Klosters   von  Ste.  Croix   gemeint,   welcher  mit  seinem 

')  Diophant  (1670),  pag.  61.  Vergl.  die  deutsche  Diophantübersetzung  von 
6.  Wertheim  (Leipzig  1890),  S.  52.  Wir  citiren  künftig  die  griechische  Aus- 
gabe von  1670  einfach  als:  Diophant,  die  Wertheim'sche  Uebersetzung  als 
deutsch  mit  nachfolgender  Seitenzahl.  *)   Euler,  Dirichlet,  Kummer. 

')  Für  alle  diese  Zeitbestimmungen  vergl.  C.  Henry,  Becherches  sur  les  manu- 
serits  de  Pierre  de  Fermat  im  Bulletino  Boncompagni  T.  XII.  Wir  citiren 
Henry  mit  der  Seitenzahl  des  Sonderabdrucks  und  in  Klammem  die  Stelle  des 
Bullet.  Bmicamp.  Femer  P.  Tannery,  Sur  la  date  des  principales  decouvertes 
de  Fermat  im  Bulletin  Darboux.  2.  Serie,  T.  VII  (1883).  Wir  citiren  die  Seiten- 
zahl des  Sonderabdrucks. 


Zahlentheorie.     Algebra.  775 

weltlichen  Namen  Andre  Jumeau  hiess^).  Unter  diesen  Aufgaben 
findet  sich  schon  diejenige,  zwei  Kuben  zu  finden,  deren  Summe  ein 
Kubus  oder  zwei  Biquadrate,  deren  Summe  ein  Biquadrat  sei-),  und 
es  ist  mehr  als  nur  wahrscheinlich,  dass  Fermat  damals  schon  wusste, 
dass  er  hier  Unmögliches  verlangte,  und  dass  er  nur,  um  die  Auf- 
gabe noch  schwieriger  zu  gestalten,  nicht  geradezu  den  Beweis  der 
Unmöglichkeit  verlaugte.  Wann  aber  die  Ausdehnung  des  Satzes 
auf  die  Unmöglichkeit  von  x"  -\- y"  =  s"  bei  n>4  erfolgte,  ist 
ganz  unbekannt. 

2.  „Eine  Primzahl  von  der  Form  4:11  -{-  1  ist  nur  einmal  Hypo- 
tenuse eines  rechtwinkhgen  Dreiecks,  ihr  Quadrat  ist  es  zweimal,  ihr 
Kubus  dreimal,  ihr  Biquadrat  viermal  u.  s  w."  ^).  An  einem  Bei- 
spiele, etwa  dem  der  Primzahl  5,  erläutert  sich  dieser  Satz  folgender- 
massen : 

5^'  =  3^  -f  4-;      '2b-'  =  15^  +  20^  =  7-  +  24-; 

125-  =  75-  +  100-  =  35-  +  120^  =  44-  +  1171 
Im  unmittelbaren  Anschlüsse  an  diesen  Satz  behauptet  Fermat  weiter: 

3.  „Eine  solche  Primzahl  und  ihr  Quadrat  lassen  sich  nur  einmal 
in  zwei  Quadrate  zerfallen,  ihr  Kubus  und  ihr  Biquadrat  zweimal,  ihr 
Quadratokubus  und  ihr  Kubokubus  dreimal  u.  s.  w."    Beispielsweise  ist 

5  =  1+4;      25  =  9-fl6;      125  =  4 -f  121  =  25  +  100; 
025  =  49  +  57G  =  225  -f  400  u.  s.  w. 

4.  „Wir  können  eine  Aufgabe  lösen,  welche  Bachet  unbekannt 
war,  nämlich  eine  aus  zwei  Kuben  zusammengesetzte  Zahl  in  zwei 
andere  Kuben  zerlegen,  und  zwar  ist  das  auf  unendliche  viele  Weisen 
möglich"^). 

5.  „Ich  habe  sogar  den  schönen  und  ganz  allgemeinen  Satz 
entdeckt,  dass  jede  Zahl  entweder  eine  Dreieckszahl  oder  die  Summe 
von  2  oder  3  Dreieckszahlen;  entweder  eine  Quadratzahl  oder  die 
Summe  von  2,  3  oder  4  Quadratzahlen;  entweder  eine  Fünfeckszahl 
oder  die  Summe  von  2,  3,  4  oder  5  Fünfeckszahlen  ist,  und  dass 
weiter  derselbe  allgemeine  Satz  für  Sechseckszahlen,  Siebeneckszahlen, 
überhaupt  beliebige  Polygonalzahlen  gilt.  Den  Beweis  desselben,  der 
aus  vielen  mannigfaltigen  und  ganz  verborgenen  Geheimnissen  der 
Zahlen  hergenommen  wird, -kann  ich  hier  nicht  beifügen.  Ich  habe 
nämlich  vor,  ein  besonderes  Werk  diesem  Gegenstande  zu  widmen 
und  die  Arithmetik  in  diesem  Theile  über  die  alten  und  bekannten 
Sätze  hinaus  in  wunderbarer  Weise  zu  erweitern"^).    Der  letzte  Aus- 


1)  Henry  pag.  23  (XII,  497).  *)  Tannery  pag.  8.  '')  Diophant  pag.  127 
(deutsch  112).  ^)  Ebenda  pag.  133  (deutsch  119).  '';  Ebenda  pag.  180—181 
(deutsch  162). 


776  76.  Kapitel. 

Spruch  ist  wieder  einer  von  denen ^  auf  welche  man  sich  dafür  be- 
rufen könnte,  dass  Fermat's  Randnoten  zum  Diophant  auf  künftige 
Veröffentlichung  als  solche  gemeint  waren.  Der  Satz  selbst  ist  in 
dem  mittelbar  für  den  Herrn  von  Sainte  Croix  bestimmten  Briefe  von 
1636  aufgefunden  worden^).  Dieser  scheint  ihn  alsdann  Descartes 
mitgetheilt  zu  haben,  welcher  seinerseits  wieder  in  einem  Briefe  an 
Mersenne  vom  27.  Juli  1638  ihn  wiederholt^  indem  er  ihn  das 
Eigenthum  des  H.  von  Ste.  Croix  nennt ^).  Ganz  klar  ist  die  Sache 
nicht.  Jedenfalls  erscheint  es  wunderbar,  dass  Mersenne,  welcher  die 
erste  Uebermittelung  des  merkwürdigen  Satzes  an  den,  welcher  jetzt 
als  Urheber  gelten  sollte,  besorgt  hatte,  nicht  für  das  Recht  des 
eigentlichen  Erfinders  eintrat.  Wieder  16  Jahre  später,  am  25.  Sep- 
tember 1654,  theilte  Fermat  den  Satz  brieflich  auch  Pascal  mit^). 
Der  Beweis,  sagte  er,  beruhe  auf  dem  Satze  von  der  Zerfällbarkeit 
jeder  Primzahl  von  der  Form  4n  -\-  1  in  zwei  Quadrate.  Ist  dieser 
Beweis  schon  gleich  bei  Erfindung  des  Satzes  in  Fermat's  Besitz  ge- 
wesen, und  ist  dessen  versuchte  Datirung  richtig,  so  stammt  demnach 
auch  ein  Theil  mindestens  des  vorhin  unter  3.  angegebenen  Satzes 
ebenfalls  aus  dem  Jahre  1636. 

6.  „Ich  kann  allgemein  die  Aufgabe  lösen,  beliebig  viele  Zahlen 
von  der  Beschaffenheit  zu  ermitteln,  dass  das  Quadrat  einer  jeden 
eine  Quadratzahl  bleibt,  mag  man  nun  die  Summe  aller  Zahlen  zu 
denselben  addiren  oder  von  denselben  subtrahiren'' *). 

7.  „Warum  sucht  aber  Diophant  nicht  zwei  Biquadrate,  deren 
Summe  ein  Quadrat  sei?  Diese  Aufgabe  ist  allerdings  unmöglich, 
wie  mein  Beweisverfahren  in  aller  Strenge  darthun  kann"^). 

Diesen  Auszügen  aus  den  Randbemerkungen  zu  Diophant  lassen 
wir  solche  aus  Briefen  Fermat's  folgen. 

8.  Die  beiden  ältesten  Untersuchungen  auf  zahlentheoretischem 
Gebiete,  mit  denen  Fermat  sich  beschäftigte,  betrafen  Zauberquadrate 
und  vollkommene  Zahlen.  Wohin  sie  führten,  ist  unbekannt.  Die 
Briefe,  in  welchen  jene  Andeutungen  vorhanden  sind^),  führen  die 
Daten  von  April  und  Juni  1640.  Die  Zauberquadrate  hat  Fermat 
in  den  Problemes  plaisants  Bachet's  kennen  gelernt,  deren  er  in  der 
Ausgabe  von  1624  sich  bediente;  es  sind  mehr  als  zehn  Jahre,  dass 
er  selbst  sich  eine  Methode  zur  Herstellung  solcher  Quadrate  bildete, 

9.  Unter  dem  18.  October  1640  schrieb  Fermat^)  an  Frenicle, 


^)  Tannery  pag.  7.  *)  Oeuvres   de  Descartes   (ed.  Cousin)  VII,  11 '2. 

3)  Pascal  m,  234.  *)  Diophant  pag.  221    (deutsch  203).  *)   Ebenda 

pag.  258  (deutsch  248).  ^)  Fermat,  Varia  Opera  pag.  173  und  176.  Oeuvres 
n,  189—197.  —  Henry  pag.  48  (XII,  522).  —  Tannery  pag.  9.  ")  Fermat, 
Varia  Opera  pag.  163.     Oeuvres  11,  209. 


Zahlentheorie.     Algebra.  777 

jede  Primzahl  theile  unfehlbar  den  um  die  Einheit  verminderten  Be- 
trag irgend  einer  Potenz  einer  beliebigen  Zahl,  und  der  Exponent 
jener  Potenz,  Vexposant  de  ladite  puissance,  sei  selbst  ein  Theiler  der 
um  die  Einheit  verminderten  Primzahl.  Dieser  Satz  erhielt  in  den 
zahlentheoretischen  Lehrbüchern  unserer  Gegenwart  den  Namen  des 
Fermat'schen  Satzes.  In  der  Bezeichnung  von  Gauss  wird  er  so 
gesehrieben:  a*  ^i  1  (mod^j)  und  j9  ^  1  (mod  t). 

10.  Englischen  Mathematikern  legte  Fermat  1657  die  Doppel- 
aufgabe vor,  eine  Kubikzahl  zu  finden,  welche  um  ihre  Untervielfache 
vermehrt  zur  Quadratzahl  werde,  eine  Quadratzahl  zu  finden,  deren 
Untervielfache  sie  zur  Kubikzahl  ergänzen^).  Als  Beispiel  einer  Auf- 
lösung der  ersten  Aufgabe  wies  er  auf  7^  ^  343  hin,  weil 

343  4_  1  _|_  7  _!-  49  =  400  =  201 

11.  Eine  hochwichtige  Aufgabe  ist  die  der  ganzzahligen  Auf- 
lösung von  ax'  -\-  1  =  y%  wenn  die  nichtquadratische  ganze  Zahl  a 
gegeben  sei^).  Fermat  legte  sie  1657  erst  Frenicle  vor,  dann  allen 
lebenden  Mathematikern.  Seine  eigene  Auflösung  kennen  wir,  wie 
wir  noch  sehen  werden,  nur  in  ihren  allerallgemeinsten  Umrissen. 
In  England  fanden  Wallis  und  Lord  Brouncker  gemeinsam  ein 
sehr  umständliches  Verfahren,  welches  in  dem  Commercium  episto- 
licum  von  1658  veröffentlicht  ist.  Eine  zweite  Veröffentlichung  er- 
folgte zehn  Jahre  später.  John  Pell  hatte  1654 — 1658  als  Resident 
Cromwell's  in  der  Schweiz  gelebt  und  war  dort  mit  Johann  Hein- 
rich Rahn  (1622—1676)  bekannt  geworden,  welcher  1659  eine 
„Teutsche  Algebra"  herausgab.  Pell  vermittelte  eine  englische  Ueber- 
setzung  dieses  Buches  durch  Thomas  Brancker,  welche  1668  ge- 
druckt wurde.  Rahn's  Name  blieb  aber  auf  dem  Titelblatte  weg  und 
kommt  nur  in  der  Vorrede  in  der  Form  Rhonius  vor.  Pell,  der 
die  Uebersetzung  veranlasst  hatte,  gab  auch  einige  Zusätze,  und 
unter  diesen  ist  der  wiederholte  Abdruck  der  englischen  Auflösung 
von  ax--^l  =  if  zu  finden,  ein  anderes  Verdienst  hat  Pell  sich  um 
diese  Aufgabe  nicht  erworben,  und  gleichwohl  ist  sie  als  Pell' sehe 
Aufgabe  bekannt  geblieben. 

12.  Ein  Satz  hat  Fermat^)  wiederholt  beschäftigt.  Wahrschein- 
lich war  er  ihm  schon  1637,  dann  sprach  er  ihn  als  sicher  am 
18.  October  1640   aus,  und   ebenso   in   einem  Briefe  vom  29.  August 


*)  Fermat,    Varia  Opera  pag.  188.     Oeuvres  ü,  332.  *)  Ebenda,  Varia 

Opera  pag.  190.  Oeuvres  IT,  333.  —  Tannery  pag.  10.  —  Hankel,  Zur  Ge- 
schichte der  Mathematik  im  Alterthum  und  Mittelalter.  —  Allgem.  deutsche 
Biographie  XXVII,  174—175.  =>)  Fermat,  Varia  Opera  pag.  162.  —  Pascal 
III,  232.  —  Tannery  pag.  10. 


778  76.  Kapitel. 

1654  an  Pascal.  Der  Wortlaut  dieser  letzteren  Mittheilung  verdient 
von  einem  gewissen  Absätze  an  Beachtung.  Der  Satz  selbst  besteht 
darin,  dass  die  fortgesetzte  Quadrirung  von  2  bei  Vermehrung  der 
betreffenden  Potenzen  um  1  lauter  Primzahlen  gebe,  dass  also  2-^  -}-  1 
immer  Primzahl  sei.  Als  Beispiele  führt  Fermat  an:  2-  -f-  1  =  5; 
2*  +  1  =  17,  2»  +  1  =  257,  21*^  +  1  =  65537,  und  nun  fügt  er 
hinzu:  „Es  ist  das  eine  Eigenschaft,  für  deren  Wahrheit  ich  einstehe; 
der  Beweis  ist  sehr  unangenehm,  und  ich  bekenne,  dass  ich  ihn  noch 
nicht  vollständig  zu  erledigen  im  Stande  war.  Ich  würde  Ihnen 
nicht  vorschlagen,  einen  Beweis  zu  suchen,  wenn  ich  damit  zu  Stande 
gekommen  wäre."  Das  Eigenthümliche  besteht  darin,  dass  der  Satz 
irrig  ist,  und  dass,  wenn  Fermat  in  seinen  Beispielen  um  einen  ein- 
zigen Schritt  weiter  gegangen  wäre,  er  mit 

23=-'  +  1  =  4294967297  =  641  •  6700417 
die  erste  zusammengesetzte  Zahl  jener  vermeintlichen  Primzahlenform 
vor  sich  gehabt  hätte.  Fermat  hat  also  in  seiner  Behauptung  sich 
getäuscht.  Um  so  schärfer  tritt  neben  der  festen  Ueberzeugung  von 
der  Richtigkeit  des  Satzes  die  offene  Erklärung  entgegen,  es  sei  ihm 
nicht  geglückt,  einen  zureichenden  Beweis  aufzufinden.  Sie  muss 
uns  in  der  Ueberzeugung  bestärken,  dass  Fermat,  wenn  er  auch 
vielleicht  etwas  rasch  zu  Verallgemeinerungen  geneigt  war,  doch  eine 
einfache  Induction  nicht  als  Beweis  anerkannte,  dass  er  also,  wo  er 
von  thatsächlich  geführten  Beweisen  sprach,  auch  wirklich  solche,  die 
ihm  tadellos  erschienen,  besessen  haben  muss. 

Worin  bestanden  aber  die  zahlen  theoretischen  Methoden  Fermat's? 
Er  rühmte  sich  solcher  schon  sehr  frühe.  Schon  am  16.  December 
1636  schrieb  er  an  Roberval^):  Four  ce  qui  est  des  nombres  et  de 
leurs  parties  aliquotes  fai  trouve  une  metliode  generale  poiir  soiidre 
toutes  les  questions  par  algehre,  de  qiioy  fai  fait  dessein  d'ecrire  un 
petit  traite.  Allein  da  diese  Abhandlung  über  aliquote  Theile,  ver- 
muthlich  also  auch  über  deren  Summe,  über  vollkommene  Zahlen 
und  dergleichen  nicht  zu  Stande  kam,  so  kann  sie  über  die  in  ihr 
zur  Anwendung  gebrachte  allgemeine  Methode  keine  Auskunft  er- 
theilen.  Etwas  bessere  Ausbeute  gewährt  ein  Bruchstück,  welches 
unter  der  Aufschrift  Relation  des  dccouvertes  en  la  scienee  des  nomhres 
in  der  Leidener  Bibliothek  aufgefunden  worden  ist^).  Fermat  erklärt 
darin,  er  habe,  da  die  in  den  Büchern  gelehrten  Methoden  sich  beim 
Beweise  schwieriger  Sätze  als  untauglich  erwiesen,  eine  neue  Methode 
erfunden,  welche  er  la  descente  infinie  ou  indefinie,   die  unendliche 


*)  Fermat,   Varia  Opera  pag.  149.  ^  Henry  pag.  213—216  (XII,  687 

—690). 


Zablentheorie.     Algebra.  779 

oder  unbegrenzte  Abnahme  nannte.  Insbesondere  bei  Unmög- 
liclikeitssätzen  sei  dieses  Verfahren  angebracht,  z.  B.  bei  dem  Satze, 
dass  es  kein  ganzzahliges  rechtwinkliges  Dreieck  gebe,  dessen  Fläche 
als  Quadratzahl  auftrete.  Man  könne  nämlich  beweisen,  dass,  falls 
ein  solches  Dreieck  vorhanden  sei,  immer  ein  zweites  in  kleineren 
Zahlen  die  gleiche  Eigenschaft  besitze.  Von  diesem  gelange  man 
zu  einem  dritten,  zu  einem  vierten  u.  s.  w.  ins  Unendliche;  unendlich 
viele  ganze  Zahlen  von  abnehmender  Grösse  gebe  es  aber  nicht,  also 
sei  die  erste  Annahme  unrichtig.  Wie  er  den  Beweis  von  der  Mög- 
lichkeit eines  solchen  Dreiecks  auf  die  eines  kleineren  führe,  sage  er 
hier  nicht,  denn  einmal  sei  die  Erörterung  zu  lang,  und  ferner  liege 
gerade  darin  das  Geheimniss  seines  Verfahrens,  und  er  möchte  gern, 
dass  die  Pascal,  die  Roberval  und  Andere,  auf  diese  Andeutung 
gestützt,  es  ihm  nacherfänden.  Für  den  Beweis  von  bestimmten  Be- 
hauptungen^) sei  die  Methode  zunächst  nicht  anwendbar  gewesen, 
wie  z.  B.  für  den  Beweis  des  Satzes,  dass  jede  Primzahl  von  der  Form 
4:U  -{-  1  Summe  zweier  ganzzahligen  Quadrate  sei.  Da  habe  er  sich 
folgendermassen  geholfen:  er  habe  gezeigt,  dass,  wenn  irgend  eine 
Primzahl  von  der  Form  4n-\-  1  nicht  die  Summe  zweier  ganzzahligen 
Quadrate  wäre,  es  eine  kleinere  Primzahl  von  gleicher  Form  und 
gleicher  Eigenschaft  geben  müsste.  Bei  fortwährender  Verkleinerung 
müsse  man  aber  endlich  zur  kleinsten  Primzahl  von  der  Form  4w  +  1 
d.  h.  zu  5  gelangen,  welche  alsdann  auch  nicht  Summe  zweier  ganz- 
zahligen Quadrate  sein  könnte,  während  doch  5  ^  1^  -|-  2-  ist.  Aehn- 
licherweise  habe  er  unter  Anwendung  neuer,  mitunter  sehr  schwierig 
aufzufindender  Grundgedanken  noch  andere  Sätze  unter  die  Methode 
der  unendlichen  Abnahme  untergebracht.  Dahin  rechne  er  den  Satz, 
an  dessen  Beweis  Bach  et  und  Descartes  —  letzterer  nach  brief- 
lichen Aeusserungen  —  geradezu  verzweifelten,  dass  jede  Zahl  Quadrat- 
zahl oder  Summe  von  2,  3,  4  Quadratzahlen  sei,  dahin  auch  die 
ganzzahlige  Auflösung  von  ax^  -|-  1  =  ^-,  so  oft  a  keine  Quadratzahl 
sei.  Die  Herren  Frenicle  und  Wallis  hätten  allerd^gs  einige  be- 
sondere Auflösungen  dieser  letzteren  Aufgabe  geliefert,  aber  nicht  die 
allgemeine.  Diese  beruhe  eben  auf  der  Methode  der  unendlichen  Ab- 
nahme, und  nun  möchten  die  Herren  sich  wiederholt  daran  versuchen  ^). 
Auch  der  Satz,  dass  kein  Kubus  die  Summe  zweier  Kuben  sei,  ge- 
höre unter  das  gleiche  Beweisverfahren. 


*)  questions  affirmatives  im  Gegensatze  zu  den  vorher  erwähnten  pro- 
positions  negatives.  ^)  ce  que  leur  indiqiie,  afin  qu'ils  adjoustent  la  demonstra- 
tion  et  construction  generale  du  theoreme  et  du  prohleme  aux  Solutions  singuliercs 
qu'ils  ont  donnees. 


780  76.  Kapitel. 

An  diesen  Auszug  aus  Fermat's  Angaben  knüpft  sich  von  selbst 
die  Frage,  woher  Fermat  die  Anregung  zur  Erfindung  seiner  Methode 
der  unendlichen  Abnahme  erhalten  haben  mag?  Man  wird  kaum 
irre  gehen,  wenn  man  den  letzten  Zusatz  des  Campanus  zu 
Euklid  IX,  16  (S.  105)  als  die  Quelle  nennt,  aus  welcher  Fermat 
schöpfte.  War  doch  das  Studium  Euklid's  und  seiner  Erklärer  noch 
ein  selbstverständliches,  dem  Jeder  oblag,  welcher  für  Mathematik 
Sinn  hatte,  und  Fermat  hat  gewiss  der  allgemeinen  Uebung  sich 
nicht  entzogen.  Aber  sein  Verdienst  wird  durch  das  Vorhandensein 
dieses  um  300  Jahre  älteren  Vorgängers  um  nichts  geschmälert.  In 
jenen  300  Jahren  haben  Tauseude  vor  und  gleichzeitig  mit  Fermat 
den  Grundgedanken  der  Methode  der  unendlichen  Abnahme  genau  so 
wie  er  kennen  gelernt.  Sie  alle  haben  nicht  eingesehen,  welcher 
Ausdehnung  die  einmalige  Anwendung  des  Gedankens  durch  Cam- 
panus fähig  war,  sie  alle  gingen  achtlos  vorüber,  die  Perle  im  Frucht- 
haufen verschmähend,  bis  Fermat  sie  entdeckte  und  ihr  die  richtige 
Fassung  verlieh. 

Eine  zweite  Frage,  welche  sich  anknüpft,  ist  die  nach  dem  Zwecke 
und  der  Verbreitungsart  der  Relation  des  decouvertes  en  la  science 
des  nomhres.  Die  Vermuthung  spricht  dafür,  dass  sie  in  zahlreichen 
Abschriften  umlief,  dass  neben  derjenigen,  die  in  Leiden  sich  erhielt, 
andere  an  die  in  ihr  zum  Nacheifern  geradezu  herausgeforderten 
Mathematiker  gegangen  sein  müssen,  dass  jene  Herausforderung  den 
eigentlichen  Zweck  des  denkwürdigen  Schriftstückes  bildete.  Der  Er- 
folg aber  war  Null.  So  wenig  wir  zweifeln,  dass  Pascal  und  Roberval, 
Fremde  und  Wallis  die  Relation  erhielten  und  studirten  —  Bachet 
und  Descartes  waren  schon  todt,  als  sie  1G50  verbreitet  wurde  ^)  — 
ebenso  gewiss  ist  es,  dass  diese  Männer  nichts  herausstudirt  haben. 
Fermat's  Geheimniss  ist  sein  Geheimniss  geblieben  lange  über  das 
Grab  hinaus. 

Ausser  in  der  Relation  hat  Fermat  noch  an  einer  Stelle  seines 
Verfahrens  unendlicher  Abnahme  gedacht,  allerdings  ohne  diese  Wort- 
verbindung zu  gebrauchen.  Das  erste  in  der  Relation  angeführte 
Beispiel  der  Anwendung  der  unendlichen  Abnahme  war  das  von  der 
Unmöglichkeit  eines  ganzzahligen  rechtwinkligen  Dreiecks  mit  einer 
Quadratzahl  als  Fläche.  Diesen  Satz  kannte  Fermat  1686,  als  er  für 
den  Herrn  von  Ste.  Croix  Aufgaben  zusammenstellte,  welche  Unmög- 
liches verlangten  =^),  auf  ihn  kam  er  in  seinen  Diophantanmerkungen 
zurück^).    Der  letzte  Satz  des  VI.  Buches  des  Diophant  hatte  Bachet 


^)  Tannery  im  Bulletin  Darboux  XXVIII,  61— 62.         ^)  Tannery  pag.  8. 
^)  Diophant  pag.  338—339  (deutsch  294—295). 


Zahlentheorie.     Algebra.  781 

Gelegenheit  geboten,  noch  eine  ganze  Anzahl  von  Aufgaben  über  das 
ganzzahlige  rechtwinklige  Dreieck  folgen  zu  lassen.  Die  20.  derselben 
betraf  die  Auffindung  eines  rechtwinkligen  Dreiecks  von  gegebener 
Fläche,  und  an  sie  knüpfte  Fermat  als  Bedingung,  unter  welcher 
allein  eine  Auflösung  möglich  ist,  den  Ausschluss  einer  Quadratzahl 
als  Fläche.  Er  hat  auch  den  Beweis  jener  Unmöglichkeit  in  räthsel- 
hafter  Kürze  angedeutet,  dessen  Schluss  allein  ganz  klar  und  ver- 
ständlich ist:  „Wenn  es  also  zwei  Quadrate  giebt,  deren  Summe  und 
Differenz  Quadrate  sind,  so  giebt  es  auch  zwei  andere  ganze  Quadrat- 
zahlen von  derselben  Beschaffenheit  wie  jene,  welche  aber  eine  kleinere 
Summe  haben.  Durch  dieselben  Schlüsse  findet  man,  dass  es  eine 
noch  kleinere  Summe  als  die  vermittels  der  ersteren  gefundene  giebt, 
und  so  werden  ins  Unendliche  fort  immer  kleinere  ganze  Quadrat- 
zahlen  gefunden  werden,  welche  dasselbe  leisten.  Das  ist  aber  un- 
möglich, weil  es  nicht  unendlich  viele  ganze  Zahlen  geben  kann, 
welche  kleiner  sind  als  eine  beliebig  gegebene  ganze  Zahl.  Den  Be- 
weis ganz  und  ausführlicher  hier  mitzutheilen,  dazu  reicht  der  Raum 
nicht  aus."  Der  vollständige  Beweis  findet  sich  in  Frenicle's  weiter 
unten  zu  nennenden  Abhandlung  über  ganzzahlige  rechtwinklige  Drei- 
ecke. Man  wird  ihn  vielleicht  als  Fermat's  Eigenthum  betrachten 
müssen,  da  Fermat  einmal  ausdrücklich  sagt^),  er  habe  an  Frenicle 
die  durch  unendliche  Abnahme  geführten  Beweise  einiger  Unmöglich- 
keitssätze geschickt. 

Wir  haben  die  Namen  der  Männer  hervorgehoben,  welche  Fermat 
vermuthlich  unmittelbar,  jedenfalls  mittelbar  zur  Nacherfindung  seines 
Verfahrens  und  dadurch  zu  einer  Art  von  Wettkampf  herausforderte. 
Von  einer  Thätigkeit  Roberval's  in  der  Zahlentheorie  ist  nichts 
bekannt.  Fermat  dürfte  ihn  nur  erwähnt  haben ,  weil  er  dessen 
Fähigkeiten  überhaupt  hoch  anschlug,  und  weil  Roberval  in  dem  Brief- 
wechsel zwischen  Fermat  und  Pascal  als  eine  Art  von  Vertrauens- 
mann des  letzteren  vorkommt,  so  dass  es  für  Fermat  nahe  lag,  beide 
Persönlichkeiten  zu  verbinden. 

Pascal  hat  wirklich  zahlentheoretisch  gearbeitet.  Zwei  kleinere 
Abhandlungen  sind  uns  von  ihm  bekannt.  Die  erste  ^)  beschäftigt 
sich  mit  dem  Producte  von  Zahlen,  welche  in  der  natürlichen  Zahlen- 
reihe unmittelbar  aufeinanderfolgen,  also  mit 

a(a-f  l)(a  + 2)  ■••(«  +  /.•- 1), 
wo  a  und  Ti  positive  ganze  Zahlen  sind.     Er  nennt   ein  solches  Pro- 


')  Fermat,  Oeuvres  II,  436.  Auf  diese  Stelle  hat  uns  H.  G.  Wertheim 
aufmerksam  gemacht  und  die  entsprechenden  Folgerungen  aus  ihr  gezogen. 
-)  Pascal  III,  278—282. 


782  76.  Kapitel. 

duct  produit  des  nonibres  Continus  und  zwar  de  Vespece  k,  in  lateini- 
scher Sprache  produdiim  continu<yrum  sjjeciei  Ji.  Es  sei  das  erste  Mal, 
meint  Pascal,  dass  solche  Producte  untersucht  würden,  und  wenn  wir 
ihm  hierin  beizupflichten  haben,  so  ist  nicht  minder  richtig,  dass 
Pascal's  mathematischer  Blick  ihn  auf  einen  Ausdruck  leitete,  der 
hinfort  eine  immer  bedeutendere  Rolle  spielen  sollte.  Unter  Pascal's 
Sätzen  ist  der  erste  folgender,  dem  wir  freilich  durch  Anwendung  der 
Buchstaben  h  und  Je  eine  bei  ihm  nicht  vorhandene  Gestalt  geben: 
Wenn  h  und  Z:  ganze  Zahlen  sind,  so  findet  das  Yerhältniss  statt: 

l  ■'2---{h  —  i):  Jc(h  H-  1;  ■  •  •  (k  +  /'  —  2) 
=  1  •  2  ■  •  ■  (/;  —  1)  :  /i(Ä  +  1)  •  •  •  (h  +  Ic  —  2). 

Im  zweiten  Satze  ist  die  Theilbarkeit  von  cna  -|-  1)  •  •  •  (a  -|-  /.•  —  1) 
durch  1  •  2  •  ■  •  A"  ausgesprochen  und  mittels  der  Betrachtung  bewiesen, 
dass  ci(a-\-iy.^^.(a  +  k-i)  ^^^   ^,,  r^^^^   ^^^   j^  _^  ^,^„  Ordnung  eine 

ganze  Zahl  sein  müsse.  Dieser  Beweis  lässt  uns  zugleich  den  Zu- 
gangspunkt erkennen,  von  welchem  aus  Pascal  in  die  Betrachtung 
der  Eigenschaften  ganzer  Zahlen  eintrat.  Die  weitereu  Sätze  der 
Abhandlung  sind  nicht  von  grosser  Bedeutung. 

Pascal's  zweite  Abhandlung^),  die  wir  zu  nennen  haben,  hat  die 
Theilbarkeitsbedingungen  von  Zahlen  zum  Gegenstande,  insofern  die- 
selbe aus  der  Kenntniss  der  einzelnen  Ziffern  der  zu  prüfenden  Zahl 
hervorgehe:  Caracteres  de  divisihüite  des  nomhres,  deduits  de  la  con- 
nnissance  de  Ja  somme  de  leurs  cJiiffres,  oder  lateinisch:  De  numeris 
midtiplicibus  ex  sola  characierum  numericorum  additione  agnoscetidis. 
Die  Theilbarkeitsfrage  sei  allerdings  schon  vielfach  behandelt,  sagt 
Pascal  in  den  einleitenden  Worten,  und  das  Kennzeichen  der  Theil- 
barkeit durch  9  sei  Gemeingut,  aber  er  wolle  ein  ähnliches  Verfahren 
lehi-en,  welches  die  Theilbarkeit  durch  irgend  ein  Ä  zur  Entscheidung 
bringe.  In  Pascal's  eigener  Bezeichnung  ist  seine  Vorschrift  die  fol- 
gende. Er  schreibt  in  eine  Zeile  die  Zahlen  10  98765432  1. 
Unter  die  rechts  zu  äusserst  befindliche  1  schreibt  er  wieder  eine  1. 
Diese  vervielfacht  er  mit  10,  dividirt  das  Product  durch  A  und  schreibt 
den  Rest  B  unter  die  2.  Sodann  bildet  er  das  Zehnfache  von  B,  um 
es  wieder  durch  A  zu  dividiren  und  den  Rest  C  unter  die  3  zu 
setzen  u.  s.  w.,  so  dass  schliesslich  eine  Doppelreihe 

10    9    8     7654321 

K    IHGFEBCBl 
vorhanden  ist.     Soll  nun  etwa  TVNM,   d.  h.  T  Tausender,   Y  Hun- 


*)  Pascal  111/311—322. 


Zahlentheorie.    Algebra.  783 

derter,  T  Zehner,  M  Einer  auf  Theilbarkeit  durch  A  geprüft  werden, 
so  schreibt  man  die  Zahl  in  eine  dritte  Zeile  und  zwar  M  unter  1, 
N  unter  B,  V  unter  C,  T  unter  D  und  vervielfacht  so  wie  die 
Zeilenglieder  unter  einander  stehen,  worauf  man  die  Producte  addirt. 
Mit  anderen  AVorten,  man  bildet  die  Summe  1  •  M-\-B-N-\-C-  V-^BT 
und  mit  ihr  ist  TV  NM  gleichzeitig  durch  Ä  theilbar  oder  nicht. 
Natürlich  kann  man  die  Summe,  welche  man  erhielt,  neuerdings  einer 
ähnlichen  Prüfung  unterwerfen.  Wir  heben  aus  den  Eiuleitungs- 
worten  noch  besonders  hervor,  dass  Pascal  das  volle  Bewusstsein  von 
dem  Unterschiede  hatte,  welcher  zwischen  Zahlensystem  überhaupt 
und  dem  an  sich  zufälligen  decadischen  Systeme^)  besteht,  und  dass 
er  hierin  Vorgänger,  aber  jedenfalls  unbekannter  Vorgänger  von 
Caramuel  (S.  771)  war. 

Der  zweite  Mathematiker,  den  wir  nächst  Pascal  in  Frankreich 
als  Zahlentheoretiker  zu  nennen  haben,  ist  Beruhard  Frenicle 
de  Bessy")  (etwa  1602 — 1675).  Er  war  im  Müuzamte  angestellt  und 
gehörte  überdies  der  französischen  Academie  der  Wissenschaften  an, 
in  deren  Veröffentlichungen  seine  Abhandlungen  vereinigt  erschienen 
sind^).  Ihr  Gegenstand  ist  fast  ausschliesslich  zahlentheoretisch  oder 
zahlentheoretisch-combinatorisch,  indem  wir  z.  B.  die  Zauberquadrate 
unter  diese  letztere  Benennung  unterbringen  zu  sollen  glauben.  Die 
rein  zahlentheoretischen  Abhandlungen  beschäftigen  sich  vorzugsweise 
mit  ganzzahligen  rechtwinkligen  Dreiecken ,  triangles  redangles  en 
nomhres,  um  Frenicle's  Ausdruck  zu  gebrauchen.  Wenn  eine  Ab- 
handlung die  Ueberschrift  Methode  pour  trouver  la  Solution  des  problemes 
par  exelusiou  trägt,  so  ist  dieses  ein  einigermassen  irreführender  Titel. 
Eine  Methode  der  Ausschliessung  wird  hier  noch  weniger  gelehrt,  als 
wir  von  Fermat  sagen  durften,  er  habe  die  Methode  der  unendlichen 
Abnahme  gelehrt.  Bei  Frenicle  besteht  die  Ausschliessung  in  Fol- 
gendem: Irgend  ein  Satz,  z.  B.  ein  Satz  für  die  Seiten  eines  bestimmten 
ganzzahligen  rechtwinkligen  Dreiecks  wird  ausgesprochen.  Er  sei, 
heisst  es  weiter,  Sonderfall  eines  allgemeinen  Satzes,  dem  man  nach- 
zuforschen habe.  Nun  versucht  es  Frenicle  mit  einer  Erweiterung, 
aber  ein  anderes  bestimmtes  Beispiel  passt  für  diese  Erweiterung 
nicht,  sie  ist  folglich  unstatthaft.  Aehnlich  wird  eine  zweite,  viel- 
leicht eine  dritte  Erweiterung  versucht  und  durch  ihr  widersprechende 
Beispiele  ausgeschlossen.  Das  ist  es,  was  unter  der  exdusion  zu  ver- 
stehen ist.     Findet  sich  endlich  eine  allgemeine  Formel,  unter  welche 


^)  Systeme   dont  la  hase  est  de  xmre  Convention  contrairement  ä  ce  que  Je 
vulgaire  pense  sans  raison  aucim.  ■)  Poggendorff  I,  798.  —  Nouvelle  Bio- 

graphie universelle  XVIII,  803—805.  ^)  Me'moires  de  VAcademie  royale  des 

Sciences  {depuis  1666  jusqii'ä  1699),  Tome  V.    Paris  1729. 


784  76.  Kapitel. 

alle  vorgeführten  Einzelbeispiele  passen,  was  aber  nicht  methodisch 
bewerkstelligt  wird,  sondern  ganz  zufällig  sich  ergiebt,  so  ist  der  ge- 
suchte Satz  vielleicht  entdeckt,  keinenfalls  bewiesen,  wenn  man  jene 
Induction  nicht  als  Beweis  gelten  lassen  will.  Andere  Untersuchungen 
Frenicle's  müssen  unter  der  Hand  bekannt  gewesen  sein,  denn  aus 
diesen  von  der  Academie  veröffentlichten  Arbeiten  ist  die  grosse  Hoch- 
schätzung, welche  Fermat  insbesondere  Frenicle  widmete,  in  keiner 
Weise  zu  erklären.  Die  im  Commercium  epistolicum  (S.  773)  von 
Wallis  wiederholt  erwähnte  Schrift  Frenicle's:  Soluiio  duorum  prdble- 
matuni  circa  numeros  cnhos  et  quadratos  quae  tanquam  insolubüia  imi- 
versis  Europae  Maihemaiicis  a  clarissimo  viro  D.  Fermat  sunt  propo- 
sita  et  a  D.  B.  F.  D.  B.  invenia'^) ,  welche  1657  in  Paris  gedruckt 
wurde,  ist  zur  Zeit  unauffindbar. 

Was  Descartes  und  seine  zahlentheoretischen  Leistungen  be- 
trifft, so  sind  wir  auf  wenige  Andeutungen  angewiesen,  welche  in 
seinen  Briefen  an  Pater  Mersenne  vorkommen.  Die  Zahlen  30240, 
32760  u.  s.  w.  bis  zu  einer  zwölfziffrigen  Zahl  403031236608  nennt 
Descartes  als  solche,  deren  aliquote  Theile  ihr*  Dreifaches  als  Summe 
haben,  also  90720,  98280, .  .  .  endlich  1209093709824.  Die  aliquoten 
Theile  von  14182439040  geben  als  Summe  das  Vierfache  dieser  Zahl 
56729756160.  Ganz  zufälliges  Auffinden  so  grosser  Zahlen  mit  der- 
artigen Eigenschaften  ist  wohl  ausgeschlossen,  aber  wie  verfahren 
worden  ist,  deutet  Descartes  nicht  an.  Er  bediene  sich  seiner  Ana- 
lysis  bei  derartigen  Fragen;  sie  so  auseinanderzusetzen,  dass  sie  von 
Leuten  verstanden  werden  könne,  welche  auf  andere  Methoden  ein- 
geübt seien,  nähme  zu  lange  Zeit  in  Anspruch.  In  einem  anderen 
Briefe  redet  Descartes  von  vollkommenen  Zahlen  und  von  der  Mög- 
lichkeit, dass  es  solche  gebe,  welche  ungerad  seien,  eine  Möglichkeit, 
welche  er  allerdings  auf  den  Fall  beschränkt,  dass  die  betreffende 
vollkommene  Zahl  Product  einer  Primzahl  in  die  Quadrate  anderer 
Primzahlen  sein  könnte.  Auch  Briefe  an  Frenicle  sind  vorhanden, 
welche  ähnliche  Fragen  berühren,  doch  ist  nirgend  ein  Hinweis  auf 
LTntersuchungsverfahren  zu  finden.  Descartes  vermeidet  vielmehr  und 
namentlich  in  Briefen  an  oder  für  Fermat,  vielleicht  weil  er  sich 
aus  Gründen,  von  welchen  später  die  Rede  sein  wird,  diesem  gegen- 
über doppelter  Vorsicht  befleissigen  zu  müssen  glaubte,  jedes  Eingehen 
auf  zahlentheoretische  Dinge,  gleich  als  wenn  er  sich  nicht  mehr 
damit  beschäftigte -J. 

')  B.  P.  D.  B.  =  Bemard  Frenicle  de  Bessy.  -)  Oe^lvres  de  Descartes 

(ed.  Cousin)  VII,  70:  Je  supplie  aussi  M.  de  Fermat  de  m'excuser  de  ce  qite  je 
ne  reponds  point  ä  ses  autres  questions;  car  comme  je  vous  ai  mande  par  mes 
precedentes,  e'est  un  exercise  auquel  je  renonee  entierement. 


Zableutheorie.     Algebra.  785 

Noch  ein  französischer  Schriftsteller  hat  hier  seinen  Platz  zu 
finden:  Jaques  de  Billy ^)  (1602 — 1679)^  ein  Mitglied  des  Jesuiten- 
ordens, Lehrer  der  Mathematik  in  Dijon.  Sein  Hauptwerk  ist  der 
1643  erschienene,  493  Seiten  starke  Quartband  Noca  Geonietriae  Clavis 
Äl(/ehm,  in  welchem  die  mannigfachsten  Aufgaben  über  proportionale 
Grossen  erst  algebraisch  und  dann  auf  Grund  des  gewonnenen  Er- 
gebnisses durch  Zeichnung  gelöst  werden-).  Von  der  gleichen  Natur 
ist  ein  1660  durch  den  Druck  veröiFentlichtes  Werk:  Diophantus 
ffconietm  sive  opus  contextum  ex  arithmetka  et  geometria.  Nach  einem 
in  schwülstige  Worte  gekleideten  Lobe  des  Diophant,  welcher  in  der 
Arithmetik  das  sei,  was  Cicero  als  Redner,  Virgil  als  Dichter,  Hippo- 
krates  als  Arzt  u.  s.  w.,  werden  81  Aufgaben  aus  den  verschiedenen 
Büchern  Diophant's  mehr  oder  weniger  ausführlich  und  zum  Theil 
recht  geschickt  behandelt.  Z,  B.  gleich  die  erste  Aufgabe  des  L  Buches 
des  Diophant,  eine  gegebene  Zahl  als  Summe  zweier  Zahlen  von  ge- 
gebenem Unterschiede  darzustellen,  wird  zunächst  an  den  bestimmten 
gegebenen  Zahlen  behandelt  (100  als  gegebene  Summe,  40  als  gege- 
bener Unterschied  lassen  30  und  70  als  die  gesuchten  Zahlen  erkennen). 
Dann  lässt  Billy  eine  allgemeine  algebraische  Auflösung  folgen  und 
endlich  die  geometrische  Darstellung,  welche  aber  selbst  eine  dreifache 
ist,  je  nach  dem  Rauragebilde,  welches  zur  Versiunlichung  der  Zahlen 
in  Anwendung  tritt.  Es  wird  also  eine  Strecke,  ein  Quadrat,  ein 
Würfel  in  zwei  Gebilde  gleicher  Natur  zerlegt,  deren  Unterschied 
wieder  eine  gegebene  Raumgrösse  derselben  Art  (Strecke,  Quadrat, 
Würfel)  ist.  Die  Constructionen,  welche  dazu  dienen,  sind  zum  Theil 
recht  hübsch.  Als  zweiter  Theil  des  Diophantus  geometra  sind  noch 
weitere  59  algebraische  Aufgaben  geometrisch  gelöst,  welche  nicht 
aus  Diophant's  Arithmetik  stammen.  Die  vier  unter  Nr.  25 — 28  be- 
handelten Aufgaben  beziehen  sich  z.  B.  auf  die  Einbeschreibung  von 
Quadraten  und  Rechtecken  in  gegebene  Dreiecke,  Aufgaben  also, 
welche  seit  Heron  von  Alexandria  (Bd.  I,  S.  361  und  684)  Mathema- 
tiker der  verschiedensten  Zeiten  beschäftigt  haben.  Ein  drittes  Werk 
führt  den  Titel:  Dioplmnü  redivivi  pars  prior  et  xmrs  posterior  und 
ist  1670  in  Lyon  gedruckt.  Im  ersten  Theile  werden  in  drei  Kapiteln 
172  Aufgaben  über  das  rechtwinklige  Dreieck  im  Anschlüsse  an  das 
sechste  Buch  des  Diophant,  im  zweiten  Theile  85  und  in  einem 
Epiloge  noch  sechs  weitere  unbestimmte  Zahlenaufgaben  behandelt. 
Billy  stand  auch  mit  Fermat  in  Briefwechsel  über  zahlentheoretische 
Gegenstände.     Die  schon  oft  von  uns  erwähnte  Diophantausgabe  von 


^)  Poggendorff  I,  l'Jl.         -    -)  G.  Wertheim  brieflich  über  sämmtliche 
Schriften  De  Billy ".s. 

Caxtor,  GeschichtG  der  Malliem.    II.     2.  Aufl.  .ÖO 


786  76.  Kapitel. 

1670  enthält  als  Einleitung  eine  Schrift  Billy's:  Dodrinae  anahjticae 
inventum  novum,  welche  aber  durch  die  Zusatzbemerkung  zu  dem 
Titel:  ex  variis  epistolis  quas  ad  eiim  diversis  tcmporihiis  misit  D.  P. 
de  Fermat  Senator  Tolosanus,  mag  sie  von  Billy  herrühren  oder  von 
dem  jüngeren  Fermat  beigefügt  sein,  jedenfalls  kundgiebt,  dass  man 
Fermat  mit  grösserem  Rechte  als  Billy  als  den  Verfasser  zu  nennen 
hätte.  Das  Inventum  novum  beschäftigt  sich  mit  sogenannten  dop- 
pelten und  dreifachen  Gleichungen,  d.  h.  mit  der  Auffindung 
von  ganzen  Zahlen,  welche  zwei  oder  drei -Ausdrücke,  in  denen  sie 
vorkommen,  zu  vollständigen  Quadraten  machen.  Doppelte  Glei- 
chungen in  diesem  Sinne  des  Wortes  hatte  Diophant  bereits,  drei- 
fache noch  nicht. 

Neben  diesen  Schriftstellern  über  Zahlentheorie  nannten  wir  an 
verschiedenen  Stellen  gelegentlich  und  nennen  wir  jetzt  wiederholt 
zwei  Mittelspersonen  wissenschaftlichen  Verkehrs,  deren  weit  ver- 
zweigter Briefwechsel  ungefähr  die  wissenschaftlichen  Zeitschriften 
späterer  Zeit  ersetzte,  wenn  auch  ungenügend  ersetzte,  da  es  vielfach 
vom  Zufalle,  von  der  grösseren  oder  geringeren  Mittheilungslust,  von 
freundschaftlichen  oder  feindseligen  Gesinnungen ,  von  räumlichem 
Beisammensein  oder  augenblicklichen  Entfernungen  dieser  oder  jener 
Persönlichkeit  abhing,  ob  die  gemeldete  Neuigkeit  zur  rechten  Zeit 
an  die  rechte  Bestimmung  gelangte.  Genug,  es  gab  damals  nur 
solchen  Briefverkehr,  auch  die  Druckgabe  von  Academieschriften  fällt 
erst  in  das  Ende  des  XVII.  Jahrhunderts  und  noch  später.  Die  Per- 
sonen, welche  wir  meinen,  sind  Peter  von  Carcavy  und  Pater 
Mersenne  in  Frankreich.  Von  Carcavy  haben  wir  (S.  758)  das 
Nöthige  mitgetheilt.  Pater  Marie  Mersenne^)  (1588 — 1648)  gehörte 
dem  Minoritenorden  an  und  lebte  in  den  Klöstern  seines  Ordens  in 
Paris,  Nevers,  dann  wieder  in  Pasis.  Er  machte  aber  auch  verschie- 
dene Reisen  nach  Italien  und  nach  den  Niederlanden,  bei  welchen  er 
zahlreiche  Verbindungen  anknüpfte.  Einen  ähnlich  weiten  Bekannten- 
kreis wie  Carcavy  und  Mersenne  besass  ein  Engländer,  der  aber  ver- 
möge seines  laugen  Aufenthaltes  in  Paris  fast  als  Franzose  gelten 
kann.  Sir  Kenelm  Digby^j  (1603—1665)  war  der  Sohn  eines  Ver- 
schwörers und  selbst  politischen  Umtrieben  zugethan.  So  kam  es, 
dass  er  seine  Heimath  wiederholt  zu  verlassen  sich  genöthigt  sah. 
Er  führte  in  Paris  das  Leben  eines  Flüchtlings.  In  Frankreich  wurde 
er  Anhänger  der  Descartes'schen  Richtung.  Die  Beziehungen  der  drei 
Männer  zu  den  zahlentheoretischen  Bestrebungen  der  Zeit  waren  fol- 


^)  Oeuvres  completes  de  Christian  Hnygens  I,  19  Note  1.        -)  Ebenda  ü,  12 
Note  2. 


Zahlentheorie.     Algebra.  787 

gende.  Mersenne  haben  wir  als  den  Empfänger  von  Briefen  bezeich- 
net, in  welchen  Fermat,  in  welchen  Descartes  manche  zahleutheore- 
tische  Mittheilung  machten.  Durch  Carcavy's  Vermittelung  kam  Fermat's 
Relation  nach  Leiden.  Digby  übersandte  in  Fermat's  Auftrage  seine 
Aufgaben  nach  England,  damit  mau  dort  an  deren  Auflösung  sich 
versuche.  So  muss  man  sagen,  dass  Fermat  überall  im  Vordergrunde 
steht,  dass  er  nach  Leonardo  von  Pisa  zuerst  wieder  als  Er  weiterer 
der  Mathematik  nach  zahlentheoretischer  Richtung  auftrat,  während 
man  von  Regiomontan  höchstens  sagen  kann,  dass  er  über  die 
längst  gesteckten  Grenzen  hinansschaute,  ohne  sie  hinauszuschieben. 
Jetzt  war  ein  neues  Reich  der  Wissenschaft  eröffnet,  es  waren  in  ihm 
Ziele  gesteckt^  zu  deren  Erreichung  selbst  wieder  neue  Wege  gebahnt 
werden  mussten,  welche  von  Geistesverwandten  Fermat's  in  späteren 
Jahrhunderten  eröffnet  wurden. 

Bereits  nicht  mehr  so  neu  war  die  Algebra,  die  Lehre  von 
den  Gleichungen.  Wir  haben  für  sie  den  Zeitpunkt  wesentlich 
neuer  Entdeckungen  schon  vor  und  in  der  ersten  Hafte  des  XVL  Jahr- 
hunderts beginnen  sehen,  aber  der  erreichbar  höchste  Punkt  war  noch 
keineswegs  wirklich  erreicht.  Wir  haben  auch  in  den  ersten  60  Jahren 
des  XVn.  Jahrhunderts  neue  Fortschritte  aufzuzeichnen,  in  deren 
Spuren   eintretend  unmittelbare  Nachfolger  weitere   Stufen    erstiegen. 

Albert  Girard  gab  1629  seine  Invenüon  nouvdle  en  Valgehre^) 
heraus,  eine  Schrift  von  nur  64  Quartseiten,  aber  reichen  Inhaltes. 
Von  trigonometrisch  wichtigen  Dingen,  welche  dort  zu  finden  sind, 
war  S.  709  die  Rede.  Jetzt  haben  wir  es  mit  dem  zu  thun,  was 
durch  den  Titel  recht  eigentlich  in  Aussicht  gestellt  ist.  Zunächst 
sind  einige  Bezeichnungen  Girard's  zu  bemerken  und  vor  allem  die 
Klammern  als  Zeichen  der  Zusammengehörigkeit  verschiedener  Aus- 
drücke zum  Zwecke  der  Ausführung  einer  neuen  Operation,  welche 
Girard  in  die  Buchstabenrechnung  einführte.  Weniger  glücklich  war 
er  in  Beibehaltung  von  Vieta's  Zeichen  =,  welches  zwischen  zwei 
Ausdrücken  befindlich  ihre  Differenz  bezeichnen  sollte,  mag  nun  der 
erste  oder  der  zweite  der  grössere  sein  (S.  631).  Auch  Zeichen  für 
grösser  und  für  kleiner  benutzte  Girard;  AffB  hiess:  A  ist  grösser 
als  B,  während  B%A  gelesen  wurde:  B  ist  kleiner  als  A-^  beides 
kam  bald  in  Vergessenheit.     Zeichen  der  Addition  ist  bei  Girard  -f"? 

Zeichen  der  Subtraction  —  oder  auch  -^ ,  Zeichen    der  Division  ein 

A. 
Bruchstrich  -^-    Zur  Multiplication  dient  das  einfache  Nebeneinander- 

^)  H.  Bierens  de  Haan  hat  1884  in  Leiden  die  ungemein  selten  gewor- 
dene Schrift  neu  drucken  lassen.  Auszüge  in  Klügel,  Mathematisches  Wörter- 
buch I,  52 — 57  und  in  den  Nouvelles  annales  de  mathe'matiques  XIV,  Bulletin  de 
hihliograpliie  pag.  135—152. 

50* 


788  76.  Kapitel. 

setzen  zweier  Buchstaben  All  Ein  Gleicliheitszeichen  kommt  nicht 
vor,  Girard  schreibt  vielmehr  statt  dessen  das  Wort  egale.  Für  die 
Unbekannten  wendet  Girard,  offenbar  in  Nachfolge  von  Yieta,  die 
Vocale  an^).  In  der  Potenzbezeichnung  schliesst  sich  Girard  einiger- 
massen  an  Stevin  an.  Wie  jener  den  Exponenten  einringelte,  so 
klammert   Girard    ihn   ein   und   setzt   ihn   vor    den    zu    potenzirenden 

Ausdruck,  (—)  49  bedeutet  also  49 2"  =  343.    An  Stevin  erinnert  auch 

der  Glaube  Girard's  an  ein  weises  Jahrhundert^).  Die  Unterscheidung 
positiver  und  negativer  Zahlen  bei  der  Quadratwurzelausziehung, 
sowie  das  Auftreten  imaginärer  Quadratwurzeln  ist  Girard  ganz  ge- 
läufig^) und  ebenso  das  Auftreten  solcher  Zahlen  als  Gleichungs- 
wurzeln, welches  er  zu  erklären  unternimmt.  Das  Minuszeichen  be- 
deute geometrisch  eine  Bewegung  in  entgegengesetztem  Sinne  als  das 
Pluszeichen'*).  An  einer  anderen  Stelle  sagt  er,  man  dürfe  negative 
Gleichungswurzeln  nicht  unbeachtet  lassen^).  Der  Grund  dazu  liegt 
in  Folgendem:  Girard  weiss,  dass  jede  Gleichung  so  viele 
Wurzeln  besitzt,  als  ihr  Grad  anzeigt,  und  dass  die  Coeffi- 
cienten  der  einzelnen  Potenzen  der  Unbekannten  aus  den 
Combinationen  der  Wurzeln  zu  aufeinanderfolgenden  Klas- 
sen sich  zusammensetzen.  Er  nennt  die  Summe  der  Wurzel- 
werthe  premiere  faction,  die  ihrer  Verbindung  zu  zweien,  dreien 
deuxieme  faction,  troisieme  faction  u.  s.  w.^).  An  dem  Gesetze  der 
Coefficientenbildung  wird  er  auch  nicht  irre,  wenn  gleiche  Wurzeln 
vorkommen  und  ebensowenig,  wenn  imaginäre  Wurzelwerthe  auftreten. 
Bei  der  Gleichung,  welche  man  gegenwärtig  x^  —  4a; -|- 3  =  0  schreiben 
würde,  und  deren  vier  Wurzeln  x-^  ^  1,  ä\>  =  1 ,  x^  =  —  1  -\-  Y —  2 , 
x^=  —  1 — ]/ — 2  er  kennt,  steUt  er  geradezu  die  Frage,  wozu 
jene  imaginären  Wurzeln  dienen,  und  er  beantwortet  die  Frage 
dahin,  dass  es  eben  andere  Wurzeln  nicht  gebe,  und  dass  sie  die  All- 
gemeinheit des  Bildungsgesetzes  erläutern '').  Diese  Kenntnisse  Girard's 
sind  geläuterter,  möchte  man  sagen,  als  die  seiner  Vorgänger,  aber 
wesentlich  neu  sind  sie  nicht.     Dieses  Beiwort  verdient  dagegen  ein 


*)  les  voyelles  se  posent  pour  les  choses  incognues.  -)  ceste  science  incogniie 
jusques  ä  present,  si  ce  n'est  devant  le  deluge.  *)  Soit  -\-  9,  sa  racine  est  -{-  3 
Oll  bien  —  3,  mais  la  racine  de  —  9  est  indicihle  et  n'est  ny  -\-ny  — .  *)  Jus- 
ques icy  nous  n'avons  encore  explique,  ä  quoy  servent  les  Solutions  par  —  quand 
il  y  en  a.  La  Solution  par  —  s'explique  en  geometrie  en  retrogradant  et  le  — 
recule  Ja  ou  le  -{-  avance.  ^)  or  les  solutions  par  —  ne  se  doivent  omettre. 

®)  la  nature  des  equations  qui  est  qu'icelles  ont  leurs  ternies  compose  des  factions. 
')  On  pourroit  dire:  ä  quoy  sert  ces  solutions  qui  sont  impossihles?  Je  reponds: 
poiir  trois  choses,  pour  la  certitude  de  la  reigle  generale,  et  qu'il  n'y  a  point 
d'aidres  solutions,  et  pour  son  utilite. 


Zablentheorie.     Algebra. 


789 


von  ihm  ausgesprochener  Satz:  Girard  weiss  die  Summen  der 
vier  ersten  Potenzen  der  Wurzelwerthe  einer  Gleichung  aus 
den  Gleichungscoefficienten  herzustellen.  Er  nennt  bei  dieser 
Gelegenheit  die  Coefficienteu  nicht  fadioii,  sondern  niesle  und  be- 
zeichnet sie  durch  aufeinanderfolgende  Initialen,  ohne  Rücksicht  da- 
rauf, dass  ihm  A  sonst  eine  Unbekannte  darstellt.  Er  kennt  also 
A  als  Premier  meslc,  B  als  second,  C  als  troisiesme,  D  als  quatriesme 
(nämlich  immer  meslc  hinzugedacht).     Dann  schreibt  er: 


A 

2 

Solutions 

Alors  en 

g 

Aq  —  B'2 

g  ^ 

quarez 

toute  Sorte 

^  ^ 

Acnh  -  ABS-{-VS 

^  -Ö 

Cubes 

d'equation 

ö 

Aqq  —  AqB4-{-AC4:  +  Bq2- 

-D4 

quare-quj 

In  heutiger  Schreibweise  würde  der  Satz  so  aussehen.   Seien  x^,  x.^^ 


iie  Wurzeln  der  Gleichung 

'    -j-  (hX""'  «3 


X"  —  a^^x 
so  ist 

Zx  =  a 


-f-  a^x"- 


«1,      Zx-  =  lY  —  2  «2,      Zx^  =  «j-"  - 
2.V  =  «1^  —  4a^^a.,  +.4«!«.,  -\-  2a.r 


■■•±a,=0, 
-  4a^. 


Den  Werth  anderer  symmetrischer  Functionen  der  Gleichungswurzeln 
criebt  Girard  nicht  au,  er  wird  also  solche  vermuthlich  nicht  weiter 
gekannt  haben.  Eine  Bemerkung  Girard's  über  das  Ausziehen  der 
Kubikwurzel  aus  der  Summe  einer  rationalen  Zahl  und  einer  Quadrat- 

3. ^ 

Wurzel   ist  folgende.     Es  sei    Va-j-Yh^^a-^-  ]//3,  so   folgt   daraus 

yä}'  —  h  =  a-  —  ß  und  ebenso  yh  —  er  =  ^  —  a^ ,  und  darin  be- 
steht Girard's  beweislos  ausgesprochene  Behauptung.  Genau  ebenso 
beweislos  hatte  (S.  44ü)  Michael  Stifel  den  allerdings  nicht  ganz 
so  deutlich  ausgesprochenen  Zusammenhang  als  Zusatz  zu  der  Rudolff- 
schen  Coss  veröffentlicht,  doch  scheint  Girard  keine  Kenntniss  davon 
besessen  zu  haben,  weil  er  sonst  kaum  als  Einleitung  besonders  be- 
tont hätte,  Niemand  habe  die  Kubikwurzelausziehung  aus  Binomien 
noch  erfunden^).  Die  Regel,  welche  Girard  aus  ya^  —  h=  a"  —  ß 
mit    gleichzeitiger    Berücksichtigung    von    a  =  a^  -{-  "daß,    also    von 

a>a^,  sich  bildet,  besteht  darin:  zuerst  wird  der  Zahlenwerth  ya^  —  h 
gesucht,  dessen  Rationalität   allerdings  vorausgesetzt  ist;    dann  nimmt 


')  L'extraction  Ctihique  des  binomes  n'rfttaiit  t'ucarc  iiwentee  de  personne,  on 
pourra  servir  de  la  reigle  suyvante. 


790  76-  Kapitel. 

mau  alle  a  >  "j/a  und  bildet   aus    ihueu  rr;   zieht  mau  von  jedem  «- 


die  Zahl  yaF —  h  ab,  so  erscheint  das  zu  jenem  «^  gehörige  ß,  und 
man  gewinnt   somit   alle    die  Ausdrücke   a  -f  Y^,    von    denen    einer 

Früher  als  Girard's  Invention  nouvelle  en  l'algebre  wurde  jeden- 
falls ein  Werk  verfasst,  welches  wir  gleichwohl  nach  jenem  nennen, 
weil  es  nicht  früher  als  1631  an  die  Oeffentlichkeit  gelangte.  Thomas 
Harriot^)  (1560 — 1621)  ist  in  Oxford  geboren  und  als  Schüler  der 
dortigen  Hochschule  aufgewachsen.  Im  Jahre  1585  machte  er  im 
Auftrage  von  Sir  Walter  ßaleigh  eine  Reise  nach  Virginien,  um  das 
Land  auszumessen,  wovon  er  die  Ergebnisse  1588  unter  der  üeber- 
schrift:  A  brief  and  true  report  of  the  new  found  land  of  Virginia 
veröffentlichte.  Einen  reichen  und  sachverständigen  Gönner  fand 
Harriot  in  Henry  Percy  Earl  of  Northumberland,  dem  er  seine  Ent- 
deckungen mitzutheilen  pflegte.  Die  wichtigsten  derselben  gehören 
der  Astronomie  und  der  Physik  an.  Der  Mathematiker  Harriot  ist 
ausschliesslich  durch  sein  nachgelassenes  Werk  Ärtis  analytkae  praxis 
bekannt,  welches  1631,  mithin  zehn  Jahre  nach  dem  Tode  des  Ver- 
fassers, durch  Walter  Warner  herausgegeben  wurde.  Genannt  hat 
sich  der  Herausgeber  allerdings  nicht,  auch  nicht  innerhalb  der  offen- 
bar von  ihm  herrührenden  Vorrede,  in  welcher  der  Verdienste  der 
Italiener,  Stevin's  und  besonders  Vieta's  um  die  Algebra  rühmend 
gedacht  ist.  Manches  dürfte  noch  handschriftlich  in  Oxford  aufbe- 
wahrt werden,  dessen  Durchmusterung  wünschenswerth  erscheint; 
denn  wenn  Percy,  der  Vertraute  Harriot's,  in  einem  erhaltenen  Brief- 
fragmente zu  ihm  sagt,  Vieta  habe  ihn  um  die  Ehre  gebracht,  Er- 
finder der  Algebra  geworden  zu  sein-),  so  ist  man  versucht,  diesem 
Ausspruche  eine  breitere  Grundlage  zu  geben,  als  die  der  Artis  ana- 
lyticae  praxis,  selbst  wenn  diese  schon  vor  1591,  also  vor  dem  Er- 
scheinen von  Vieta's  In  artem  analyticam  isagoge  (S.  629)  druckreif 
gewesen  sein  sollte.  Ein  so  frühes  Datum  kann  aber  nicht  vermuthet 
werden,  weil  sonst  nicht  in  der  Vorrede^)  des  Herausgebers  und  noch 
weniger  in  dem  Werke  selbst  das  Früherrecht  gerade  Vieta's  so  stark 
anerkannt  sein  könnte,  als  es  der  Fall  ist^).     Nehmen  wir  die  grosse 


1)  Kästner  111,42—46  und  176—181.  —  Montucla  II,  105—111.  — 
Klügel,  Mathematisches  Wörterbuch  I,  47 — 51.  —  v.  Zach,  Monatliche  Corre- 
sponclenz  VIII,  43 — 60.  -)   Vieta  prcvented  you  of  the  Gharland  for  the  greate 

Invention  of  Algebra.  ^)  Exegetice  ista  niimerosa  est  quam  Mc  proferimus  e 
Thomae  Harrioti  nostri  schediasmatis  depromptam;  non  quidem  tit  priinis  Vietae 
cogitationibus  formata  est,  sed  posterior ibus  Harrioti  reformatam.  *)  Artis  ana- 
lyticae  praxis  pag.  2,  Befinitio  7 :  Huic  analytices  parti  a  Francisco  Vieta,  magno 


Zahlentheorie.     Algebra.  791 

Aehnlichkeit  manclier  Kimstansdrüeke  hinzu,  welchen  wir  bei  Vieta 
und  Harriot  begegnen,  so  besteht  kein  Zweifel,  dass  so  weit  die  Artis 
analyticae  praxis  allein  massgebend  bleibt,  Harriot  nur  als  Schüler, 
nirgend  als  Nebenbuhler  Vieta's  erscheint.  Für  Harriot  ist  jede  Glei- 
chung dadurch  entstanden,  dass  Factoren  von  der  Gestalt  a  —  h  oder 
a  -\-  c  oder  a  -\-  d,  wobei  a  die  Unbekannte  bezeichnet,  für  welche 
Vieta  die  luitialvocale  A  u.  s.  w.  benutzte,  mit  einander  vervielfacht 
wurden.  Alsdann  wird  das  die  Unbekannte  nicht  enthaltende  Glied 
mit  entgegengesetztem  Vorzeichen  rechts  vom  Gleichheitszeichen  ge- 
schrieben, alle  übrigen  Glieder  bleiben  links  stehen,  also  etwa 

aaa  —  haa  -\-  caa  -\-  äaa  — •  hca  —  hda  -\-  cda  =  hcd, 

in  der  Schreibweise  Harriot's,  welcher  die  Producte  durch  einfaches 
Nebeneinanderschreiben  der  Buchstaben  darstellte,  mochten  die  Fac- 
toren einander  gleich  oder  von  einander  verschieden  sein.  Ob  das 
rechtsstehende  Glied  positiv  oder  negativ  ausfällt,  gilt  Harriot  gleich, 
der  nur  darauf  sieht,  dass  das  höchste  Glied  links  mit  keinem  anderen 
Coefficienten  als  der  nicht  besonders  geschriebenen  positiven  Einheit 
behaftet  sei.  Das  Gleichheitszeichen  Reeorde's  benutzt  Harriot  fort- 
während, ausserdem  noch  den  liegenden  Winkel  <  beziehungsweise 
>  für  kleiner  und  grösser,  wie  er  seitdem  im  Gebrauche  geblie- 
ben ist.  Die  Gleichung  in  der  oben  angegebeneu  Form,  bei  welcher 
die  Entstehung  jedes  einzelnen  Gliedes  deutlich  hervortritt,  heisst  bei 
Harriot  acquatio  canonica,  und  das  ist  wohl  das  erste  geschichtliche 
Vorkommen  des  Ausdruckes  einer  canonischen  Form.  Bei  der 
aequatio  canonica  unterscheidet  Harriot  noch  die  acquatio  canonica 
jmmaria  von  der  acquatio  canonica  secundaria,  welche  dadurch  ent- 
steht, dass  durch  eigens  getroffene  Wahl  von  &,  c,  d  Glieder,  welche 
gleich  hohe  Potenzen  von  a  enthalten,  wegfallen,  z.  B.  die  Glieder 
mit  aa,  wenn  h  =  c  -^  d.  Sind  Glieder,  deren  Gesammtcoefficient 
nicht  verschwindet,  zusammengefasst  und  mit  einfachem  Buchstaben- 
coefficienten  oder  mit  einem  Buchstaben  coefficienten  mit  vorgesetztem 
Zahlencoefficienten  versehen,  in  welchem  das  Bildungsgesetz  nicht 
deutlich  hervortreten  kann,  so  nennt  Harriot  die  Gleichung  eine 
aequatio  communis,  und  ihre  Auflösung  beruht  dann  regelmässig 
darauf,  dass  sie  mit  der  canonischen  Gleichung  des  gleichen  Grades  zu- 
sammengestellt wird.  Harriot  vergleicht^)  z.B.  aaa  —  3hl>a  =  2ccc, 
wobei  c  >  6  vorausgesetzt  ist,  mit  der  durch  a  ^=  q  -\~  r  erfüllten 
canonischen  Gleichung  aaa  —  ?>rqa=  rrr  -\-  qqq.     Ist  nun  hh  =  rq, 


artis  analyticae  magistro,   Exegetices,   quasi  dedaratoriae  scu  exJdbitoriae  nomen 
impositiun  est. 

^)  Ärtis  analyticae  praxis.    Sectio  quinta.   Propositio  1,  pag.  79. 


702  7G.  Kapitel. 

2ccc  =  rrr  -\-  (['pi,  so  ist  der  üebergang  der  zweiten  dieser  beiden 
Gleicliungen  in  eine  solche,  in  welcher  nur  r  oder  nur  q  vorkommt 
und  leicht  daraus  gefunden  wii'd,  ersichtlich,  und  man  kann  also  auch 
r -{- q,  d.  h.  die  Wurzel  der  vorgelegten  Gleichung  finden.  Die  bei- 
gegebene Bedingung  c  >  ?>  führt  zu  c^>  1/,  d.  h. 


+  2,-3g3  +  g6^4,3,y; 


oder  zu    (— .^^  >  0, 


4  ^4 

was  sicherlich  wahr  ist.  Von  negativen  Gleichungswurzeln 
will  Harriot  nichts  wissen,  nur  positive  haben  für  ihn  einen 
Sinn.  Ja,  er  beweist  sogar,  dass  Gleichungen  nur  positive  Wurzeln 
besitzen!^)  Die  Gleichung  eee  —  dhhe  =  — -  ccc  —  21)hh  sei,  be- 
hauptet Harriot,  unmöglich,  impossibilis  est.  Denn  entweder  müsste, 
wenn  die  Gleichung  möglich  sein  sollte,  e  ^^h  oder  e  >  Z)  oder  e  <^h 
sein.  Die  Annahme  e  =  &  führe  zu  ccc  ^=  0,  was  unmöglich  sei.  Die 
AnnaKme  e  >  ?/  oder  e  =^1j  -\-  d  führe  zu  ^hdd  -\-  ddd  -\-  ccc  =  0, 
was  wieder  unmöglich  sei.  Endlich  die  Annahme  e  < ?>  oder  e=^h  ~  d 
führe  zu  ddd — ohdd  ^  ccc\  daher  müsse  d — 3&  positiv,  d  y- oh 
und  um  so  mehr  d^h  sein.  Die  Annahme  e  =  &  —  d  schliesse  aber 
Z>  >  fZ  ein,  also  sei  auch  hier  ein  Widerspruch  vorhanden,  der  den 
Beweis  der  Unmöglichkeit  der  Gleichung  vollende,  ein  Beweis,  der 
offenbar  nur  dann,  dann  aber  in  der  That  richtig  ist,  wenn  andere 
als  positive  Wurzelwerthe  ausgeschlossen  sind.  Eine  zweite  Abthei- 
lung-j  der  Artis  analyticae  praxis  führt  die  besondere  Ueberschrift 
Exef/etice  mimerosa  und  behandelt  die  Auflösung  von  Zahlengleichungen. 
Der  Grundgedanke  besteht  darin,  die  unbekannte  Grösse  als  Summe 
zweier  Theile  zu  betrachten,  deren  einer  bekannt  ist,  worauf  der 
zweite  näherungsweise  gefunden  wird.  Lässt  man  dann  ihre  Summe 
die  Rolle  des  ersten  Theiles  spielen,  so  gewinnt  man  wieder  einen 
natürlich  kleineren  zweiten  Theil  und  damit  eine  zweite  Annäherung 
u.  s.  w.  So  der  wesentliche  Inhalt  eines  Werkes,  von  dessen  Ver- 
fasser mau  gewiss  nicht  wird  behaupten  wollen,  er  verdiene  nicht 
einen  Platz  in  der  Geschichte  der  Algebra,  aber  von  dem  man  noch 
weit  weniger  behaupten  darf,  er  sei  Bahnbrecher  auf  diesem  Gebiete 
gewesen,  in  dessen  Werk  man  nicht  hineinlesen  darf,  was  nun  und 
nimmermehr  darin  enthalten  war^). 

Einen  wirklichen  Markstein  in  der  geschichtlichen  Entwickelung 
der  Lehre  von   den  Gleichungen   bildet    dagegen   die    Geometrie    von 


^)  Artis  amihjticae  praxis.    Sectio  sexta.    Problema  1.    Lemma  pag.  89 — 90. 
")  Ebenda  pag.  117—180.  ^)  Diesem  Fehler  xerüel  John  Wallis  in  seiner 

Algebra  von   1685.     Wer  seinen  Bericht   mit  der  Artis  analyticae   iwaxis    ver- 
gleicht, muss  glauben,  Wallis  habe  ein  ganz  anderes  Werk  vor  Augen  gehabt. 


Zahlentheorie.     Algebra.  793 

Descartes,  insbesondere  wenn  man,  wozu  es  an  Berechtigung  nicht 
fehlt,  auch  dasjenige  dazu  rechnet,  was  zur  mitunter  sehr  nothwen- 
digen  Erläuterung  von  Anderen,  Zeitgenossen  und  Schülern  des  Ver- 
fassers, hinzugefügt  worden  ist.  Die  Geometrie  erschien  zuerst  1637 
in  französiischer  Sprache').  Der  jüngere  Franciscus  van  Schooten 
veranstaltete  1649  die  Ausgabe  einer  lateinischen  Uebersetzung,  und 
ihr  folgte  1659  ein  erneuter  Abdruck  mit  zahlreichen  Ergänzungen 
von  verschiedenen  Verfassern  in  zwei  Bänden^).  Wiewohl  der  Titel 
der  in  drei  Bücher  gegliederten  Geometrie  einen  ganz  anderen  In- 
halt vermnthen  lässt,  und  wiewohl  auch  thatsächlich  Descartes  bei 
deren  Veröffentlichung  vorzugsweise  die  geometrischen  Gedanken  ver- 
breiten wollte,  welche  ihm  schon  Grosses  geleistet  hatten.  Grösseres 
in  sichere  Aussicht  stellten,  so  ist  die  Bedeutung  der  Geometrie  kei- 
neswegs in  ihnen  allein  zu  suchen.  Als  eine  etwas  bunt  gewürfelte 
Vereinigung  der  verschiedenartigsten  Untersuchungen  stellt  das  Werk 
sich  dar,  schwer  zu  verstehen,  namentlich  damals  schwer  zu  verstehen, 
als  es  erschien  und  dem  Leser  auf  Schritt  und  Tritt  ganz  neue  über- 
raschende Dinge  bot,  die  ihn  schier  zu  verwirren  geeignet  waren. 
Nicht  als  ob  der  Schriftsteller,  welcher  über  das  methodische  Denken 
geschrieben  hat,  nicht  im  Stande  gewesen  wäre,  klar  Erfasstes  auch 
fassbar  für  Andere  auszusprechen,  weit  entfernt  davon!  Aber  er 
schrieb  absichtlich  dunkel.  Er  that  es,  wie  er  in  einem  seiner  Briefe 
sich  einmal  ausgedrückt  hat,  weil  man  sonst  behauptet  haben  würde, 
es  sei  weder  Neues  noch  Bedeutendes  an  seinen  Entdeckungen.  Selbst- 
verständlich war  auch  nicht  Alles  neu,  aber  Verbesserungen,  Erwei- 
terungen, Nutzbarmachung  zu  neuen  Zwecken  finden  wir  aller  Orten 
bei  ihm,  wie  aus  dem  kurzen  Auszuge  ersichtlich  werden  wird,  den 
allein  wir  hier  geben  dürfen.  Um  bei  dem  Aeusserlichsten  anzufangen, 
nahm  die  Bezeichnung  der  Grössen  bei  Descartes  die  Gestalt  an,  welche 
sie  seitdem  beibehielt.  Statt  der  Vocale  benutzte  er  die  letzten 
Buchstaben  des  Alphabetes,  vorzugsweise  und  in  erster  Linie  x, 
sodann  ?/,  z  zur  Bezeichnung  der  Unbekannten,  die  ersten  Buchstaben 
a,  h,  c  u.  s.  w.  zur  Bezeichnung  der  bekannten  Grössen.  Wie  er  ge- 
rade auf  diese  Wahl  kam,  ist  nirgend  angedeutet.  Die  Annahme, 
dass  er  das  Bf  früherer  deutscher  Werke,  welches  er  auf  seinen  Reisen 
z.  B.  bei  Faulhaber  in  Ulm,  kennen  gelernt  haben  muss,  irrig  als 


^)  Ein  Abdruck  in  den  Oeuvres  de  Descartes  (ed.  Cousin)  V,  313 — 428. 
Spätere  besondere  Neudi-ucke  der  Geometrie  erfolgten  in  Paris  1886  und  1894. 
Eine  deutsche  Uebersetzung  von  Ludw.  Schlesinger  erschien  Berlin  1894. 
-)  Da  diese  lateinische  Ausgabe  von  16.59  die  unter  Mathematikern  weitaus  ver- 
breitetste  ist,  so  citiren  wir  ausschliesslich  nach  ihr  unter  dem  Titel:  Descartes, 
Geom.  mit  nachfolgender  Angabe  von  Band  und  Seitenzahl. 


794  76.  Kapitel. 

X  gelesen  und  durch  diesen  Buchstaben  zu  wiederholen  gedacht  habe, 
ist  noch  immer  nicht  ausgeschlossen,  wenn  auch  auf  die  Möglichkeit 
hingewiesen  worden  ist,  Cataldi's  X  (S.  623)  habe  als  Muster  gedient 
und  sei  in  x  übergegangen^).  Die  Potenzbezeichnung  nahm  bei 
Descartes  gleichfalls  die  Gestalt  an,  welche  ihr  bleiben  sollte.  Er  be- 
diente sich  rechts  erhöht  stehender  Exponenten.  Den  Exponenten  2 
findet  man  aber  bei  Descai-tes  nicht;  statt  dessen  ist  der  quadrirte 
Buchstabe  zweimal  geschrieben^),  also  aa,  nie  a'.  Allgemeine  Ex- 
ponenten wie  a"'  schrieb  Descartes  noch  nicht,  und  ebensowenig 
negative  oder  gebrochene.  Auch  Wurzelexponenten  über  den  Wurzel- 
zeichen kommen  bei  ihm  noch  nicht  vor.  Die  Quadratwurzel  ist 
durch  ein  einfaches  Wurzelzeichen,  die  Kubikwurzel  durch  Hinzu- 
setzung des  Buchstaben  C  zum  Wurzelzeichen  angedeutet^) 

Diese  Kubikwurzel  bringt  Descartes  bei  Auflösung  kubischer  Glei- 
chungen bei,  eine  Auflösung,  deren  Erfindung,  wie  er  sagt,  Car- 
danus einem  gewissen  Scipio  Ferren s  zuschreibe.  Wir  erwähnen 
dieses,  weil  hier  die  einzige  Stelle  der  Geometrie  ist,  in  welcher  über- 
haupt ein  verhältnissmässig  neuer  Schriftsteller  genannt  ist.  Sonst 
begegnet  man  höchstens  Namen  wie  Pappus,  Apollonius,  also 
von  Männern  des  Alterthums,  welche  als  Vorgänger  in  der  Algebra 
natürlich  nicht  in  Frage  kommen.  Die  Gleichungen  sind  meistens  auf 
Null  gebracht*),  wie  es  vereinzelt  schon  bei  Stifel  vorkam.  Eine 
Neuerung  von  Descartes  besteht  in  der  Andeutung  solcher  Glieder, 
die  in  dem  Gleichungspolynome  fehlen,  durch  ein  Sternchen^): 

wo  ausserdem  zweierlei  zu  beachten  ist:  der  Coefficient  1,  welcher 
bei  dem  quadratischen  Gliede  sich  findet,  den  aber  Descartes  nur  bei 
späteren  Gliedern  des  Gleichungspolyuomes,  nie  bei  dem  ersten  (hier  y^) 
schreibt,  und  das  aus  einer  umgekehrten  Yerschlingung  der  Buch- 
staben ae  entstandene  Gleichheitszeichen  jo. 

Jede   Gleichung    kann,    sagt   Descartes,    so   viele    unterschiedene 


1)  G.  Wertheim  in  der  Zeitschr.  Math.  Phys.  XLIV.  Histor.-liter.  Abthlg. 
S.  48.  *)  Genau  die.selbe  Gewohnheit  hatte  auch  Gauss,  dessen  Meinung  war,  eine 
Abkürzung  müsse  nur  dann  in  Anwendung  kommen,  weim  sie  wirklich  geringe- 
ren Platz  einnehme.  Nun  nimmt  aa  im  Drucke  nicht  mehr  Raum  ein  als  a^, 
also  hat  es  bei  der  ersten  Schreibweise  zu  verbleiben.  ^)  Descartes,  Geom. 
I,  93.         *)  Ebenda  I,  41 — 42  erstmalig.         '")  Ebenda  I,  71  erstmalig. 


Zahlentheorie.     Algebra.  795 

Wurzeln  oder  Werthe  besitzen,  als  ihr  Grad  anzeigt^).  Aber,  setzt 
er  auf  derselben  Seite  hinzu,  es  kommt  auch  häufig  vor,  dass  einige 
dieser  Wurzeln  falsch  oder  kleiner  als  Null  sind").  Und  wieder  an 
einer  anderen  Stelle :  Sowohl  die  wahren  (positiven)  als  falschen 
(negativen)  Wurzeln  sind  nicht  immer  reell,  sondern  mitunter  nur 
imaginär,  d.  h.  man  kann  in  jeder  Gleichung  die  Vorstellung  von  so 
vielen  Wurzeln,  als  ich  gesagt  habe,  sich  bilden,  aber  inzwischen 
giebt  es  keine  Grösse,  welche  unserer  Vorstellung  entspräche  ^).  Dieses 
Vorkommen  der  beiden  in  Gegensatz  zu  einander  gebrauchten  Wörter 
reell  und  imaginär  ist  das  erste,  welches  wir  bemerkt  haben.  Die 
Sache  selbst  war  keineswegs  neu,  und  Descartes  dürfte  hier  als  Schüler 
von  Girard's  Invcntioii  nouvdle  cn  l'algehrc  sich  verrathen,  welche 
in  Holland  ihm  unter  allen  Umständen  nicht  unbekannt  geblieben 
sein  kann. 

Noch  weniger  neu  war  es,  dass  das  Gleichungspolynom  als  Pro- 
duct  binomer  Factoren  ersten  Grades  zu  denken  sei,  dagegen  zog 
Descartes  zwei  neue  wichtige  Folgerungen,  welche,  so  nahe  sie  ims 
jetzt  zu  liegen  scheinen,  noch  nicht  gezogen  worden  waren.  Es  wird 
hervorgehoben^),  dass  das  Gleichungspolynom,  summa  aecßiationis, 
einer  Gleichung,  welche  mehrere  Wurzeln  besitzt,  stets  durch  ein 
Binomium  ersten  Grades  theilbar  sei,  welches  aus  der  Unbekannten 
minus  einem  positiven  Wurzelwerthe  oder  plus  einem  negativen 
Wurzelwerthe  bestehe,  und  dass  derartige  Divisionen  den  Grad  der 
Gleichung  um  ebensoviele  Einheiten  herabsetzen.  Es  wird  ferner  zu 
wiederholten  Malen  hervorgehoben^),  was  Cardano  (S.  530)  nur  leise 
zu  verstehen  gab,  dass  die  Wurzelwerthe  einer  Gleichung  Theiler  der 
Gleichungsconstanten  sein  müssen.  Descartes  sagt  zwar  nicht,  dass 
er  Gleichungen  mit  ganzzahligen  Coefficienten  und  eben  solcher  Con- 
stanten meint,  und  dass  er  dann  auch  nur  an  ganzzahlige  Theiler 
dieser  letzteren  denkt,  aber  die  von  ihm  vorgeführten  Beispiele  dulden 
keine  andere  Auffassung.  Besonders  deutlich  ist  die  Erörterung  der 
Gleichung  y<^ —  Si/  —  124:y- —  64  =  0.  Das  letzte  Glied,  nämlich  64, 
lasse  sich  ohne  Bruch,  sine  fradione,  durch  1,  2,  4,  8,  16,  32,  64 
theilen.     Man  solle  daher  der  Reihe  nach  den  Versuch  machen,  jene 


^)  Descartes  I,  69:  Sciendum  itaquc ,  quocl  incog)nta  qiiantitas  in  qua- 
libet  aequatione  tot  diversas  radices  seu  diversos  valorcs  habere  possit,  quot  ipsa 
habet  dimensiones.  *)  Ebenda  I,  69:  Verum  saepe  accidit,  quod  quaedam  harum 
radicum  sint  falsae,  seu  minores  quam  nihil.  ^  Ebenda  I,  76:  Caeterum  radices 
tarn  verae  quam  falsae  non  semper  sunt  reales,  sed  aliquando  tantum  imaginariae: 
hoc  est,  semper  qiiidem  in  qualibet  aequatione  tot  radices  quot  dixi  imayinari 
licet;  verum  milla  interdiim  est  qiiantitas,  quae  Ulis,  qnas  imaginamur,  respondet. 
*)  Ebenda  I,  69—70.         ^j  Ebenda  I,  70  und  deutlicher  I,  77. 


796  «"ß-  Kapitel. 

Gleichung  durch  eines  der  Binome  y"  —  1  oder  y"  +1,  y^  —  2  oder 
y^-\-  2,  y'^  —  4  oder  y'^  -\-  4  u.  s.  w.  zu  dividiren;  mau  werde  finden, 
dass  sie  durch  y^  —  16  sich   theilen  lasse. 

Weitaus  am  hervorragendsten  ist  freilich  Descartes'  Zeiche n- 
regel.  Wir  haben  (S.  5o9j  gesehen,  dass  Cardano  eine  Behauptung 
aufstellte,  welche  aus  seiner  undeutlichen  Ausdrucksweise  heraus- 
geschält den  Sinn  besitzt,  dass  ein  einmaliger  Zeichenwechsel  in  einem 
Gleichungspolynome  das  Merkmal  einer  einzigen  positiven  Wurzel 
sei ,  während  bei  zweimaligem  Zeichenwechsel  entweder  mehrere 
Wurzeln  positiv  oder  alle  imaginär  seien.  Es  ist  möglich,  es  ist 
vielleicht  wahrscheinlich,  dass  Descartes,  dessen  Reisen,  auf  welchen 
er  stets  Kenntnisse  zu  sammeln  bestrebt  war,  sich  auch  über  Italien 
erstreckten,  die  Schriften  Cardano's  kennen  lernte.  Aber  auch  dieses 
als  Thatsache  vorausgesetzt,  war  jedenfalls  Descartes  der  erste,  welcher 
in  dem  erwähnten  Cardano'schen  Satze  den  Keim  zu  einer  Verall- 
gemeinerung sah,  welche  er  folgendermasseu  aussprach:  So  viele 
Zeichenwechsel,  so  viele  Zeichenfolgen  ein  Gleichungspoly- 
nom besitzt,  so  viele  positive,  so  viele  negative  Wurzeln 
kann  die  Gleichung  haben^).  Descartes  ist  später  wegen  dieses 
Ausspruches  vielfach  gescholten  worden.  Eine  Behauptung  warf  man 
ihm  vor,  sei  kein  bewiesener  Satz,  und  überdies  sei  die  Behauptung 
nicht  einmal  wahr,  da  sie  die  Fälle  imaginärer  Wurzeln  unerörtert 
lasse.  Beide  Vorwürfe  sind  ungerecht.  Der  zweite  scheitert  an  dem 
Worte  possint,  welches  Descartes  in  vorsichtigster  Weise  gebraucht. 
Die  Gleichung  kann,  sagt  er,  so  und  so  viele  positive,  negative 
Wurzeln  besitzen,  und  das  ist  buchstäblich  wahr.  Das  enthält  über- 
dies auch  mit  eingeschlossen,  dass  es  höchstens  so  und  so  viele 
Wurzeln  sein  können,  denn  man  wird  doch  Descartes'  possint  nicht 
so  aufzufassen  im  Stande  sein,  dass  der  Wurzeln  auch  noch  mehrere 
sein  können?  Und  der  erste  Vorwurf  darf  nicht  Descartes,  darf  nur 
der  Zeit  gemacht  werden.  Beispiele  unbewiesen  ausgesprochener  Sätze 
werden  dem  Leser  mehr  begegnen,  wenn  er  nur  in  diesem  Abschnitte 
zurückblättert.  Man  hatte  sich  noch  nicht  gewöhnt,  jede  mathema- 
tische Behauptung,  auch  wo  sie  nur  gelegentlich  auftrat,  sofort  mit 
strengem  Beweise  zu  versehen. 

Noch  weitere  algebraische  Sätze  spricht  Descartes  eben  so  ge- 
legentlich,  eben  so  ohne  Beweis  aus-),  wenn  man  nicht  Ausführung 

^)  Descartes  I,  70:  Ex  rßiihus  etiam  cognoscitur  qiiot  verue  et  quot  fuhac 
raclices  in  unaquaque  Aeqatio'ue  haberi  possint.  Nimirum  tot  veras  haberi  x>osse 
qitot  variationes  reperiuntur  signorum  -{-  et  — ;  et  tot  faJsas,  qiiot  vicibus  ibidem 
cleprehenclmüiir  duo  signa  -j-  vcl  dno  signn  —,  quae  se  invicem  sequuntur. 
-)  Ebenda  I,  74—75. 


Zalilentheorie.     Algebra.  797 

an  einzelnen  Beispielen  als  Beweis  gelten  lassen  will.  Besitzt  eine 
Gleichung  keine  Gleiehnngsconstante ,  so  ist  0  eine  ihrer  Wurzeln, 
und  der  Grad  der  Gleichung  kann  mittels  Division  durch  die  Un- 
bekannte herabgesetzt  werden.  Man  kann  auch  umgekehrt  durch 
Multiplicatiou  mit  der  Unbekannten  die  Gleichung  im  Grade  erhöhen, 
worauf  sie  keine  Gleichungsconstante  mehr  besitzt.  Man  kann  dann 
weiter  die  Unbekannte  als  Summe  einer  neuen  Unbekannten  und 
einer  an  sich  beliebigen  Zahl  betrachten,  um  eine  neue  Gleichung  mit 
einer  Gleichungsconstanten  zu  erhalten,  und  man  kann  dabei  jene  be- 
liebige Zahl  so  bestimmen,  dass  ein  absichtlich  gewähltes  Glied  der 
neuen  Gleichung  den  Coefficienten  0  erhalte,  d.  h.  fehle. 

So  entsteht  aus  x^  -\-  ax'^  -\-  hx  -\-  c  =  0  die  neue  Gleichung 
Ä"*  -|-  (^^^  +  hx'-^  -\-  ex  =  0,  aus  dieser  durch  x  =  y  -\-  z  die  fernere 
y^  -\-  ay^  -{-  ßy'^  +  ^2/  4"  ^  =  0>  ^"^cl  endlich  durch  planmässige  Be- 
stimmung von  s  die  Schlussgleichung  y'^  -\-  2>y'  -\-  QV  —  r  =  0,  Der 
Vortheil  dieser  Umwandlung,  welche  den  Grad  der  Gleichung  zwar 
erhöht,  aber  ihn  zur  geraden  Zahl  macht,  besteht  darin^),  dass 
nunmehr  eine  Zerlegung  in  zwei  Factoren  gleich  hohen 
Grades  angestrebt  werden  kann. 

Umgekehrt  ist  freilich'  jene  Zerlegung,  welche  als  eine  Methode 
wesentlicher  Erniedrigung  des  Grades  einer  aufzulösenden  Gleichung 
aufgefasst  werden  kann,  nur  dann  möglich,  wenn  es  gelingt,  zuvor 
eine  Hilfsgleichung  aufzulösen.     Für  die  Gleichung 

if  -\-  py-  ^  qy  —  r  =  0 
ist  diese  Hilfsgleichung 

formell  vom  6.,  eigentlich  vom  3.  Grade  und  liefert  damit  eine 
neue  Auflösung  der  allgemeinen  Gleichung  4.  Grades  mit 
Hilfe  kubischer  Gleichungen. 

Wir  haben  schon  (S.  795)  darauf  aufmerksam  gemacht,  dass 
Descartes  die  InvenUon  nouvelle  en  l'algchre  zuverlässig  kannte.  Die 
gleiche  Ueberzeugung  gewinnt  man  aus  einem  Briefe,  welchen  Des- 
cartes unter  dem  1.  Februar  1640  an  Jacob  van  Waessenaer 
richtete-).  Ueber  die  Ausziehung  der  Kubikwurzel  aus  einem  aus 
einem  rationalen  Theile  und  einer  irrationalen  Quadratwurzel  be- 
stehenden Binomium  war  zwischen  Stampioen  und  dem  genannten 
Jacob  van  Waessenaer,  einem  in  Utrecht  wohnenden  Anhänger 
von  Descartes,  ein  Streit  ausgebrochen.    Descartes  spielte,  wenigstens 


')  Descartes,  Geom.  I,  79  sqq.  -)  Veröffentlicht  durcli  H.  Bierens 

de  Haan  in   der  Zeitsclir.  Math.  Phys.  XXXII.  Hist.-liter.  Abthlg.   S.  163flgg. 
Vergl.  auch  Bierens  de  Haan,  Bomvstoffen  etc.  II,  383—4.33. 


798  76.  Kapitel. 

hinter  den  Coulissen,  eine  Rolle  in  diesem  Streite  und  versah  seinen 
Schüler  mit  Gründen,  welche  dieser  zur  Verwei'thung  bringen  könne. 

In  dem  erwähnten  Briefe  ist  jener  Satz  über  K  a  -|-  Yb  =  a  -)-  Yß 
bewiesen,  welchen  wir  bei  Stifel,  bei  Girard  auftreten  sahen 
(S.  789),  und  der  in  der  Gleichung  ]/«'-  —  h  ==  a^  —  ß  seinen  Aus- 
druck findet.  Hat  Deseartes  ihn  vielleicht  auch  nicht  bewusst  von 
Girard  entlehnt,  so  hält  es  doch  schwer,  nicht  an  ein  unbewusstes 
Nachwirken  des  früher  Gelesenen  zu  denken. 

Mochte  Jacob  van  Waessenaer  damals  noch  als  Anfänger  zu 
betrachten  gewesen  sein,  der  in  einer  ziemlich  einfachen  Sache  der 
Anleitung  bedurfte,  in  einer  um  etwa  20  Jahre  späteren  Zeit  finden 
wir  ihn  mit  Untersuchungen  beschäftigt,  welche  an  Deseartes  an- 
knüpfen, aber  über  ihn  hinausgehen.  Wir  sahen,  dass  Deseartes  dazu 
kam,  Probeversuche  mit  sämmtlichen  positiv  und  negativ  zu  wählenden 
Theilern  der  Gleichungscon staute  zu  empfehlen,  ob  man  so  eine  Glei- 
chungswurzel entdecke.  Van  Waessenaer  gab  ein  Mittel  an^),  diese 
der  Zahl  nach  oftmals  ausserordentlich  vielen  Versuche  wesentlich  ein- 
zuschränken. Sei  z.  B.  die  Gleichung  x^  —  x^  —  oOx  -{-  72  =  0  vor- 
gelegt, so  giebt  es  12  Theiler  von  72,  nämlich  1,  2,  3,  4,  6,  8,  9,  12, 
18,  24,  3G,  72,  welche  alle  positiv  und  negativ  durchprobirt  ein 
24maliges  llechnen  beanspruchen  würden.  Van  Wassenaer  nimmt 
statt  dessen  zunächst  zwei  Umformungen  vor,  die  eine  durch  x  =  y  -\-  1, 
die  andere  durch  .r  =  ^  ■ —  1 ,  und  er  vollzieht  sie  nicht  einmal  voll- 
ständig, sondern  begnügt  sich  mit  der  Auffindung  der  neuen  Glei- 
chungsconstanten,  welche  in  dem  einen  Falle  (bei  der  Gleichung  in  y) 
1  —  1  —  30  -f-  72  =  42,  in  dem  anderen  Falle  (bei  der  Gleichijng 
in  s)  —  1  —  1  -f  30  +  72  =  100  wird..  Damit  sind  die  Probezahlen 
für  y  als  1,  2,  3,  6,  7,  14,  21,  42  und  die  für  2  als  1,  2,  4,  5,  10, 
20,  25,  50,  100,  jede  sowohl  positiv  als  negativ,  gewonnen.  Weil  aber 
X  =  y  -}-  1  und  x  =  z —  1,  so  entstehen  zwei  neue  Reihen  positiver 
Versuchswerthe  für  x:  aus  den  y  die  2,  3,  4,  7,  8,  15,  22,  43,  aus 
den  2  die  0,  1,  3,  4,  9,  19,  24,  49,  99.  Nur  ic  =  3  und  .t  =  4  kommen 
gleichzeitig  in  allen  drei  Reihen  möglicher  Werthe  von  x  vor,  und 
mit  diesen  Zahlen  hat  man  also  die  Rechnung  wirklich  anzustellen, 
welche  alsdann  zeigt,  dass  hier  in  der  That  W^urzelwerthe  vorliegen. 

Die  Veröfi'entlichung  dieses  recht  zweckmässigen  Abkürzungs- 
verfahrens fand,  wie  unser  Citat  erkennen  lässt,  in  der  zweiten 
lateinischen  Ausgabe  der  Geometrie  von  1659  statt.  Eine  weitere 
Ausdehnung    desselben    auf  irrationale   Wurzeln   von    einer   gewissen 


^)  Deseartes,  Georn.  I,  307. 


Zahlentheorie.     Algebra.  799 

Form  ist  um  1700  dem  Hamburger  Mathematiker  Heinrich  Meiss- 
ner gehmgen  ^). 

Unter  den  Erläuterungen,  welche  der  lateinischen  Ausgabe  der 
Geometrie  von  1659  beigefügt  sind,  rühren  die  zuerst  gedruckten  von 
Florimond  de  Beaune-)  (IGOl— 1652)  her,  der  zugleich  als  der 
erste  französische  Anhänger  von  Descartes  zu  nennen  ist,  welcher 
dessen  Geometrie  studirte  und  bewunderte.  Descartes,  welchem  die 
Erläuterungen  vor  ihrer  Veröffentlichung  vorlagen,  billigte  dieselben 
vollkommen,  als  seine  Gedanken  durchaus  i'ichtig  wiedergebend.  Dabei 
war  de  Beaune  nicht  Mathematiker  von  Beruf,  sondern  zu  Anfang 
Officier,  später  Rath  am  Gerichtshofe  zu  Blois,  seiner  Vaterstadt,  wo 
auch  Descartes,  mit  welchem  er  seit  1626  in  Verbindung  stand,  1644 
eine  Zeit  lang  sein  Gast  war.  In  den  Erläuterungen  geht  De  Beaune 
unter  Anderem  auf  die  gegenseitige  Beziehung  zwischen  den  beiden 
Gleichungen 

y^  +  Py^  -\-  qy  —  r  =  0   und   z^  +  2^^^  -f  (p^  +  4>-)^-  —  g-  =  0 
(S.  797)  näher  ein^).     Zwischen   den    beiden   Unbekannten    ?/    und    2 
möge  der  Zusammenhang  stattfinden: 

y  +  ^y  +  Y^'^  2^^~2z  =  ^  ^'^^''  '^'  +  T~""  +  T^^  ^2z~  ^y- 

Quadrirt  man  letztere  Gleichung,  so  entsteht 


oder 


.'/'  +  ■?'/  +  \  -?'  +  py-  +  Yi>-"'  +  \p^  =  11^.  —  'ly  +  ^f 
y'  +  py'  +  Qy  +  y  ^'  +  ii'^'  —  5"  +  t^''  =  ^  • 


Da  aber  y^  -\-py'  +  qy  =  '"  gegeben  ist,  so  geht  die  zuletzt  erhaltene 
Gleichung  in 

über  oder  nach  Vervielfachung  mit  4^^  in 

Z^  +  2p3^  4-  (p2  +  4>>2  _  ^2  _  Q^ 

wie  es  bei  Descartes  sich  findet.  Kennt  man  erst  2  aus  der  letzteren 
Gleichung,  so  ist  es  leicht,  y  aus  der  nach  dieser  Unbekannten  nur 
noch  quadratischen  Gleichung 

■->      ,  r       1       o     I       1  1  r\ 

r  +  ^y+Y^'  +  YP—2z  =  ^ 

zu  finden.  Man  kann  aber  ausserdem  jetzt  auch  ?/*  +i>?/'  -{-  qy  —  »' 
in  zwei  quadratische  Factoreu  zerfallen,  deren  einer 


')  Zeitschr.  Math.  Phys.  XXXV.  Hist.-liter.  Abthlg.  S.  180—181.       -)  Mon- 
tucla  II,  145.         ^  Descartes,  Geom.  I,  137—139. 


800  ''ß-  Kapitel. 

y^  +  "'■y  +  Y  '^-  +  yP  —  -^^ 

heissen  muss,  während  der  andere  y-  —  zy  -\-  -,-  ■«'^  +  y  i^  +  |^  ist. 

Fr  an  eisen  s  van  Schooteu,  welcher  gleichfalls  Erläuterungen 
beigab,  hat  die  Factorenzerlegung  des  Gleichungspolynoms  4.  Grades 
etwas  anders  eingeleitet^).  Um  x^  ■ — ])x^  —  C[X -\- r  =  0  auf  zwei 
quadratische  Gleichungen  zurückzuführen,  setzt  er 

x'^  —  px'  —  qx  -\-  r  =  [a^  -\-  yx  -{-  s'jix^  —  yx  -j-  v) 
=  X^  +  (^  —  ?/-  +  v)x^-  +  {vy  —  zy)x  +  vz, 
und  nun  zerfällt  diese  Gleichung  nach  einem  Gedanken,  der  offenbar 
eine  der  ersten  Anwendungen  der  Descartes'schen  Methode 
der  unbestimmten  Coefficienten  durch  einen  anderen  als  ihren 
Erfinder  darstellt,  in  die  drei  neuen  Gleichungen  z  ~  if  -{-  v  =  — p, 
—  zy  -f-  vy  =  —  q,  vz  =  r.  Daraus  ergebe  sich,  sagt  Van  Schooten, 
ohne  den  Gang  des  Eliminations Verfahrens  anzudeuten,  der  übrigens 
bei   den   nach  z  und  v  linearen   beiden   ersten    Gleichungen   auf   der 

Hand  hegt,  z  = -^  y- — -^ p  + -^y,  v  =  ^^  y- —  ~ p  —  ^^y  Ein- 
führung dieser  Werthe  in  vz^^r  giebt  nach  weiteren  Umformungen, 
welche  Van  Schooten  wieder  dem  Leser  überlässt,  die  nach  y-  kubische 
Gleichung  y*^  —  2py^  +  Q)^  —  Ar)y^  —  q^  =  ()  ^  aus  welcher  die 
Keuutniss  von  y  folgt.  Einsetzung  der  Werthe  z  und  v  in  die  vorher 
angenommenen  Factoren  giebt  denselben  die  Gestalt 


und 


,       1       o  1  q 

—  2/^"  + yr  —  .  i>  — ^^ 


Jeder  dieser  Factoren  gleich  Null  gesetzt,  lüsst  endlich  zwei  Wurzel- 
werthe  von  x  entdecken. 

De  Beaune  hat  ausser  jenen  Erläuterungen  zu  bestimmten  ein- 
zelnen Stellen  der  Descartes'schen  Geometrie  auch  eine  Schrift  De 
liniitihus  aequaüomim  hinterlassen,  welche  gleichfalls  Aufnahme  fand-). 
Sie  hat  einen  Untersuchungsgegenstand  ganz  neuer  Art.  Sie  fragt 
nämlich,  wenn  auch  nur  in  ganz  besonderen  Fällen,  nach  leicht  be- 
stimmbaren Grenzwerthen,  zwischen  welchen  die  Glei- 
chungswurzel enthalten  sein  muss.  Aus  x'^  —  Ix  -\-  nr  =  0 
folgt  beispielsweise  nr  =  Ix  —  x^,  d.  h.  Ix  —  x^  muss  positiv  und 
l  >  X  sein.    Andererseits  folgt  aber  auch  x^  =  Ix  —  wr,  d.  h.  Ix  —  nr 

muss  positiv  und  x  ^  -j-  sein.     Bei  der  kubischen  Gleichung 
1)  Descartes,  Geom.  I,  315.         -)  Ebenda  II,  121—152. 


Zahlentheorie.     Algebra.  801 

cc'^  -f~  Ix^  —  nrx  -f-  w^  =  0 

ergeben  sich  die  Grenzen  folgendermassen.  Es  ist  x'^  -f-  lx^  =  m^x  —  n^ 

n^  .  .  0  0 

positiv ,    mithin    a;  >  — ^  •     Es    ist    aber    auch    .r^  -\-  n^  =  nrx  —  Ix- 

positiv,  mithin  a;  <  -^  •     Statt  der  letzteren  oberen  Grenze  ist   auch 

eine  anderweitige  angebbar.  Man  kann  nämlich  das  Positivsein  von 
Ix-  -\-  n^  =  m^x  —  x^  als  massgebend  betrachten,  woraus  m^  >  x^, 
d.  h.  x  <  m  hervorgeht. 

Die  Factorenzerlegung  eines  Gleichungspolynoms,  mit  welchem 
nach  Descartes  De  Beaune  und  Van  Schooten,  wie  wir  wissen,  sich 
beschäftigten,  reizte  auch  einen  zweiten  holländischen  Schriftsteller: 
Johann  Hudde^).  Im  Jahre  1628  in  Amsterdam  geboren  und 
unter  dem  23.  April  in  das  dortige  Taufbuch  eingetragen,  begab  er 
sich  1659  nach  vollendetem  Rechtsstudium  nach  Frankreich.  Von  dort 
zurückgekehrt,  trat  er  1667  in  die  Verwaltung  seiner  Vaterstadt, 
welcher  er  nicht  weniger  als  19  mal  als  Bürgermeister  vorstand.  Er 
starb  1704.  Schon  im  Juli  1657,  also  als  Rechtsstudirender  in  einem 
Alter  von  wenig  über  29  Jahren,  schrieb  Hudde  an  Van  Schooten 
einen  Brief:  De  redudione  aequationum,  welchen  dieser  abdrucken 
liess^).  Unter  Reduction  versteht  Hudde  die  Zerlegung  des 
Gleichungspolynoms  in  Factoren.  Dabei  hat  Hudde  in  der 
XXI.  Regula,  4.  Exemplum  ^)  auch  die  Auflösung  kubischer  Glei- 
chungen, allerdings  in  nicht  wesentlich  verschiedener  Art  als  die 
Italiener  gelehrt.  Ausgehend  von  x'"^  =  qx  -\-  r  setzt  Hudde  x  =  y  -\-  z 
mithin  x^  ^  y^  -\-  3  z  p^  -\-  ds^y  -\-  z^  =^  qx  -\-  r  und  zerlegt  die  Glei- 
chung in  zwei  neue  ^sy'^ -\~  ^z'y  =  qx  und  y^  -\-  s^  =  r.    Die  erstere 

1 

geht   über    in    ozyx  =  qx    oder    y  = ,    und    durch    Einsetzung 

dieses  Werthes  verwandelt  sich  die  zuvor  in   y^  =  r  —  2^  umgeformte 

zweite  Gleichung  in  ^;^—  =  r  —  s^.     Daraus  folgt 


Weil  aber  y  und  s  sich  einzig   dadurch  unterscheiden,   dass  das  vor- 


^)  Oeuvres  eomplHes  de  Christian  Huygens  I,  514,  Note  2.  —  D.  J.  Korte- 
weg,  Das  Geburtsjahr  von  Johannes  Hudde  (Zeitschr.  Math.  Phys.  XLI.  Hist.- 
liter.  Abthlg.  S.  22—23).  Den  Eintrag  in  das  Taufbuch  fand  K.  0.  Meinsma 
und  widerlegte  dadurch  eine  frühere  Vermuthung,  nach  welcher  Hudde  schon 
1623    geboren    wäre.  *)  Descartes,   Geom.  I,  407—506.  ^)  Ebenda  I, 

499—500. 

Cantok,  Geschichte  der  Mathem.    11.     2.  Aufl.  51 


802  76.  Kapitel. 

kommende  Doppelzeichen  einmal  +  und  einmal  ^  heisst,  und  man 
nur  der  Summe  p  -\-  ^  bedarf,  so  genügt  es  beidemal,  das  obere 
Zeichen  allein  zu  schreiben,  und  man  hat 


Ferner  findet  sich  schon  in  diesem  Briefe  als  X.  Regula^)  gelegent- 
lich die  Frage  behandelt,  wie  man  entscheiden  könne,  ob  eine  Glei- 
chung zwei  oder  gar  mehrere  gleiche  Wurzeln  besitze,  und  die- 
selbe sogenannte  Hudde'sche  Regel  erscheint  wieder,  und  zwar 
bewiesen-),  in  einem  zweiten  Briefe  vom  Januar  1658,  welcher  die 
Ueberschrift  trägt:  De  maximis  et  mininiis. 

Die  Regel  besteht  in  Folgendem.  Man  bildet  eine  beliebige 
steigende  oder  fallende  arithmetische  Progression,  unter  deren  Gliedern 
auch  die  Null  vorkommen  darf,  und  setzt  dieselbe  unter  die  auf 
einander  folgenden  Glieder  des  zu  untersuchenden  Gleichungspolynoms, 
dessen  etwa  fehlende  Glieder  mit  dem  Coefficienten  0  geschrieben 
oder  sonstwie,  etwa  durch  Sternchen,  angedeutet  werden.  In  dieser 
Stellung  multiplicirt  man  jedes  Glied  des  Gleichungspoljnoms  mit 
dem  gerade  unter  ihm  befindlichen  Gliede  der  arithmetischen  Reihe 
und  vereinigt  die  sämmtlichen  Producte  zu  einem  neuen  Gleichungs- 
polvnom,  welches  wieder  gleich  0  gesetzt  wird.  Die  nothwendige 
und  hinreichende  Bedingung  dafür,  dass  die  vorgelegte  Gleichung 
mehrfach  auftretende  Wurzeln  besass,  besteht  alsdann  in  dem  Vor- 
handensein eines  Gemeintheilers  zwischen  dem  ursprünglichen  und 
dem  zuletzt  erhaltenen  Gleichungspolynome. 

Suchen  wir  den  Beweis  einem  heutigen  Leser  etwas  mundgerechter 
zu  machen,  so  sieht  er  folgendermassen  aus.     Es  sei 

x""  -\-  a^a;'"-!  +  a^x"'-^-  -{ +  a„t-iOC  -\-  a,n 

multiplicirt  mit  {x  —  &)^  =  x^  —  2hx  -\-  h^  und  das  Product  gleich 
Null  gesetzt,  so  wissen  wir  zum  voraus,  dass  die  so  entstehende 
Gleichung : 

I.    x^+-^  -f  (a,  —  2&)a;"'+'  -\-{a.^  —  2a^h-\-  ?r)a;'"  -\ 

+  (f'm  —  2a„,_i&  -f-  a„j_2&^)a^-  +  ( — 2ajnh  +  (im—ih'^)x 

zwei  gleiche  Wurzeln  x  =  h  besitzen  wird.  Die  darunter  zu  setzende 
arithmetische  Reihe  heisst  in  ihren  drei  A  ufangsgliedern  (c,  a  -{-  d, 
cc-\-2d,  in  ihren  drei  letzten  Gliedern  u-\-nid,  a -{- (m -\-  l)d , 
a  -{-  (m  -}-  2)d.     Multiplication   der   Reihenglieder  mit  den    Gliedern 

^)  Descartes,  Geom.  I,  433—439.         *)  Ebenda  I.  507—509. 


Zahlentheorie.     Algebra.  803 

der    Gleichung    I.    in    der    vorbeschriebeiien    Weise    liefert    die    neue 

Gleichung 

IL  «*-"'  +  2  4-  ((«  4-  d)a,  —  (2a  +  2d)h)x"'+' 

+  ({a  +  2d)a,  —  (2a  +  4d)a,h  +  («  +  2d)h'^)x"'  H 

-}-((«  +  m  ö)  a„,  —  (2  a  +  2  m  d)  a,,,  _  1 5  +  (a  +  »^  d)  a«  _  o  &')  .r^ 
+  (—  (2a  +  (2m  +  2)ö)a,„'b  +  (a  +  (>»  +  l)ö)a„,_i  &-)ic 
+  {a  +  (w.  +  2)d)a,„h^  =  0 
und    diese  Gleichung    ebenso   wie   die    Gleichung   I.   ist   durch  x  —  h 
theilbar.     Die   Ausführung   der  Division   des   Gleichungspolynoms  IL 
durch  X  —  l)  liefert  nämlich  den  Quotienten 
a.T"'  +  i  +  {[a  +  ö)a^  —  («  +  2d)h)x"' 

+  ((a  +  2ö)a,  —  (a  +  3d)a,h)x"'-'  -\ 

+  ((a  +  mö)  a,n  —  («  +  {m  +  l)d)  a„-J))  x 
—  (a  +  (m  +  2)«5)a„,&. 
Wurde  dagegen 

a-'"-)-  rt^.r'"-^  -j-  rt^a;'"^-  +  •  •  •  +  «,,,— la:  +  a,„ 
nur  mit  a;  —  ?>  multiplicirt  und  dieses  Product  gleich  Null  gesetzt, 
so  wird,  sofern  über  die  Coefficienten  «  ganz  frei  verfügt  werden 
kann,  die  nunmehr  entstehende  Gleichung  I'.  keine  zwei  gleiche 
Wurzeln  x  ==  h  enthalten,  dagegen  durch  x  —  b  selbstverständlich 
theilbar  sein.  Man  behandelt  sie  genau  so  wie  vorher  d-'e  Gleichung  I. 
Das  Ergebniss  ist  alsdann  eine  neue  Gleichung 

ir.   ax"'  +  ^  +  («  +  <^)  («1  —  ^)a;"'  +  (a-  +  2d)  (a^  —  a^h)x"'-'^  -j 

+  (a  -f-  (m  —  l)d)(a„,_i  —  a,„-^ih)x^ 
—  («  +  md')a,n  —  ihx  —  («  +  ('>n  +  l)d)a„,b  -=  0, 
deren  Gleichungspolynom  nicht  durch   x  —  h  theilbar  ist.     Die  Aus- 
führung der  Division  lässt  nämlich  gleich  in  den  Anfangsgliedern  des 
Quotienten 
ttx"^  +  ((a  +  ö)a^—dh)x"'-^  +  ((a  +  2ö)a^  —da,h  —  ö¥)x"'-''  +  •  •  • 

erkennen,  dass  der  Coefficient  jeder  folgenden  Potenz  von  x  immer 
länger  wird.  Er  besteht  bei  x'"  aus  einem,  bei  x^'^~^  aus  zwei,  bei  x^ 
aus  ))i  -\-  1  Theilen ,  und  diese  können  mit  —  h  multiplicirt  unter 
keinen  Umständen  —  (a  -\-{m  -j-  l)ö)amb  liefern,  d.  h.  die  Division 
geht  nicht  auf. 

Fermat's  Namen  in  der  Geschichte  der  algebraischen  Unter- 
suchungen auftreten  zu  sehen  wird  Niemand  in  Verwunderung  setzen. 
Es  sind  zwei  hochbedeutende  Aufgaben,  welche  er  sich  stellte,  und 
welche    er    mit    einander    in  Verbindung  brachte.     Die    erste   ist   die 

51* 


804  76.  Kapitel. 

des  Rationalmachens  von  Gleichungen^).  Fermat  erläutert 
zwar  sein  Verfahren  nur  an  einem  einzelnen  Beispiele,  aber  es  ist  so 
methodisch,  dass  es  als  Muster  für  das  Verfahren  auch  in  jedem  an- 
deren Falle  dienen  kann.  Wir  benutzen  bei  der  Darstellung  gleich 
Fermat  lateinische  Initialen,  A  als  Unbekannte,  B,  D  als  bekannte 
Grössen,  aber  ungleich  Fermat  wenden  wir  Wurzelzeichen,  Exponenten 
und  Gleichheitszeichen  an.     Die  Gleichung 


3  ,~r r;; ^  3 


y2A^  —  A^  +  y'A^  +  B^A  =  D 

sei  also  von  den  Assymetrien,  wie  die  Irrationalitäten  nach  Vieta's 
Vorgange   genannt  werden,    zu    befreien.     Man    bringt    eine   Wurzel- 


grösse  z.  B.  y2A^  —  Ä^  allein  auf  eine  Seite  des  Gleichheitszeichens 
und  ersetzt  sämmtliche  andere  auf  der  entgegengesetzten  Seite  des 
Gleichheitszeichens   vorhandene  Wurzelgrössen    (hier   nur   die    einzige 

YA^  -\-  B^A)  durch  einfache  Buchstaben.  Man  gewinnt  also  zwei 
Gleichungen 


3,- 


/Ä^~+WA=E  und  y2A'  —  A'  =  D  —  E. 
Wäre  etwa  noch  eine  dritte  Wurzelgrösse  vorhanden,  welche  mit  / 
bezeichnet  würde,  so  käme  als  dritte  Gleichung  die  Definitionsglei- 
chung von  I  hinzu,  während  in  der  zweiten  Gleichung  ein  weiteres 
Glied  —  I  zur  Rechten  aufträte.  Sämmtliche  nunmehr  vorliegende 
Gleichungen  lassen  durch  einfache  Potenzerhebung  sich  rationalisiren. 
In  dem  gegebenen  FaUe  genügt  die  Erhebimg  auf  die  3.  Potenz, 
welche  folgende  zwei  neue  Gleichungen  liefert: 

A'  +  B'A  =  I?,  2A'  —  A'  =  D'  —  '^D'E  +  3DE'  —  E\ 
und  die  Aufgabe  ist  somit  gelöst,  wenn  zwischen  diesen  Gleichungen 
die  Hilfsunbekannte  E  eliminirt  werden  kann.  Das  Rationalmachen 
einer  Gleichung,  innerhalb  deren  n  Irrationalgrössen  auftreten,  ist 
folglich  auf  eine  durchaus  andere  Aufgabe  zurückgeführt,  auf  die  der 
Elimination  von  n —  1  Unbekannten  zwischen  n  Glei- 
chungen höheren  Grades.  Diese  zweite  Aufgabe  behandelt  Fer- 
mat gleichfalls  methodisch,  allerdings  zunächst  unter  der  Voraus- 
setzung w  =  2,  also  so  dass,  wie  in  dem  angeführten  Beispiele,  eine 
Unbekannte  zwischen  zwei  Gleichungen  wegzuschaffen  ist.  Er  ver. 
fährt  dabei  folgendermassen  ^) :  Die  Gleichungen  werden  so  geschrieben, 


^)  Fermat,  Varia  Opera  pag.  60  und  in  der  neuen  Ausgabe  der  Oeuvres 
de  Fermat  (Paris  1891)  I,  184—188.  Die  Darstellung  in  K 1  ü  g  e  1'  s  Mathema- 
tischem Wörterbuche  11 ,  953  ist  ganz  ausnahmsweise  durchaus  mangelhaft. 
*)  Ebenda  pag.  58 — 59.  Oeuvres  I,  181 — 184:  Nova  secimclarnm  et  ulterioris 
ordinis  radicum  in  analyticis  tisus. 


Zahlentheorie.     Algebra.  805 

dass  alle  Glieder,  welche  die  zu  eliminirende  Grösse  enthalten,  auf 
der  einen,  alle,  welche  sie  nicht  enthalten,  auf  der  anderen  Seite  des 
Gleichheitszeichen  stehen.  Division  mittels  der  die  zu  eliminirende 
Grösse  nicht  enthaltenden  Gleichungsseite  bringt  jede  der  beiden 
Gleichungen  auf  die  Form,  dass  die  Einheit  einem  Ausdrucke  gleich 
kommt,  welcher  die  zu  eliminirende  Grösse  als  heraustretenden  Factor 
besitzt.  Gleichsetzung  der  beiden  Einheitswerthe  gestattet  demnach 
eine  durch  Division  zu  bewirkende  Herabsetzung  des  Grades  in  Bezug 
auf  die  zu  eliminirende  Grösse.  Fortsetzung  des  gleichen  Verfahrens 
unter  stetiger  Anwendung  der  vorhandenen  Gleichungen  niedrigsten 
Grades  lässt  schliesslich  die  zu  eliminirende  Grösse  ganz  in  Wegfall 
bringen.     Das  Beispiel  Fermat's  ist  Ä^  -\-  E^  =  Z^  nebst 

1  ermat  findet  1  =  yj _  ^^  und  1  =  jyrä_^^,  alsp  ^s_^3  =  N^—BA 
Letztere  Gleichung  geht   über  m  1  =  ^^ — i)(Z^  —  A^) —  ^ 

TP^  _4_  7)  TT 

dieser  Einheitswerth  wird  mit  1  ^^  jsf^—BA  "^^^§1^^^®°-  Dabei  er- 
scheint nach  abermaliger  Division  durch  E  die  neue  Gleichung 

E-\-D    _  {N^  —  BA)E—  {Z^—  A^} 
N^—  BA  ~  D(Z^  —  A^)  ' 

welche  die  Auffindung  von  E  gestattet.  Einsetzung  von  dessen  Werth 
in  E^-\-DE^N'^ — BÄ  vollendet  die  Elimination,  aber  diese  letzten 
mit  allgemeinen  Buchstabenausdrücken  mühseligen  Ausführungen 
schenkt  Fermat  sich  und  seinen  Lesern.  Zum  Schlüsse  der  kurzen 
Abhandlung  deutet  Fermat  an,  dass  wenn  drei  Gleichungen  mit  drei 
Unbekannten  vorliegen,  zunächst  auf  die  Elimination  einer  Unbekannten 
hingearbeitet  werden  müsse,  so  dass  man  noch  zwei  Gleichungen  mit 
zwei  Unbekannten  behalte,  worauf  das  eben  gelehrte  Verfahren  zur 
wiederholten  Anwendung  gebracht  eine  Schlussgleichung  mit  einer 
einzigen  Unbekannten  entstehen  lasse,  und  das  Gleiche  gelte  bei 
noch  mehr  Gleichungen  mit  einer  entsprechenden  Anzahl  von  Un- 
bekannten. 

Was  die  Frage  betrifft,  wann  Fermat  diese  algebraischen  Unter- 
suchungen anstellte,  so  ist  mit  Recht  der  26.  December  1638  als  Zeit- 
punkt augegeben  worden,  zu  welchem  er  sie  schon  besass^),  denn  in 
einem  Briefe   an  Mersenne   von  jenem  Tage   spricht  er  bereits  von 


')  Tannery,  Sur  la  date  des  principales  decouvertes  de  Fermat  pag.  13 
mit  Bezugnahme  auf  Henry,  Becherches  sur  les  manuscrits  de  Fermat  pag.  178 
{Bullet.  Boncamp.  XII,  652). 


806  77.  Kapitel. 

einer  Curve,   an   welche   er    die  Tangente   ziehen   könne,    und   welche 
(wenn  wir  neuere  Schreibart  anwenden)  die  Gleichung 


-./-^r", — s    ,    T/r« 9    I    i/ 9     1     1 /^^  —  dx-    1    -1  /x* -t-  b^x^ 

y  =  Ya'  +  .r-  +  Vh^  -x--\-  Vcx-x-  +    |/ ^—  +  y -^7^,- 

besitze.  Er  setzt  hinzu,  seine  Methode  genüge  auch,  wenn  der  Werth 
der  Ordinate  hundert  und  noch  mehr  Grlieder  enthielte,  serait  com- 
posee  de  centinomies  ou  plus  grand  nombres  de  termes.  Später  am 
20.  August  1650  kam  Fermat  in  einem  Briefe  an  Carcavy^)  auf 
eine  ganz  ähnliche  Tangentenaufgabe  zu  reden,  in  welcher  die  Curven- 
gleichung  2.,  3.,  4.  und  5.  Wurzeln  enthält.  Er  habe,  sagt  er  dabei, 
nicht  zögern  wollen  mit  der  Uebersendnng  seiner  Methode  generale 
pour  le  dehrouillement  des  assymetries.  Damals  waren  also  die  betref- 
fenden Abhandlungen  jedenfalls  niedergeschrieben. 


77.  Kapitel. 
Geometrische  Gleicliungsauflösniigen.     Analytische  Geometrie. 

Bei  Schilderung  der  algebraischen  Leistungen  der  unserer  Be- 
trachtung unterworfenen  Zeit  haben  wir  bisher  eine  Gattung  von 
Untersuchungen  vernachlässigt,  diejenigen,  welche  trigonometrische 
und  geometrische  Lehren  in  den  Dienst  der  Algebra  stellen.  Yieta 
hatte  bereits  (S.  636)  den  irreductiblen  Fall  der  kubischen  Gleichungen 
trigonometrisch  behandelt.  Es  müsste  Staunen  erregen,  wenn  Männer, 
wie  die  von  uns  in  diesem  Abschnitte  behandelten,  die  aus  Vieta's 
Schriften  die  mannigfachste  Anregung  geschöpft  haben,  gerade  an 
diesen  Dingen  vorbeigegangen  wären. 

Girard  in  seiner  Invention  nouvelle  en  Valgebre  löst  die  Gleichung 

x^  =  13a;  -f-  12    geometrisch    wie    folgt    (Figur  144).     Mit  1/-^  als 
Halbmesser  wird  um  ZZ"als  Mittelpunkt  ein  Halbkreis  beschrieben.  Dann 

13 

wird  12 :  -— =  FG  aufgetragen,  welches 

immer  möglich  sei,  und  der  Bogen 
GK  mit  Hilfe  einer  Hyperbel  (denn 
mit  Zirkel  und  Lineal  gehe  es  nicht)- 
in  drei  gleiche  Theile  GJ,  JL,  LK 
getheilt;  FL  ist  alsdann  eine  Glei- 
chungswurzel. Wird  wieder  um  H  mit 
KL  als  Halbmesser  ein  Kreisbogen  beschrieben,  der  FL  in  M  und  N 


1)  Henry  1.  c.  pag.  193  (XII, 


Geonietrisclie  Gleichlingsauflösungen.     Analytische  Geometrie. 


807 


schneidet,  so  seien  —  FN  und  —  F3I  die  beiden  anderen  Gleichungs- 
wurzeln. Ein  Beweis,  den  Girard  kaum  andeutet,  lässt  sich  ziemlich 
leicht    herstellen.     Die    Gleichung   heisse    x^  =  px  -\-  q,    und    es    sei 

^  <^;  der  Halbmesser  r  des  Halbkreises  wird  von  der  Länge  1/-^ 


3q 


~  <i2r  unter  Voraussetzung  der  ange- 
dass   man   die  Richtigkeit  der  Bemerkungr 


gewählt  und  FG  =  q  :  ~ 

gebenen  Ungleichung,  so 
erkennt,  FG,  welches  kleiner  als  der  Durchmesser  ist,  könne  als 
Sehne  eingezeichnet  werden.  Nun  heisse  der  Winkel  GFK  =  "^cp, 
der  Winkel  XF^=  9).     Es  ist 


Aber 
demnach 

und  folglich 


FG 


FG 


=  2r- cos  09),     FL  =^  2r  ■  cosfp. 
cos  3  g)  =  4  cos  (p^  —  3  cos  tp, 


|/f  (4cos9»■ 


l/f;  (« 


cos  9)^ 


3  cos  op)  =  — 


6  cos  (p) . 


Nun  ist  weiter 

Fi  3         FL' 
b  cos  (p^  =  —^  =  — — 

l/ft 


b  cos  (p  = 


3  FL 


-^FL. 

1/|" 

Die  gefundene  Gleichung  geht  dadurch  in  g  =  FL^  —  p  ■  FL  über, 
woraus  FL  =  x  ersichtlich  ist.  Zieht  man  die  bei  Girard  nicht  vor- 
handene Hilfslinie  HQ  \\  KL,  so  ist  leicht  abzuleiten 


i^i)/=2;-cosa20o 


FN=  2r- cos  (120'>  -\-(p), 


wodurch  auch  diese  Wurzelwerthe  sich  rechtfertigen. 

Nur  sehr  unwesentlich  verschieden  ist  die  Figur,  unter  deren 
Zugrundelegung  (Figur  145)  Franciscus 
van  Schooten  eben  jene  Gleichung 
a;^  ^  13  a;  -f-  12,  von  welcher  er  sagt, 
dass  er  sie  Girard  entlehne,  zur  Auf- 
lösung   bringt^).      Der    Kreishalbmesser 

FLI   ist    wieder   1/^,    die    Sehne    FG 

wieder  ^,  der  Kreisbogen  GK  ist  in  die 

drei  gleichen  Theile  GJ=JL  =  LK 
getheilt  und  sodann  FL  =  x  gezogen. 
Neu  ist  aber,  dass  nunmehr  das  gleich- 


^)  Descartes,    Geom.  Appendix  de  cubicarum  aequationum  resolutione  I, 
345 — 368,  vergl.  namentlich  pag.  349. 


808  77.  Kapitel. 

seitige  Sehnendreieck  L3IN  mit  L  als  Eckpunkt  gezeichnet  wird 
und  dadurch  die  Sehnen  FM,  FN  zur  Construction  gelangen,  welche 
negativ  genommen  die  beiden  anderen  Gleichungswurzeln  sind.  Auch 
der  Beweis  ist  bei  Van  Schooten  anders  angelegt  als  bei  Girard, 
nämlich  alterthümlicher.  Von  irgend  trigonometrischen  Functionen 
ist  nicht  Gebrauch  gemacht,  vielmehr  sind  noch  weitere  Hilfslinien 
gezogen,  welche  ähnliche  Dreiecke  hervorbringen,  und  dann  führen 
die  Proportionalitäten  entsprechender  Seiten  zu  dem  gewünschten  Er- 
gebnisse. 

Auch  die  Auflösung  einer  kubischen  Gleichung  mittels  der 
Durchschnittspunkte  eines  Kreises  mit  einer  Parabel  fehlt  nicht  in 
dieser  Literatur.  Descartes  hat  sie  gelehrt^)  und  Van  Schooten 
hat  in  seinen  Erläuterungen  gezeigt^),  dass  die  Durchschnittspunkte 
eines  Kreises  mit  einer  Hyperbel  zum  Auffinden  der  Wurzeln  einer 
vollständigen  kubischen  Gleichung  führen,  ohne  dass  man  genöthigt 
wäre,  das  quadratische  Glied  zuvor  wegzuschaffen,  wie  Descartes  es 
thut.  Aehnliches  endlich  lehren  beide,  Descartes  und  Van  Schooten 
für  die  geometrische  Auflösung  biquadratischer  Gleichungen  ohne 
und  mit  kubischem  Gliede^). 

Demselben  Gebiete  gehören  die  Leistungen  eines  belgischen  Schrift- 
stellers an.  Rene  Fran9ois  de  Sluse"^)  (1622 — 1685)  stammt  aus 
Vise  an  der  Maas  zwischen  Lüttich  und  Maastricht.  Sein  Vater 
war  Notar,  Oheime  von  mütterlicher  Seite  waren  kirchliche  Würden- 
träger. Einer  derselben  zog  De  Sluse  um  1643  nach  Rom,  wo  er 
am  CoUegium  der  Sapienza  die  vielseitigen  Studien  fortsetzte,  welche 
er  in  Lüttich  begonnen  hatte,  und  wo  er  den  Titel  eines  Doctors 
beider  Rechte  erwarb.  Seit  1651  war  er  Domherr  in  Lüttich.  Er 
gab  1659  unter  dem  Titel  Mesolahum  eine  Schrift  heraus,  welche  die 
Aufgabe  der  Einschaltung  zweier  geometrischer  Mittel  zwischen  zwei 
gegebenen  Strecken  und  ebenso  die  Aufgabe  der  Dreitheilung  eines 
gegebenen  Winkels  mit  Hilfe  eines  Kreises  und  irgend  eines  Kegel- 
schnittes löste.  Eine  zweite  Auflage  des  Mesolabum  von  1668  brachte 
als  wesentliche  Ergänzung  die  Erörterung,  dass  jene  Aufgaben  auf 
kubische  Gleichungen  führten  und  deshalb  ebenso  wie  alle  ähnlichen 
Aufgaben   durch   die   benutzten  Curven   coustruirt  werden   könnten^). 


1)  Descartes,    Geom.  I,  85—95.  ^)  Ebenda  I,  327.  ^)  Ebenda, 

I,  85—95  und  325.  *)  Ueber  De  Sluse  hat  C.  Le  Paige  eine  umfassende, 

alle  einschlagenden  Fragen  behandelnde  Abhandlung  im  Bulletitio  Boncompagni 
XVII  veröffentlicht.  Dort  ist  auch  die  Richtigkeit  der  Schreibart  Sluse  gegen- 
über von  Sluze  festgestellt.  Ueber  die  mathematischen  Leistungen  verbreiten 
sich  i^ag.  470 — 480.  '")  Ac  problematum  otnnium  solidorum  effectio  per  easdem 

ciirvas. 


Geometrische  Gleichuugsauflösungeu.     Analytische  Geometrie.  809 

Eine  geometrische  Aufgabe,  welche  algebraisch  behandelt  zu  einer 
biquadratischen  Gleichung  geführt  hätte,  ist  in  einem  1630  gedruckten 
Werke,  dessen  Verfasser  aber  schon  1627  verstorben  ist,  behandelt. 
Marino  Ghetaldi,  um  ihn  handelt  es  sich,  ist  uns  (S.  653)  als 
Wiederhersteller  einer  Schrift  des  Apollonius  bekannt  geworden.  Wir 
hätten  unter  den  eigentlichen  Geometern  ihn  gleichfalls  im  Vorbei- 
gehen nennen  dürfen  wegen  seiner  Vanorum  prohlematum  collcdio  ^) 
Ton  1607,  welche  geometrisch  solche  Aufgaben  löst,  an  die  Regio- 
moutanus  und  Andere  mit  den  Hilfsmitteln  der  Algebra  heran- 
getreten waren.  Hier  haben  wir  es  mit  seinem  nachgelassenen  Werke 
De  resolutione  et  cotnposUione  mathematica^)  zu  thun.  Es  sind  fünf 
Bücher,  von  denen  die  vier  ersten  algebraischen  und  geometrischen 
Behandlungen  von  Aufgaben  gewidmet  sinö,  welche  sämmtlich  in 
Gleichungsform  gebracht  den  zweiten  Grad  nicht  übersteigen  und 
sonderliche  Schwierigkeiten  nicht  darbieten,  auch  neue  Gedanken 
nicht  nöthig  machten  noch  förderten.  Das  5.  Buch  in  vier  Kapitel 
getheilt  hat  einen  anderen  Charakter.  Das  1.  Kapitel  beschäftigt  sich 
ausser  mit  der  archimedischen  Kronenaufgabe  mit  arithmetischen  Pro- 
gressionen, löst  aber  die  hier  auftretenden  Aufgaben  nicht  nach  den 
damals  längst  bekannten  Formeln,  sondern  nach  Proportionen.  Die 
erste  dieser  Aufgaben  verlangt  z.  B.  die  Herstellung  sämmtlicher 
Glieder  der  Progression,  wenn  deren  Summe,  das  erste  und  das  letzte 
Glied  gegeben  sind.  Auffindung  der  Differenz  d  mittels  jener  ge- 
gebenen Grössen  5,  a,  t  ist  demnach  erforderlich.  Ghetaldi  geht  dazu 
von  der  Proportion  aus  2s  :  {a  -\-  t)  =  {t  —  a  -{-  d)  :  d,  aus  welcher 
die  weitere  folgt  (2s  —  a  —  t)  :  (a -\-  t)  =-  (t  —  a) :  d,  und  nun  ist 
die  Aufgabe  gelöst.  Das  2.  Kapitel  hat  es  mit  neun  unmöglichen 
Aufgaben^)  zu  thun,  und  Ghetaldi  versteht  darunter  solche,  die  zu 
Gleichungen  mit  nur  imaginären  Wurzelwerthen  führen  oder  zu  der 
Wurzel  0,  welche  geometrischer  Deutung  unfähig  ist.  Zur  letzteren 
Gattung  gehört  die  Aufgabe,  eine  gerade  Linie  so  zu  schneiden,  dass 
das  Rechteck  unter  ihren  Theilen  mit  dem  Quadrate  des  Unterschiedes 
der  Theile  so  viel  betrage,  als  die  Summe  der  Quadrate  der  Theile. 
Ist  2&  die  Summe,  2a  der  Unterschied  der  Theile,  so  heissen  die 
Theile  selbst  Ij  -\-  a  und  1)  —  a,  und  es  wird  also  verlangt 

(h  +  a)  -{h-a)  +  {2ay  =  (6  +  af  -^  {h  -  af 
oder 

&2  _|_  3^2  _  2h^  +  2a\  d.  h.  &2  =  cv",  und  &  =  +  a, 


')  Kästner  III,  187—188.  ^)  Ebenda  III,  188—195.  —  E.  Gel  eich  in 

Zeitschr.  Math.  Phys.  XXVH,  Supplementheft,  besonders  S.  199—214.     »)  Prohle- 
inata  impossihilia,  ex  quorum  resolutionibus  cognoscitur  eorum  impossibilitas. 


810  77    Kapitel. 

wodurch  einer   der   Theile   zu   0    wird,   d.  li.   die   Linie   ist   gar  nicht 
geschnitten.    Zur  anderen  Gattung  gehört  die  neunte  Aufgabe,  welche 
als  Gleichung  3x{a  —  x)  =  a^  heisst.     Denn  diese  giebt 
a     .     a    / ^ 

Das  3.  Kapitel  vereinigt  fünf  eitle  oder  Scherzaufgaben^).  Auch 
unter  diesem  Namen  sind  zweierlei  Gruppen  vereinigt:  Aufgaben,  die 
durch  jede  beliebige,  und  solche,  die  durch  unendliche  viele  Annahmen 
befriedigt  werden-).  Die  erste  Gruppe  ist  also  dadurch  gekennzeich- 
net, dass  sie  auf  identische,  die  zweite  dadurch,  dass  sie  auf  unbe- 
stimmte Gleichungen  sich  zurückführt.  In  die  erste  Gruppe  gehört 
z.  B.  die  erste  Aufgabe:  Eine  gegebene  Strecke  a  derart  zu  theilen, 
dass  das  Rechteck  aus  dfr  ganzen  Strecke  und  dem  Unterschiede  der 
Theile  nebst  dem  Quadrate  des  kleineren  Theiles  dem  Quadrate  des 
grösseren  Theiles  gleich  werde,  denn 

»■[(i+-^-)-(f-^)]+(f-^r=(i+-r 

ist  eine  Identität.  Andere  Aufgaben  sind  unbestimmt,  so  die  vierte: 
Ueber  einer  gegebenen  Grundlinie  ein  Dreieck  zu  zeichnen,  dessen 
beide  anderen  nSchenkel  die  halbe  Grundlinie  zum  unterschiede  haben. 
Die  Spitze  des  Dreiecks  liegt  auf  einer  Hyperbel,  was  aber  Ghetaldi 
nicht  bemerkt  zu  haben  scheint'*').  Das  4.  Kapitel  endlich  enthält 
acht  Aufgaben,  welche  nicht  in  das  Bereich  der  Algebra  fallen^), 
d.  h.  solche,  welche  Ghetaldi  nicht  in  Gleichungsform  zu  bringen 
wusste.  Unter  ihnen  ist  gleich  die  erste  diejenige,  welche  wir  mein- 
ten,  als  wir   von   einer  Aufgabe    sprachen ,   die    richtig    angefasst    zu 

einer  Gleichung  4.  Grades  hätte  führen 
müssen.  Eine  Seite  eines  gegebenen 
Rhombus  wird  verlängert,  dann  soll 
in  dem  entstehenden  Aussenwinkel 
eine  gegebene  Strecke  so  eingezeich- 
net werden,  dass  ihre  Verlängerung 
in  den  Eckpunkt  des  Rhombus  ein- 
trifft, welcher  dem  Scheitel  des  Aussen- 
winkels  gegenüberliegt^).    Ist  (Figur  146)  a  die  Seitenlänge  des  Rhom- 

^)  Problema  vanuni  seu  nugatorium.  ^)  cum  id  .  quod  Prdblema  fieri 

juhet,  quaciimque  ratione  fiat  Problemati  satisfit,  vel  cum  Problema  inßnitis  modis 
eonstrui  potest.  ^)  Ist  -2«  die  gegebene  Grundlinie  zugleich  Richtung  der  Ab- 
scissenaxe  eines  rechtwinkligen  Coordinatensjstemes,  dessen  Anfangspunkt  in  der 
Mitte   der  Gi-undlinie  liegt,  so  heisst  die  Gleichung  des  Ortes   der  Dreiecksspitze 

Vergl.  Kästner  DI,  190.  ^)  De  resolutione  et  compositione  problem^tnm  quae 

suh  Algebram  non  cadunt.  '")  Eombo  dato  et  uno  latere  producto  aptare  sub 


Geometrische  Gleichungsauflösungen.     Analytische  Geometrie.  811 

bus,  Ix,  die  Länge  der  eiazuzeichnenden  Strecke  MK,  und  wird 
<^  BCD  =  a,  BM  =  X  gesetzt,  so  ist 

KJ)  =  —,     KC  =  a  —  BK=a ^  = -^- 

und  im  Dreiecke  CBK  findet  die  Gleichung  statt 

\  X  /  '     \x  -\-  aj  X  -\-  a 

oder 

(x^  —  h^){x  -f-  «)^  ==  (2(a  -(-  x) cos a  —  a)ax^, 

welche  zu  construiren  bleibt^).  Ghetaldi  benutzt  aber  diesen  Weg 
nicht,  wie  er  überall  die  Anwendung  trigonometrischer  Functionen 
vermeidet,  so  sehr  die  Lösung  der  Aufgaben  dadurch  beschleunigt 
würde.  Ihm  war  offenbar,  trotz  Regiomontanus  und  Yieta,  welche 
er  sorgsam  studirt  hatte,  die  Handhabung  jener  Functionen  nicht 
ganz  geläufig.  Er  versuchte  lieber,  und  so  auch  bei  der  Aufgabe» 
von  der  wir  gerade  reden,  eine  geometrische  Analysis  in  antikem 
Sinne  und  Hess  dann  die  Construction  und  deren  Beweis  folgen. 

Fasst  man  die  Leistungen  Ghetaldi's  mit  denen  von  Girard,  von 
üescartes,  von  Van  Schooten,  von  Sluse  zusammen,  über  welche  wir 
hier  neben  einander  berichtet  haben,  so  erkennt  man  überall  das  Be- 
streben, bald  die  Geometrie  der  Algebra,  bald  die  Algebra  der  Geo- 
metrie dienstbar  zu  machen,  aber  nirgend  erhebt  sich  das  Bestreben 
höher  als  bis  zur  Construction  gewisser  Strecken,  die  in  Gleichungen 
als  Unbekannte  vorkommen.  Am  nächsten  war  Ghetaldi  einem  grossen, 
jetzt  mit  Noth wendigkeit  zu  vollziehenden  Fortschritte  bei  den  un- 
bestimmten Aufgaben  des  3.  Kapitels  seines  5.  Buches.  Dort  musste 
er  bei  richtiger  Fragestellung  zu  einer  Gleichung  zwischen  zwei  un- 
bekannten Strecken  gelangen,  musste  er  dem  geometrischen  Sinne 
dieser  Gleichung  nachforschen.  Er  hat  die  Frage  nicht  richtig  ge- 
stellt, und  so  entging  ihm  der  Blick  in  ein  von  Oresme  aus  der 
Ferne  gezeigtes,  aber  noch  niemals  eigentlich  betretenes  Gebiet. 

Glücklicher,  denn  etwas  Glück  gehört  auch  zu  den  grössten  Ent- 
deckungen, waren  Fermat  und  Descartes.  Jener  dürfte  den  ent- 
scheidenden Schritt  früher  unternommen  haben,  dieser  veröffentlichte 
früher  seine  unabhängig  von  Fermat  gewonnenen  Ergebnisse,  und  da 
die  Geschichte  unwiderruflich  die  Veröffentlichungszeit  als  allein  mass- 
gebend betrachten  muss,  wo  Erstlingsrechte  zu  vergeben  sind,  so 
müssen  wir  zur  Geometrie   des  Descartes  von   1637   und   deren  geo- 

anguJo  exteriori  magnitudine  datam  rectam  lineam,  quae  ad  oppositum  angulum 
pertingat. 

')  Ueber  die  Bedeutung  der  vier  Wurzeln  dieser  biquadratischen  Glei- 
chung vergl.  Kästner  III,  192—193. 


812  77.  Kapitel. 

metrischen  Inhalt  uns  wenden.  Er  besteht,  um  ihn  mit  einem  heute 
allgemein  verständlichen  Namen  zu  kennzeichnen,  aus  der  analy- 
tischen Geometrie  der  Ebene  mit  einem  fast  verstohlen  ge- 
äusserten Gedanken  einer  analytischen  Geometrie   des  Raumes. 

Eine  Schaar  von  unter  einander  parallelen  Geraden  wird  gedacht, 
welche  auf  einer  zu  ihr  senkrechten  Geraden  gewisse  Strecken  von 
einem  angenommenen  Anfangspunkte  aus  abschneidet.  Endpunkte 
der  Parallelen  liegen  dann  in  irgend  einer  Curve,  und  wenn  zwischen 
den  Strecken  der  geschnittenen  Geraden  und  der  durch  sie  und  die 
Curve  begrenzten  Länge  der  Parallelen  eine  von  Punkt  zu  Punkt  der 
Curve  sich  nicht  ändernde  Gleichung  besteht,  so  heisst  diese  die 
Gleichung  der  Curve.  Die  Parallelen  selbst  heissen  omnes  ordi- 
natim  applicatae^),  woraus  die  Namen  Ordinaten  und  Appli- 
caten  entstanden,  welche  von  nun  an  der  analytischen  Geometrie 
angehören  sollten.  Erfunden  hat  Descartes  diese  Namen  nicht.  Lineae 
ordinatae  hiessen  irgend  welche  Parallellinien  schon  bei  den  römi- 
schen Feldmessern  (Bd.  I,  S.  515)  und  auch  die  Wortverbindung 
ordinatim  appUcata  ist  in  einem  1615  herausgegebenen  Werke  Kep- 
ler's  gebraucht^). 

Von  einer  Begriffsbestimmung  der  analytischen  Geometrie  von 
der  Art,  wie  sie  hier  ausgesprochen  worden  ist,  nimmt  Descartes 
allerdings  so  wenig  seinen  Ausgangspunkt,  dass  sie  sich  sogar  nirgend 
bei  ihm  ausdrücklich  ausgesprochen  vorfindet;  man  muss  sie  da  und 
dort  aus  seinem  Verfahren  herauslesen.  Sein  Gedankengang  ist  viel- 
mehr folgender: 

Das  I.  Buch  beginnt  mit  der  Behauptung,  jede  geometrische 
Aufgabe  laufe  darauf  hinaus,  eine  Anzahl  von  Strecken  zu  kennen. 
Eine  solche,  an  sich  beliebig,  muss  dabei  als  Einheit  angenommen 
werden^).  Buchstaben,  welche  alsdann  für  einzelne  Strecken  gewählt 
werden,  können  in  Ausdrücken  in  gleichen  Dimensionen,  aequemidUs 
semper  dimensionihus,  vorkommen,  aber  uothwendig  ist  es  nicht,  weil 
die  Einheit  immer  zur  Erklärung  zur  Verfügung  steht,  uhique  suh- 
intellegi  potest,  wo  sich  zu  viele  oder  zu  wenige  Dimensionen  finden. 
Ist  z.  B.  aus  a^y^  —  &  die  Kubikwurzel  zu  ziehen,  so  muss  man  sich 
denken,  a^J)^  sei  einmal  durch  die  Einheit  dividirt,  h  zweimal  mit 
derselben  multiplicirt'*).  Mittels  der  für  die  Strecken  eingesetzten 
Buchstaben,  seien  es  Stellvertreter  bekannter  oder  unbekannter  Werthe, 
sind   nach    den  Bedingungen    der  Aufgabe   Gleichungen    herzustellen, 

^)  Descartes,    Geom.  1,38  und  häufiger.  ^)  Kepler,  Opera  (ed. 

Frisch)  IV,  698:  Sit  a  tactu  B  ad  diametrum  ordinatim  applicata  BA. 
^)  Descartes,  Geom.  I,  1:  quae  vocetur  unitas  ut  eo  commodius  ad  numeros 
referatur,  quamque  communiter  pro  lihitu  assumere  licet.        ^)  Ebenda  I,  3. 


Geometrische  Gleichungsauf lösungeu.     Analytische  Geometrie.  813 

so  viele  an  der  Zahl,  als  Unbekannte  vorkommen.  Werden,  trotzdem 
nichts  in  der  Aufgabe  Enthaltene  vernachlässigt  wurde,  weniger 
Gleichungen  als  Unbekannte  gefunden,  so  dient  solches  zum  Beweise, 
dass  die  Aufgabe  keine  durchaus  bestimmte  ist^).  Nun  werden  zu- 
nächst bestimmte  Gleichungen  zweiten  Grades  constructiv  mittels  des 
Kreises  und  der  Geraden  gelöst,  dann  wird  der  Uebergang  zur  ersten 
unbestimmten  Aufgabe  gemacht,  zur  sogenannten  Aufgabe  des 
Pappus.  Sie  besteht  (Bd.  I,  S.  423)  darin,  den  geometrischen  Ort 
eines  Punktes  von  der  Beschaffenheit  zu  finden,  dass,  wenn  man  von 
ihm  Linien  unter  gegebenem  Winkel  nach  gegebenen  Geraden  der 
Ebene  zieht,  das  Product  gewisser  dieser  Verbindungsgeraden  zu  dem 
Producte  aller  übrigen  in  einem  gegebenen  Verhältnisse  stehe.  Des- 
cartes  behandelt  sie  nach  seiner  Methode.  Er  findet,  dass,  wenn  auf 
einer  der  gegebenen  Geraden  ein  Anfangspunkt  A  gewählt  wird,  der 
von  dem  Durchschnittspunkte  B  mit  der  nach  dieser  Geraden  ge- 
zogenen Verbindungslinie  CB  von  der  Länge  y  die  Entfernung  x  be- 
sitzt, alsdann  sämmtliche  übrige  Verbindungslinien  Längen  besitzen, 
welche  aus  drei  Theilen  bestehen,  einem  Vielfachen  von  y,  einem 
Vielfachen  von  x  und  einem  nur  Bekanntes  enthaltenden  Theile, 
jeder  bald  positiv  bald  negativ-).  Daraus  folgt  aber,  dass,  wenn  2n 
oder  2n —  1  Gerade  gegeben  sind,  die  Producte  von  n  oder  n —  1 
Verbindungslinien  den  w**^"  Grad  nicht  übersteigen  und  damit  den 
Grad  der  entstehenden  Gleichung  bedingen.  Bei  fünf  Geraden  ist 
eine  Gleichung  3.  Grades  zu  erwarten.  Nimmt  man  dabei  y  als  be- 
kannt an,  so  kann,  weil  die  erste  Verbindungslinie,  von  x  unab- 
hängig, ihre  Länge  einfach  mit  y  bezeichnet,  nur  eine  nach  x  quadra- 
tische Gleichung  auftreten,  so  dass  der  betreffende  Durchschnitts- 
punkt B  auf  der  ersten  Geraden  mittels  Zirkel  und  Lineal  gefunden 
Averden  kann.  Die  Länge  CB  =  y  ist  aber  nicht  bestimmt,  es  können 
als  solche  andere  und  andere  Werthe  ins  Unendliche  gewählt  werden, 
und  entsprechend  finden  sich  unendlich  viele  Werthe  x  nebst  unend- 
lich vielen  Punkten  C,  welche  eine  Curve  bilden^).  Wir  brauchen 
kaum  besonders  darauf  hinzuweisen,  dass  dieses  eine  von  den  Stellen 
ist,  welche  wir  oben  im  Auge  hatten,  als  wir  sagten,  man  müsse 
da  und  dort  aus  Descartes'  Verfahren  herauslesen,  worin  seine  Me- 
thode bestehe. 

Im    IL  Buche    giebt   Descartes    zunächst    die    Dreitheilung    der 


')  Descartes  I,  4.  *)  Ebenda  I,  14.  *)  Ebenda  I,  15:  Adeoque  si 

in  infinitum  alia  atque  alia  magnitudo  sumatur  pi'O  linea  y,  invenietur  quoque  in 
infinittim  alia  atque  alia  pro  linea  x,  atque  ita  ohtinehitur  infmitus  numerus 
imnctorum,  cujusmodi  est  imnctum  C,  quorum  ope  quaesita  curva  linea  descri- 
hetiir. 


814  77.  Kapitel. 

Aufgaben  nach  antikem  Vorbilde  an  (Bd.  I,  S.  284).  Ebene  Oerter 
waren  ihnen  Gerade  und  Kreis,  körperliche  Oerter  die  Kegelschnitte, 
lineare  Oerter  alle  übrigen  Curven  der  Ebene.  Descartes  verlangt 
dagegen,  man  solle  die  Curven  nach  dem  Grade  unterscheiden^).  Man 
bedürfe  zu  ihrer  Herstellung  nicht  so  weit  hergeholter  Mittel,  wie 
z.  B.  das  Schneiden  eines  Kegels  durch  eine  Ebene,  vielmehr  genüge 
die  Bewegung  von  zwei  oder  mehr  Linien,  die  sich  gegenseitig 
treffen-).  Dann  solle  man  des  Weiteren  die  wirklich  mechanischen 
Curven  abtrennen,  welche  wie  die  Spirale,  die  Quadratix  durch  zwei 
Bewegungen  verschiedener  Natur  erzeugt  werden,  zwischen  welchen 
eine  in  genauen  Zahlen  ausgedrückte  Beziehung  nicht  stattfindet^). 
Offenbar  ist  damit  die  Unterscheidung  zwischen  algebraischen  und 
transcendenten  Curven  gemeint,  wie  der  heutige  an  Leibniz 
sich  anlehnende  Sprachgebrauch  sich  ausdrückt.  Vielleicht  war  die 
Aufgabe  des  Pappus  für  Descartes  Veranlassung  zu  einer  weiteren 
Unterscheidung  der  algebraischen  Curven,  deren  er  sich  bedient.  Dort 
sah  er,  dass,  wenn  2n,  beziehungsweise  2n — 1  Gerade  gegeben 
waren,  ein  Product  aus  n  Strecken  gebildet  werden  musste,  welches 
zu  einem  Producta  gleicher  Dimension  entweder  aus  lauter  Unbe- 
kannten oder  aus  n  —  1  Unbekannten  und  der  Einheit  in  Verhältniss 
trat.  Jetzt  im  IL  Buche  unterscheidet  er  neben  dem  Grade,  gradus, 
noch  das  Geschlecht,  genus,  der  Curven.  Der  2n — 1*"  und  2>^**' 
Grad  bilden  ihm  gemeinschaftlich  das  n^^  Geschlecht^).  Dabei  beein- 
flusst  die  Wahl  des  geradlinigen  Coordinatensystems,  so  verschieden 
sie  getroffen  werden  kann,  das  Geschlecht  der  Curven  nicht  ^).  Noch- 
maliges Zurückgreifen   auf  die  Aufgabe  des  Pappus  führt   Descartes 

nun  dazu,  eine  gewisse  Strecke  y  nr  -\-  ox  —  —  rr^  näher  zu  unter- 
suchen^).    Kommt  —X-  in  dem  Radicanden  überhaupt  nicht  vor,  so 

ist  der  Kegelschnitt,  welcher  als  geometrischer  Ort  auftritt,  eine 
Parabel;  hat  jenes  Glied  das  Vorzeichen  -|-;  so  ist  eine  Hyperbel 
entstanden,  und  endlich  eine  Ellipse,  wenn  das  Vorzeichen  —  heisst. 
Nach  einigen  weiteren  Auseinandersetzungen  gelangt  Descartes  zur 
Aufgabe,  in   einem  Punkte    einer  gegebenen   Curve    eine   Senkrechte 


^)  Descartes,  Geom.  I,  17:  Verum  satis  mirari  non  possum,  quod  non 
ulterius  progressi  lineas  hasce  magis  compositas  in  certos  distinxerint  gradus. 
*)  Ebenda  I,  18.  ^)  Ebenda  I,  18 — 19:    Quandoquidem  illas  duobus  motibus 

describi  imaginamur,  qui  a  se  invicem  sunt  diversi,  nee  ullam  inter  se  relationem 
habent,  quae  exacte  mensurari  possit.  *)  Ebenda  I,  21.  ^)  Ebenda  I,  22: 

fieri  potest,  ut  linea  eiusdem  generis  esse  appareat.  Deutlicher  war  der  fran- 
zösische Wortlaut:  on  peut  tousjours  faire  que  la  ligne  paraisse  de  meme  genre. 
Oeuvres  (ed.  Cousin)  V,  339.    .     «)  Ebenda  I,  29. 


Geometrische  Gleichlingsauflösungen.     Analytische  Geometrie.  815 

zu  der  Curve  oder  ihrer  Berührungsliuie,  contingcns,  zu  ziehen^), 
über  deren  Auflösung  wir  im  79.  Kapitel  berichten  werden.  Die 
Anwendung  der  Methode  der  Normalenziehung  wird  unter  Anderem 
bei  der  Conchoide  gemacht")  und  besonders  bei  einigen  Curveu, 
welche  als  die  Descartes'schen  Ovalen^)  bekannt  geblieben  sind. 
Es  sind  sogenannte  Diakaustiken,  d.  h.  sie  haben  die  Eigenschaft, 
dass  alle  von  einem  Punkte  ausgehenden  und  auf  sie  auffallenden  und 
in  Folge  des  Brechungsgesetzes  gemäss  einem  gegebenen  Brechungs- 
exponenten abgelenkten  Strahlen  nach  einem  Punkte  weiter  geworfen 
werden,  in  welchem  sie  sich  vereinigen,  so  dass  man  gewissermassen 
von  Brennpunkten  reden  dürfte.  Wie  Descartes  zu  diesen  Ovalen 
gelangt  ist,  sagte  er  nicht.  Am  Schlüsse  des  IL  Buches  findet  sich^), 
was  wir  einen  Gedanken  über  die  analytische  Geometrie  des 
Raumes  genannt  haben.  Was  über  ebene  Curven  gelehrt  wurde, 
sagt  Descartes  ungefähr,  ist  leicht  auf  alle  solche  auszudehnen,  welche 
durch  regelmässige  Bewegung  von  Punkten  im  dreidimensionalen 
Räume,  in  spatio  trium  dimensionum ,  entstanden  sind.  Man  braucht 
nur  von  jedem  Punkte  der  Curve  Perpendikel  auf  zwei  zu  einander 
senkrechte  Ebenen  zu  fällen,  denn  die  Endpunkte  dieser  Perpendikel 
bilden  zwei  Curven,  je  eine  auf  einer  der  beiden  Ebenen,  die  man 
nach  der  gelehrten  Methode  beide  auf  die  Durchschnittslinie  der 
beiden  Ebenen  beziehen  kann,  und  alsdann  ist  die  dreidimensionale 
Curve  vollständig  bestimmt.  Sogar  die  Normale  zur  Raumcurve  in 
einem  ihrer  Punkte  könne  man  so  erhalten.  Jenem  Punkte  entspricht 
je  ein  Punkt  in  jeder  der  beiden  ebenen  Curven,  also  auch  je  eine 
Normale  an  die  betreffende  ebene  Curve,  und  Ebenen,  welche  durch 
diese  Normalen  senkrecht  zu  den  Curvenebenen  gelegt  sind,  schneiden 
sich  in  der  gesuchten  Normale  der  Raumcurve.  In  dieser  Allge- 
meinheit ist  die  Behauptung  allerdings  nicht  richtig,  vielmehr  nur 
dann  zutreffend,  wenn  die  Raumcurve  eben  ist"^). 

Das  m.  Buch  lässt  sich  fast  als  ein  Lehrbuch  der  Algebra  be- 
zeichnen. Nachdem  in  den  beiden  ersten  Büchern  gezeigt  worden 
war,  wie  geometrische  Aufgaben  auf  Gleichungen  zurückgeführt 
werden,  erwächst  das  Bedürfniss,  mit  deren  Lehre  genau  bekannt  zu 
sein  ,  und  desshalb  setzt  hier  Descartes  neben  Anderem  auch  jene 
Sätze  auseinander,  über  welche  im  76.  Kapitel  berichtet  ist.  Eines 
Irrthums  freilich  machte  er  sich  schuldig.  Gleich  zu  Anfang  des 
III.   Buches    giebt    Descartes    als    Vorschrift*^),    man    solle    eine    vor- 

^)  Descartes,  Geom.  I,  40  sqq.  ^)  Ebenda  1,49.  ^)  Ebenda  1,50:  Expli- 
catio  quatuor  generum  novarum  ovalium  opticae  inservientum.  *)  Ebenda  I,  66. 
°)  Auf  die  Nothwendigkeit  dieser  Einschränkung  machte  uns  H.  P.  Stäckel 
aufmerksam.         ^)  Ebenda  I,  67. 


816  77.  Kapitel. 

gelegte  Aufgabe  niclit  durch  beliebige  zweckdienliche  Curven  lösen, 
sondern  durch  die  einfachsten,  welche  man  anwenden  könne.  Diese 
Vorschrift,  muss  man  denken,  hatte  er  noch  vor  Augen,  als  er  an 
die  Behauptung,  nur  zur  Auflösung  von  Gleichungen  3.  und  4.  Grades 
könne  man  Kegelschnitte  verwenden^),  später  eine  weitere  unrichtige 
Behauptung  knüpfte,  die  sich  kurz  so  aussprechen  lässt:  zur  Auf- 
lösung von  Gleichungen  2n  —  V^"^  oder  2«**^"  Grades  bedürfe  es  einer 
Linie  n^^"-  Geschlechtes^).  So  wurde  sie  wenigstens  von  gleichzeitigen 
und  von  späteren  Lesern^)  verstanden  und  als  irrig  aufgefasst,  wie 
wir  bald  sehen  wollen. 

Die  Geometrie  kam,  wie  wir  wissen,  1637  heraus.  Vor  ihrem 
Erscheinen  schrieb  Fermat  unter  dem  22.  September  1636  einen  Brief 
an  RobervaP),  welcher  für  das  Vorhandensein  des  darin  Enthaltenen, 
bevor  Fermat  Einsicht  in  Descartes'  Geometrie  gewinnen  konnte,  be- 
weiskräftig ist.  Fermat  beruft  sich  hier  auf  seine  Methode  De  maximis 
et  minimis,  welche  Roberval  durch  einen  Herrn  Despagnet  kennen 
gelernt  habe,  welchem  er,  Fermat,  sie  vor  sieben  Jahren  in  Bordeaux 
mittheilte.  Wir  kommen  damit  bis  zum  Jahre  1629  zurück,  und  da 
die  erwähnte  Methode,  welche  wir  im  79.  Kapitel  schildern,  durchaus 
auf  analytisch-geometrische  Betrachtungen  sich  aufbaut,  so  müssen 
jene  Grundbetrachtungen  für  Fermat  spätestens  1629  vorhanden  ge- 
wesen sein.  Veröffentlicht  freilich  hat  Fermat  seine  Untersuchungen 
erst  nach  1637,  in  einer  der  betreffenden  Abhandlimgen  kommt 
Descartes'  Name  wiederholt  vor. 

Die  augenscheinlich  älteste  Fermat'sche  Abhandlung  über  ana- 
lytische Geometrie  führt  den  Titel  At  locos  planos  et  solidos  isagoge^). 
Fermat  sagt  in  dieser  sogen.  Isagoge,  dass,  wenn  er  diese  Erfindung 
schon  besessen  hätte,  als  er  vor  langer  Zeit  die  ebenen  Oerter  des 
Apollonius  wiederherstellte,  er  dort  weit  eleganter  hätte  verfahren 
können  ^j.  Eine  Zeitbestimmung  ist  damit  so  eigentlich  nicht  ver- 
bunden, da  man  nicht  weiss,  wann  jene  synthetisch -geometrische 
Schrift  verfasst  wurde.  Ein  Nekrolog  Fermat's,  vielleicht  aus  der  Feder 
Carcavy's,  jedenfalls  von  diesem  beeinflusst,  behauptet,  die  Isagoge 
sei  geschrieben  gewesen,  bevor  die  Descartes'sche  Geometrie  gedruckt 
war^).  Aber  gelte  dieses  auch  nicht  für  denjenigen  Wortlaut,  in 
welchem    die  Isagoge   1079   in   den   nachgelassenen    Varia  Opera    er- 


*)  Descartes,  Geom.  I,  96:  Cur  problemata  solida  eonstrui  non  possint 
absqiie  sectionibus  conieis,  nee  quae  magis  composita  sunt,  sine  aliis  lineis  magis 
composifis.  *)  Ebenda  I,  106.  ^  Jacobi    Bernoulli    Opera  I,  343. 

*)  Fermat,    Varia    Opera'  pag.  136.  ^)  Ebenda   pag.  2—11.      Oeuvres  de 

Fermat  I,  91—110.  ^)   Varia  Opera  pag.  8.      Oeuvres  I,  103.  ')  Oeuvres 

de  Fermat  I,  359—361. 


Geometrische  Gleichungsauflösungen.     Analytische  Geometrie.  817 

schien,  sei  bei  dieser  letzten  Niederschrift  Fermat  mit  jener  Geometrie 
von  1637  bekannt  gewesen,  jedenfalls  geht  sie  in  wesentlichen  Dingen 
weit  über  Descartes  hinaus.  Nirgend  hat  Descartes  die  Herstellung 
der  Gleichung  eines  geometrischen  Ortes  so  klar  beschrieben,  wie 
Fermat  gleich  am  Anfange  der  Isagoge  es  thut.  Die  Gleichungen, 
sagt  er,  können  in  bequemer  Weise  hergestellt  werden,  wenn  wir 
zwei  unbekannte  Strecken  unter  gegebenem  Winkel,  zu  welchem  wir 
meistens  einen  rechten  Winkel  wählen,  aneinandersetzen  und  für  eine 
der  beiden  Strecken  einen  Anfangspunkt  wählen '^).  Diesen  Anfangs- 
punkt bezeichnet  Fermat  regelmässig  mit  N  und  die  von  ihm  be- 
ginnende Strecke  mit  A,  die  dazu  senkrechte  andere  Strecke  mit  E. 
Ihr  Fusspuukt  heisst  Z,  der  Punkt  des  geometrischen  Ortes,  wo  sie 
endigt,  J.  Solche  ein  für  allemal  gewählten  Bezeichnungen  sind 
mehr  als  blosse  Bezeichnungen.  Sie  bilden  einen  Theil  des  metho- 
dischen Verfahrens,  und  Niemand  hat  Fermat  in  dieser  Beziehung 
übertroffen.  Man  könnte  alle  seine  Feststellungen  als  mustergiltig 
rühmen,  wenn  er  nicht  allzusehr  durch  die  Fesseln  der  Vieta'schen 
Schreibweise  beengt  gewesen  wäre.  Statt  des  Gleichheitszeichens 
schrieb  er  noch  eyale,  statt  der  rechts  erhöhten  Zahlenexponenten  die 
lästigen  Anfangsbuchstaben  der  Potenzbenennungen.  In  diesen  beiden 
Unbequemlichkeiten  sei  es  uns  gestattet,  uns  von  Fermat  zu  entfernen, 
während  wir  im  Uebrigen  ihm  genau  folgen.  Wir  können  alsdann 
folgenden  Inhalt  der  Isagoge  angeben,  den  man  mit  unseren  Aus- 
zügen aus  Descartes'  Geometrie  vergleichen  mag. 

DA  =  BE  bedeutet  eine  durch  den  Anfangspunkt  N  gehende 
Gerade.  Z^  —  DA  =  BE  oder,  indem  Z"  =  DR  gesetzt  wird. 
Biß  —  A)^BE  bedeutet  dieselbe  Gerade  unter  Verschiebung  des 
Anfangspunktes.  Fermat  besitzt  also  ausdrücklich  die  Gleichung  der 
geraden  Linie,  welche  man  bei  Descartes  vergebens  sucht.  Die  Glei- 
chimg  AE  =  Z-  ist  die  einer  Hyperbel  auf  ihre  Asymptoten  be- 
zogen. E-  =  DA  und  BE^A-  sind  zwei  Parabeln,  welche  nur  durch 
ihre  Lagen  sich  unterscheiden,  indem  die  Applicaten  bald  der  einen, 
bald  der  anderen  von  zwei  zu  einander  senkrechten  Richtungen 
parallel  sind.  B^  —  ^^  =  E^  ist  Kreisgleichung  und  auf  eben  diese 
Form  ist  jede  Gleichung,  welche  noch  Vielfache  von  A  und  von  E 
enthält,  zurückführbar,  falls  nur  A-  und  E^  gleiche  Coefficienten  be- 
sitzen, z.  B.  B-  —  2BA  —  A^  =  E^  -j-  2RE  geht  über  in 

P^  —  (^  -f  Bf  =  iE  +  Bf,  wo  P-  =  FC'  +  B-  +  B\ 


^)  Commode  autem  possunt  institui  aequationes,  si  duas  quantitates  ignotas 
ad  datum  angulum  constituamus,  quem  ut  pluritnum  rectum  smnemus,  et  alterius 
ex  Ulis  positione  datae  terminus  unus  sit  datus. 

Cantoe,  Geschichte  der  Mathem.    11.    2.  Aufl.  52 


818  77.  Kapitel. 

Ist  dagegen  ü^  —  A-  nicht  gleich  E",  sondern  steht  zu  E"  in  einem 
gegebenen  Verhältnisse,  so  ist  damit  die  Gleichung  einer  Ellipse  ge- 
geben; die  Gleichung  der  Hyperbel  ist  dagegen  vorhanden,  wenn 
J}  -j-  B^  zu  E'^  in  gegebenem  Verhältnisse  steht.  Das  sind  Ergeb- 
nisse, welche  in  der  Isagoge  auf  wenige  Seiten  zusammengedrängt 
erscheinen. 

Ein  zweiter  Aufsatz,  als  Anhang  zur  Isagoge  bezeichnet^),  zeigt 
wie  man  mittels  zweier  Curven  Gleichungen  höherer  Grade,  in  wel- 
chen nur  eine  Unbekannte  vorkommt,  bewältigen  könne.  Es  ist  die 
gleiche  Aufgabe,  welche  wir  in  der  Ueberschrift  dieses  Kapitels  als 
geometrische  Glerchungsauflösungen  bezeichnet  haben  und  welche  wir 
noch  vor  der  analytischen  Geometrie  zur  Sprache  brachten.  Dorthin 
würde  also  streng  genommen  Fermat's  Anhang  zur  Isagoge  auch  ge- 
hört haben,  wenn  ihm  nicht  das  ganz  abweichende  elegantere  Ver- 
fahren seinen  Platz  an  dieser  späteren  Stelle  angewiesen  hätte.  Fer- 
mat  setzt  regelmässig  in  der  vorgelegten  Gleichung  jede  der  beiden 
Seiten,  die  desshalb  mit  Geschick  auszuwählen  sind,  einem  und  dem- 
selben dritten  Ausdrucke  gleich,  welcher  mit  beiden  vorhandenen 
Ausdrücken  Gemeinth eiler  besitzt,  durch  welche  dividirt  werden  kann. 
Sei  etwa  A^  -\-  BA-  ==  Z'B  zu  lösen.  Fermat  wählt  als  Vergleichs- 
ausdruck BAE,  und  nun  geht  A'-j-BA'  =  BAE  in  A'-j-BA^BE 
und  Z^B  =  BAE  in  Z^  =  AE  über,  d.  h.  Parabel  und  Hyperbel 
schneiden  sich  in  einem  Punkte,  dessen  A  die  vorgelegte  Gleichung 
befriedigt.  In  einem  anderen  Falle  sei  A^  =  Z'-A-  —  Z^D  aufzulösen. 
Fermat  formt  die  Gleichung  zunächst  um  zu 

U-  —  B'f  =  {B'  -  Z'D)~  {2B^  —  Z')A' 

und  nimmt  dann  N^E'-  als  Vergleichsausdruck,  wo  N-  =  2B'-  —  Z^. 
So  werden  eine  Parabel  A^  —  B^  =  NE  und  ein  Kreis 

-^."   -A-±. 

als  die  zur  Lösung  führenden  Curven  ermittelt.  Ob  Fermat  Car- 
dano's  Schrift  De  Begula  Aiwa  gelesen  und  dort  die  Methode  ge- 
funden hatte,  eine  Gleichung  unter  Beiziehung  einer  Hilfsgrösse  in 
zwei  Gleichungen  zu  spalten  (S.  536),  sei  dahingestellt.  Wahrschein- 
lich ist  es  uns  nicht,  und  jedenfalls  ging  Fermat  nicht  algebraisch 
wie  Cardano,  sondern  geometrisch  zu  Wege. 

Der  gleichen  Methode  bediente  sich  Fermat  in  einer  ziemlich 
viel  späteren  Abhandlung:  Be  solutione  jyrohlematum  geometricormn 
per  curvas  simplicissimas  et  uniciiique  prohlematum  generi  proprie  con- 

^)  Appendix  ad  Isagogem  Topicam  continens  solutionem  problematttm  soli- 
dorum  per  loeos.     Varia  Opera  pag.  9 — 11.     Oeuvres  I,  103—110. 


Geometrische  Gleichungsauflösiuigen.     Analytische  Geometrie.  819 

venientes^).  Sie  muss  1660  entstanden  sein,  wie  ans  einem  Briefe 
Carcavy's  an  Huygens  vom  25.  Juni  1660  hervorgeht.  Ein  vom 
9.  März  1661  datirter  Auszug  findet  sich  heute  noch  in  Leiden,  in 
der  reichen  Sammlung  von  Briefen  an  und  von  Huygens^).  Permat 
machte  hier  auf  jenen  Missgriff  von  Descartes  aufmerksam,  den  wir 
oben  bereits  berührt  haben,  und  der  darauf  hinauslief,  dass  Descartes 
nicht  erkannte,  dass  zwei  Curven,  deren  eine  vom  m**"",  die 
andere  vom  w*®°  Grade  ist,  genügen,  um  eine  Gleichung 
vom  ww*^"^  Grade  zu  lösen,  während  Fermat  die  volle  Einsicht 
davon  hatte.  Die  Abhandlung  ist  also  entschieden  gegen  Descartes 
gerichtet,  aber  um  so  mehr  lohnt  es  sich,  einige  Stellen  wiederzugeben, 
welche  zeigen,  wie  Fermat  wissenschaftliche  Gegnerschaft  übte.  Man 
möge  sich  überzeugen,  beginnt  die  Abhandlung,  dass  auch  ein  Des- 
cartes, wo  es  um  geometrische  Dinge  sich  handle,  ein  Mensch  sei, 
dass  dessen  Zurückführung  von  Gleichungen  auf  Curvendurchschnitte 
mit  einem  Fehler  behaftet  sei.  Wenn  Fermat  sich  dann  bei  seiner 
Richtigstellung  an  Descartes  und  alle  Cartesianer  wendet,  so  liegt  die 
Vermuthung  nahe,  er  habe  dieses  desshalb  gethan,  weil  in  der  mit 
Erläuterungen  versehenen  lateinischen  Ausgabe  der  Geometrie  von 
1659  an  jenem  Irrthume  schweigend  vorübergegangen  ist,  als  ob  gar 
keine  Veranlassung  zur  näheren  Erörterung  hier  vorläge.  Jene  Ver- 
muthung wäre  gleichwohl  wahrscheinlich  unberechtigt,  wie  daraus 
hervorgeht,  dass  in  Fermat's  Abhandlung  überall  die  Seitenzahlen  der 
französischen  Geometrie  von  1637,  nicht  die  der  späteren  Ausgaben 
citirt  sind.  Er  sei,  setzt  Fermat  dann  hinzu,  von  der  Bewunderung 
jenes  übernatürlichen  Genius  so  erfüllt^),  dass  er  Descartes,  wo  er 
fehlgehe,  immer  noch  höher  schätze  als  Andere,  die  auf  richtigem 
Wege  wandern.  Wir  führen  einige  der  Beispiele  an,  durch  welche 
Fermat  sein  Verfahren  erläutert.  Ä"  =  WB  wird  durch  den  Ver- 
gleichsausdruck BA^I?  auf  zwei  Curven  3.  Grades  A^  =  BE^  und 
B^  ^  A^E  zurückgeführt.  A^^  =  B^^B  geht  mittels  des  Vergleichs- 
ausdruckes BA^E^  in  A^=BE  und  B^  =  A^E,  durch  den  Ver- 
gleichsausdruck BA^E^  in  A^  =  BE^  und  B^  =  A^E  über;  man 
bedarf  also  entweder  einer  Curve  5.  und  einer  3.  Grades,  oder  zweier 
Curven  4.  Grades.  Endlich  A-'"'^  =  B^^^B  geht  unter  Anwendung  des 
Vergleichsausdruckes  BA^^E^^  in  eine  Curve  17.  Grades  A^'^  =  BE^^ 
und  eine  Curve  16.  Grades  B^^  =  A^^E  über. 

Einen  Versuch,  die  analytisch-geometrische  Methode  auf  den  Raum 


^)   Varia  Opera  pag.  110 — 115.     Oeuvres  I,  118 — 131.      -)  Oeuvres  completes 
de  Huygens  ni,  85  und  256.  ^)   Tanta   me  portentosissimi   ingenii   incessit 

admiratio. 

52* 


820  77.  Kapitel. 

auszudehnen,  wie  wir  ihn  bei  Descartes  in  geistreicher  Andeutung 
vorfanden  (S.  815),  hat  Fermat  nicht  gemacht.  Wohl  hat  er  sich  in 
einem  aus  dem  Jahre  1643  stammenden  Briefe  an  Carcavy^)  sogar 
mit  Oberflächen  zweiter  Ordnung  beschäftigt,  aber  nicht  in  analy- 
tisch-geometrischer Weise,  sondern  indem  er,  nicht  ganz  fehlerlos, 
die  Curven  besprach,  in  welchen  eine  solche  Oberfläche  durch  eine 
Ebene  geschnitten  werde. 

Der  nächste  Schriftsteller,  den  wir  zu  nennen  haben,  ist  John 
Wallis.  Er  gab  1655  einen  Tractatus  de  sedionibus  conicis  nova 
methodo  expositis^)  heraus,  dessen  neue  Methode  eben  die  der  analy- 
tischen Geometrie  ist,  deren  Verbreitungskreis  sich  durch  diese  Ver- 
öffentlichung entschieden  erweiterte.  In  Wallis'  Schrift  über  Kegel- 
schnitte findet  sich,  was  man  zuletzt  dort  suchen  würde,  das  heutige 
Zeichen  oo  für  unendich  gross  ^). 

Die  Zeitfolge  führt  uns  wiederholt  zur  lateinischen  Ausgabe  der 
Descartes'schen  Geometrie  von  1659,  welche,  wie  wir  mehrfach  er- 
innerten ,  auch  Zuthaten  anderer  Verfasser  enthielt.  Wir  haben 
algebraisch  Bemerkenswerthes  daraus  im  vorigen  Kapitel  zu  melden 
gehabt-,  Algebra  war  ein  schon  etwas  geläufigerer  Gegenstand  der  Be- 
trachtung. Neuer,  ungewohnter  war  die  analytische  Geometrie,  und 
wenn  wir  oben  hervorhoben,  die  Erläuterer  seien  an  der  geometri- 
schen Lösung  von  Gleichungen  sammt  den  von  Descartes  begangenen 
Irrthümern  ahnungslos  vorbeigegangen,  so  gilt  das  Gleiche  von  den 
wichtigsten  geometrischen  Gedanken,  welche  wir  zu  bewundern  hatten. 
Die  breiten  Bettelsuppen  der  Notae  breves  von  Florimond  de 
Beaune^),  des  Commentarii  von  Franciscus  van  Schooten^)  ent- 
halten kaum  einen  einzigen  Brocken,  den  man  herausfischen  könnte, 
aber,  sind  wir  genöthigt  hinzuzusetzen,  ihre  Leere  ist  den  Verfassern 
nicht  allzuhoch  anzurechnen;  die  grosse  Menge,  auch  wenn  die  grosse 
Menge  der  Fachgelehrten  allein  unter  dem  Worte  begriffen  ist,  ver- 
stand die  Feinheiten  der  Geometrie  noch  nicht.  Eine  Ausnahme- 
stellung nimmt  die  Bestimmung  der  Inflexionspunkte  der  Con- 
choide  durch  Franciscus  van  Schooten^)  ein.  Dieser  weiss,  dass  die 
Gleichung,  welche  die  Ordinate  y  eines  Punktes  der  Conchoide  mit 
dem  durch  die  Normallinie  an  jenen  Funkt  auf  der  Ordinatenaxe 
abgeschnittenen  Stücke  r  verbindet,  vom  4.  Grade  in  y  ist,  und  dass 
sie  im  Inflexionspunkte  drei  gleiche  Wurzeln  besitzen  muss.  Er 
bildet  also   das  Product  (y  —  ey  ■  (y  —  f)    und    setzt    dasselbe   Glied 

^)  Oeuvres  de  Fermat  I,  111—117.  -)  Abgedruckt  in  Joliannis  Wallis, 
Opera  mathematica  (Oxford  1699)  1,  291—354.  ^  Ebenda  pag.  297:    Esto  oo 

nota  nunieri  infiniti.  ^)  Descartes,  Geom.  I,  107 — 142.  ^)  Ebenda  I,  147 
—344.         6)  Ebenda  1,  2.58—259. 


lufinitesimalbetrachtungen.     Kepler.     Cavalieri.  821 

für  Glied  in  Uebereinstiinmung  mit  dem  Gleiehungspölynome  der 
Gleichung  4.  Grades ,  von  welcher  soeben  die  Rede  war.  So  ge- 
langt er  zu 

oder,  weil  im  Inflexiouspunkte  y  =  e  sein  muss,  zu 

if  =  —  Zlf  4-  2ic-, 
woraus  der  betreffende  Werth  von  y  zu  berechnen  sei.  Etwas  mehr 
als  die  beiden  schon  Genannten  leistete  Johann  de  Witt  in  seinen 
Elementa  curvarum  linearum^).  Dieselben  zerfallen  in  zwei  Bücher. 
Das  erste  Buch  lehrt  die  Kegelschnitte  als  Ort  des  Durchschnitts- 
punktes einer  parallel  verschobenen  Geraden  und  des  einen  Sehenkels 
eines  um  seinen  Scheitelpunkt  drehbaren  Winkels  kennen  und  steht 
daher,  so  interessant  es  für  die  Lehre  von  den  Kegelschnitten  ist, 
zur  analytischen  Geometrie  in  nur  sehr  loser  Beziehung.  Das  zweite 
Buch  dagegen  ist  eine  elementare  analytische  Geometrie  der  Ebene. 
Die  Gleichungen  der  geraden  Linie,  der  einzelnen  Kegelschnitte  werden 
der  Reihe  nach  vorgeführt.  Möglicherweise  waren  die  Kegelschnitte 
von  Wallis  nicht  ohne  Einfluss  auf  De  Witt. 

Eine  wahrhaft  reiche  Ausbeute  gewährten  aber  die  analytisch- 
geometrischen Methoden  nicht  den  Schriftstellern,  welche  auf  ele- 
mentarem Boden  verblieben,  sondern  nur  denjenigen,  welche  sie  zur 
Grundlage  einer  höheren  Curvenlehre  machten,  indem  sie  zu  Be- 
trachtungen sich  aufschwangen,  welche  man  sich  gewöhnt  hat,  als 
infinitesimale  zu  benennen. 


78.  Kapitel. 
Inflnitesiuialbetrachtungen.     Kepler,     davalieri. 

Wir  sind  in  unseren  Auseinandersetzungen  dahin  gelangt,  die 
Infinitesimalbetrachtungen  in  der  Zeit  von  1600  bis  1668  zu 
schildern,  wobei  gleich  die  letzten  Worte  des  vorigen  Kapitels  An- 
lass  geben,  eine  an  sich  naturgemässe  Gegenseitigkeit  anzukündigen. 
Die  Infinitesimalbetrachtungen  konnten  auf  analytischer  Geometrie 
sich  aufbauend  eine  höhere  Curvenlehre  stützen.  Die  analytische 
Geometrie  fand  erhöhte  Wirksamkeit,  als  sie  thatsächlich  schon  vor- 
handenen Infinitesimalbetrachtungen  sich  zugesellte.  Jene  Betrach- 
tungen sind  auch  wirklich  älter  als  die  Geometrie  Descartes'  von  1637. 

Nicht  als  ob  wir  auf  die  Contiuuitätsbetrachtungen  zurückgreifen 


^)  Descartes,  Geom.  U,  159  —  340. 


822  '78.  Kapitel 

wollten,  welche  seit  dem  XIV.  Jahrhunderte  an  Namen  und  Begriff 
des  Contingenzwinkels  sich  knüpften.  Wir  meinen  Untersuchungen, 
welche  einen  viel  weiter  rückwärts  liegenden  Anknüpfungspunkt  be- 
sitzen. Wir  meinen  Körperausmessungen,  welche,  durch  einen 
zeitlichen  Zwischenraum  von  nahezu  1900  Jahren  von  den  Entdeckungen 
Archimed's  getrennt  dennoch  aus  deren  unmittelbaren  geistigen 
Fortwirkung  ihre  Entstehung  herleiten. 

Wir  haben  (S.  662)  gesehen,  dass  Kepler  1596  in  Graz  seine 
erste  astronomische  Schrift,  das  Mysterium  cosmograpMcum  verfasste, 
in  welcher  von  Sternvielecken  die  Rede  war,  dass  er  in  der  Har- 
monice  mundi  von  1619  den  Gegenstand  weiter  verfolgte.  Wir  haben 
(S.  708)  eine  Gleichung  zwischen  einem  Bogen  und  dessen  Sinus  be- 
sprochen, welche  Kepler  1609  in  der  Ästronomia  nova  aufstellte. 
Dieses  Werk  ist  in  Prag  verfasst  und  enthält  auch  die  beiden  so- 
genannten ersten  Kepler 'sehen  Gesetze  der  Ellipticität  der  Pla- 
netenbahnen und  der  Gleichheit  der  von  den  Leitstrahlen  in  gleichen 
Zeiten  beschriebenen  Sectoren.  Es  erscheint  nicht  unangebracht,  auf 
die  grosse  mathematische  Bedeutung  der  beiden  Gesetze  ein  Streif- 
licht zu  werfen.  Das  erste  zeigte,  dass  eine  Ellipse  bestimmt  sei, 
wenn  man  eine  Anzahl  von  Punkten  derselben  kenne,  das  zweite 
schloss  den  Begriff  der  Flächenbestimmung  elliptischer  Sectoren  in 
sich  ein.  Das  dritte  Gesetz  von  der  Proportionalität  der  Quadrate 
der  Umlaufszeiten  und  der  Würfel  der  grossen  Axen  der  Bahnen  ge- 
hört der  von  Linz  aus  herausgegebenen  erstgenannten  Harmonice 
mundi  an.  Dorthin  war  Kepler,  welchen  Lebensschicksale,  an  denen 
er  meistens  unschuldig  war,  von  Ort  zu  Ort  trieben,  seit  1612  über- 
gesiedelt und  hatte  in  der  neuen  Heimath  sich  wohnlich  eingerichtet. 
Damals  war,  erzählt  Kepler  in  der  Vorrede^)  zu  dem  Buche,  über 
welches  wir  berichten  wollen,  ein  reiches  und  vortreffliches  Weinjahr 
in  Oesterreich  gewesen,  und  Frachtschiffe  hatten  gefüllte  Fässer  ohne 
Zahl  die  Donau  hinaufgeführt,  welche  in  Linz  um  ein  Billiges  zu 
erstehen  waren.  Kepler  kaufte  einige  Fässer ,  und  als  nun  der  Ver- 
käufer mit  einer  Messruthe  durch  den  Spund  die  Entfernung  bis  zur 
entgegengesetzten  Fasswölbung  mass,  um,  ohne  Rücksicht  auf  die 
Art  der  Krümmung  der  Fassdauben  oder  sonstige  Abmessungen, 
daraus  den  Inhalt  des  Fasses  zu  entnehmen,  war  Kepler  überaus  er- 
staunt darüber,  insbesondere  da  er  wusste,  dass  man  am  Rheine  viel 
umsichtiger  zu  Werke  zu  gehen  pflegte  und  entweder  den  Inhalt  des 
Fasses,  Krug  um  Krug,  wirklich  mass,  oder,  falls  man  eines  Visir- 
stabes   sich  bediente,    mindestens   eine  ganze   Anzahl  von  Messungen 


^)  Opera  Kepleri  (ed.  Frisch)  IV,  553—554. 


Infiuitesimalbetraclitungen.     Kepler.     Cavalieri.  823 

vornahm,  statt  mit  der  einzigen  Spundtiefe  sich  zu  begnügen.  Drei- 
tägiges Nachsinnen  genügte  für  Kepler,  die  richtige  Berechnung  des 
Fassinhaltes  zu  ermitteln.  Länger  freilich  dauerte  die  Niederschrift 
der  Doliometrie,  wie  man  vielfach  das  Werk  nennt,  welchem  Kepler 
die  Ueberschrift  Stereonietria  doUoriim  gab,  noch  länger  währte  es, 
bis  die  Schrift  gedruckt  war.  Kepler  hatte  beabsichtigt,  sie  in  Augs- 
burg zu  verlegen,  aber  trotz  der  Fürsprache  des  gelehrten  Marcus 
Wels  er  weigerte  sich  der  Drucker  auf  das  Unternehmen  einzugehen, 
da  einem  lateinischen  Buche  solchen  Inhaltes,  wenn  auch  von  einem 
noch  so  berühmten  Verfasser  herrührend,  die  Verkauf lichkeit  fehle. 
Kepler  sah  nach  16monatlichem  Zuwarten  sich  genöthigt,  das  Werk 
auf  eigene  Kosten  zu  drucken  und  bediente  sich  dazu  eines  Linzer 
Druckers,  Hans  Plank,  bei  welchem  1615  die  lateinische  Schrift, 
1616  auch  eine  deutsche  volksthümlichere  Bearbeitung  erschien,  welche 
aber  in  der  Geschichte  der  Mathematik  nicht  entfernt  die  Rolle  spielt, 
wie  das  lateinische  Werk,  auf  dessen  Entstehung  wir  so  weitläufig 
eingehen  zu  dürfen  glaubten,  weil  Kepler's  Doliometrie  die 
Quelle  aller  späteren  Kubaturen  geworden  ist. 

Man  kann  die  Aufgabe,  welche  Kepler  in  der  Stereometria  dolio- 
rurn^)  aufzulösen  beabsichtigte,  kurzweg  als  die  der  Bestimmung 
des  Rauminhaltes  von  Umdrehungskörpern  bezeichnen,  würde 
aber  damit  der  Methode,  welche  Kepler  anwandte,  ebensowenig  ge- 
recht werden  wie  den  mancherlei  hochwichtigen  Zwischenbemerkungen, 
welche  er  einstreute.  Wir  müssen  desshalb  auf  Einzelheiten  eingehen. 
Die  Eintheilung  des  Werkes  ist  folgende.  Ein  L  Theil,  Stereometria 
Arcliimedea,  beschäftigt  sich  mit  Körpern,  welche  bereits  Archimed 
bekannt  waren.  Ihm  schliesst  ein  Suj)plemcntum  ad  Ärchimedem  sich 
an,  das  der  Betrachtung  von  neuen  Körpern  gewidmet  ist,  so  dass 
schliesslich  nicht  weniger  als  92  Körper  in  Untersuchung  genommen 
sind  -),  von  denen  einige  mit  den  Namen  von  Früchten,  denen  sie 
gleichen,  belegt  wurden,  so  der  apfelförmige,  der  citronenförmige,  der 
olivenförmige  Körper.  Den  II.  Theil  bildet  die  Stereometria  dolii 
Äustriaci  in  specie,  in  welchem  hauptsächlich  von  der  sachdienlichen 
Gestalt  der  in  Oesterreich  üblichen  Fässer  die  Rede  ist.  Ein 
III.  Theil,  Usus  totius  lihri  circa  dolia,  lehrt,  wie  man  in  der  Praxis 
zu  verfahren  habe,  um  den  Inhalt  von  Fässern  zu  bestimmen. 


^)  Opera  Kepleri  (ed.  Frisch)  IV,  551 — 646.  Ueber  den  Inhalt  der  Dolio- 
metrie und  den  deutschen  Auszug  vergl.  Kästner  III,  313 — 331.  —  Montucla 
II,  29 — 31.  —  Chasles,  Aperru  hist.  pag.  56  (deutsch  53).  —  Gerhardt,  die 
Entdeckung  der  höheren  Analysis  (1855),  S.  15 — 18.  —  Gerhardt,  Math. 
Deutschi.  S.  109—112.  ^)  Opera  Kepleri  IV,  582:  Summa  87,  quibus  additae 

figurae  5  ex  circulo,  veluti  capita  familiarum,  efficiunt  formas  nonaginta  et  duas. 


824  78.  Kapitel. 

Den  Zugaug  zur  Körpermessung  findet  Kepler  im  I.  Theile  von 
der  Flächenausmessung  aus,  und  zwar  im  2.  Satze  ^)  von  der  Quadra- 
tur des  Kreises  aus.  Archimed  habe  sich  indirecter  Beweisführung 
bedient,  deren  Sinn  aber  auf  Folgendes  hinauslaufe.  Die  Kreisperi- 
pherie hat  so  viele  Theile  als  Punkte,  also  unendlich  viele,  partes 
habet  totidem,  quot  puncta,  puta  infinitas-^  jedes  Theilchen  ist  als  Basis 
eines  gleichschenkligen  Dreiecks  anzusehen,  so  dass  innerhalb  der 
Kreisfläche  unendlich  viele  Dreiecke  zu  unterscheiden  sind,  die  sämmt- 
lich  mit  ihren  Spitzen  im  Kreismittelpnnkte  zusammenstossen.  Ein 
einziges  Dreieck  mit  dem  Halbmesser  als  Höhe,  der  Kreisperi- 
pherie als  Basis  besitzt  also  alle  jene  unendlich  viele  Dreiecksgrund- 
linien aneinandergefügt,  vmd  über  jeder  derselben  giebt  es  ein  Drei- 
eck mit  dem  Kreismittelpunkte  als  Spitze,  welches  einem  jener  frü- 
heren gleichschenkligen  Dreieckchen  flächengleich  ist.  Folglich  liefert 
das  ganze  Dreieck  die  ganze  Kreisfläche,  id  est  triangidum  ex  omni- 
hus  Ulis  constans  aequdbit  sectores  circuli  onmes,  id  est  aream  circuli 
ex  Omnibus  constantem.  In  einem  Analogieschlüsse ,  für  welchen 
Kepler  auf  Archimed  verweist,  der  aber  bei  Archimed  nicht  vor- 
kommt, wird  im  3.  Satze  ^)  auf  den  Cylinder  und  das  ihm  umschrie- 
bene rechtwinklige  Parallelopipedon  das  Verhältniss  des  Kreises  zu 
seinem  Tangentenquadrate  ausgedehnt,  jene  Körper  stellten  gewisser- 
massen  zu  Körpern  gewordene  Flächen  dar,  sunt  veluti  quaedam  plana 
corporata.  Auch  eine  Erweiterung  des  Zerlegungsgedankens  des  Kreises 
auf  die  Kugel  spricht  der  11.  Satz^)  deutlich  aus:  Der  Körper  der 
Kugel  enthält  nach  Analogie  dessen,  was  im  2.  Satze  ausgesprochen 
wurde,  der  Möglichkeit  nach  unendlich  viele  kegelartige  Gebilde, 
potestate  in  se  continet  infinitos  veluti  cotios,  welche  mit  ihren  Spitzen 
im  Mittelpunkte  der  Kugel  zusammentreffen  und  mit  ihren  Grund- 
flächen, deren  Stelle  Punkte  vertreten,  quorum  vicem  sustinent  puncta, 
auf  der  Oberfläche  aufstehen.  Der  16.  Satz  zerschneidet  den  Kegel, 
und  hier  tritt  wieder  eine  figürliche  Redensart  auf,  der  wir  im 
3.  Satze  schon  begegneten.  Der  Kegel  wird  nämlich  erstlich  ge- 
schnitten durch  eine  Ebene,  welche  durch  seine  Spitze  hindurchgeht 
und  ihn  bis  zum  Grundkreise  durchdringt,  zweitens  durch  einen 
dünneren  Kegel,  der  die  Spitze  mit  dem  geschnittenen  Kegel  gemein 
hat,  und  dessen  Grundkreis  ein  Theil  des  Grundkreises  dieses  ge- 
schnittenen Kegels  ist.  Legt  man  in  beiden  Fällen  der  Grundfläche 
parallele  Ebenen  durch  den  Kegel,  so  zeigt  jeder  dieser  Schnitte  Ab- 
theilungen, welche  in  gleichem  Verhältnisse  wie  die  Abtheilungen  des 
Grundkreises  des  geschnittenen  Kegels  stehen,  denn  der  Kegel  ist  hier 


1)  Opera  Kepleri  IV,  557—558.        -;  Ebenda  IV,  559.       ^)  Ebenda  IV,  563. 


Infinitesimalbetrachtungen.     Kepler.     Cavalieri.  825 

gleichsam  ein  zum  Körper  gewordener  Kreis,  nam  conus  est  hie  veluti 
ciraUtis  cotjwratus  ^),  und  ganz  ähnlich  wird  im  17.  Satze  der  gerade 
Cylinder  mit  kreis-  oder  ellipsenförmiger  Grundfläche  ein  zum  Körper 
gewordener  Kreis,  beziehungsweise  Ellipse  genannt,  wenn  die  Schnitt- 
ebene der  Axe  parallel  läuft,  dagegen  eine  zum  Körper  gewordene 
Linie,  veluti  linea  corporata,  wenn  die  Schnittebene  senkrecht  zur 
Axe  steht  ^). 

Wir  gelangen  zu  dem  Supplementum  ad  ÄrcJmnedeni.  Der  erste 
hier  in  Betracht  gezogene  Körper  ist  der  Ring,  cmntdus,  dessen 
Rauminhalt  im  18.  Satze  dem  Cylinder  gleichgesetzt  wird,  welcher 
den  kreisförmigen  Durchschnitt  des  Ringes  als  Grundfläche  und  als 
Höhe  die  Kreisperipherie  besitzt,  welche  der  Mittelpunkt  des  den 
Ring  durch  Umdrehung  um  eine  feste  Axe  erzeugenden  Kreises  be- 
schreibt. Die  Umdrehungsaxe  gehe  (Figur  147)  durch  Ä,  so  wird 
der  Ring^)  durch  Schnitte,  welche  von 
Ä  ausgehen,  in  unendlich  viele  kleinste 
Scheibchen  zerschnitten,  anmdo  sedo 
ex  centro  A  in  orbicidos  iufmitos  eosque 
minimos.  Diese  Scheibchen  sind  nun 
allerdings  von  ihrer  eigenen  Mitte  aus 
von  ungleicher  Dicke,    um    so   dünner  rig.  ut. 

je  näher  dem  Punkte  A,  um  so  dicker 

je  weiter  nach  aussen.  Das  gleicht  sich  gegenseitig  aus,  und  die 
Dicke  an  der  inneren  Grenze  E  zusammen  mit  der  an  der  äusseren 
Grenze  B  haben  als  Summe  das  Doppelte  der  Dicke  bei  I ,  duplum 
ejus  crassitiei,  quae  est  in  orhicidorum  medio.  Allerdings,  setzt  Kepler 
hinzu,  sei  ein  solcher  Schluss  nicht  immer  zulässig  und  würde  irre 
führen,  wenn  nicht  ein  ganz  symmetrisches  Verhalten  aller  unter 
einander  überdies  congruenten  Scheiben,  welche  zwischen  F  und  G 
gebildet  werden,  einträte.  Solches  ist,  ausser  bei  dem  durch  den  in 
Umdrehung  befindlichen  Kreis  gebildeten  Ringe,  beispielsweise  dann 
der  Fall,  wenn  ein  Quadrat  in  drehende  Bewegung  gesetzt  wird. 
Interessanter  in  mancherlei  Beziehung  ist  der  im  20.  Satze  ^)  erörterte 
Apfel,  d.  h.  der  Umdrehungskörper  eines  Kreisabschnittes,  welcher 
grösser  als  der  Halbkreis  ist,  um  seine  Sehne.  Die  gedrehte  Figur 
wird  durch  zur  Sehne  parallele  Gerade  in  gleichbreite  kleinste  linien- 
artige Stücke  zerlegt,  secetur  area  MBN  lineis  parallelis  ipsi  MN 
in  aliquot  segmenta  aequelata  minima,  quasi  Unearia.  Bei  der  darauf 
folgenden  drehenden  Bewegung  bildet  das  Theilchen  nächst  der  Sehne 
so  gut  wie  keinen  Raumj   weil  es  die   geringste  Bewegung  hat,  "c?/m 

1)    Opera  Eepleri  I\\  568.  *)    Ebenda  IV,  570.  ^)    Ebenda  IV,  583. 

')  Ebenda  IV,  584—585. 


826  78.  Kapitel. 

igitur  figiira  circa  MN  circumagitur,  nihil  fere  creat  areola  MN, 
quia  minimum  movctur.  Die  Bewegungsgrösse  jedes  folgenden  Punktes 
eines  folgenden  Theilchens  ist  durch  eine  Kreisperipherie  gemessen, 
welche  als  Gerade  senkrecht  zur  Ebene  der  Anfangslage  der  gedreh- 
ten Figur  aufgetragen  wird.  Dadurch  verwandeln  die  ringförmigen 
Elementartheile  des  Apfels  sich  in  cy linderartige,  und  deren  Summi- 
rung  liefert  den  gesuchten  Körperraum.  Wird  der  um  seine  Sehne 
in  Drehung  versetzte  Kreisabschnitt  kleiner  als  ein  Halbkreis  ange- 
nommen, so  entsteht  statt  des  Apfels  die  Citrone^).  Derselbe  Ab- 
schnitt kann  aber  auch  um  seine  Höhe  in  Drehung  versetzt  werden 
und  bildet  dann  einen  Kugelabschnitt.  Der  25.  Satz  setzt  dann 
diesen  Kugelabschnitt  zu  jener  Citrone  in  Beziehung  und  meint,  sie 
schienen  sich  zu  verhalten,  videtur  eam  Imhere  proportionem ,  wie  die 
halbe  Sehne  zur  Höhe-).  Dieses  Ergebniss  ist  freilich  falsch,  und 
Kepler  giebt  auch  dadurch,  dass  er  Anderen  die  Aufgabe  vorlegt, 
einen  rechtmässigen  Beweis  zu  führen,  demonstrationem  legiiimani 
quaerant  alii,  ebenso  wie  durch  das  vorsichtige  videtur  zu  verstehen, 
dass  er  selbst  nicht  vollkommen  überzeugt  ist.  Aber,  meint  er,  was 
ich  nicht  beweisen  kann,  darauf  kann  ich  doch  hinweisen,  quod  non 
possum  apodictice,  comprobato  dictice,  und  in  diesem  Sinne  führt  er 
verschiedene  Gründe  an,  deren  erster  jene  mittelalterliche  von  Nico- 
laus  von  Cusa,  welchen  Kepler  übrigens  nicht  nennt,  vielfach  in 
den  Vordergrund  gestellte  Folgerungsweise  ist:  was  bei  dem  Grössten 
und  bei  dem  Kleinsten  einer  Gattung  Geltung  habe,  müsse  auch  in 
den  dazwischen  liegenden  Zuständen  wahr  sein.  Die  beiden  äusser- 
sten  Fälle  sind  hier  folgende.  Erstlich  sei  der  Kreisabscbnitt,  welcher 
durch  Drehung  die  beiden  Körper  hervorbringt,  der  grösstmögliche, 
ein  Halbkreis,  dann  ist  die  halbe  Sehne  gleich  der  Höhe  gleich  dem 
Kreishalbmesser,  und  Citronen-  wie  Kugelabschnitt  gehen  beide  in  eine 
und  dieselbe  Halbkugel  über.  Ist  aber  zweitens  der  Kreisabschnitt 
der  kleinstmögliche,  dann  sind  die  beiden  genannten  Körper  kaum 
von  den  ihnen  einbeschriebenen  Kegelchen  zu  unterscheiden,  welche 
wie  ihre  Höhen,  d.  h.  wie  die  vorgenannten  Strecken  sich  verhalten, 
aber  auch  hier  misstraut  sich  Kepler  mit  Recht,  denn  er  gesteht  zu, 
die  Schlussfolgerung  von  dem  absolut  Kleinsten  zu  dem  jenem  Klein- 
sten Nächststehenden  sei  nicht  immer  sicher,  fafeor  ab  eo,  quod  est 
absolute  minimum,  ad  id,  quod  minimo  proximum,  non  ubique  tutam 
esse  collectionem. 


^)  Bei  ihrer  Besprechung  im  21.  Satze  heisst  es  pag.  585  fast  wörtlich 
gleichlautend  mit  dem  bei  der  Entstehung  des  Apfels  gebrauchten  Ausdrucke: 
segmentum  areolae  in  ipsum  JOK  terminans  fere  nihil  creat,  quia  pene  nihil 
movctur.         ^]  Opera  Kepler i  IV,  594. 


Infinitesimalbetrachtungen.     Kepler.     Cavalieri.  827 

Als  höchst  merkwürdig  wollen  wir  noch  den  27.  Satz  des  Sapple- 
mentum^)  hervorheben  (Figur  148).  In  dem  rechtwinkligen  Dreiecke 
ABC  sei  dei-  Winkel  B  durch 
die  Gerade  BN  halbirt,  so  ist 
AN :  NC  =  AB:  BG ,  d.  h. 
AN  <C  NC ,  und  halbirt  man 
AC  in  0,  so  liegt  0  zwischen 
N  und  C.  Nun  lasse  man  BC 
zur  Berührungslinie  eines  durch 
B  hindurchgehenden  Kegel- 
schnittes werden,  dessen  Axe 
A  C  ist,  so  hängt  die  Art  dieses 
Kegelschnittes  nur  noch  von 
der  Lage  seines  Scheitelpunktes 

auf  der  AC  ab.  Liegt  derselbe  zwischen  0  und  C  in  V,  so  hat  man 
eine  Hyperbel  vor  sich.  0  selbst  ist  Scheitelpunkt  einer  Parabel,  N 
eines  Kreises.  Durch  die  J  und  E  zwischen  N  und  0,  beziehungs- 
weise zwischen  N  und  A  geht  eine  Ellipse,  deren  grosse  Axe  in  dem 
ersten,  deren  kleine  Axe  in  dem  zweiten  Falle  auf  AC  liegt.  Die 
Art  einer  Curve  ist  also  hier  bestimmt,  indem  von  einer  gegebenen 
Berührungslinie  der  Ausgangspunkt  der  Untersuchung  genommen  ist, 
oder  mit  anderen  Worten:  Kepler  hat  hier  die  erste  inverse  Tan- 
gentenaufgabe gestellt. 

Als  Inhalt  des  zweiten  Hauptabschnittes  der  Doliometrie  be- 
zeichneten wir  den  Nachweis,  dass  die  in  Oesterreich  häufigste  Fass- 
gestalt zugleich  die  zweckmässigste  sei.  Nicht  als  ob  irgend  ein 
Mathematiker  die  dortigen  Böttcher  jedesmal  angewiesen  hätte,  gerade 
dieser  Abmessungen  sich  zu  bedienen,  denn  wenn  eine  solche  wissen- 
schaftlich begründete  Vorschrift  vorhanden  gewesen  wäre,  so  sei  un- 
denkbar, dass  sie  nicht  auch  zu  den  am  Rheine  wohnenden  Böttchern 
gedrungen  wäre  und  die  dort  übliche  weniger  sachdienliche  Fass- 
gestalt verdrängt  hätte.  Nein,  die  Natur  lehrt  mit  Hilfe  eines  dun- 
keln Gefühls  ohne  Bildung  von  Schlüssen  die  Geometrie^),  sie  hat 
unsere  Böttcher  gelehrt,  auf  blosses  Augenmaass  hin  und  mit  Rück- 
sicht auf  schönere  Form,  solis  ocidis  et  speciei  pulchrüudine  ducti,  die 
geräumigsten  Fässer  herzustellen.  Wenn  aber,  wie  die  hier  ange- 
führten Worte  erkennen  lassen,  Kepler  unter  zweckmässiger  Fass- 
gestalt diejenige  versteht,  welche  bei  Verbrauch  der  geringsten  Menge 
von  Fassholz  den  gi-össten  Inhalt  besitzt,   so  muss  dieser  zweite  Ab- 


^)  Opera  Kepleri  FV,  598— .599.  ^)  Ebenda  IV,  612:    Quis  neget,  naturatn 

instinctu  solo,  sine  etiam  ratiocinatione  docere  geometriam? 


828  78.  Kapitel. 

schnitt  wiederholt  auf  Fragen  zu  reden  kommen,  welche  grösste  und 
kleinste  Werthe  betreffen,  und  welche  den  im  V.  Buche  des  Pappus, 
auf  welches  Kepler  sich  ausdrücklich  beruft^),  behandelten  iso- 
perimetrischen Untersuchungen  (Bd.  I,  S.  418)  nahe  stehen.  In  der 
That  sind  fast  sämmtliche  Sätze  dieses  Abschnittes  Maximal- 
sätze, und  ihre  Beweise  enthalten  Bemerkungen,  welche  zeigen,  wie 
tief  Kepler  in  die  Natur  grösster  und  kleinster  Werthe  eingedrungen 
ist.  Als  Beispiel  eines  solchen  Satzes  führen  wir  den  4.  Satz  an  ^), 
der  Würfel  sei  dem  Inhalte  nach  das  grösste  Parallelopipedon,  wel- 
ches in  eine  gegebene  Kugel  einbeschrieben  werden  könne.  Als  Bei- 
spiel jener  Bemerkungen  diene  der  2.  Zusatz  zum  5.  Satze,  wo  ge- 
zeigt wurde,  dass  eine  gewisse  Ausdehnung  sich  bis  zu  einem  ge- 
wissen Punkte  G  erstrecken  müsse.  Andere  Gestaltungen,  heisst  es^), 
welche  bis  zu  Punkten  sehr  nahe  bei  G  diesseits  oder  jenseits  sich 
erstrecken,  ändern  nur  wenig  an  dem  Rauminhalte,  der  für  ÄGC 
der  grösstmögliche  ist.  Einem  grössten  Werthe  auf  beiden  Seiten 
Benachbartes  zeigt  nämlich  am  Anfange  nur  unmerkbare  Abnahme, 
circiim  maximum  vero  utrimque  circumstantes  decremenfa  habent  initio 
insensihilia.  Und  kaum  weniger  bezeichnend  sind  andere  Stellen^), 
so  dass  man  namentlich  im  Hinblicke  auf  die  letzte  derartige  Stelle 
im  27.  Satze  vollberechtigt  ist,  für  Kepler  die  Kenntniss  in  Anspruch 
zu  nehmen,  dass  die  Veränderungen  einer  Function  dicht 
beim  Maximalwerthe  verschwinden,  denn  deutlicher  kann  man 
ohne  Anwendung  von  Worten,  welche  der  damaligen  Zeit  noch 
fremd  waren,  sich  doch  wohl  nicht  ausdrücken,  als  wenn  man  sagt: 
An  solchen  Stellen,  wo  der  Uebergang  von  einem  Kleineren  zum 
Grössten  und  wieder  zum  Kleineren  stattfindet,  ist  der  Unterschied 
immer  bis  zu  einem  gewissen  Grade  unmerklich,  in  iis  vero  articulis, 
in  quihus  a  minori  ad  maximum  iterumque  ad  minus  fit  mutatio,  lege 
aliqua  ciradi,  semper  est  aliquousque  insensihilis  illa  differentia.  Einen 
Beweis  freilich  besass  Kepler  nicht  für  die  von  ihm  erkannte  That- 
sache,  darin  ging  er  gar  nicht  so  sehr  weit  über  die  Ahnung 
Oresme's  (S.  131),  dessen  Schriften  Kepler  wie  Descartes  wie 
Fermat  leicht  gelesen  haben  kann,  hinaus.  Statt  einer  Begründung 
müssen  nämlich  die  drei  von  uns  unübersetzt  gelassenen  Worte  lege 
aliqua  circidi  dienen,  es  geschehe  nach  einem  Gesetze,  welches  vom 
Kreise  sich  herschreibe.  Kepler  meint  wohl  das  dichte  Anschmiegen 
der  Berührungslinie   des  Ki-eises   an   den  Kreisbogen,   welches    in  der 


^)  Opera  Kepleri  IV,  607:  Haec  omnia  Pappus  habet  libro  quinto.     ^)  Ebenda 
IV,  607—609.  3)  Ebenda  IV,  612.  ")  Ebenda  IV,  622  lin.  11—14;    628 

lin.  18—19;    634  lin.  9—12. 


Infinitesimalbetrachtuiigen.     Kepler.     Cavalieri. 


829 


gerade  damals  noch  lebhaftes  Interesse  erregenden  Frage  des  Con- 
tingenzwinkels  seine  Rolle  spielte. 

Wenn  somit  das  Werk  von  1615  als  ein  für  die  Entstehung  der 
Infinitesimalrechnung  grundlegendes  in  dem  Sinne  gelten  muss,  als 
die  Zerlegung  eines  Raumes  in  Elementartheile  und  deren  Vereinigung 
zu  einer  Summe  der  Lehre  von  den  bestimmten  Integralen  Vorgriff, 
und  als  das  Hauptmerkmal  ausgesprochen  war,  welches  mit  dem  Vor- 
handensein eines  Maximalwerthes  verbunden  ist,  so  war  doch  noch 
keineswegs  jeder  Irrthum  ausgeschlossen,  wie  wir  z.  B.  oben  an  der 
Vergleichung  von  Citronen-  und  Kugelabschnitt  gesehen  haben.  Zur 
vollständigen  Würdigung  Keplers  reicht  auch  die  Doliometrie  nicht 
aus.  Man  wird  bei  einer  solchen  immer  den  Astronomen  Kepler  als 
der  Beurtheilung  unterworfen  zu  betrachten  haben,  dem  seine  Ver- 
dienste um  einzelne  Theile  der  Physik  wie  der  reinen  Mathematik 
zur  grossen  Zierde  gereichen,  ohne  das  Wesentlichste  seiner  Leistungen 
darzustellen.  Und  auch  wenn  wir,  wozu  wir  hier  genöthigt  sind,  aus 
dem  angeführten  Grunde  auf  eine  zusammenfassende  Würdigung 
Kepler's  verzichtend  seine  einzelnen  reinmathematischen  Arbeiten  be- 
sprechen, können  wir  noch  nicht  der  Aufgabe  uns  zuwenden,  die 
Wirkung  zu  verfolgen,  welche  das  Erscheinen  der  Doliometrie  übte, 
bevor  wir  noch  zwei  Einzelheiten  aus  anderen  Schriften  Kepler's  er- 
wähnt haben  werden,  welche  gleichfalls  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
der  Infinitesimalrechnung  angehören. 

Dahin  gehört  erstlich  die  Rectification  von  Curven.  Kepler 
hat  in  der  Astronomia  nova  von  1609  sich  daran  versucht.  Der  Um- 
fang der  Ellipse  von  den  Axen  2a,  2h  sei  sehr  nahezu,  proxime, 
gemessen  durch  7c{a  -\-  h)  ^). 

Zweitens  ist  eine  Untersuchung  zu  nennen,  welche  zur  Auswer- 
thung  des  bestimmten  Integrals 


Tsin  (p  ■  dcp  =  1  - —  cos  (p 


geführt  hat^).  Wir  wissen,  dass  1609 
die  Jahreszahl  des  Erscheinens  der 
Astronomia  nova  war.  In  ihr  hat 
Kepler  eine  Lehre  von  einem  planeta- 
rischen Magnetismus  aufgestellt,  ver- 
möge dessen  die  magnetische  Sonne  S 
(Figur  149)  auf  die  magnetischen  Pla- 


^)  Opera  Kepleri  EI,  401.  *)    Grünther,   üeber   eine   merkwürdige  Be- 

ziehung zwischen  Pappus  und  Kepler  (Eneström's  BibliotJieca   mathematica  1888, 
pag.  81-87). 


830  78.  Kapitel. 

neten  in  der  Weise  einwirke,  dass  dem  Pole  P^  eine  Anziehung,  apjye- 
tsntia,  rt^,  dem  Pole  Po  eine  Abstossung,  fuga,  a.^  zukomme,  welche 
von  dem  Winkel  cp  abhänge,  den  die  Verbindungsgerade  CS  des 
Planetenmittelpunktes  und  der  Sonne  mit  der  Planetenaxe  P^  Po  bildet. 

Es  kam  Kepler  darauf  an,  den  Quotienten  —  in  seiner  Abhängigkeit 

von  (p  darzustellen,  so  dass  derselbe  bei  95  =  90"  den  Werth  1  annehme. 
Ohne  ausreichende  Begründung  wird  a^  =  Ti{l  —  cob  (p) ,  a^^l; {1 -{- cos  cp), 

mithin  —  =  (tng -^j    gesetzt,  so  dass,  wenn  ein  a  gegeben  ist,  das 

andere  von  selbst  folgt  und  also  mit  Auffindung  von  a^  der  ganzen 
Aufgabe  Genüge  geleistet  ist;  Maass  der  Stärke,  fortitudinis ,  jenes 
Winkels  cp  sei  aber  dessen  Sinus,  und  so  ergebe  sich  das  ganze  a^ 
als  die  Summe  der  Sinusse   aller  Winkel  von  0  bis  g?,  und  das  ist 

doch   f  sin  cp  ■  dcp.     Zunächst   nimmt   Kepler  cp  =  90^  und    lässt    die 

0 
einzelnen  Winkel  gradweise  zunehmen.  Entnimmt  man  sin  1",  sin 2^,... 
sin  90''  den  Sinustafeln  und  bildet  ihre  Summe,  so  entsteht  1,  be- 
ziehungsweise 1  —  cos  cp,  oder,  wie  der  Gewohnheit  der  Zeit  ent- 
sprechend gesagt  wurde,  der  Sinusversus  von  cp.  Das  Gleiche  bewahr- 
heitet sich  in  einem  anderen  ähnlicher  Rechnung  unterworfenen 
Sonderfalle,  und  daraus  schliesst  Kepler  auf  die  Richtigkeit  der  all- 
gemeinen Formel,  ein  Schluss,  der  sich,  wie  es  in  der  Epitome  von 
1618  heisst  ^),  per  niinieros  et  anatomiam  circuli,  d.  h.  durch  Zahlen- 
rechnung bei  gleichmässiger  Zunahme  des  Bogens  rechtfertigt.  Ob 
Kepler  den  Satz  durch  Herumtasten  an  Zahlenbeispielen  entdeckte? 
Wer  kann  das  nachträglich  ergründen!  Unmöglich  scheint  bei  Kepler 
keine  derartige  Vermuthung,  da  gerade  in  der  Ästronomia  nova  die 
Ellipticität  der  Marsbahn  auf  Grund  zahlloser  Rechnungen  erschlossen 
ist.  Als  Kepler  die  Ästronomia  nova  schrieb,  hatte  er,  wie  er  an 
der  erwähnten  Stelle  seiner  Epitome  hinzufügt,  Pappus  noch  nicht 
gelesen.  Später  beschäftigte  er  sich  eifrig  mit  diesem  Schriftsteller, 
auf  den  er,  wie  wir  sahen,  in  der  Doliometrie  von  1615  sich  berief. 
Gestützt  auf  Pappus  V,  36,  d.  h.  auf  den  Satz,  dass  die  Oberflächen 
zweier  durch  unter  einander  parallelen  Kreise  begrenzter  Kugelcalotten 
derselben  Kugel  sich  wie  deren  Höhen  verhalten^),  entwarf  Kepler 
einen  anderen  Beweis.  Die  Kräfte  a^  und  «^  denkt  er  sich  nämlich 
als  den  Oberflächen  der  von  der  Anziehung,  beziehungsweise  der  Ab- 
stossung  beherrschten  Kugelcalotten  proportional,  und  bei  der  All- 
gemeingiltigkeit    des   Satzes    von  Pappus    macht   es  nichts    aus,    wie 


^)  Opera  Kepleri  IV,  407.         ^)  Pappus  (ed.  Hultsch)  I,  406. 


Infinitesimalbetrachtungen.     Kepler.     Cavalieri.  831 

gering  der  Unterschied  von  je  zwei  Kugelcalotten  gewählt  wird.  Man 
kann  die  Kugeloberfläche  in  unendlich  viele  gleich  breite  Gürtel  zer- 
legt denken,  deren  jeder  gewissermassen  als  Kreis  ohne  jede  Breite 
erscheint^).  Die  Summation  solcher  unendlich  vieler  Verhältnisse 
entspricht  dann  der  von  ebensovielen  Sinussen  von  Winkeln,  die  nicht 
durch  einzelne  Winkelgrade,  sondern  in  beliebig  naher  Aufeinander- 
folge wachsen,  und  deren  Summe  liefert  nicht  nur  beinahe,  fere, 
sondern  ganz  genau  den  Sinusversus.  Das  ist  aber  genau  die  Ver- 
fahrungs weise  der  Zusammenfassung  von  Elementartheilchen,  wie 
Kepler  sie  in  der  Doliometrie  sich  angewöhnt  hatte,  um  sie  auch  nach 

1615  weiter  zu  üben. 

Wir  haben  den  Wirkungen  nachzugehen,  welche  das  Erscheinen 
der  Doliometrie  hervorbrachte.  Sie  bilden,  wenn  auch  nicht  sehr 
zahlreich,  mit  voller  Gewissheit  nachweisbar,  immerhin  einen  Beweis 
für  die  rasche  Verbreitung  der  Schrift.  Zuerst  fand  ein  Gegner  sich 
ein.  Alexander  Anderson,  den  wir  früher  als  einen  Bearbeiter 
Vieta'scher  Manuscripte  kennen  gelernt  haben,   veröffentlichte   schon 

1616  seine  Vindiciae  Arcliimedis  und  verwahrte  darin  den  genialen 
Griechen  gegen  den  Vorwurf,  als  ob  seine  Exhaustionsmethode  irgend 
etwas  mit  Kepler's  Infinitesimalbetrachtungen  gemein  habe.  Bewun- 
dernd und  zustimmend  äusserte  sich  dagegen  Henry  Briggs,  der  zu 
Anfang  des  Jahres  1625  seine  1624  gedruckte  Ärithmetica  logarith- 
mica  Kepler  zuschickte  und  sie  mit  einem  Briefe  begleitete"),  welcher 
den  in  logarithmischer  Rechnung  erbrachten  Zahlenbeweis  enthielt, 
dass  wirklich  der  der  Kugel  einbeschriebene  Würfel  einen  grösseren 
Inhalt  besitze,  als  ein  nur  wenig  von  der  Würfelgestalt  abweichendes 
einbeschriebenes  Parallelopipedon,  dass  also  Kepler's  4.  Satz  im  II.  Theile 
der  Doliometrie  richtig  sei. 

Ausser  aller  Beziehung  zu  Kepler's  Doliometrie,  ja  man  könnte 
sagen,  ausser  aller  Beziehung  zu  Infinitesimalbetrachtungen  steht  ein 
Werk,  welches  wir  im  Vorübergehen  hier  nennen,  weil  bei  dem 
nächsten  Schriftsteller,  von  welchem  ausführlich  gehandelt  werden 
wird,  Erwähnung  davon  geschehen  muss.  Bartholomäus  Souvey^) 
(um  1577 — 1629),  lateinisch  Soverus,  war  aus  Crisie  unweit  Frei- 
burg in  der  Schweiz.  Er  studirte  in  Rom,  lehrte  dann  in  Turin, 
später  in  Padua.  Sein  Versuch,  eine  Professur  in  Bologna  zu  er- 
langen, scheiterte  daran,  dass  er  gedruckte  Belege  seiner  wissenschaft- 
lichen Tüchtigkeit  nicht  vorlegen  konnte.      Erst    nach   seinem   Tode 

^)  Atqiü  si  sphaerica  superficies  intelUgattir  divisa  in  zonas  infinitas  aeque 
latas,    erit   quaelibet   zona   tit   circulus    aliquis    latitudine   carens.  ^)    Opera 

Kepleri  IV,  659—662.  ^)  Kästner  III,  62—66.    —    Favaro  im  Bulletino 

Boncompagni  XV  und  XIX. 


832  78.  Kapitel. 

erschien  1630  sein  Tradatus  de  recH  et  curvi  proportione.  Dem  Titel 
nach  sollte  man  ausgiebige  Untersuchungen  über  Rectification  von 
Curven  erwarten,  und  auf  sie  verweist  auch  ein  im  VI.  (letzten) 
Buche  ausgesprochener  Grundsatz :  lineani  curvam  extencU  posse. 
Wesentlich  Neues  in  dieser  Richtung  scheint  sich  aber  nicht  zu 
finden.  Hervorzuheben  düi'fte  sein,  dass  im  V.  Buche  Figuren  mit- 
tels einer  Parallelbewegung  gerader  Linien  erzeugt  werden,  dass 
im  VI.  Buche  eine  Spirallinie  unter  dem  Namen  spiralis  quadrantis 
durch  einen  Punkt  erzeugt  wird,  der  in  gleichmässiger  Bewegung  den 
Halbmesser  eines  Kreises  durchläuft,  während  der  Halbmesser  in 
gleichfalls  gleichmässiger  Bewegung  einer  Drehung  um  90°  unter- 
worfen ist,  eine  Curve  also,  welche  einen  besonderen  Fall  der  archi- 
medischen Spirale  (Bd.  I,  S.  291—292)  darsteUt. 

Eingehend  haben  wir  uns  nun  mit  Bonaventura  Cavalieri^) 
zu  beschäftigen.  Er  gab  seine  Geometria  indivisibilibus  continuorum 
nova  quadam  ratione  promota  zuerst  1635,  dann  in  verbesserter  Aus- 
gabe 1653  heraus;  zwischen  beiden  Veröffentlichungen  erschienen 
1647  Exercitationes  geometricae  sex.  Das  erstere  werden  wir,  wie  es 
üblich  ist,  kurz  als  die  Indivisibilien  bezeichnen,  ohne  wohl  eine 
Verwechselung  befürchten  zu  müssen,  wo  wir  des  gleichen  Wortes 
in  einer  geometrischen  Bedeutung  uns  zu  bedienen  haben.  Die  In- 
divisibilien also  sind  1635  erstmalig  im  Drucke  erschienen.  Es 
ist  nicht  unwichtig,  die  Entstehung  des  Werkes  nach  rückwärts  zu 
verfolgen,  und  solches  gelingt  bis  zum  Jahre  1626. 

Am  21.  März  1626  schrieb  Cavalieri  an  Galilei^):  „Was  das 
Indivisibilien  werk  betrifft,  so  wäre  es  mir  sehr  lieb,  wenn  Eure 
Herrlichkeit  sich  so  rasch  als  möglich  daran  hielte,  damit  ich  auch 
das  meinige  fördern  könnte,  an  welchem  ich  mittlerweile  feilen  werde." 
Und  eine  ähnliche  Mahnung  Hess  er  am  4.  April  folgen  ^) :  „Ich  bin 
daran,  mein  Werk  über  die  Körper  in  Buchform  zu  bringen.  Pater 
Benedetto  <Castelli>  sagte  mir,  es  würde  sehr  wohl  aufgenommen 
werden,  wenn  ich  es  italienisch  {in  lingua  volgare)  schriebe,  und  ich 
.schreibe  es  mithin  so  und  gebe  Eurer  Herrlichkeit  davon  Nachricht, 
damit  auch  Sie  mit  Ihren  Indivisibilien  ähnlich  verfahren  oder,  wenn 
Sie  es  missbilligen  sollten,  mir  Nachricht  gäben,  damit  ich  mich  mit 
Eurer  Herrlichkeit  in  Einklang  setze.  Aber  ich  bitte  dringend,  machen 
Sie    sich   rasch    daran,    damit    ich  so   schnell   als   möglich  Etwas  von 


')  Kästner  III,  205—209.  —  Montucla  11,  38—42.  —  Klügel,  Mathe- 
matisches Wörterbuch  I,  415 — 428.  —  Gerhardt,  Entdeckung  der  höheren 
Analysis  S.  18 — 27.  —  Marie,  Histoire  des  sciences  mathematiques  et  physiques 
IV,  70 — 90.  *)  Venturi,  Memorie  e  Jettere  inedite  finora  o  disperse  di  Galileo 
Galilei  11,  96  (1819).       ^)  Campori,   Carteggio  GaUleano  inedito  (1881)  pag.  243. 


Infinitesimalbetrachtungen.     Kepler.     Cavalieri.  833 

dem  Meinigen  zeigen  und  mich  davon  los  an  andere  Gegenstände 
machen  kann." 

Antwortschreiben  Galilei's  sind  nicht  bekannt^  und  so  können  wir 
aus  diesen  Briefstellen  nur  zwei  Thatsachen  entnehmen:  erstens  die, 
dass  im  März  1626  die  Niederschrift  der  Cavalieri'schen  Indivisibilien 
begonnen  hat,  welche  gewiss  noch  vielfach  umgemodelt  wurden,  bis 
sie  zu  dem  1635  gedruckten  lateinischen  Werke  wurden,  von  welchem 
gesagt  worden  ist^),  dass  es  den  Preis  der  Dunkelheit  verdiente, 
wenn  solche  Preise  vergeben  würden;  und  zweitens  die,  dass  Galilei 
mit  ähnlichen  Untersuchungen  beschäftigt  war,  von  welchen  aber 
nichts  an  die  Oeffentlichkeit  gelangt  ist.  Wir  werden  auf  diese 
Thatsachen  noch  zurückkommen  müssen. 

Zunächst  wenden  wir  uns  zu  dem  Inhalte  der  Indivisibilien,  wobei 
wir  bemerken,  dass  alle  unsere  Hinweise  auf  die  IL  vervollkommnete 
Ausgabe  von  1653  sich  beziehen.  Das  Werk  zerfällt  in  sieben  Bücher, 
deren  allgemeine  Inhaltsangabe  durch  Cavalieri's  Ueberschriften  ge- 
liefert ist.  Im  I.  Buche  werden  darnach-)  elementare  Sätze  über  die 
Schnitte  von  Cylindern  und  von  Kegeln  vorausgeschickt,  sowie  auch 
Sätze,  von  welchen  in  den  nachfolgenden  Büchern  Gebrauch  zu 
machen  ist.  Im  IL  Buche  ^)  ist  vorzugsweise  vom  Dreiecke  und  dem 
Parallelogramme  die  Rede  und  von  den  durch  sie  erzeugten  Körpern, 
überdies  wieder  von  Sätzen  zur  Anwendung  in  den  folgenden  Büchern. 
Das  III.  Buch*)  überliefert  die  Lehre  vom  Kreise  und  der  Ellipse 
und  den  von  ihnen  aus  erzeugten  Körpern.  Aehnlicherweise  ist  das 
IV.  Buch^)  der  Parabel  und  ihren  Körpern,  das  V.  Buch^)  der  Hy- 
perbel, welche  aus  einander  gegenüberstehenden  Schnitten,  oppositis 
secUonibus,  hervorgeht  und  ihren  Körpern  gewidmet.  Das  VI.  Buch '') 
handelt  von  den  Räumen  der  Spirale  und  ihrer  Körper  und  von 
einigen  Folgerungen  aus  dem  Vorangegangenen.  Im  VII.  Buche  ^) 
endlich  wird  Alles,  was  in  den  vorhergehenden  Büchern  der  Indivi- 
sibilien bewiesen  wurde,  in  anderer  Weise  und  unabhängig  von  jenen 
gezeigt. 

Was  sind  nun,  sollte  man  in  erster  Linie  eine  Antwort  erwartend 
fragen,  die  IndivisibiUen?  Das  Wort  war  seit  Bradwardinus 
(S.  120),  vielleicht  schon  länger,  in  der  Wissenschaft  bekannt ,  aber 
ein  ganz  klarer  Begriff  war  damit  nicht  verbunden,  und  eine  klare 
Auskunft  hat  auch  Cavalieri  nie  gegeben.  Eine  so  grosse  Anzahl 
von  Definitionen  an  die  Spitze   des  ersten  Buches  gestellt  ist,    keine 


^)  Marie  1.  c.  IV,  90.  *)  ItulivisibiUen  pag.  1.  ^)  Ebenda  pag.  99. 

*)  Ebenda  pag.  197.        ^)  Ebenda  pag.  285.        ^)  Ebenda  pag.  365.        '')  Ebenda 
pag.  429.         ^)  Ebenda  pag.  482. 

Cajjtoh,  GeacMohte  der  Mathem.    U.    2.  Aufl.  53 


834  78.  Kapitel. 

erklärt  jenes  Wort^  welclies  zudem  im  ganzen  I.  Buche  nicht  vor- 
kommt. 

Dagegen  ist  ein  anderes  wichtiges  Wort,  regida,  ebendort  in 
seinem  Sinne  bestimmt.  Bei  jedem  geschlossenen  ebenen  Gebilde, 
figura,  lässt  eine  Gerade  als  Berührungslinie  sich  denken,  welche 
einen  Scheitel,  Vertex,  genannten  Berührungspunkt  mit  dem  Gebilde 
gemein  hat.  Ihr  parallel  giebt  es  Gerade  in  beliebiger  Zahl,  endlich 
wieder  eine,  welche  die  Figur  berührt  und  ihr  gewissermassen  als 
Abschluss  dient.  Sie  wird  die  gegenüberliegende  Tangente,  tangens 
opposita,  genannt.  Bei  Körpern  findet  Aehnliches  statt,  sofern  statt 
des  Wortes  Gerade  das  Wort  Ebene  eingeführt  wird.  Regula  heisst 
nun^)  jene  erste  Gerade,  beziehungsweise  erste  Ebene,  mit  Bezug  auf 
welche  die  Begriffe  des  Scheitels  und  der  gegenüberliegenden  Be- 
rührenden festgestellt  sind.  Der  Gebrauch  der  Regula  in  der  Ebene 
ist  folgender.  Seien  EO,  JBC  etwa  zwei  gegenüberliegende  Tan- 
genten. Durch  die  als  Regula  benutzte  EO  wird  eine  Ebene  gelegt, 
zu  welcher  eine  Parallelebene  durch  BC  vorhanden  ist.  Die  erste 
Ebene  wird  in  paralleler  Lage  bewegt,  bis  sie  mit  der  zweiten  zu- 
sammenfällt, eine  Bewegung,  welche  als  Fliessen  bezeichnet  wird. 
Die  Durchschnittsgeraden  der  bewegten  oder  fliessenden  Ebene  mit 
der  Figur,  communes  sectiones  talis  moti  sive  fluentis  ptlani  et  figurae, 
bilden  die  Gesammtheit  der  Geraden  der  Figur,  omnes  lineae 
figurae").  Aehnlich  ist  der  Gebrauch  der  Regula  im  Räume.  Dort 
wird  die  fliessende  Ebene  selbst  in  gewissen  durch  die  Gestalt  des 
Raumgebildes  bedingten  Begrenzungen  den  Körper  erzeugen,  und  Ge- 
sammtheit der  Ebenen  des  Körpers,  omnia  plana  solicli^),  heissen  alle 
ebenen  Figuren,  welche  bei  jener  Bewegung  entstehen.  Ebene 
'^  Figuren  oder  auch  Körper  stehen  in  demselben  Verhält- 
nisse wie  die  Gesammtheiten  ihrer  Geraden,  ihrer  Ebenen, 
welche  nach  irgend  einer  Regula  genommen   wurden^). 

Cavalieri  ist  sich  der  Schwierigkeit  voll  bewusst  gewesen,  welche 
der  Vorstellung  einer  solchen  Gesammtheit  anhaftet  und  damals  in 
ganz  anderer  Weise  anhaftete  als  heute,  wo  wir  an  ähnliche  Begriffs- 
bildungen so  sehr  gewöhnt  sind,  dass  wir,  höchstens  wenn  wir  be- 
sonders darauf  aufmerksam  gemacht  werden,  den  Widerspruch  empfin- 
den, der  darin  enthalten  ist.  Schon  bevor  er  daher  den  erwähnten 
Satz  aussprach,  suchte  er  seine  Leser  darüber  zu  beruhigen^).  „Man 
könnte,  sagt  er,  Schwierigkeiten  machen,  wie  der  Anzahl  nach  unbe- 


^)  Indivisibilien  pag.  3,  Definitio  E.  *)  Ebenda  pag.  104.  3)  Ebenda 

pag.  105,         "•)  Ebenda  pag.  11.S,  Liber  11,  propositio  III.         ^)  Ebenda  pag.  111, 
Scholium. 


Infiuitesimalbetrachtungen.     Kepler.     Cavalieri.  835 

stimmte,  indefinitac  nnmero,  Gerade  oder  Ebenen,  welche  von  mir  die 
Gesammtheit  der  Geraden,  der  Ebenen  genannt  worden  sind,  in  Ver- 
gleich gebracht  werden  können.  Daher  erscheint  mir  der  Wink  noth- 
wendig,  dass,  wenn  ich  die  Gesammtheiten  der  Geraden,  der  Ebenen 
eines  Gebildes  betrachte,  ich  nicht  deren  uns  unbekannte  Anzahl  ver- 
gleiche, sondern  nur  die  Grösse,  welche  dem  von  eben  diesen  Ge- 
raden^) eingenommenen  Räume  zukommt,  und  weil  dieser  Raum  in 
Grenzen  eingeschlossen  ist,  so  ist  auch  jene  Grösse  in  denselben 
Grenzen  eingeschlossen,  und  man  kann  sie  zuzählen,  abzählen,  ohne 
ihre  eigene  Anzahl  zu  kennen.  Solches  aber  genügt  zu  deren  Ver- 
gleichung,  weil  sonst  die  Rauminhalte  der  Figuren  auch  nicht  unter 
einander  vergleichbar  wären.  Ein  Continuum  ist  entweder 
nichts  Anderes  als  die  Indivisibilien,  oder  es  ist  Anderes^). 
Ist  es  nichts  Anderes  als  die  Indivisibilien,  und  deren  Zusammenfas- 
sung, congeries,  lässt  sich  nicht  vei-gleicheu,  so  ist  auch  das  Räum- 
liche oder  das  Continuum  der  Vergleichung  unfähig,  weil  wir  eben 
gesagt  haben,  es  sei  nichts  Anderes  als  die  Indivisibilien  selbst.  Ist 
dagegen  das  Continuum  noch  Anderes  ausser  den  Indivisibilien,  so 
muss  jenes  Andere  zwischen  den  Indivisibilien  liegen.  Wir  haben 
also  ein  Continuum,  welches  in  Bestandtheile  von  noch  unbestimmter 
Anzahl  zerlegbar  ist,  disseparahüe  in  qiiaedam,  quae  continuum  com- 
ponmd,  numero  adhuc  indefmita.  Zwischen  je  zwei  Indivisibilien  muss 
Etwas  von  jenem  Anderen  liegen,  welches  ausser  den  Indivisibilien 
zum  Continuum  gehört,  denn  derselbe  Grund,  welcher  es  zwischen 
zwei  Indivisibilien  aufhebt,  hebt  es  zwischen  allen  anderen  auf.  In 
diesem  Falle  aber  können  wir  Continuum  oder  Räume  wieder  nicht 
mit  einander  vergleichen,  weil  eben  das  Zusammenzufassende  und  zu- 
sammengefasst  zu  Vergleichende,  nämlich  was  das  Continuum  bildet, 
der  Anzahl  nach  unbestimmt  ist.  Nun  ist  doch  unerhört  zu  sagen, 
in  Grenzen  eingeschlossene  Continuen  seien  nicht  vergleichbar,  mit- 
hin ist  auch  unerhört  zu  sagen,  die  Zusammenfassungen  der  Gesammt- 
heiten der  Geraden  oder  Ebenen  zweier  Raumgebilde  seien  nicht  ver- 
gleichbar, wenn  auch  das  Zusammengefasste  in  seiner  Anzahl  unbe- 
stimmt ist,  weil  dieses  der  Vergleichung  der  Continuen  nicht  im  Wege 
steht.  Mag  demnach  das  Continuum,  oder  mag  es  nicht  aus  den  In- 
divisibilien bestehen,  die  Zusammenfassungen  der  Indivisibilien  sind 
mit  einander  vergleichbar  und  stehen  in  einem  Verhältnisse."  Sehr 
deutlich  wird  man  diese  weitschweifige  Begründung  nicht  nennen 
wollen,  weil  sie,  wie  wir  schon  oben  betonten,  gerade  das  nicht  sagt, 

^)  Hier  beschränkt  sich  Cavalieri  auf  omnes  Uneae  und  lässt,  offenbar 
um  nicht  allzu  schleppend  zu  werden,  omnia  plana  bei  Seite.  ^)  Man  beachte 
das  plötzliche  unvermittelte  Auftreten  des  Wortes  Indivisibilien! 


836  78.  Kapitel. 

was  zu  wissen  vorzugsweise  noth wendig  wäre,  nämlich  was  Cavalieri 
unter  Indivisibilien  verstehe.  Und  doch  stützt  er  auf  das  Verhältniss 
der  im  Unklaren  verbleibenden  Gesammtheiteu  seine  ganze  Lehre. 
„Um  das  Verhältniss  zweier  ebenen  oder  räumlichen  Gebilde  kennen 
zu  lernen,  heisst  es  nur  wenige  Seiten  später^),  genügt  es,  das  Ver- 
hältniss der  Gesammtheiten  der  von  irgend  einer  Regula  aus  begin- 
nenden Geraden  oder  Ebenen  zu  finden.  Das  ist  das  Fundament, 
welches  ich  dieser  meiner  neuen  Geometrie  zu  Grunde  lege." 

Wie  geht  nun  diese  neue  Geometrie  zu  Werke?  Im  15.  Satze 
des  IL  Buches^)  soll  bewiesen  werden,  dass  der  Inhalt  ähnlicher 
ebener  Raumgebilde  sich  verhalte,  wie  die  Quadrate  gleichliegender 
Seiten.  Bei  beiden  Figuren  werden  einander  entsprechende  gegen- 
überliegende Berührungslinien,  bei  beiden  einander  entsprechende  der 
Regula  parallele  Gerade  gezogen,  deren  Länge  proportional  sein  muss 
der  Länge  entsprechender  Zwischengeraden  in  einander  ähnlichen 
Dreiecken,  die  jeweils  zwischen  den  beiden  Paaren  gegenüberliegender 
Berührungslinien  liegen.  Die  Gesammtheiten  der  Geraden  der  Figuren 
verhalten  sich  also  wie  die  Gesammtheiten  der  Geraden  der  Dreiecke, 
die  Figuren  selbst  wie  die  Dreiecke.  Dass  aber  ähnliche  Dreiecke 
sich  wie  die  Quadrate  gleichliegender  Seiten  verhalten,  wird  alsdann 
mittels  des  Durchgangs  durch  ein  anderes  Dreieck  gezeigt  (Figur  150). 
Das  dem  grösseren  Dreiecke  ABC  ähnliche  kleinere  Dreieck  EBD 
wird  so  auf  ersteres  gelegt,  dass  die 
Winkel  bei  B  sich  decken,  und  dann 
wird  CE  gezogen.  Die  Dreiecke  ABC, 
EBC  haben  gleiche  Höhe.  In  beiden 
können  daher  gleich  viele,  gleich  weit 
von  einander  abstehende  Parallele  zur 
Grundlinie  gedacht  werden,  die  alle  in  gleichem  Verhältnisse  zu  ein- 
ander stehen,  wie  die  Grundlinien  AB,  EB.  Deren  Gesammtheiten 
stehen  also  in  gleichen  Verhältnissen  oder  AABC:  AEBC=AB:EB. 
Aber  die  Dreiecke  EBC,  EBD  besitzen  ebenfalls  gleiche  Höhen. 
Unter  gleicher  Begründung  kann  man  daher  folgern 

A EBC :  AEBI)  =  BC:BB  =  AB:  EB. 
Also  findet  er  durch  Vereinigung  beider  Verhältnisse 

AABC:AEBD  =  AB':EB' 
nach  einem  Beweise,  der  von  dem  bei  Euklid  VI,  19  sich  kaum  anders 
unterscheidet,  als  durch  das  neu  auftretende  Wort  der  Gesammtheiten 
der    Geraden.     Nichtsdestoweniger   weiss    Cavalieri    sich  auf  den   Be- 


^)    Indivisibilien   pag.  115,    Corollarium.         -)    Ebenda   pag.  127 — 131. 


Infinitesimalbetrachtungen.     Kepler.     Cavalieri.  837 

weis  und  uamentlich  auf  dessen  ersten  Theil,  der  das  Verhältniss 
ähnlicher  Figuren  überhaupt  auf  das  ähnlicher  Dreiecke  zurückführt, 
sehr  viel  zu  gute^).  Welcher  Fortschritt,  ruft  er  aus,  gegen  die 
Methode  früherer  Schriftsteller!  Dort  musste  für  Dreiecke,  Vierecke, 
Kreise  der  Beweis  gesondert  geführt  werden;  die  neue  Methode  ver- 
einigt Alles  in  einen  Satz.  Ganz  ähnlich  wird  alsdann  im  17.  Satze 
des  IL  Buches  ^)  gezeigt,  dass  ähnliche  Körper  sich  wie  die  Würfel 
gleichliegender  Seiten  verhalten.  Der  19.  Satz^)  behauptet,  das  Pa- 
rallelogramm werde  durch  eine  Diagonale  in  zwei  Dreiecke  zerlegt, 
deren  jedes  halb  so  gross  sei  als  das  Parallelogramm  (Figur  151). 
Man  betrachtet  ÄF,  CD  als  gegenüber- 
liegende Tangenten,  nimmt  CB  =  FE 
und  zieht  die  Zwischengeraden  BM,  EH. 
Sie  sind  einander  gleich,  gleich  also  auch 
die  Gesammtheiten  der  Geraden  in  den  bei- 
den Dreiecken  GAE,  FBC  und  gleich  die 
Dreiecke  selbst.    Mithin  ist  jedes  die  Hälfte  rig.  isi. 

der  Summe  beider  Dreiecke,  d.  h.  des  Pa- 
rallelogramms. Immer  noch  im  IL  Buche,  in  dem  24.  Satze ^),  ge- 
langt Cavalieri  dazu,  nicht  mehr  Gesammtheiten  einfacher  Geraden, 
sondern  solche  der  Quadrate  dieser  Geraden  in  Betracht  zu  ziehen. 
Ein  Parallelogramm  und  das  dessen  Hälfte  darstellende  Dreieck  sind 
die  Figuren,  deren  Geraden  gemeint  sind.  Omnia  quadrata  XMralMo- 
grammi  ad  omnia  quadrata  cuiusvis  trianguloriim  per  diametrum  con- 
stitutorum  sunt  in  ratione  tripla,  d.  h.  die  betreffenden  Gesammtheiten 
verhalten  sich  wie  3  :  1.  Der  Beweis,  welchen  Cavalieri  giebt,  stützt 
sich  rückwärts  auf  allzuviele  vorhergehende  Sätze,  als  dass  es  mög- 
lich wäre,  ihn  kurz  zusammenzufassen.  Dass  der  Satz  wahr  ist,  lässt 
sich  daraus  entnehmen,  dass,  sofern  a,  h  die  beiden  Seiten  des  Pa- 
rallelogramms sind,  die  genannten  Gesammtheiten  sich  als 


/ 


kh'^x-    -.     __  hah- 


und  als 

c 

Jch^dx  =  kaW 


f' 


0 

darstellen,  wo  Je  von  der  Grösse  der  Winkel  des  Parallelogramms  ab- 
hängt. Weiter  wird  alsdann  gefolgert^),  dass  jeder  Cylinder  das 
Dreifache     des    Kegels    von     gleicher     Grundfläche    und     Höhe     sei 


0 
—147. 


Indivisibilien  pag.  133.      ^)  Ebenda  pag.  133 — 145.      ')  Ebenda  pag.  146 
*)  Ebenda  pag.  15'J— 160.         *)  Ebenda  pag.  185. 


838 


78..  Kapitel. 


(Figur  152\  Die  Diametralebene  A  CED  zerschneidet  die  beiden 
Körper  in  dem  Parallelogramme  ACED  imd  dem  Dreiecke  BEB, 
welcüe  als  Erzeugende  der  Körper  betrachtet 
werden  können.  Da  das  Dreieck  mit  dem  Pa- 
rallelogramme gleiche  Grundlinie  und  Höhe'  be- 
sitzt, kann  der  24.  Satz  auf  diese  Figuren  aus- 
gedehnt werden.  Parallelschnitte  zum  Grund- 
kreise BEER  schneiden  Cy linder  und  Kegel  in 
Kreisen ,  welche  sich  wie  die  Quadrate  ihrer 
Durchmesser  verhalten,  d.  h.  wie  die  Quadrate 
eines  Paares  von  Geraden  des  Parallelogrammes 
und  des  Dreiecks.  Die  Körper  verhalten  sich  also  wie  die  Gesammt- 
heiten  dieser  Quadrate,  und  das  ist  wie  3:1. 

Wir  wollen  nicht  länger  bei  dem  IL  Buche  verweilen,  vielmehr 
noch  Weniges  aus  anderen  Büchern  berichten.  Der  11.  Satz  des 
III.  Buches^)  beschäftigt  sich  mit  der  Quadratur  der  Ellipse.  Ist  2a 
deren  grosse,  2h  deren  kleine  Axe  und  construirt  man  mit  letzterer 
als  Durchmesser  den  eingeschriebenen  Kreis,  überdies  das  der  Ellipse 
umschriebene  Rechteck  und  das  dem  Kreise  umschriebene  Quadrat, 
so  ist  vorhergegangenen  Sätzen  leicht  zu  entnehmen,  dass  die  Ellipse 
,und  der  Kreis  sich  wie  jenes  Rechteck  und  jenes  Quadrat,  diese  sich 
wie  die  grosse  und  kleine  Axe  verhalten,  dass  also  ah^t  die  Ellipsen- 
Üäche  darstellen  muss.  Des  Weiteren  sind  im  III.  Buche  jene  Um- 
drehungskörper von  Kreisabschnitten  auf  ihren  Rauminhalt  geprüft, 
mit  welchen  Kepler  sich  theilweise  mangelhaft  beschäftigt  hatte. 
Der  1.  Satz  des  IV.  Buches-)  (Figur  153)  spricht  aus,  dass  ein  Pa- 
allelogramm  AEHF,  der  Parabelab- 
schnitt ECMH  und  das  Dreieck  ECH, 
deren  Lagenverhältnisse  aus  der  Figur 
einleuchten,  sich  wie  6:4:3  verhalten. 
Man  zieht  .A"J/  ||  CG^  ||  EH.  Vermöge 
der  Eigenschaften  der  Parabel  ist 

EH:NM=CE-':CN^ 
oder  NO  :  NM  =  CE'- :  CNK 
Die  Gesammtheit  der  NO  verhält  sich  desshalb  zur  Gesammtheit  der 
NM.  d.  h.  das  Parallelogramm  CG  HE  zu  dem  dreilinigen  Räume, 
triUneum,  CM  HE  wie  die  Gesammtheit  der  Quadrate  der  Geraden 
im  Parallelogramm  CGHE  zu  der  der  Quadrate  der  Geraden  CN, 
d.  h.  der  Geraden  im  Dreiecke  CHE.  Deren  Verhältniss  war  3  :  1 
mithin  ist  das  erwähnte  Trilineum  ein  Drittel  des  Parallelogrammes, 


')  Indivisibilien  pag.  213.         -)  Ebenda  pag.  285 — 286. 


Infiuitesimalbetrachtungeu.     Kepler.     Cavalieri.  §39 

und  das  ergänzende  Trilineum  CM  HG  zwei  Drittel  desselben,  wäh- 
rend das  Dreieck  CHG  dessen  Hälfte  ist.  Da  links  von  CG  ähn- 
liche Verhältnisse  obwalten,  so  ist  damit  der  Satz  bewiesen.  Mit 
Uebergehung  des  ganzen  V.  Buches  erwähnen  wir  den  9.  Satz  des 
VI.  Buches^),  welcher  die  Quadratur  der  Archimedischen  Spirale  ent- 
hält. Diese  war,  ebenso  wie  die  Quadratur  der  Parabel,  allerdings 
schon  von  Archimed  ermittelt  (Bd.  I,  S.  289—290),  es  bedurfte 
also  keiner  neuen  Entdeckung,  sondern  nur  eines  neuen  Beweises  vom 
Gesichtspunkte  der  Indivisibilien  aus.  Bei  dem  ohnedies  verwickelten 
Gegenstaude  sei  ohne  Veränderung  des  Ganges  der  Darstellung,  wie 
Cavalieri  sie  giebt,  eine  etwas  veränderte  Ausdrucksweise  hier  ge- 
stattet (Figur  154).  Unter  Fläche  der  Spirale  wird  der  Raum  ADCBA 
verstanden,  welcher  begrenzt 

ist    durch    die    Spirale     von     H —^-—^E" 

ihrem  Anfangspunkte   A  bis  ^^^ ^~^ZlII---^[ 'x     K/^ 

zu  B,  wo  die  erste  Umdrehung 
des  erzeugenden  Leitstrahles 
vollendet  ist,  und  von  dem 
letzten  Leitstrahle  AB.  Sie 
kann  als  Unterschied  zweier 
anderer     Flächen     aufgefasst  rig.  151. 

werden ,     nämlich     des     mit 

AB  ^  R  als  Halbmesser  beschriebenen  Kreises  7t R^  und  des  Raumes 
ABCBC^B^B,  welcher  Q  heissen  mag.  Die  Gleichung  der  Spirale 
ist  Q  =  k(p,  wo  Q  den  Leitstrahl,  9?  das  Längenmaass  des  Kreis- 
bogens vom  Halbmesser  1  bedeutet,  welcher  die  vollzogene  Drehung 
des  Leitstrahles  bespannt.     Da  nun  der  Annahme  nach   cp  =  2ji  bei 

Q  =  R  wird,  so  ist  R  =  27ih ,  7c  =  ~,  q  =  ^,  (p  =  ^^ 
9)9  =  ^—  =^  der  Länge  des  Kreisbogens  B'B,  welcher  als  eine  ge- 
krümmte Indivisibilie  des  Raumes  Q  betrachtet  werden  kann.  Nun 
werde  ein  Rechteck  EFGH  mit  der  Grundlinie  FG  =  27tR  und 
der  Höhe  EF  =  R  gezeichnet,  dessen  Inhalt  demnach  2jtR-  ist. 
Innerhalb  des  Rechtecks  mit  E  als  Scheitel,  EH  als  Axe,  wird  eine 
durch  G  hindurchgehende  Parabel  y'^  ==  ax  gezeichnet.  Der  vor- 
geschriebenen Bedingung    der  Zeichnung   gemäss   ist    R^  ^  a  •  2nR, 

u  =^  ^— ,  also  die  Parabelgleichung  if  =  -^  oder  x  =  -~-  ■     So  oft 

folglich  y  =^  Q,  ist  X  gleich  der  Länge  des  Kreisbogens  B'B.  Man 
kann  aber  x  als  Indivisibilie  des  Trilineums  EEG  JE  betrachten,  in 


*)  Indivisibilien  pag.  436 — 439. 


840  78.  Kapitel. 

welchem  es  alle  Werthe  von  0  bis  27tR  annimmt,  genau  so  wie  der 
Kreisbogen  D'D  im  Räume  Q.  Die  Gesammtheiten  beider  müssen 
also  gleich  sein,  d.h.  Q  =  EFGJE  neben  2jtR^  =  EFGH  oder 
nR'  =  AEFG.  Daraus  folgt  tcR- —  Q  =  EJGE  =  der  Fläche 
der  Spirale,  deren  Auffindung  dadurch  auf  die  Quadratur 
eines  Parabelabschnittes   zurückgeführt  ist.     Letztere    wurde, 

wie  wir  oben   sahen ,   als   Drittel  des  Dreiecks  EEG,  d.  h.   als  —— 

erkannt,  und  ebensogross  ist  die  Fläche  der  Spirale.  Mit  dem  VI.  Buche 
ist  dasjenige,  was  Cavalieri  nach  der  Methode  der  Indivisibilien  er- 
örtert hat,  abgeschlossen. 

Er  fühle  selbst,  erklärt  die  Vorrede  zu  dem  sich  anschliessenden 
VII.  Buche  ^),  dass  dem  Leser  manche  Zumuthungen  gemacht  worden 
seien.  Die  Philosophen  stritten  sich  herum  über  die  Zusammen- 
setzung des  Continuums,  über  das  Unendliche;  die  Vorstellung  von 
der  Gesammtheit  von  Geraden  oder  Ebenen  möge  Manchen  unfassbar 
sein,  sowie  auch,  dass  die  Meinung  des  Verfassers  auf  eine  Zu- 
sammensetzung des  Continuums  aus  Indivisibilien  hinauslaufe.  Jene 
Gesammtheiten  seien  am  leichtesten  negativ  zu  verstehen,  nämlich 
so,  dass  keine  Gerade,  keine  Ebene  ausgeschlossen  sei.  Auf  alle  Fälle 
wolle  er  eine  zweite  Methode  mittheilen,  welche  von  jenen  dem 
Zweifel  ausgesetzten  Betrachtungen  frei  sei.  Ihre  Grundlage  stellt 
der  1.  Satz  des  VII.  Buches-)  dar:  Raumgebilde  der  Ebene  wie 
des  Raumes  sind  inhaltlich  gleich,  wenn  in  gleicher  Höhe 
bei  beiden  geführte  Schnitte  gleiche  Strecken  beziehungs- 
weise gleiche  Flächen  ergeben. 

Die  Dunkelheit  der  Cavalieri'schen  Darstellung  mag  manche  Leser 
abgeschreckt,  andere  nur  um  so  stärker  angezogen  haben,  ähnlichen 
Erfolg  mögen  die  neuen  Auffassungen  gehabt  haben,  welche  hier  ent- 
gegentraten, jedenfalls  erhoben  sich  in  ungleich  stärkerem  Maasse 
als  bei  Keplers  Doliometrie  Stimmen  gegen  die  Geometrie  der  Indi- 
visibilien neben  solchen,  welche  Cavalieri  beipflichteten. 

Als  Gegner  offenbarte  sich  Paul  Guldin^)  (1577—1643),  der 
in  St.  Gallen  geboren  war  und  als  Goldschmiedgeselle  anfing.  Im 
20.  Lebensjahre  trat  er  1597  zu  Freisingen  gegen  den  Willen  seiner 
protestantischen  Eltern  in  den  Jesuitenorden  ein  und  verwandelte  bei 
der  Glaubensänderung  seinen  früheren  Namen  Habakuk  in  Paul. 
Guldin's  Obere  erkannten  seine  grosse  mathematische  Begabung  und 
Hessen  ihn  in  Rom  weiter  ausbilden,  wo  er  später  selbst  als  Lehrer 
wirkte,  bevor  er  zu  gleicher  Thätigkeit  nach  Wien,   dann  nach  Graz 

^)  Indivisibilien  pag.  482—483.  ^)  Ebenda  pag.  484.  ^)  Gerhardt,  Math. 
Deutschi.  S.  129—130. 


Infinitesimalbetrachtungen.     Kepler.     Cavalieri.  841 

geschickt  wurde.  Er  veröffentliclite  _eiu  ans  vier  Bücliern  bestehendes 
Werk  Centrobaryca,  dessen  1.  Buch  1635,  das  2.  Buch  1640,  das 
3.  und  4.  Buch  1641  erschien.  Schwerpunktsbestimmungen  in 
vollständigerer  Auswahl  von  Beispielen,  als  Guldin's  Vorgänger  (S.  695 
—  696)  sie  geliefert  hatten,  bilden  den  Inhalt  des  1.  Buches.  Im  2.  Buche 
findet  sich  die  sogenannte  Guldin'sche  Regel,  dass  der  Raum- 
inhalt eines  Umdrehungskörpers  durch  das  Product  der  erzeugenden 
Figur  in  den  Weg  ihres  Schwerpunktes  gemessen  wird.  Die  letzten 
Bücher  verwenden  diese  Regel  bei  Körpern,  welche  von  Kepler  und 
von  Cavalieri  untersucht  worden  waren,  und  das  4.  Buch  insbeson- 
dere ist  der  Bekämpfung  dieser  Mathematiker  gewidmet.  Kepler 
habe  zu  wenig  Gewicht  auf  geometrische  Reinheit  und  Genauigkeit 
gelegt,  habe  sich  auf  Analogieen  und  Conjecturen  verlassen,  nicht 
immer  wissenschaftlich  geschlossen  und  überdies  Alles  in  dunkler 
Weise  vorgestellt.  Viel  schärfer  war  noch  der  Tadel,  welchen  Guldin 
über  Cavalieri  aussprach.  Ihm  machte  er  den  Vorwurf,  als  eigene 
Erfindung  veröfi"entlicht  zu  haben,  was  er  aus  den  Schriften  von 
Souvey  und  Kepler  entnommen  habe. 

Theils  um  diesen  Vorwürfen  zu  begegnen,  theils  zur  Erläuterung 
der  Indivisibilien  schrieb  Cavalieri  seine  Exercitationes  geometricae 
sex  von  1647,  auf  deren  Inhalt  wir  eingehen.  Die  Ueberschriften  der 
sechs  Abhandlungen,  aus  welchen  der  Band  besteht,  lauten:  I.  De 
lyriori  methodo  Indivisibüiimi;  IL  De  ^posteriori  methodo  Indivisihilium; 
III.  In  Paidum  Guldimmi  e  societate  Jesu  dicta  Indivisihilia  oppugnan- 
teni;     IV.    De   usu   eorundem    Indivisihilium    in   potestatibus   cossicis; 

V.  De  usu  dictorum  Indivisihilium  in  uniformiter  difformiter  gravibus; 

VI.  De  qiiihusdam  proportionihus  misceUaneis. 

Die  I.  Abhandlung,  der  Hauptsache  nach  eine  Erläuterung  zum 
IL  Buche  der  Indivisibilien,  vermeidet  zwar  streng  genommen  nicht 
minder  als  jenes  Werk  eine  wirkliche  Definition  des  Wortes  Indivi- 
sibilien aufzustellen,  aber  sie  erörtert  deren  Begrifi"  immerhin  etwas 
deutlicher  mit  Hilfe  eines  Bildes^).  Ebene  Figuren  seien  als  Gewebe 
aus  parallelen  Fäden  hergestellt  zu  denken,  Körper  als  Bücher,  welche 
aus  einander  parallelen  Blättern  bestehen.  Dabei  sei  allerdings  ein 
wesentlicher  Gegensatz  zu  bemerken.  Die  Fäden  des  Gewebes,  die 
Blätter  des  Buches  seien  in  begrenzter,  finitmn,  Anzahl  vorhanden 
und  haben  einzeln  eine  gewisse  Dicke,  crassitiem;  die  Geraden  der 
ebenen  Figuren,  die  Ebenen  der  Körper  dagegen  seien  in  unbegrenz- 


^)-  Exercitationes  Geometricae  pag.  3:    Hinc  manifestum  est  figuras  planus 
ad  instar  telae  parallelis  filis  contextae  concipiendas  esse:   solida  vero  ad 
instar  librorum,  qui  parallelis  foliis  coacervantiir. 


842  .  78.  Kapitel. 

ter,  indeßiitum,  Anzahl  vorhauden  und  untheilhaft  jeder  Dicke,  omnis 
crassitiei  expertia.  Es  giebt  zwei  Methoden  der  Indivisibilien,  welche 
zwar  beide  von  jenen  Geraden  und  Ebenen  Gebrauch  machen,  aber 
in  verschiedener  Weise ;  die  erste  Methode  benutze  sie  vereinigt,  collec- 
tive,  die  zweite  einzeln,  distrihutive^).  Innerhalb  zweier  mit  einander 
zu  vergleichender  Figuren  muss  die  Entfernung  der  als  unter  ein- 
ander gleich  nachgewiesenen  Geraden  in  der  einen  wie  in  der  anderen 
Figur  dieselbe  sein-),  aber  davon,  dass  die  Indivisibilien  einer  Figur 
der  Bedingung  gleicher  gegenseitiger  Entfernung  unterworfen  wären, 
ist  keine  Rede^J.  Die  Geraden  sind,  in  Uebereinstimmung  mit  dem 
im  ersten  Werke  Vorgetragenen,  auch  Durchschnittslinien  der  gege- 
benen ebenen  Figur  mit  einer  im  Flusse  begriffenen  Ebene,  planum 
motum  seu  fluens^). 

Man  könnte  die  Frage  aufwerfen,  wesshalb  eine  solche  Ent- 
stehungsweise der  durch  eine  sich  fortschiebende  Gerade  vorgezogen 
ist?  Cavalieri  äussert  sich  nicht  darüber,  aber  vielleicht  bestach  ihn, 
dass  diese  Auffassung  ihm  gestattete,  den  Satz  von  dem  Verhältnisse 
der  Gesammtheiten  von  Quadraten  der  Geraden  des  Parallelogrammes 
und  des  halb  so  grossen  Dreiecks  den  Sinnen  näher  zu  bringen^). 
Besitzt  die  fliessende  Ebene,  welche  man  senkrecht  zu  den  gegebenen 
Figuren  sich  vorstellen  darf,  die  Gestalt  eines  Quadrates  derjenigen 
Geraden,  durch  welche  sie  just  hindurchgeht,  so  bilden  alle  diese 
Quadrate  über  dem  Parallelogramme  ein  Parallelopipedon,  über  dem 
Dreiecke  eine  Pyramide,  welche,  da  beide  Körper  von  gleicher  Höhe 
und  gleicher  Grundfläche  sind,  ein  Drittel  des  Parallelopipedons  an 
Rauminhalt  besitzt. 

Die  II.  Abhandlung  wendet  sich  der  im  VII.  Buche  der  Indivi- 
sibilien gelehrten  zweiten  Methode  zu  und  erläutert  namentlich  die 
drei  ersten  Sätze  jenes  VII.  Buches,  ohne  Dinge  hinzuzufügen,  welche 
ein  Verweilen  gebieten. 

Anders  ist  es  mit  der  III.  gegen  Guldin  und  seinen  Tadel  ge- 
richteten Abhandlung,  in  welcher  Bemerkenswerthes  enthalten  ist. 
Guldin  war  1643  gestorben,  die  Erwiderung  gilt  also  einem  Todten, 
und  Cavalieri  bedauert  dieses^),  sowohl  weil  die  Wissenschaft  an 
Guldin  etwas  verloren  habe,  als  auch,  weil  er  selbst  jetzt  in  seiner 
Entgegnung  einigermassen  behindert  sei.     So  sehr  behindert,  wie  er 


'■)  Exercitationes  Geonietricae  pag.  4.  *)  Ebenda  pag.  17,  Nr.  XV.  ^)  Wenn 
ebenda  pag.  3,  Nr.  III  die  Linien  paraUelae,  die  Ebenen  aequidistantia  genannt 
sind,  so  ist  mit  letzterem  Worte  auch  nur  Parallelismus  der  Ebenen  gemeint, 
wie  aus  anderen  Stellen  z.  B.  pag.  11  lin.  14  v.  u.  deutlich  zu  ersehen  ist. 
•*)  Ebenda  pag.  12,  16  und  häufiger.  ^)  Ebenda  pag.  52 — 55.  ®)  Ebenda 

pag.  177. 


Infinitesimalbetrachtungen.     Kepler.     Cavalieri.  843 

angiebt,  fühlte  sich  übrigens  Cavalieri  doch  nicht',  denn  er  geht  in 
seinen  Gegenvorwürfen,  wie  wir  sehen  werden,  ziemlich  weit.  Guldin, 
sagt  Cavalieri,  beschuldige  ihn,  Kepler  ausgenutzt  und  nur  dessen 
Erfindung  aus  dem  Schatten  in  das  Tageslicht  gebracht  zu  haben. 
Beide  Auffassungen  seien  aber  wesentlich  verschieden^).  Kepler  setzte 
aus  kleinsten  Körperchen  grössere  zusammen  und  Hess  sie  dabei  an- 
einanderstosseu,  er,  Cavalieri,  sage  nur,  die  ebenen  Figuren  verhielten 
sich  wie  die  Gesammtheiten  paralleler  Linien,  die  Körper  wie  die 
Gesammtheiten  gleichfalls  paralleler  Ebenen,  xilana  esse  ut  aggregata 
omniuni  linearum  acquidistantium ,  et  corpora  tit  aggregata  omnium 
planorum  pariter  aequidistantium.  An  späterer  Stelle-)  verwahrt  sich 
Cavalieri  noch  stärker,  er  habe  nie  gesagt,  Körper  und  Gesammtheit 
der  Ebenen  sei  das  Gleiche,  nunqiiam  aiäem  ipse  dixi,  solidum  et 
omnia  plana  idem  esse.  Ferner  solle  er  in  der  sogenannten  zweiten 
Methode  der  Indivisibilien  Souvey  ausgenutzt  haben.  Dieser  Vorwurf 
ist  noch  leichter  zu  entkräften^).  Souvey's  Schrift  ist  1630  veröffent- 
licht worden,  die  Indivisibilien  waren  1629  so  weit  vollendet,  dass 
eine  ganze  Reihe  namentlich  angeführter  Männer  Einsicht  von  ihnen 
erhalten  konnte.  Der  Vorwurf,,  andere  Schriftsteller  ausgenutzt  zu 
haben,  sei  freilich  leicht  gemacht.  Könnte  man  nicht  sagen,  Guldin 
habe  seine  Regel  zur  Bestimmung  des  Rauminhaltes  von  Umdrehungs- 
körpern Kepler  entnommen?^)  Wenn  letzterer  den  Ringinhalt  als 
Product  eines  Querschnittes  in  die  Kreislinie,  welche  der  Mittelpunkt, 
gleichzeitig  Schwerpunkt  des  Querschnittes,  durchlaufe,  zu  berechnen 
lehre,  so  sei  das  die  Guldin'sche  Regel,  und  Guldin's  Begründung  der- 
selben weiche  gleichfalls  von  derjenigen,  welche  Kepler  (S.  841)  am 
angegebenen  Orte  ausspreche,  kaum  ab.  Auch  hier  ist  eine  etwas 
spätere  Stelle^)  zu  vergleichen,  wo  statt  Kepler's  ein  anderer  Vor- 
gänger Guldin's  in  der  Person  von  Johann  Antonio  Rocca  ge- 
nannt ist,  der  zwei  Jahre  vor  dem  Erscheinen  des  zweiten  Buches 
von  Guldin's  Centrobaryca,  mithin  1638,  einen  ganz  ähnlichen  Satz 
mitgetheilt  habe.  Es  spricht  nicht  für  die  Belesenheit  der  damaligen 
Gelehrten,  dass  weder  Cavalieri  noch  irgend  ein  Anderer  die  Rück- 
verfolgung der  Guldin'schen  Regel  bis  zu  Pappus  fortsetzte,  welcher 
sie  schon  besass  (Bd.  I,  S.  421),  und  dessen  Schriften  Guldin  in  an- 
derem Zusammenhange  anführt,  also  jedenfalls  gelesen  hatte.  Einen 
weiteren  Vorwurf  hatte  Guldin  der  Methode  Cavalieri's  in  der  Richtung- 
gemacht,  dass  sie  zur  Ableitung  des  Archimedischen  Satzes  von  der 
Gleichheit  der  Kucreloberfläche  mit  der  vierfachen  Fläche  des  Grössten- 


^)  Exercitationes  Geometricae  pag.  180.       ^)  Ebenda  pag. 
pag.  183.         *)  Ebenda  pag.  183—185.         ^)  Ebenda  pag.  230. 


200.       =*)  Ebenda 


844 


78.  Kapitel. 


kreises  nicht  ausreiche.  Die  Richtigkeit  dieses  Vorwurfes  gesteht 
Cavalieri  unbedingt  zu^).  Den  Flächeninhalt  gekrümmter  Oberflächen 
könne  er  mittels  Indivisibilien  nicht  entdecken,  das  sei  wahr,  aber, 
fragt  Cavalieri  weiter,  einen  Gegenvorwurf  aus  seinem  Eingeständ- 
nisse bildend,  reiche  denn  etwa  Guldin's  vielgerühmte  Schwerpunkts- 
benutzung aus,  jene  Aufgabe  zu  bewältigen?  Auch  die  ganze  Schluss- 
weise der  Indivisibilien  hatte  Guldin  bemängelt.  Die  Gesammtheit 
der  Geraden  einer  Figur  sei  eine  Unendlichkeit,  die  der  Geraden  einer 
zweiten  Figur  gleichfalls  eine  Unendlichkeit;  zwischen  Unendlich- 
keiten finde  aber  ein  bestimmtes  Verhältniss  nicht  statt.  Ganz  richtig, 
erwidert  Cavalieri^),  wenn  einfach  von  Unendlichem  die  Rede  ist, 
woher  es  nur  immer  stamme,  unrichtig  aber,  wenn  von  Unendlichem 
gesprochen  werde,  welches  mit  Beziehung  auf  ein  Endliches  in  Ver- 
hältnisse eingehe.  Diese  Bemerkung  ist  ungemein  interessant,  da  sie 
zeigt,  dass  Cavalieri  mit  Bezug  auf  Unendlichgrosses  denselben  Unter- 
schied zu  machen  wusste,  der  etwa  zwischen  einem  Rechnen  mit 
Differentialien  und  einem  solchen  mit  Differentialquotienten  besteht. 
Endlich  bringt  Cavalieri  selbst  eine  Schwierigkeit  zur  Rede,  die  Guldin, 
wenn  er  denn  doch  die  Methode  der  Indivisibilien  bemängeln  wollte, 
hätte  hervorheben  können,  die  ihm  aber  entgangen  sei^)  (Figur  155). 

Die  zwei  ungleichen  rechtwinkligen 
Dreiecke  ADS  und  GDH  sollen  mit 
der  gemeinsamen  Kathete  DU  an- 
einanderhängen.  Zieht  man  K3I  und 
JL  der  Grundlinie  AG  parallel,  so 
zeigt  sich  KB=MF,  JC=LE,  kurz 
jeder  HD  parallel  gezogenen  Geraden 
in  ADH  entsspricht  eine  ihr  gleiche 
in  GDH-^  die  Gesammtheiten  dersel- 
ben müssen  also  gleich  sein,  d.  h.  die 
ungleichen  Dreiecke  zugleich  auch  gleich  sein.  Das  wäre  doch  wenig- 
stens ein  Einwurf  von  scheinbarer  Gefährlichkeit  gewesen,  aber  frei- 
lich auch  nur  scheinbar,  weil  die  Geraden  BK,  CJ,  DH  nicht  in 
derselben  Entfernung  von  einander  auftreten,  wie  die  FM,  EL,  DH, 
was  in  der  ersten  Abhandlung^)  ausdrücklich  als  noth wendig  hervor- 
gehoben sei  (S.  841). 

In  den  Indivisibilien,  in  den  drei  ersten  Abhandlungen  der  Exer- 
citationes  war  die  Beweisführung  eine  ungewohnte,  aber  bis  auf  ver- 
hältnissmässig  geringe  Ausnahmen   waren   die  Ergebnisse    bereits  be- 


^)    Exercitationes    Geometricae    pag.  194—195.  -)    Ebenda  pag.  202. 

3)  Ebenda  pag.  238—239.         *)  Ebenda  pag.  17,  Nr.  XV, 


Infinitesimalbetrachtungen.     Kepler.     Cavalieri.  845 

kannt^  und  man  konnte  fast  als  Vorwurf  äussern,  was  Cavalieri  in 
der  IIL  Abhandlung  einmal  zu  Gunsten  seiner  Methode  sagte  ^),  man 
könne  Alles,  was  er  mit  Hilfe  von  Indivisibilien  zeige,  auch  in  die 
Sprache  Archimed's  übersetzen,  wenn  man  Umschweife  nicht  scheue. 
Wesentlich  neu  dagegen  war  der  Inhalt  der  IV.  Abhandlung.  Wir 
haben  (S.  837)  gesagt,  das  was  Cavalieri  von  der  Gesammtheit  der 
Quadrate  eines  Dreiecks  behaupte,  sei  in  den  Zeichen  heutiger  Mathe- 
matik in  Uebereinstimmung  mit 


In   der  gleichen  Zeichensprache    heisst    der   Gegenstand    der  IV.  Ab- 
handlung: 


/  kb"x" 


dx  = 


«+  1 

Cavalieri  sprach  die  von  ihm  entdeckte  Wahrheit  zuerst  1639  als 
letzte  Aufgabe  seiner  in  Bologna  gedruckten  Centiiria  di  varii  prohlemi 
per  dimostrare  l'uso  e  Ja  facüita  dei  logaritmi  nella  Gnomonica,  Ästro- 
noniia,  Geografia  aus.  In  den  Exercitationes  erzählt  er  dann^),  wie 
er  zu  dem  Satze  gekommen  sei.  Eine  Aufgabe  aus  Kepler's  Dolio- 
metrie  veranlasste  ihn,  die  Gesammtheiten  der  vierten  Potenzen  der 
Geraden  eines  Parallelogrammes  und  des  halb  so  grossen  Dreiecks  in 
Verhältniss  zu  setzen,  wobei  er  5  :  1  fand.  Er  erinnerte  sich,  dass 
die  Gesammtheiten  der  Geraden  selbst  und  die  ihrer  Quadrate  in  den 
gleichen  Figuren  den  Verhältnisszahlen  2  :  1  und  3  :  1  gehorchten. 
Um  keine  Lücke  zu  lassen,  untersuchte  er  noch  die  Gesammtheiten 
der  Würfel  eben  jener  Geraden  und  fand  ihr  Verhältniss  4:1,  und 
nun  begriff  er  bewundernd,  ita  ut  deniqiie  non  sine  magna  admiratione 
comprelienderim ,  dass  jenes  Zahlengesetz  sich  der  natürlichen  Zahlen- 
reihe entsprechend  fortsetze.  Die  Richtigkeit  der  Verallgemeinerung 
hat  Cavalieri  niemals  bewiesen.  Die  ersten  Einzelfälle  dagegen  sind 
von  ihm  streng  durchgearbeitet  worden.  Er  stützte  sich  dabei  zum 
Theil  auf  folgende  von  ihm  erkannte  Identitäten^): 

«*  +  M  =  2  (-±^)'  +  2  (^)*  +  12  (»4^)^  (!^)^ 


^)    Exercitationes    Geometricaz   pag.  235.  ^)    Ebenda   pag.  243—244. 

3)  Ebenda  jmg.  269—271. 


846  78.  Kapitel. 

Wir  entnehmen  ihm  den  Gang  des  Beweises  für  das  Verhältniss  4  :  1 
der  Gesammtheiten  der  Würfel  der  Geraden  im  Parallelogramme  und 
im  Dreiecke^).  Zunächst  seien  einige  Zeichen  erklärt,  welche  bei 
Cavalieri,  wie  wir  fast  überflüssigerweise  bemerken,  nicht  vorkommen, 
deren  wir  uns  aber  zur  Abkürzung  bedienen  wollen  (Figur  Ibo).  Um 
die  Summe  der  ?^*^"  Potenzen  aller  Geraden  in  einer 
^  ^-^  gegebenen  Figur  zu   bezeichnen,    schreiben    wir 

das  Summenzeichen  vor  die  m'"  Potenz  einer  Ge- 
raden und  über  das  Summenzeichen  die  Figur, 
auf  welche  die  Summirung  sich  bezieht.     Mithin 

ACDF 

ist    ^,  AF^  ^=  Summe  der  Würfel  aller  Geraden 
im    Parallelogramme   ÄCDF,    und    dafür    kann 
man,   weil  im  Parallelogramme   die  Geraden   sich  nicht  ändern,  auch 

ACDF  ACF 

ÄF -^  AF-  schreiben.  Ferner  ist  ^,'  NH^  =  Summe  der  Würfel 
aller  Geraden  im  Dreiecke  ACF\x.  s.  w.  Sind  Producte  wie  NU  HE 
zu  Summiren  oder  ähnlich  gebaute,  deren  erster  Factor  dem  Dreiecke 
ACF,  der  zweite  dem  Dreiecke  CDF  angehört,  so  schreiben  wir  die 
Figur,  über  welche  hier  der  erste,  beziehungsweise  der  zweite  Factor 
zu  nehmen  ist,  oberhalb  beziehungsweise  unterhalb  des  Summenzeichens. 

ACF 

^  NHHE^  bedeutet  also:  solche  Producte  NR- HE'  sollen  durch 

CDF 

das  ganze  Parallelogramm  ACDF  derart  gebildet  werden,  dass  der 
lineare  Factor  immer  dem  Dreiecke  ACF,  der  quadratische  dem 
Dreiecke  CDF  angehört.     Nach  der  Formel 

(a  +  hf  =  a^-\-  W  +  ?,a~h  +  3a&2 
ist  nun  leicht  ersichtlich 

ACDF  ACF  CDF  ACF  ACF 

^AF'  =^NH'-{-^HE-'  +  ?>^NH-  HE'-  +  ^^NH'  ■  HE. 

CDF  CDF 

Andererseits 


und  da 


so  ist  ein  zweiter  Werth  von 


^AF'=  AF^  AF' 


ACDF  CDF 

^  AF'-  =  ?j  y  HE\ 


^AF'=?jAF^HE'=^SyNEHE'=3y^NHHFJ-\-3^HE' 


^)  Exercitationes  Geometricae  pag.  273 — 274. 


Infinitesimalbetrachtungen.     Kepler.     Cavalieri.  847 

■iCDF 

Die  beiden  Werthe  von  ^,  ÄF^  sind  einander  gleichzusetzen,  und  das 

ACF 

beiden  gemeinsame  o  ^,  NH  ■  HE-  fällt  dabei  weg.     Es  bleibt 

CDF 
CDF  ACF  CDF  ACF 

3  2  HE'  =^  NH'  +^  HE'  +  3^  NH'  ■  HE. 

CDF 
ACF  CDF 

Aber  offenbar  ist  ^  NH'  =^  HE',  diese  Werthe  können  mithin 
auch    auf   beiden  Seiten  noch   weggelassen  werden,  und   man   behält 


nur    noch    ^  HE'  =  o^  NH-  •  HE.      Wegen    der    vollständigen 

CDF 

CDF  ACF 

Symmetrie  der  Figur  muss   ebenso  ^  EH'  =  3  ^  NH  ■  HE"  sein. 


CDF 
CDF 


^  HE'  =^  HN'  haben  wir  bereits  benutzt.    ^  HE'  =^  HE' 
ist  identisch  wahr,  und  nunmehr  lassen  sämmtliche  Glieder  der  ersten 

ACDF  CDF 

Entwickelung  von  ^,'  ÄF'  sich  durch  ^^HE'  ersetzen,  so  dass  man 
erhält: 

ACDF  CDF 

^ÄF'  =  4:^  HE' 

und  das  ist  der  Satz,  welcher  bewiesen  werden  sollte. 

Auch  die  V.  Abhandlung,  in  a\  elcher  Cavalieri  Guldin's  eigenstes 
Gebiet  der  Schwerpunktsbestimmung  betrat,  enthält  wesentlich  Neues. 
Man  hatte  stets  nur  Schwerpunkte  homogener  Figuren  und  Körper, 
d.  h.  solcher  von  überall  gleicher  Dichtigkeit,  untersucht.  Cavalieri 
ging  darüber  einen  wesentlichen  Schritt  hinaus.  Er  fragte  nach  dem 
Schwerpunkte  solcher  Gebilde,  deren  Dichtigkeit  mit  der  Entfernung 
von  einer  gewissen  Anfangsgrenze  zunimmt,  eine  Frage,  deren  Gleich- 
berechtigung mit  den  Untersuchungen  eines  Galilei  und  Torricelli 
über  Ortsbewegung,  mögen  diese  mit  der  Natur  im  Einklänge  stehen 
oder  nicht,  er  beansprucht^).  Man  hat  diese  Aeusserung  eines 
Schülers  von  Galilei  auffallend  gefunden,  und  sie  wäre  es  in  der 
That,  wenn  man  nicht  in  Erwägung  ziehen  will,  dass  Cavalieri  Ordens- 
geistlicher war,  und  dass  man  nach  den  Erfahrungen,  welche  man 
mit  der  Koppernikanischen  Lehre  gemacht  hatte,  nie  wissen  konnte, 
ob  die  Curie  nicht  auch  in  Galilei's  mechanischen  Gesprächen  von 
1638  noch  Glaubensgefährliches  wittern  werde. 


^)  Exercitationes  Geometricae  pag.  322. 


848  78.  Kapitel. 

Die  VI.  und  letzte  Abhandlung  mit  iliren  aus  verschiedenen  Ge- 
bieten entlehnten  Gegenständen  weicht  darin  namentlich  von  der  vor- 
hergehenden ab,  dass  sie  keine  Indivisibilien  anwendet.  Wir  wären 
daher  berechtigt,  mit  Schweigen  darüber  hinwegzugehen,  wollten  wir 
nicht  einer  Aufgabe  gegenüber  eine  Ausnahme  machen,  derjenigen 
von  der  Aufsuchung  eines  Punktes,  dessen  Entfernungen 
von  drei  gegebenen  Punkten  die  kleinste  Summe  habe^). 
Cavalieri  zeigt  zunächst,  dass,  wenn  die  drei  Punkte  in  einer  Geraden 
liegen,  der  gesuchte  Punkt  derselben  Geraden  angehören  müsse,  und, 
wenn  die  Punkte  Eckpunkte  eines  Dreiecks  sind,  der  Ebene  des 
Dreiecks.  Er  zeigt  ferner,  dass  alsdann  von  dem  gesuchten  Punkte 
aus  die  drei  Dreiecksseiten  unter  dem  gleichen  Winkel  von  120*^ 
erscheinen. 

Wir  haben  über  die  beiden  Hauptwerke  Cavalieri's  ausführlich 
berichtet  und  uns,  um  den  Gesammteindruck  nicht  zu  stören,  mit 
keiner  Zwischenbemerkung  über  Grund  oder  Ungrund  der  gegen  den 
Verfasser  erhobenen  Vorwürfe  unterbrochen.  Diese  nothwendige  Er- 
örterung ist  jetzt  nachzuholen.  Unzweifelhaft  ist  der  Vorwurf  auch 
nur  der  leisesten  Anlehnung  an  Souvey  ohne  jede  Begründung,  da 
die  von  Cavalieri  geltend  gemachten  Zeitdatirungen  den  schlagenden 
Gegenbeweis  führen.  Etwas  anders  steht  es  mit  den  Beziehungen 
Cavalieri's  vielleicht  auch  Galilei's  zu  Kepler  und  dessen 
Doliometrie.  Kepler  und  Galilei  standen  in  Briefwechsel;  sie  ver- 
ehrten sich  gegenseitig  Bücher,  und  wenngleich  aus  den  erhaltenen 
Briefen  nicht  nachzuweisen  ist,  dass  auch  von  dem  Werke  von  1615 
ein  Exemplar  an  den  italienischen  Fachgenossen  geschenkweise  ge- 
langte, so  ist  doch  beinahe  ausgeschlossen,  dass  Galilei  nicht  von 
dem  Werke  gehört,  und  wenn  er  davon  hörte,  es  nicht  gelesen 
haben  sollte,  zumal,  wie  wir  früher  sahen,  die  Verbreitung  der  Dolio- 
metrie rasch  vor  sich  ging.  Nehmen  wir  weiter  an,  dass  mit  Galilei, 
vielleicht  durch  Galilei,  auch  Cavalieri  das  Buch  kennen  lernte,  dass 
Beide  über  den  Gegenstand  mit  einander  verkehrten,  so  begreift  sich 
die  früher  hervorgehobene  beiderseitig  gleichzeitige  Beschäftigung  mit 
den  Indivisibilien,  deren  in  Cavalieri's  Briefen  vorkommender  Name 
(S.  832)  Beiden  geläufig  gewesen  sein  muss.  Warum  Cavalieri  Guldin 
gegenüber  nicht  ruhig  zugab,  was  eigentlich  schon  in  der  Vorrede 
zu  den  Indivisibilien,  wo  von  Kepler  ausdrücklich  die  Rede  ist, 
mittelbar  eingestanden  war?  Man  kann  sich  verschiedene  Erklärungs- 
versuche bilden.  Cavalieri  behauptet  in  jener  Vorrede,  die  eigentliche 
Methode  der  Indivisibilien  besessen  zu  haben,  als  er  Kepler's  Schrift 


^)  Exercitationes  Geometrieae  pag.  504 — 510. 


Infinitesimalbetrachtungen.     Kepler.     Cavalieri.  849 

und  in  ihr  Beispiele  zur  Prüfung  seiner  Methode  kennen  lernte^). 
Vielleicht  ist  dieses  buchstäblich  wahr,  wenn,  wie  wir  als  möglich 
aussprechen,  Galilei  es  war,  der  Cavalieri  die  erste  Anregung  zu  den 
neuen  Untersuchungen  gab.  Vielleicht  wollte  Cavalieri  nur  Guldin 
kein  Zugeständniss  machen,  weil  dieser  die  geistige  Beeinflussung  als 
einen  geistigen  Diebstahl  dargestellt  hatte.  Vielleicht  war  er  sich 
selbst  nicht  ganz  klar  darüber,  ob  er  Kepler  etwas  verdanke.  Welchem 
Forscher  wäre  es  nicht  schon  begegnet,  dass  ihm  bei  eifrigem,  er- 
folgreichem Nachdenken  über  einen  wissenschaftlichen  Gegenstand 
aus  dem  Gedächtnisse  entschwand,  was  ihn  veranlasste,  gerade  diese 
Aufgabe  zu  behandeln?  Das  aber  ist  unter  allen  Umständen  anzu- 
erkennen, dass  Cavalieri's  Forschung  von  Erfolg  begleitet  war,  dass 
er  einen  gewaltigen  Schritt  über  Kepler  hinaus  machte.  Nicht  darin 
finden  wir  denselben,  dass  Kepler  kleinste  Raumelemente  summirte, 
während  Cavalieri  nur  von  einer  Gesammtheit  sprach,  zu  welcher 
das  betrefi'ende  Raumgebilde  in  einem  Verhältnisse  stehe.  Dieser 
Unterschied  ist  mehr  philosophisch  als  mathematisch.  Wir  sehen 
den  Fortschritt  von  Kepler  zu  Cavalieri  vielmehr  in  zwei  Dingen. 
Erstens  darin,  dass  Kepler's  Raumelemente  nicht  immer  einander 
parallel  waren,  während  Cavalieri  an  dieser  Grundbedingung  festhielt. 
Zweitens  darin,  dass  Cavalieri  zu  Gesammtheiten  von  Potenzen  der 
Geraden  überging.  Gerade  dieses  Fortschrittes  war  Cavalieri  sich 
deutlich  bewusst.  In  der  Vorrede  zu  den  Indivisibilien  macht  er 
darauf  aufmerksam,  dass,  wenn  man  ein  Rechteck  und  das  halb  so 
grosse  rechtwinklige  Dreieck  um  die  eine  Rechtecksseite  in  Umdrehung 
versetzt  denke,  die  beiden  Körperräume,  Cylinder  und  Kegel,  im  Ver- 
hältnisse von  3  :  1  stehen,  und  dass  man  dieses  neu  auftretende  Ver- 
hältniss  aus  den  Eigenschaften  der  sich  drehenden  Figuren  zu  ent- 
nehmen nicht  im  Stande  sei.  In  der  IV.  Abhandlung  der  Exercitationes 
vollends  zieht  er  die  etwas  gewagte  Verallgemeinerung  des  Satzes  in 
Betracht,  er  vergleicht  Gesammtheiten  irgend  welcher  Potenzen  und 
ist  der  Bewunderung  voll  über  das  Ercrebniss. 

Dem  Ursprünge  eines  anderen  bei  Cavalieri  auftretenden  Begriffes 
können  wir  leicht  nachgehen.  Wenn  er  der  Ebene,  die  der  Regula 
parallel  sich  fortschiebt,  eine  „fliessende"  Bewegung  beilegte,  so  ist 
dieses  offenbar  Clavius  (S.  556)  oder  Neper  (S.  730)  nachgebildet; 
aber  ob  Cavalieri  wusste,  wesshalb  gerade  dieses  die  Continuität  der 


^)  Cum  ergo  tarn  expositam  metiendarum  figurarum  novam,  ac,  si  dicere 
fas  est,  valde  comiiendiosam  methodum  adinvenissem ,  foeliciter  mecum  actum  esse 
existimavi,  ut  haec  solida,  praeter  illa  Archimedea,  mihi  suppeditarentur ,  circa 
quae  illius  vim  ac  energiam  experiri  liceret. 

Caktor  ,  Geschichtö  der  Mathem.    II.    2.  Aufl.  54 


850  78.  Kapitel. 

Bewegung  so  deutlich  schildernde  Wort  ihm  in  die  Feder  kam,  ver- 
mögen wir  nicht  zu  sagen. 

Ein  Zusammentreffen  Cavalieri's  mit  einem  anderen  Mathematiker 
macht  freilich  grosse  Schwierigkeit  und  wirft,  je  nachdem  man  es  zu 
erklären  sucht,  unter  Umständen  einen  solchen  Makel  auf  einen  sonst 
berühmten  Schriftsteller,  dass  man  zu  einem  Gesammturtheile  über 
denselben  sich  nur  schwer  entschliessen  kann.  Wir  haben  (S.  839) 
gesehen,  dass  in  den  Indivisibilien  von  1635  die  Quadratur  der  Spiral- 
linie durch  eine  Gleichsetzung  des  in  Frage  stehenden  Flächenraumes 
mit  einem  Parabelabschnitte  gefunden  wird.  Dieselbe  gewiss  nichts 
weniger  als  nahe  liegende  Methode  findet  sich  in  dem  Oims  geometricum 
quaclraturae  circuli  et  sectiomun  coni  des  Gregorius  von  St.  Tin- 
een tius  und  führt  dort  den  besonderen  Namen  Spiralis  et  imrabolae 
symboUmtio^).  Es  genügt  nicht,  auf  das  Druckjahr  1635  der  Indivi- 
sibilien, auf  dasjenige  1647  des  grossen  Werkes  von  Gregorius  hin- 
zuweisen, denn  dieser  Schriftsteller  erzählt  in  der  Vorrede  zum  ganzen 
Wei-ke,  dasselbe  sei  bis  auf  einen  besonders  genannten  anderen  Ab- 
schnitt schon  1625  vollendet  gewesen;  er  wiederholt  dann  in  der  Ein- 
leitung  zur  Symbolizatio,  er  habe  diese  Methode  1625  in  Rom  dem 
Pater  Christoph  Grienberger  mitgetheilt,  welcher  sein  Mitschüler 
im  Unterrichte  durch  Pater  Clav  ins  gewesen  sei.  Aber  andererseits 
ist  auch  diese  Erzählung  nicht  gegen  jeden  Zweifel  gesichert,  denn 
Grienberger  war  seit  1636  todt  und  konnte  die  auf  ihn  bezügliche 
Thatsache  1647  weder  bestätigen  noch  Lüge  strafen.  Cavalieri  da- 
gegen starb  im  Erscheinungsjahre  des  Opus  geometricum  und  kann 
dadurch  an  der  Abwälzung  des  auf  ihn  geworfenen  Verdachtes  ver- 
hindert gewesen  sein,  er  kann  auch  geschwiegen  haben,  weil  er  sich 
schuldig  fühlte.  Hier  tritt  also  unvermittelt,  und  wie  uns  scheint,  un- 
vermittelbar  das  Dilemma  zu  Tage:  entweder  Gregorius  hat  eine  ge- 
radezu lügenhafte  Angabe  gemacht,  und  dabei  einen  passenden  Namen 
zu  einer  von  Cavalieri  herrührenden  Methode  erfunden,  oder  Cavalieri 
hat  als  sein  Eigenthum  vorgetragen,  was  er  nicht  erfand,  was  aber, 
weil  dabei,  wenn  auch  kreisförmig  gekrümmte  Indivisibilien,  immerhin 
Indivisibilien  in  Anwendung  kamen,  sehr  wohl  seinem  Geiste  ent- 
stammt sein  konnte.  Oder  will  man  den  dritten  Ausweg  für  mög- 
lich halten,  dass  beide  Männer,  jeder  für  sich,  auf  den  fast  sonderbar 
zu  nennenden  Einfall  kamen?  Wir  verzichten  darauf,  für  das  Eine 
oder  für  das  Andere  oder  für  das  Dritte  uns  zu  entscheiden. 


^)  Opus  geometricum  pag.  664. 


Descartes.     Fermat 


851 


79.  Kapitel. 
Descartes.     Fermat. 

Wir  wollten  Cavalieri's  Untersucliungen,  welche  mau  ähnlich  wie 
die  vorausgegangene  Doliometrie  Kepler's  als  Quadraturen  und 
Kubaturen  bezweckend  bezeichnen  wird,  im  Zusammenhange  vor- 
tragen. Wir  haben  dadurch  eine  Anzahl  von  Jahren  zwischen  der 
ersten  Ausgabe  der  Indivisibilien  und  dem  Erscheinen  der  Exer- 
citationes  zunächst  übersprungen,  welche  für  die  Geschichte  der  In- 
finitesimalbetrachtungen sehr  fruchtbar  waren.  Kehren  wir  in  die 
nächste  Zeit  nach  1635  zurück,  zum  Jahre  1637,  dem  Druckjahre 
der  Geometrie  des  Descartes. 

Dort  ist  zum  ersten  Male  die  Auflösung  einer  Aufgabe  in  die 
Oeffentlichkeit  getreten,  welche  von  nun  an  Jahrzehnte  hindurch  nicht 
aufgehört  hat,  die  Mathematiker  zu  beschäftigen,  der  Tangenten- 
aufgabe. 

Descartes  fasste  sie  etwas  anders  auf;  für  ihn  war  es  die  Nor- 
malen aufgäbe^);  er  suchte  solche  Gerade,  welche  gegebene  Curven 
oder,  was  ihm  für  das  Gleiche  gilt,  deren  Berührungslinien  in  gege- 
benen Punkten  rechtwinklig  durchschneiden.  Er  sagt  eine  allgemeine 
Auflösung  dieser  Aufgabe  zu  und  scheut  sich  nicht,  es  auszusprechen, 
sie  sei  die  nützlichste  und  allgemeinste  nicht  blos  von  denen,  die  er 
kenne,  sondern  die  er  jemals  innerhalb  der  Geometrie  zu  kennen  ge- 
wünscht habe-).     Der  Gedanke  Descartes',  wenn  auch  natürlich  nicht 


ist   folgender^)    (Figur  157 J. 
Y 


Di 


der  Wortlaut  seiner  Darstellung, 
Normale  an  die  Curve  AB  mit 
der  Gleichung  F(x,  y)  =  0  im 
Punkte  M  sei  MN.  Um  A"  als 
Mittelpunkt  wird  mit  einem  be- 
liebigen Halbmesser  r  ein  Kreis- 
bogen beschrieben,  welcher  die 
gegebene  Curve   in   den   Punkten 


Durchschnittspunkte    muss    man 

mit    Hilfe    der    Curvengleichung 

einestheils,  der  Kreisgleichung  anderntheils  finden  können,  d.  h.  deren 

Ordinaten  M^F^,  ^-[^P-i   müssen  als  die  Wurzeln  einer  quadratischen 

1)  Descartes,  Geom.  I,  40  sqq.  -)  Nee  verebor  clicere,  Prohlema  Jioc,  non 
modo  eorum,  qiiae  scio,  utiUssimum  et  generalissimum  esse;  sed  etiam  eorum,  quae 
in  Geometria  seire  tinquatn  desideraverim.  *)  Schon  Montucla  II,  130—131 

hat  die  Methode  gut  -erfasst. 

54* 


Fig.  ]57. 


852  79.  Kapitel. 

Gleichung  sich  ergeben,  in  welcher  r  gleichfalls  vorkommt.  Fallen 
die  beiden  Durchschnittspunkte  M^  und  ilf^  in  M  zusammen,  d.  h. 
wird  der  Kreis  zum  Berührungskreise,  so  bleibt  die  erwähnte  quadra- 
tische Gleichung  immer  noch  bestehen,  aber  mit  zwei  identischen 
Wurzeln.  Die  Bedingung  dafür,  dass  solches  stattfinde,  muss  darin 
bestehen,  dass  die  linke  Seite  der  Gleichung  die  Gestalt  besitzt, 
welche  aus  der  Multiplication  von  y  —  e  mit  sich  selbst  hervorgeht^), 
also  y^  —  2ey  -{-  e^,  und  dieses  erzwingt  man  dadurch,  dass  r  einen 
gewissen  Werth  annimmt.  Kennt  man  diesen,  so  kennt  man  MN, 
also  die  gesuchte  Normale. 

Als  Beispiel  mag  die  Parabel  y^  =  ax  gewählt  werden.    Abscisse 
von   'S  sei  5,  so  ist  die  Gleichung  des  um  iV  mit  dem  Halbmesser  r 

beschriebenen  Kreises  {x  —  zf  -\-  y^  =  r^.  Man  ersetzt  x  durch  — , 
so  wird  ix ^)"  +  2/^  =  f-,  beziehungsweise 

folglich 


2/2  =  a^;  _  _  4- a  |/ r^  +  -  —  «0, 
und  ein  einziges  positives  y  erscheint  nur,  wenn  r^  +  x  —  az  =  0, 
r^  =  az  —  ~-   ist.     Der   Berührungskreis    hat   folglich   die  Gleichung 
(x  —  zy-\-y-  =  az  —  ^,  während  der  Berührungspunkt  als  Punkt  der 

Parabel  die  Gleichung  y^  =  ax  bedingt.     Man  erhält  also  als  weitere 
Umformung 

und  damit  den  Punkt  AT. 

Descartes  blieb  bei  dieser  Darstellung  seiner  Methode  nicht  stehen. 
In  einem  Mitte  Mai  1638  geschriebenen  Briefe  deutete  er  noch  eine 
etwas  andere  Einkleidung  des  gleichen  Gedankens  an  2),  d.  h.  des  Ge- 
dankens, die  Auffindung  der  Berührungslinie  einer  Curve  mit  dem 
Vorhandensein  identischer  Wurzeln  einer  Gleichung  in  Zusammen- 
hang zu  bringen  (Fig.  158).  Von  der 
Berührungslinie  M^T  als  gegeben  aus- 
gehend zieht  er  von  M  noch  nach  einem 
anderen  Punkte  S  der  Abscissenaxe 
eine  Gerade  M.S),  und  diese  schneidet 
die  Curve  in  einem  Punkte  M^.  Die 
Gleichung  der  Curve  und  die  Lage  von 

1)    Descartes,  Geom.  I,  45  lin.  24—28.  ')    Oeuvres  de  Descartes  (ed. 

Cousin)  VII,  62—64. 


Descartes.     Fermat. 


853 


S  auf  der  Abscissenaxe  müssen  genügen,  um  die  beiden  Ordinaten 
MP  und  3I^P^  zu  Wurzeln  einer  Gleichung  zu  machen,  welche  nur 
dann  identisch  werden,  wenn  S  nach  T  fällt.  So  ist  die  Lage  dieses 
Punktes,  ähnlich  wie  in  der  Geometrie  die  von  N,  von  dem  Ver- 
schwinden einer  gewissen  Wurzelgrösse  abhängig. 

Descartes  hat  noch  ein  anderes  Problem  der  Curvenlehre  in  seiner 
Geometrie  und  in  nachgelassenen  Papieren  berührt,  das  der  Recti- 
fication  von  Curven.  In  der  Geometrie^)  spricht  sich  Descartes 
in  ganz  negativer  Weise  über  diese  Aufgabe  aus.  Ein  Verhältniss 
zwischen  gei-aden  und  krummen  Linien  ist,  sagte  er,  nicht  bekannt 
und  wird  Menschen  nicht  bekannt  werden.  In  seinem  Nachlasse  da- 
gegen findet  sich  eine  Methode^),  um  in  beliebiger  Annäherung  zwar 
auch  keine  Rectification ,  aber  das  Entgegengesetzte  derselben,  eine 
Arcafication  einer  gegebenen  Strecke  zu  liefern  (Figur  159). 
Es  handelt  sich  um  die  Auf- 
findung des  dem  Quadrate  \  gr,  ~  ^ 
ahJif  isoperimetrischen 
Kreises.  Zur  Abkürzung 
und  Vermeidung  von  Miss- 
verständuissen  bezeichnen 
wir  die  Fläche  eines  Recht- 
eckes durch  zwei  einander 
gegenüberliegende  Eck- 
punkte desselben  mit  einem 
Horizontalstriche  darübei-, 
so  dass  z.  B.  hf  die  Fläche 

von  ahkf  bedeutet.     Nun   suche  man  den  Punkt  c 
dingung  genüge: 

Y  =  ac{ac  —  ah)  =  hg  •  hc  =  cg . 

Ferner  suche  man  den  Punkt  d,  welcher  der  Bedingung  genüge: 

~  =  ad(ad  —  ac)  =  ch  •  cd  =  dh 

u.  s.  w.  ins  Unendliche.  Man  nähert  sich  dabei  einem  Grenzpunkte  t, 
dessen  Entfernung  at  von  a  der  Durchmesser  des  gesuchten  Kreises 
wird.  Zugleich  ist  auch  die  Summe  der  Flächeninhalte  aller  immer 
höher  und  schmaler  werdenden  Hilfsrechtecke  bekannt.  Sie  ist  mit 
Einschluss  des  ursprüngliches  Quadrates 


welcher  der  Be- 


^)  Descartes 
-443. 


Geom.  I,  40. 


*)  Oeuvres  de  Descartes  (ed.  Cousin)  XI, 


854  79.  Kapitel. 

W{i  +  i  +  {.  +  --)  =  YW- 

Die  Constrnction  der  Punkte  c,  d  .  .  .  ist  sehr  einfach.  Man  halbirt 
ah  in  B,  of  iu  C  und  zieht  BC  bis  zum  Durchschnitte  G  mit  dem 
um  C  als  Mittelpunkt   mit  Ca    als  Halbmesser    beschriebenen  Kreise. 

Dann    ist    BG  ■  BD  =  BG{BG  —  ah)  =  Ba-  =  ^/    und    folglich 

BG=^ac.     Weiter  macht  man  aB'  =  —aB,  aC  =  -^ac  und  zieht 

B' C  bis  zum  Durchschnitte  G'  mit  dem  um  C  als  Mittelpunkt  mit 
Ca  als  Halbmesser  beschriebenen  Kreise,  so  ist 

B'G'-  B'B'=  B'G\B'G'—ac)  ==  J5V  =  ^ 

und    folglich    B' G' =  ad  u.  s.  w.      Die    Bedeutung    der    Annäherung 

endlich  ist  folgende.    Es  ist  ah=^—-  Durchmesser  des  Kreises,  dessen 

regelmässiges  Tangentenviereck  die  Seite  ah  besitzt.  Der  Kreis  mit 
dem  Durchmesser  ac  besitzt  ein  regelmässiges  Tangentenachteck  von 

der  Seite  —  =  -— •  Zu  dem  Kreise  mit  ad  als  Durchmesser  gehört 
ein  regelmässiges  Tangentensechzehneck  von  der  Seite  —^  u.  s.  w.    Jeder 

neuen  Länge  entspricht,  wenn  man  sie  als  Kreisdurchmesser  wählt, 
ein  regelmässiges  Tangentenvieleck  von  2"  Seiten,  deren  jede  die  Länge 

—^   besitzt,    wodurch    augenscheinlich    alle    diese    Tangeutenvielecke 

isoperimetrisch  werden,  und  die  Gesammtlänge  ihrer  Seiten  auf  4a6 
bringen.  Bei  wachsendem  n  ist  aber  das  Tangentenvieleck  von  2" 
Seiten  schliesslich  vom  Kreise  selbst  nicht  mehr  zu  unterscheiden. 

In  dem  Briefwechsel  von  Descartes  sind  da  und  dort  noch  manche 
Dinge  enthalten,  welche  bei  der  damals  allgemeinen  Sitte,  von  der 
wiederholt  die  Rede  war,  Briefe  bei  Fachgenossen  herumzuzeigen  und 
mit  Rücksicht  darauf  den  Inhalt  der  eigenen  Briefe  genau  zu  über- 
legen, sie  sogar  aufzusetzen ,  als  veröffentlicht  gelten  dürfen  und 
darum  als  wissenschaftliches  Eigenthum  des  Briefschreibers  in  fast 
gleicher  Weise  beansprucht  werden  müssen,  als  wenn  sie  im  Drucke 
erschienen  wären.  Wir  heben  einige  solcher  Dinge  hervor,  welche 
der  höheren  Curvenlehre  angehörend  hier  den  richtigsten  Platz 
finden,  da  sie  mit  Infinitesimalbetrachtungen  eng  verbunden  sind. 

Ein  Brief  vom  13.  Juli  1638  enthält  Schwerpunktsbestimmungen 
und  Quadraturen  von  Parabeln  verschiedener  Ordnung  und 
Kubaturen  von  deren  Umdrehungskörpern  ^).    Beweise  giebt  Descartes 


^)  Oeuvres  de  Descartes  (ed.  Cousin)  VII,  429 — 430. 


Descartes.     Format.  855 

nicht.  Er  meint  die  Mühe,  sie  niederzuschreiben,  wäre  zu  gross, 
auch  reiche  die  Mittheilung  der  Ergebnisse  hin ,  weil  Niemand  zu 
denselben  gelangen  könne,  ohne  die  Beweise  zu  kennen.  Hat  Des- 
cartes sich  eigener  Methoden  bedient,  ist  er  Ca  valier  i 's  Spuren 
nachgegangen?  Wir  möchten  die  letztere  Vermuthung  hegen,  ins- 
besondere dadurch  unterstützt,  dass  auch  eine  andere  Briefstelle  auf 
den   gleichen  Schriftsteller  als  Quelle   wird  gedeutet  werden  müssen. 

Wir  meinen  eine  Stelle  aus  einem  Briefe  an  Mersenne^)  vom 
27.  Juli  1638.  Er  handelt  von  der  Quadratur  der  Cycloide,  und 
dort  sagt  Descartes,  die  Gleichheit  zweier  Figuren  gehe  schon  daraus 
hervor,  wenn  sie  gleiche  Grundlinie  und  Höhe  besitzen,  und  wenn 
alle  Parallelen  zur  Grundlinie,  die  in  beiden  Figuren  in  gleicher  Höhe 
gezogen  werden,  einander  gleich  seien,  ein  Satz,  der  vielleicht  nicht 
von  Jedem  zugegeben  wird,  im  tlicorcme  qul  ne  serait  peut-etre  pas 
avoue  de  toiis.  Das  klingt  doch  sehr,  als  wenn  damals  Descartes  das 
VH.  Buch  der  Indivisibilien,  welches  dui-chaus  auf  jenem  Satze  be- 
ruht, gekannt  hätte. 

Am  23.  August  theilte  dann  Descartes  Mersenne  auch  die  Tan- 
gentenconstruction  bei  der  Cycloide^)  mit.  Auf  diese  Curve 
ist  Galilei  zuerst  1590  aufmerksam  geworden^),  und  er  hatte  schon 
daran  gedacht,  ihre  Quadratur  zu  ermitteln.  Er  gab  ihr  auch  den 
Namen.  Französische  Gelehrte  legten  ihr  andere  Namen  bei,  den  der 
Rolllinie,  Roulette,  den  der  TrocJioide,  und  seit  1634  etwa  hat  die 
Curve  Jahrzehnte  lang  nicht  aufgehört,  die  Gelehrten  Frankreichs, 
Italiens,  Englands  zu  beschäftigen.  Wir  kommen  auf  die  Geschichte 
dieser  Cycloide  später  noch  zurück;  gegenwärtig  kümmert  uns  nur 
die  von  Descartes  in  dem  genannten  Briefe  gelehrte  Tangenten- 
construction  (Figur  160j.  Descartes  zeichnet  die  Mittellage  des  rol- 
lenden Kreises  und  von  dem  Cycloidenpunkte  B  aus,  an  welchen  die 
Berührungslinie  verlangt  wird,  die 
Gerade  BN  parallel  zur  Grundlinie 
bis  zum  Durchschnitte  N  mit  jener 
Mittellage  des  Kreises.  Dann  ver- 
bindet er  NB  und  zieht  B  0 
welches  die  Normale  an  die  Cy- 
cloide wird.  Descartes'  Beweis 
gründet  sich  auf  die  Eigenschaften 
einer  Curve,  welche   beim  Rollen   eines  geradlinig   begrenzten  regel- 

*)  Oeuvres  de  Descartes  (ed.  Cousin)  VII,  113 — 118,  besonders  pag.  117 
zweites  Alinea.  -)  Ebenda  VII,  88—90.  =>)  Fabbroni,   Vitae  Italorum 

doctrina  exceUentium  qui  saeculis  XVII  et  XVIII  floruerunt  (1778)  II,  12.  — 
Favaro,  Galileo  Galilei  e  lo  studio  di  Padova  I,  34. 


856  79.  Kapitel. 

massigen  Vielecks  entsteht,  und  welche  unverändert  bleiben,  wenn  die 
Seitenzahl  des  Vielecks  ins  Unendliche  wächst.  Er  setzt  hinzu  M, 
diese  Curven  seien  mechanische,  von  welchen  in  der  Geometrie  ab- 
gesehen sei;  daher  sei  nicht  zu  verwundern,  dass  die  dort  gegebenen 
Regeln  zur  Tangentenziehung  bei  ihnen  den  Dienst  versagen. 

In  dem  gleichen  Briefe^)  bespricht  Descartes  die  Curve,  deren 
Gleichung  x^  -\-  if  =  nxy  ist.  Sie  hat  später  den  Namen  des  Car- 
tesischen  Blattes*  folium  Cartesii,  erhalten  und  vermag  dadurch 
Interesse  zu  erwecken,  dass  es  vermuthlich  eine  der  ersten,  wenn 
nicht  die  erste  Schleifenlinie  ist,  mit  welcher  man  sich  beschäftigt  hat. 

Am  12.  September  1638  finden  wir  Descartes  im  Besitze  einer 
>neuen  Curve ^),  der  logarithmischen  Spirale.  Ihre  Gleichung 
schreibt  er  allerdings  nicht  an,  aber  er  weiss,  dass  die  Berührungs- 
linien mit  den  von  dem  Anfangspunkte  aus  nach  den  Berührungs- 
punkten gezogenen  Leitstrahlen  gleiche  Winkel  bilden. 

Endlich  erwähnen  wir  noch  eine  Stelle^)  eines  Briefes  vom 
20.  Februar  1639  an  Florimond  de  Beaune.  Dieser  hat,  wie  wir 
uns  erinnern  (S.  820),  Erläuterungen  zu  Descartes'  Geometrie  ge- 
schrieben, welche  er  schon  1639  dem  Verfasser  des  erläuterten  Werkes 
überschickte,  denn  in  dem  Briefe,  von  welchem  wir  gegenwärtig  reden, 
ist  warmer  Dank  für  die  mitgetheilten  Anmerkungen,  an  denen  nichts 
auszusetzen  sei,  ausgesprochen.  De  Beaune's  Bi-ief  muss  aber  noch 
ein  Weiteres  enthalten  haben,  nämlich  die  Aufgabe:  die  Quadratur 
derjenigen  Curve  zu  finden,  bei  welcher  die  Ordinate  sich  jedesmal 
zur  Subtangente  verhalte,  wie  eine  gegebene  Strecke  zum  Unterschiede 
der  Ordinate  und  Abscisse^).  Das  war,  wenn  man  die  von  Kepler 
behandelte  Aufgabe  über  Kegelschnitte  (S.  827)  mitzählt,  die  zweite 
überhaupt  gestellte  inverse  Tangentenaufgabe,  aber  von  ge- 
schichtlich entschieden  höherer  Bedeutung  als  jene.  Sie  war  nicht 
auf  eine  bestimmte  Gruppe  von  Curven  beschränkt,  deren  besondere 
Art  nur  ermittelt  werden  sollte,  und  vor  Allem  gab  ihr  der  Umstand 
Wichtigkeit,  dass  Descartes  sie  zu  würdigen  wusste.  Die  Eigen- 
schaft, schreibt  dieser,  deren  Beweis  Sie  mir  zuschicken,  scheint  mir 
so  schön,  dass  ich  sie  der  Archimedischen  Quadratur  der  Parabel  vor- 
ziehe. Jener  untersuchte  eine  gegebene  Curve,  Sie  bestimmen  die 
Fläche  einer  nicht  gegebenen  Curve.  Ich  glaube  nicht,  dass  es  mög- 
lich ist,  eine  allgemeine  Umkehrung  meiner  Tangentenregel  oder  derer, 
welcher  Herr   von   Fermat  sich    bedient,    und    deren   Anwendung   in 


1)  Oeuvres  de  Descartes  (ed.  Cousin)  VII,  93—94.      «)  Ebenda  VE,  94-97. 
3)  Ebenda  VII,  336—337.  ^)  Ebenda  VIII,  105  sqq.  ^)  In  der  beute  üb- 

lichen Bezeichnung    y  -.  -^  ^  a  -.  (y  —  x)  oder  a  ^^  {y  —  x)y' . 


Descartes.     Fermat.  857 

manchen  Fällen  leichter  als  die  der  meinigen  ist,  zu  finden.  Dann 
geht  Descartes  auf  einige  Eigenschaften  der  De  Beaune'schen  Curven 
ein,  auf  ihre  Asymptote  u.  s.  w.  Da  man  aber  den  Brief,  welcher 
die  Aufgabe  und,  dem  Wortlaute  der  Antwort  nach,  auch  zum  min- 
desten einen  Theil  der  Auflösung  enthielt,  nicht  besitzt,  so  ist  nicht 
zu  unterscheiden,  wie  viel  Descartes  dem  hinzufügte,  was  De  Beaune 
schon  gefunden  hatte. 

Was  wir  hier  den  nicht  sofort  gedruckten  Arbeiten  Descartes' 
zu  entnehmen  hatten,  war  keineswegs  unwichtig  und  gereichte  dem 
Erfinder  zur  hohen  Ehre.  Gleichwohl  müssen  wir  unserer  Anerken- 
nung eine  gewisse  Einschränkung  geben.  Descartes  zeigte  sich  als 
reich  an  Kunstgriffen,  deren  jeder  einzelne  für  seine  Genialität  Zeug- 
uiss  ablegt.  Methodisch  ist  er,  abgesehen  von  dem  Grundgedanken 
der  analytischen  Geometrie  und  der  Methode  der  unbestimmten  Coef- 
ficienten,  welche  geometrisch  keine  Verwerthung  durch  ihn  fand,  nur 
bei  der  Auflösung  der  Tangentenaufgabe  für  algebraische  Curven  vor- 
gegangen und  an  einen  geistigen  Zusammenhang  zwischen  den  ver- 
schiedenen Aufgaben,  welche  nachgerade  eine  höhere  Mathematik  dar- 
zustellen anfingen,  hat  er  zunächst  wenigstens  nicht  gedacht. 

Dazu  erhob  sich  erst  Peter  von  Fermat.  Wir  haben  (S.  816) 
gesehen,  dass  Fermat  schon  1629  mit  Maximal-  und  Minimal- 
fragen sich  beschäftigte,  und  dass  er  damals  seine  Methode  einem 
Herrn  Despagnet  in  Bordeaux  mitgetheilt  hat.  Wollte  man  aber 
sagen,  wozu  nicht  der  leiseste  Grund  vorliegt,  die  Wahrheit  dieser 
erst  sieben  Jahre  später  in  einem  Briefe  an  Roberval  ausgesproche- 
nen Zeitangabe  sei  dem  Zweifel  unterworfen,  der  Brief  selbst  ist  vom 
22.  September  1636,  mithin  jedenfalls  geschrieben,  bevor  Fermat  von 
dem  Inhalte  der  Descartes'schen  Geometrie  von  1637  Kenntniss  haben 
konnte.  Kaum  war  dieses  Werk  erschienen,  so  schickte  Fermat  gegen 
den  10.  Januar  1638  durch  Vermittelung  von  Mersenne  seine  Methode 
an  Descartes  und  zwar  vermuthlich  in  der  lateinischen  Niederschrift, 
welche  später  in  den  Varia  Opera  von  1679  als  Methodus  ad  dis- 
quirendum  maximum  et  minimum  nebst  den  weiteren  Aufsätzen  über 
Tangenten  und  über  Schwerpunkte,  deren  Ermittelung  Fermat  nur 
als  einen  Sonderfall  der  Bestimmung  grösster  oder  kleinster  Werthe 
betrachtet  wissen  wollte?  veröffentlicht  worden  ist^).  Später  hat  als- 
dann Fermat  eine  französische  Bearbeitung^)  des  Tangentenproblems 
nachgeschickt,  weil   er  entweder   sich  früher  undeutlich   ausgedrückt 


^)  Fermat,  Varia  Opera  pag.  63 — 73  und  Oeuvres  I,  133 — 179  unter  Auf- 
nahme mancher  noch  ungedruckter  Stücke.  ^)  Henry,  Becherches  sur  les 
manuscrits  de  Fermat  pag.  184 — 189    {Bulletino  Boncampagni  XII,  658 — 663). 


858  79.  Kapitel. 

oder  Descartes  die  lateinische  Ausdrucksweise  falsch  verstanden  habe. 
Am  Schlüsse  erklärt  Fermat,  er  sei  seit  acht  bis  zehn  Jahren  im 
Besitze  seiner  Methode,  und  seit  fünf  bis  sechs  Jahren  habe  er  sie 
verschiedenen  Persönlichkeiten  gezeigt.  Demgemäss  wäre  als  Datum 
der  französischen  Niederschrift  etwa  1638  zu  vermuthen,  was  auch 
damit  übereinstimmt,  dass  die  Tangente  an  die  Curve  ,r'  -\-  i/  =  nxy 
gesucht  wird,  mit  welcher  Descartes  im  Sommer  1638  sich  beschäf- 
tigte.    Fermat  hat  seine  Methode   etwa  folgeudermassen  geschildert: 

Man  setze  in  dem  zu  einem  Maximum  oder  Minimum  zu  machen- 
den Ausdrucke  statt  der  Unbekannten  Ä  die  Summe  zweier  Unbe- 
kannten A  -\-  E  und  betrachte  die  beiden  Formen  als  annähernd 
gleich,  wie  Diophant  sage,  adaequentur,  ut  loqiiitur  Diophantus.  Wir 
unterbrechen  hier  für  einen  Augenblick  unseren  Bericht,  um  hervorzu- 
heben, dass  Fermat  mit  jenen  Worten  auf  die  TtaQLöorrjtog  ayayri 
des  Diophant  anspielt,  von  welcher  dieser  in  der  12.  und  14.  Auf- 
gabe seines  V.  Buches  Gebrauch  macht ^).  Damit  gewinnen  wir  die 
zur  Beurtheilung  von  Fermat's  Geistesrichtung  ungemein  lehrreiche 
Erkeuntniss,  dass  ihm  auch  die  Infinitesimalbetrachtungen  ein  Aus- 
fluss  zahlentheoretischer  Begriffsbildung  waren.  Ist  die  annähernde 
Gleichsetzung  vollzogen,  so  streicht  man  auf  beiden  Seiten,  was  zu 
streichen  ist  und  behält  dadurch  lauter  mit  E  behaftete  Glieder. 
Theilt  man  durch  E  und  streicht  alsdann  wiederholt,  elidantur,  die 
E  noch  enthaltenden  Glieder,  so  bleibt  endlich  die  Gleichung  übrig, 
welche  den  Werth  von  A  liefert,  der  das  Maximum  oder  Minimum 
hervorbringt. 

In  Zeichen  geschrieben,  welche  Fermat  und  seine  Zeit  nicht 
kannten,  heisst  die  Vorschrift,  man  solle  A  aus 

^F{A  +  E)-  F{A^  _ 

L  '      E  J(£=o)~^ 

suchen  oder  aus 

dA    ~^- 

Das  erste  Beispiel  Fermat's  verlangt  B  in  zwei  Theile  zu  zer- 
legen, welche  das  grösste  Product  geben,  die  erste  Annahme  wählt 
die  Theile  A  und  B  —  A,  die  zweite  A -\- E  und  B  —  A  —  E.    Man 

muss  also  A{B  —  Ä)  =  {A  -^  E){B  —  A  —  E)  setzen  oder 

0  =  E{B  —  2A  —  E). 
Nach  Division  durch  E  entsteht  B  =  2A  -{-  E.    Nun  didatur  E,  so 
bleibt  2A  =  B,  A  =  ^B. 


^)  Diophant  (deutsch  von  Wertheim),  S.  214. 


Descartes.     Fermat.  <S59 

Eine  zweite  Aufgabe^)  verlangt  Ä^(B — Ä)  zu  einem  Maximum 

zu  machen.     Die   aufeinander   folgenden  Schritte  der  Auflösung  sind: 

Ä\B  —  A)  =  (Ä  -\-  E)\B  —  Ä  —  E) ; 

E(2ÄB  —  ^Ä'  +  BE-^AE~ir')  =  0; 

2  AB  —  ?,A^  +  EiB  —'6A  —  E)  =  0; 

2AB  —  ^A^  =  0;      .4  =  |-jS. 

Als  drittes  Beispiel^)  entnimmt  Fermat  aus  Pappus  die  Aufgabe^), 
(Figur  161)  eine  Strecke  OB,  auf  welcher  zwei  Punkte  M,  J  gegeben 

sind,  in  N  so  zu  theilen,  dass  -^n^^ — ^^^  ein     .  .       . 


31N  ■  NJ 


0  M    N     J        B 

Minimum  werde.     Fermat    setzt    OM=B,  j,.    ^^^ 

MB  =  Z,  MJ^  Cr,  31 N  =  A.     Zum  Mi- 
nimum   soll   also    ^ .  ,J  — TT — -   werden.     Hier   sind    die    einzelnen 

A{G  —  A) 

Schritte : 

{B  -{-  A)iZ  -  A)  ^  (B  +  A-{-  E)(Z  -  A-  E) 
A{G  —  A)  (J.  +  E)  {G-  A-  E)      ' 

{B+A){Z—A){A+E){G—A—E)={B+A+E){Z—A-E)A{G—A) 
E[BZ{G—E)-\-{BE-{-EG—EZ—2BZ)A-\-(G  +  B—Z)A']  =  0 
BZ{G  —  E)-i-  {BE  +  EG  —  EZ-  2BZ)A  +  (ö  +  B—Z)A'  =  0 

(Z—B—  G)  A^  +  2BZA  =  BGZ, 
woraus  endlich  der  Werth  von  A  zu  finden   sei.     Derselbe  werde   in 
Uebereinstimmung  mit  der  Behauptung  von   Pappus   der  Proportion 
genügen:    031  •  31 B  :  OJ ■  JB  =  31 N'-  :  NJ-.     In  der  That  schreibt 
sich  diese  Proportion  mittels  der  eingeführten  Abkürzungen 

BZ:(B-^G)-  {Z—  G)  =  A':(G  —  Af, 
und  aus  dieser  folgt  Fermat's  Gleichung. 

Auf  eine  Begründung  des  Verfahrens  darf  man  freilich  sich  nicht 
Kechnung  machen,  und  noch  zwei  Schwierigkeiten  entgingen  Fermat's 
Beachtung,  wie  es  scheinen  möchte.  Er  unterschied  nicht  zwischen 
grössten  und  kleinsten  Werthen.  Er  wusste  nicht,  dass  der  erste 
Differentialquotient  den  Werth  Null  annehmen  kann,  ohne  dass  ein 
Maximum  oder  Minimum  stattfände. 

Einige  dieser  Maximalaufgaben  Fermat's  und  zugleich  einige  seiner 
Tangentenbestimmungen  sind  durch  Herigone  in  dem  Siipple- 
mentum  Cursus  mathematlci  in  beiden  Auflagen,  der  von  1642  und 
der  von  1644,  im  Drucke  veröffentlicht  worden^).     Wir  wollen  Fer- 

^)  Varia  Opera  pag.  66.  Oeuvres  I,  140.  ^)  Varia  Opera  pag.  67.  Oeuvres 
I,  14-2.  ^)  Pappus  (ed.  Hultsch),  pag.  756—758.     Liber  VII  propositio  61. 

*)  Fermat,    Oeuvres  I,  171  Note  1.     Auch   Montucla  II,  117    hat    auf  diesen 
Abdruck  aufmerksam  gemacht. 


860 


79.  Kapitel. 


mat's  Verfahren  bei  Lösung  der  Tangentenaufgabe  wieder  in  die  Sprache 
späterer  Mathematiker  kleiden. 

Sei  F{x,  y)  ="  0  die  Gleichung  einer  Curve,  ihre  propietas  spe- 
cifica,  wie  Fermat  sich  ausdrückt.  Sei  31  der  Berührungspunkt  mit 
den  Coordinaten  x  \  y  und  P  der  Fusspunkt  seiner  Ordinate.  Sei  end- 
lich MT  die  Berührungslinie,  PT  mithin  die  Subtangente  A,  auf 
deren  Auffindung  es  ankommt.  Ein  M  benachbarter  Curvenpunkt 
M'  mit  den  Coordinaten  x  \  y  besitze  den  Fusspunkt  P'  der  Ordinate, 
und  P'  stehe  von  P  nur  um  das  Stückchen  PJ  ab.  Weil  x  \  y  und 
X  I  y  Curvenpunkte  sind,  muss  F{x,  y)  =  0  und  F{x',  y)  =  0  sein. 
Ausserdem  kann  aber  M'  auch  als  Punkt  der  MT  aufgefasst  werden, 
so  dass  AMPTc\)  AII'P'T,  und  aus  dieser  Aehnlichkeit  folgen 
Beziehungen  zwischen  x',  y,  E,  x,  y,  A,  welche,  wenn  mau 
•^(•^7  y)  ^=  ^(^'7  y)  ^^  ^  ™^^  berücksichtigt ,  eine  neue  Gleichung 
^{x,  y,  E,  A)=0  entstehen  lassen,  bei  welcher  E  als  Factor  her- 
vortritt. Durch  ihn  dividirt  man  die  Gleichung,  lässt  sodann  die 
Glieder  weg,  welche  nach  vollzogener  Division  noch  E  enthalten,  und 
gewinnt  so  endlich  A  =  fix,  y). 

Im  einzelnen  Falle  nimmt  das  Verfahren,  ohne  dass  der  Grund- 
gedanke sich  änderte,  mitunter  einen  etwas  verschiedenen  Gang,  wie 
wir  an  dem  Beispiele  der  C  i  s  s  0  i  d  e  ^) 
kennen  lernen  wollen  (Figur  162).  Damit 
an  den  Punkt  H  der  Cissoide  die  Be- 
rührungslinie HF  gezogen  werden  könne, 
soll  DF^A  berechnet  werden.  Als  be- 
j'^  kannt  wird  vorausgesetzt  AB  =  Z,BG^N, 
DU  =  R,  und  angenommen  ist  DE  =  E. 
Ex  proprietate  specifica  cissoidis  weiss  man 
1)  MD  :DG  =  DG:  DH  und  ähnlicher- 
weise muss  2)  NE:EG  =  EG:EO  sein. 
AVeil  aber  0  auch  als  Punkt  der  HF  zu 
betrachten  ist,  muss  weiter  stattfinden 
'S)  EO  :  EF  =  DH:  DE.  Folgert  man  aus  diesen  Proportionen  unter 
nachmaliger  Einführung  der  angegebenen  Abkürzungen  Gleichungen, 
denen  wir  die  gleichen  Ordnungsziffern  geben,  wie  die  Proportionen, 
aus  welchen  sie  abgeleitet  sind,  sie  führen,  so  ist  1)  DMDH^^DG"-^ 
MD'^DH^^  =  DG'-  ADDGDH'  =  DG^-  AD  ■  DH'^  =  DG^ 
oder  endlich  1')  ZR^=N\  Ferner  ist  3)  ^0  =  ^^/^'  oder  3') 
B{A  -  E) 


EO 


Weiter  hat  man  2) 


*)  Fermat,   Varia  Opera  pag.  69—70.     Oeuvres  I,  159—161, 


Descartes.     iermat. 


861 


NEEO  =  EG^;  NE'EO''  =  EG^',  AEEGEO'- 
AEEO'-  =  EG' 


EG' 


oder  unter  Benutzung  von  3')  auch  (Z  -|-  E)  — ^-^ —  =  (-^  —  -^)^ 
beziehungsweise 

2')  A^R'Z+{A^R^  -~2AR^Z)  E  +  {R'Z—2AR^)  E''  +  R'E' 
=  A^N'  —  SA'N'-E  +  3A-NE'  —  A^E\ 

Wegen  1')  fallen  die  ersten  Glieder  auf  beiden  Seiten  von  2'),  näm- 
lich A^R^Z  =  A^N^,  weg.  Dann  zeigt  sich  der  Factor  E,  durch 
welchen  dividirt  werden  muss,  und  es  entsteht: 

A'R'-  —  2AR'Z  +  {R'^Z  —  2  AR')  E  +  R^E'- 

=  —  ^A^W'  +  '6A^NE  —  A'E\ 

Man  elidirt  wieder  die  mit  E  behafteten  Glieder,  so  bleibt  nur  noch 


A''R-  —  2AR~Z 


3^^V-  oder 


(i2^  +  3i\^^^2  =  2E-Z^     und    A  = 


2R''Z 


Nun  benutzt  man  wieder  1')  ZR^  =  N'^  und  gewinnt  dadurch 
2B^ZZ  2N'Z  2NZ 


A  = 


~  N^  +  SN^Z~  N+3Z 
zu  erfahren,  ob  Fermat,  der  bei  An- 


Man  könnte  begierig  sein, 
Wendung  seiner  Methode  auf  die  Cissoide  Wurzelgrössen  aus  dem 
Wege  gehen  musste,  aber  auch 
ihnen  aus  dem  Wege  zu  gehen 
wusste,  bei  nichtalgebraischen  Cur- 
ven  einen  Ausweg  kannte,  wo  Des- 
cartes (S.  856)  das  Unvermögen 
seine  Methode  anzuwenden  einge- 
stand. Bei  der  Cycloide^)  tritt 
dieser  Vorzug  des  Fermat'schen  Ver- 
fahrens in  ein  helles  Licht  (Figur  163). 
Von  dem  Berührungspunkte  R  der 
Cycloide  geht  die  Berührungslinie 
RB  und  die  zur  Grundlinie  parallel 
gezogene  RD  aus,  beide  bis  zum  Durchschnitte  mit  dem  senkrechten 
Durchmesser  des  rollenden  Kreises  in  der  Lage,  wo  der  obere  End- 
punkt dieses  Durchmessers  zugleich  Höhepunkt  der  Cycloide  ist.  Die 
RD  schneidet  jene  Mittellage  des  erzeugenden  Kreises  in  ilf,  und 
dort  ist  die  Berührungslinie  31 A  an  den  Kreis  gezeichnet.     Ausser- 


Fig.  163. 


1)  Fermat,  Varia  Opera  71—72.     Oeuvres  I,  162—165. 


862  79.  Kapitel. 

dem  ist  von  dem  nahe  bei  D  gelegenen  Punkte  E  aus  die  EN 
parallel  zur  Grundlinie  gezogen.  Proprietas  specifica  der  Cycloide  ist 
RD  =^  arc  C 31 -{- 3ID,  eine  Behauptung,  von  deren  Wahrheit  man 
sich  leicht  überzeugt.  Nach  heutiger  Schreibweise  ist,  wenn  P  die 
Bezeichnung  des  Fusspunktes  der  Ordinate  von  R  giebt  und  HP  =  x, 
CF  =  2r,  &rc  MF=ra  gesetzt  wird,  x=^ra  —  rsina.  Mithin  ist 
RD  =  HF  —  X  ^r  (n  —  a)  +  r  •  sin  a. 

Dabei  ist  aber  r  {7t  —  a)  =  arc  C3I,  r  •  sin  a  ^  31 D,   also   die  Fer- 
mat'sche  Gleichungsform  hergestellt.    Die  Abkürzungen,  deren  Fermat " 
sich  bedient,  sind  DB  =  Ä,  DE=E  (wie  immer),  DA  =  B,  31  A  =  D 
31B  =  R,  RB  =  Z,   arc  C03I=K     Die    erste   Gleichung    heisst 
also  1)  Z=^N-\-R      Ferner  ist. 

NE  =  arc  CO  +  OE  =  arc  C3I  —  arc  71/0  +  OE, 
und  bei  der  Kleinheit  von  BE  fällt  arc  MO  mit  dem  Tangentenstück 
31 V  und  zugleich   OE  mit   VE  zusammen.     Es  ist  also 

NE  =  N—  3IV+  VE. 
Da  aus  der  Aehnlichkeit  von  Dreiecken  RB  :  NE  =  BB :  EB  folgt, 
so  ist  unter  Einführung  der  schon  gewonnenen  Werthe 

2)   (N-j-R):  (N—  3IV-J-  VE)  =  A  :  (A  —  E). 

Aber  MV  entspricht  der  Propoi-tion  31 V:  31 A  =  BE:  BA  und  ist 

T)     W 
folglich  3IV  =  ~j^-     Die  andere  noch  auszurechnende  Strecke   VE 

entspricht   der   Proportion   VE :  MB  =  AE :  BA  und    ist    demnach 

TJ  /TD    Jf^ 

VE  =  — ^— ^ .     So  geht  die  Proportion  2)  über  in 

(N^R):{N-^^  ^S^^^  =A:{A-E) 

und  diese  zur  Gleichung  umgebildet  liefert  nach  Wegschaffiing  des 
Nenners  B  und  Wegstreichung  gleicher  Grössen  auf  beiden  Seiten 
die   einfachere  Form  E{RA  +  BA  —  BN  —  BR)  =  0.     Man   lässt 

den   Factor  E  weg  und  erhält  A  =     „   ,    ^  '  =  -j^—. — ^  unter  Mit- 

°  Ii  -j-  JJ  K  -\-  JJ 

benutzung  von  1).  Nun  ist  beim  Kreise  nicht  schwer  zu  beweisen, 
dass  die  Verbindungsgerade  MC  den  Winkel  AMB  halbirt,  dass 
also  A3I :B3I=AC:  (JB.  Daraus  folgt  A3I :  AG  =  BM :  CB, 
ferner 

(AM-{-  MB) :  {AC  +  CB)  =  B3I:  CB 

oder  (AM  +  MB)  :AB  =  BM:  CB  und  XiT^i^  ^  "^'  ^^  ^• 

D^B  =  W'  '^^^^"^  ^  =  ^W^  °^^^^'  ^^  •  ^^  =  BB:BB 
und  das  findet  statt,  wenn  RB  ||  MC.    Ersichtlich  steht  auf  der  31 C 


Descartes.     Fermat.  863 

die  MF  senkrecht.  Dieser  letzteren  wird  also  die  Normale  an  die 
Cycloide  in  II  parallel  laufen  müssen,  und  das  ist  die  Construction 
von  Descartes,  von  welcher  folglich  die  Fermat's  nur  als  eine  Um- 
formung zu  betrachten  ist.  Nach  der  Cycloide  spricht  Fermat  noch 
von  der  Conchoide^)  und  bemerkt,  sie  habe  einen  Inflexionspunkt 
auf  jeder  Seite.  Solche  punda  inflexionum  besitzen,  behauptet  er,  die 
Eigenschaft,  dass  in  ihnen  der  von  der  Berührungslinie  mit  der  Ab- 
scissenaxe  gebildete  Winkel  ein  Minimum  sei,  wie  man  leicht  beweisen 
könne,  ut  facile  est  dcmonstrarc.  Wegen  Rückbeziehungen  im  89.  Ka- 
pitel ist  es  zweckmässig  zu  bemerken,  dass  Fermat's  Abhandlung  erst 
1679  im  Druck  erschien. 

In  der  französischen  Darstellung,  welche  wir  vermuthungsweise 
in  das  Jahr  1638  verwiesen  haben,  ging  Fermat  in  der  Anwendung 
der  gleichen  Buchstaben  für  gleiche  geometrische 
Dinge  noch  einen  Schritt  weiter.  Er  setzte-) 
nicht  bloss  (Figur  164)  ein  für  alle  Mal  die  Sub- 
tangente  BD  =  A.,  die  Entfernung  der  Ordinate 
des  Berührungspunktes  von  der  benachbarten 
Ordinate  BF  =  E,  sondern  auch  die  Ordinate 
des  Berührungspunktes  BÄ  ^=  _B  und  seine  Ab- 
scisse  CB  =  B.  Der  Fusspunkt  F  der  benach- 
barten Ordinate  hat  demnach  die  Abscisse  D  —  E 

und  sie  selbst  bis  zum  Durchschnittspunkte  mit  der  Berührungslinie 
gehorcht  der  Proportion  FE :  (Ä  —  E)  =^  B :  A,  ist  also  regelmässig 

FE  = ^ und    wird   immer   so,   wie  hier  geschehen,  genannt 

werden^).  Ist  dieses  geschehen,  fährt  Fermat  fort,  so  ist  gewiss, 
dass  der  Punkt  E  der  EF,  weil  er  auf  der  Tangente  liegt,  ausser- 
halb der  Curve  sich  befinden  wird,  und  daher  wird  die  FE  grösser 
oder  kleiner  als  die  bis  zur  Curve  reichende,  von  F  ausgehende 
Ordinate^).  Sie  ist  grösser,  wenn  die  Curve  nach  aussen  gewölbt  ist, 
convexe  en  dehors,  kleiner,  wenn  die  Curve  nach  innen  gewölbt  ist, 
convexe  en  dedans,  denn  die  Regel  genügt  für  alle  Curven  und  be- 
stimmt mit  Hilfe  der  Gleichung  der  Curve,  par  la  jyropriete  de  la 
courhe,  nach  welcher  Seite  hin  sie  gewölbt  ist.  Wenn  nun  auch  die 
FE  der  von  F  bis  zur  Curve  gezogenen  Ordinate  ungleich  ist,  so 
betrachte  ich  sie  nichtsdestoweniger  als  ihr  gleich  und  vergleiche  sie 


*)  Fermat,   Varia  Opera  73.  Oeuvres  I,  166.  ^)  Henry  1.  c.  pag.  184 

(XII,  658).         ^)  Et  de  quehpie  naturc  qiie  soit  la  courhe  nous  donneront  toujours 
les  memes  noms  aux  lignes  CF  et  FE  que  nous  venons  de  leur  donner. 
*)   Fermat  sagt  überall  Vappliquce,    aber  wir   ziehen  im  Texte  den  jetzt  ge- 
bräuchlichen Namen  vor. 


864  79.  Kapitel. 

folglich  durch  annähernde  Übereinstimmung,  par  a(^aequation,  mit 
der  aus  der  Curvengleiehung  ermittelten  FJ.  Nach  der  Ableitung 
des  allgemeinen  Werthes  von  FE  und  der  Erläuterung  seiner  eigent- 
lichen Methode  zeigt  Fermat  deren  Anwendung  ^)  auf  die  Descartes'sche 
Curve  B'-\-  D^^  NBB.  Statt  CF^  +  FJ^  =  N ■  CF  ■  FJ  wird 
näherungsweise    richtig    CI'^ -\- FE^  ^^  N ■  CF  •  FE   gesetzt,    d.   h. 

Unter  Wegschaffung  der  Brüche  wird  dann  ausmultiplicirt  und  links 
A^B^  _j_  j}X)i  gegen  rechts  NÄ^BB  weggelassen.  Weiter  wird  durch 
E  dividirt,  und  dann  erscheint 

—  dÄ'B'-  —  dÄ'B'  +  E(ßA'B  +  ^AB'  —  A^E  —  B^E) 
•     =  —  NA^BB  —  2\^A'B  +  NA-BE. 

Die  Regel  vei-langt,  Alles  was  noch  mit  E  behaftet  blieb,  wegzulassen. 
So  erhält  man  —  3A'D'  —  dA'B'  =  —  NA'BB  —  NA'B,  daraus 

SAB'  +  dB'  =  NBB  +  NAB   und   endlich  A  =  ^f^^Z^^'- 

Als  grossen  Vorzug  seiner  Methode  gegenüber  der  von  Descartes 
rühmt  Fermat"),  dass  er  die  ursprüngliche  Curvengleiehung  sofort 
benutze,  ohne  sie,  was  grosse  Schwierigkeiten  haben  könne,  und  ver- 
wickelte Wurzelausziehungen  erheische,  nach  der  Ordinate  aufzulösen. 
Dass  man  auch  iuverse  Tangentenaufgaben  stellen  könne,  bemerkt 
Fermat  gleichfalls,  spricht  sich  aber  nicht  über  die  Möglichkeit  der 
Lösung  solcher  Aufgaben  aus^). 

In  der  lateinischen  Bearbeitung,  welche, 
wie  wir  wissen,  älter  ist  und  nach  einer  und 
derselben  Methode  Maximalaufgaben  und 
Tangentenaufgaben  umfasst,  ist  noch  eine 
dritte  Quittung  von  Aufgaben  behandelt,  die 
\-^  der  Schwerpunktsbestimmung  eines 
Umdrehungsparaboloides*)  (Figur  165). 
Das  Paraboloid  sei  durch  Umdrehung  der 
Parabel  CA  V  um  ihre  Axe  AJ  erzeugt,  ein  anderes  wenig  kleineres 
durch  Umdrehung  der  Parabel  BAB  um  AN,  wobei  NJ=E  ist. 
Der  Schwerpunkt  des  ersteren  Paraboloides  sei  in  0,  der  des  zweiten 
in  E,  und  AO  =  A.     Ausserdem  sei  AJ=B.     Fermat   dehnt  nun 


*)  Henry  1.  c.  pag.  185—186  (XII,  659—660).  ^)  Ebenda  pag.  188—189 

(XII,  662—663).  ^)  Ebenda  pag.  189  (XII,  663) :  On  pourrait  de  suite  chercJier 

la   converse   de   cette  proposüimi,   et   la  proprieU  de   la   tangente  etant  donnee,  ^ 
chercJier  Ja  coiirhe,  ä  qui  cette  propriete  doit  convenir.  *)  Varia  Opera  pag. 

65—66.     Oeuvres  I,  136—139. 


Descartes.     Fermat.  865 

eineu  von  Archimed  für  die  Parabel  bewiesenen  Satz^)  ohne  Wei- 
teres auf  das  Paraboloid  aus,  den  Satz,  dass  die  Schwerpunkte 
ähnlicher  Paraboloide  deren  Axen  in  gleichem  Verhältnisse  theilen, 
dass    also    hier    AO  :  AE  =  AJ :  AN   oder    in    den    Abkürzungen 

A:{A—  OE)  =  B:{B—  E),  woraus  OE  =  ~j^  ■  Die  Körper- 
räume der  beiden  Paraboloide  stehen  im  Verhältnisse  der  Quadrate 
ihrer  Axen  oder 

vol.  CA  F:  vol.  BAR  =  AJ- :  AN'  =  B' :  (B  —  Ef, 
woraus  weiter 
(vol.  CA  V—  vol.  BAR)  :  vol.  BAR  =  {B-  —  {B  —  ^-)  :  (B  —  Ef. 

Der  Unterschied  vol.  CAV —  vol.  BAR  stellt  aber  den  Umdrehungs- 
körper von  CBR  V  dar,  und  dessen  Schwerpunkt  mag  in  M  liegen. 
Vereinigen  sich  die  Umdrehungskörper  von  CBRV  und  von  BAR, 
so  liegt  deren  gemeinsamer  Schwerpunkt  0  von  den  einzelnen  Schwer- 
punkten M  und  E  derart  entfernt,  dass  die  Entfernungen  den  Körper- 
inhalten selbst  umgekehrt  proportional  sind,  d.  h. 

OM :  OE  =  vol.  BAR  :  vol.  CB  VR  =  {B  —  Ef  :  {2BE  —  E') 

und 

Ojr_     jB-E)^  {B-Ef.A-E 

^"^  ~  2BE  ^  E^  i2BE  -  E'-}  ■  B' 

indem  man  den  vorher  gefundenen  Werth  von  OE  einführt.  Je  kleiner 
E  angenommen  wird,  um  so  näher  muss  31  an  J  heranrücken,  während 
allerdings  genau  gesprochen  0M<.  OJ  bleibt;  OJ^  selbst  ist  =B  —  A. 

In  angenähei-ter  Gleichung  ist  aber  B  —  A=  (»bE  —  E  ^)  B  '  ^^^^ 
nun  verfährt  man  nach  der  oft  benutzten  Regel.  Wegschaffung  des 
Bruches,  Umstellung  einiger  Glieder,  Division  durch  E  liefert 

2^3  —  B-E  -f  'dABE  =  ^AB'  +  AE\ 
Endlich    lässt    man    fort,    was    noch   E   enthält    und    hat    nur    noch 
2B^  =  ?>AB\  mithin  A  =  ^B. 

Wir  haben  uns  soweit  mit  Fermat's  Untersuchungen,  welche  nach 
heutigem  Sprachgebrauche  Anwendungen  der  Differentialrechnung  zu 
nennen  sind,  beschäftigt.  Wir  müssen  seine  Spuren  auch  in  der 
Integralrechnung  verfolgen.  Er  hat  hier  der  Aufgabe  der  Quadratur 
und  der  Rectification  von  Curven  sich  zugewandt. 

Em  vor  1644  durch  Vermittelung  von  Mersenne  an  Cavalieri 
geschicktes   Schriftstück-),    welches   als  Beantwortung   Cavalieri- 


'y  Be  planonun  aequilibriis  Liber  II,  propos.  T  in  Archimed  (ed.  Heiberg; 
II,  '210.  -)  Fermat,  Oeuvres  I,  195—198. 

Caxtor,  Geschichte  der  Mathem.    II.    2.  Aufl.  55 


866 


79.  Kapitel. 


scher  Fragen  bezeichnet  ist  und  demgemäss  wohl  in  einem  ge- 
wissen Zusammenhange  mit  der  IV.  Abhandhmg  von  Cavalieri's  Exer- 
citationes  (S.  845)  gestanden  haben  muss,  wenn  Cavalieri  dort  den 
Namen  Fermat's  auch  nicht  genannt  hat,  giebt  ohne  Beweis  Quadra- 
turen von  Parabehi  verschiedener  Ordnung  und  Kubaturen  von  Um- 
drehungskörpern derselben',  sowie  Schwerpunktsbestimmungen  eben 
dieser  Körper.  Theoretisch  ungleich  bedeutsamer  ist  Fermat's  Aufsatz 
Troportionis  Geometricae  in  quadrantis  inßnitis  imrcibolis  et  hyperholis 
usiis'^)  für  die  Lehre  von  den  Quadraturen. 

Fermat  gründet  sie  auf  einen  sehr  einfachen  Satz  von  unend- 
lichen geometrischen  Progressionen  mit  fallenden  Gliedern.  Eine 
solche  besitze  die  Summe  S,  das  Anfangsglied  c  und  das  zweite  Glied 
cq  mit  g  <  1,  dann  ist  (c  —  cq)  :  cq  =  c  '.  (ß  —  c)  oder  in  Worten: 
Die  Differenz  der  beiden  ersten  Glieder,  aus  welchen  man  das  Gesetz 
der  Progression  ersieht,  differentia  terminorum  progressionem  con- 
stituentium,  verhält  sieh  zum  zweiten  Gliede  wie  das  erste  zur  Summe 

aller  nachfolgenden.     Die  Wahrheit  des  Satzes  folgt  aus  S  =    • 

Sei  nun  eine  auf  zwei  zu  einander  senkrechte  Asymptoten  bezogene 
Hyperbel  irgend  welcher  Ordnung  gegeben,  worunter  Fermat 
erklärt  verstehen  zu  wollen,  dass  irgend  welche  Potenzen  der  Abscissen 
sich  umgekehrt  wie  irgend  welche  Potenzen  der  Ordinaten  verhalten, 


lithin    Curven    mit    Gleichungen    wie    y''  = 


Im    besonderen 


Falle  soll  y  =  '-^  sein.    Die  Aufgabe  besteht  darin,  die  zwischen  der 

Curve  und  ihrer  Asymptote  gelegene  Fläche  zu  messen.  Fermat  zer- 
legt dazu  diese  Fläche  in  gemischtlinige  Viereckchen,  welche  klein 
genug  sind,   um   als   Kechteckchen   betrachtet   zu   werden,    als    deren 


Fig.  166. 

Höhe  jeweils  die  links  als  Grenze  dienende  Ordinate  gilt,  und  welche 
überdies  einzeln  genommen  eine  fallende  geometrische  Reihe  dar- 
stellen, damit  der  obige  Hilfssatz  Anwendung  finden  könne.     Solches 


')  Varia  Opera  ■pag.  44- 


Oeuvres  I,  255 — 285. 


Descartes.     Fermat.  867 

geschieht,  indem  man  die  Grundlinien  der  ihrer  Höhe  nach  rasch  ab- 
nehmenden Rechteckchen  zAinehmeu  lässt.  Die  Zunahme  erfolgt  nach 
Maassgabe  eines  zweiten  hier  einzuschaltenden  Hilfssatzes:  Heisst  eine 
steigende  geometrische  Progression  h,  h  (1  -{-  a),  b  {1  -\-  a)-  n.  s.  w., 
so  ist  die  Differenz  irgend  zweier  unmittelbar  auf  einander  folgender 
Glieder  das  «-fache  des  kleineren  der  beiden  Glieder  oder 

h  (1  +  «)•■+'  —  &  (1  +  «)'■  =  «•/>(!  +  «)'■. 
Nun  seien  (Figur  166)  die  von  A  aus  gemessenen  Abscissen  die  Glieder 
einer  solchen  Reihe  AG  =  x,  AH  =  x{\  -\-  a),  AO  =  x  (1  -\-  af, 
AM  =  X  (1  -f-  ß'''^  AR  =  X  {1  -\-  aY  u.  s.  w.  Unter  Anwendung  des 
eben  ausgesprochenen  Satzes  und  unter  Auswerthung  der  Ordinaten 
EG,  JH,  NO,  FM,  SR  u.  s.  w.  findet  man: 

GH  =  ax,  EG  =  ^^_,[^]         GHEG='^, 

HO  =ax(l+a),        JH^^^^^-^,,       HO  ■  JH=-y^^^, 
OM  =  ax  (1  +  «)-,        NO  =  -YTTl-^,  ■ 


^(1  +  a)^ 


MR=ax{\  +  «n       ^^^=  ^(^+^0,       MR.PM=  ^f]^., 


u.  s.  w. 


Jedes  folgende  Rechteckchen  ist  mithin  das  -— , —  fache  des  vorher- 
gehenden  und  der  erste  am  Anfang  ausgesprochenn  Hilfssatz  ist  an- 
wendbar; man  hat  nur  c  =  — -  und  »  =  — -j —  zu   setzen,   dann   be- 

deutet  S  die  bei  E  G  beginnende  Fläche.  Die  Proportion  lautet 
alsdann 

~x  X  (1  -\-  a))  '  X  {1  -\-  a)  X    '  \  X  ) 

und  aus  ihr  folgt  S  =  —  (1  +  «).  Die  beanspruchte  Möglichkeit,  die 
gemischtlinio-en  Viereckchen  als  Rechtecke  betrachten  zu  dürfen, 
nöthigt  aber  dazu,  nicht  etwa  «  =  y  ^^^  wählen,  wie  es  um  der  deut- 
licheren Zeichnung  willen  in  unserer  Figur  geschah,  sondern  k  so 
klein  zu  nehmen  als  man  immer  kann,  und  dann  wird  5  =  — ,  indem 


aa 


verschwindet,  evanescit  et  abit  in  niliilum. 

Neben  Hyperbeln  irgend  welcher  Ordnung  werden  auch  be- 
liebige Parabeln  der  Quadratur  unterworfen.  Das  Musterbeispiel 
ist  die   semicubische  ParabeP)  .(Figur  167),   deren  Definition   in  der 

^)   Varia  Opera  pag.  48.     Oeuvres  I,  263. 


868 


79.  Kapitel. 


Proportion  ÄB^ :  JE^'  =  BC-  :  -EC^  enthalten  ist.  Die  Cnrve  er- 
scheint bei  Fermat  gegen  die  Axe  GB  concav,  während  gewöhnlich 
C  zwar  auch  Anfangspunkt  ist,  aber  CB  als  Axe  der  Curve  gilt, 
gegen  welche  dieselbe  alsdann  convex  erscheint.  Fermat  verfährt 
wie  folgt,  wenn  wir  seinen  Schlussfolgerungen 
genau  nachgehen  und  nur  die  Bezeichnung  etwas 
übersichtlicher  machen.  Er  nimmt  auf  BC 
verschiedene  Punkte,  deren  Entfernungen  von 
C  in  der  Weise  abnehmen,  dass  sie  eine  fallende 
geometrische  Reihe  bilden,  und  die  so  nahe  bei 
einander  liegen,  dass  gemischtlinige  Vierecke 
wie  ABEJ,  wie  EJNO  noch  als  Rechtecke 
von  den  Seiten  AB  und  BE,  beziehungsweise 
JE  und  EN  betrachtet  werden  dürfen.  Indem 
er  also  etwa  BC=a,  VC  =  aq,  RC  =  aq^, 
.  .  .  NC  =  aq^  ansetzt,  nimmt  er  zwar  'Z  <  1, 
^'^  '*^'-  aber  nur  sehr  wenig  von  1  verschieden.     Unter 

Benutzung  dieser  Werthe  erkennt  man  sofort  die  Richtigkeit  der 
Proportion  BC- :  EC  =  BC^ :  RC^  (d.  i.  a-  :  a\^  =  a' :  a'q'').  Es 
war  aber  BC-  :  EC-  =  ÄB^ :  JE^  mithin  ist 

AB':JE'  =  BC':RC'  und  1)  AB  :  JE  =  BC :  RC. 

Ferner  finden  noch  zwei  Proportionen  statt 

2)    BE  :  EN=BC  :  EC   (d.  i.   («  —  aq^)  :  (aq^  —  af/)  =  a  :  aq') 

und 

o)  BC  :  EC  =  RC  :  TC  (d.  i.  a  :  aq""  =  aq^ :  aq'). 

Aber  auch  zwischen  den  Rechteckchen  ABEJ  und  JENO  findet 
eine  Proportion  statt,  welche  unter  allmähliger  Anwendung  von  1), 
2),  3)  folgende  Gestalt  annimmt: 

ABEJ:  JENO  =  ABBE:JE-  EN=  BC  :  EC  ■  RC 
=  RC  ■  BC  :  TC  ■  RC  =  BC  :  TC  =  1  :  q% 

und  einem  eben  solchen  Verhältnisse  werden  je  zwei  aufeinander- 
folgende Rechteckchen  unterworfen  sein,  die  somit  eine  fallende  geo- 
metrische Reihe  bilden,  auf  welche  der  erste  Hilfssatz  Anwendung 
findet,  und  dieser  lautet  hier 

ABEJ:  JECG  =  (BC  —  TC)  :TC=BT:  TC. 
Daraus  folgt  weiter 

ABEJ:ABCJ=BT:BC  =  ABBT:ABBC  =  ABBT:ABCD, 
also  auch 
ABCD:ABCJ=ABBT:ABEJ=ABBT:AB-BE  =  BT:BE. 


Descartes.     Fermat.  369 

In  BT  sind  5  einander  nahezu  gleiche  Streckenelemente,  in  BE  deren 
3,  also  verhält  sich  das  Rechteck  ABCI)  zur  Fläche  ABCJ  wie 
5  :  3,  und  dabei  ist  5  =  3  -[-  2  die  Summe  der  Exponenten.  Als  all- 
gemeine RegeP)  findet  man  somit,  dass  wenn  AB"':JE'"  =  BC":EC", 
daraus  ABCD  :  ABCJ  =  {m  -\-  n)  :  m   folgt.     Wir    würden    heute 


sagen:  aus  jj'"  =  Ji'"—" x"   folge  jydx 


xy) 


Es  lässt  sich  nicht  verkennen,  dass  die  Art,  in  welcher  Fermat 
mit  nahezu  gleichen  Elementen  umspringt,  eine  sehr  kühne  ist.  Ist 
die  Gleichung  der  Curve  verwickelter  Natur,  d.  h.  steht  nicht  x"  allein 
mit  Constanten  Coefficienten  auf  der  ersten  Seite,  sondern 

/.•/«-«^ä;"^  -f-  AV"-"^-a;"^-  +  •  •  •, 
so  verwandelt  Fermat  die  einzelnen  Theile  dieser  Summe  in  Z"'~^  Vj, 
l""  —  ^  i\,,  •  ■  •,  so  dass  ;//'"  =  V"-—'^  (i\  -\-  v.^  -\-  ■  ■  ■)  =  l'"—'^  V  wird,  und 
nun  sind  verschiedene  parabolische  Räume  einfacher  Natur  zu  quadriren. 

Nächst  der  Quadratur  von  Curven,  für  welche  noch  andere  Um- 
formungen als  die  soeben  angedeuteten  in  Kraft  treten,  hat  Fermat 
auch  mit  Rectificationen  sich  beschäftigt.  Die  Abhandlung  De 
linearum  curvarum  cum  lineis  rectis  comparatioiie^)  erschien  zu  Per- 
mat's  Lebzeiten  1660  im  Drucke  als  Anhang  zu  einem  Werke  des 
Antoine  de  Lalouvere  von  Toulouse,  dessen  wir  im  81.  Kapitel 
kurz  zu  gedenken  haben.  Schon  am  25.  Juni  1660  schickte  Carcavy 
das  neu  gedruckte  Schriftchen  an  Huygens^),  woraus  man  entnehmen 
mag,  wie  rasch  es  bekannt  wurde. 

Fermat's  Grundgedanke  ist  folgender  (Figur  168).  Es  sei  AH  MG 
ein  Stück  irgend  einer  gegen  AF  concaven  Curve,  eine  Bestimmung^ 
welche    Fermat    in    die    Worte    kleidet,    die 

Tangente   solle   die  AF  und   auch    die  ^FG  £^.^^=^    Ij 

ausserhalb  der  Curve  schneiden,  in  qua  tan- 
qentes   extra  curvam   cum    base   AF  et   axe 

FG  concurrant.     Eine    solche   Tangente    sei        '  JV?  \  I        I 

JHK   und  von   J,   H  und   K   aus    werden 
senkrecht  zu    AF  die    JBB,    HC,   KMB    ^^     C    D        E      F 
gezogen,  ausserdem  von  K  aus  die  Tangente 

KN,   sowie   paraUel   zu   AF  von  J,  H,  K  aus   die  JX,  HV,  KT. 
Fermat  behauptet  nun,  es   sei  HJ <C  arc  HR,  HK ^  arc  H 31.     Das 

^)  Varia  Opera  pag.  49.  Oeuvres  I,  26.5  :  Canon  vero  universalis  incle  nullo 
negotio  elicietur.  Patet  nempe  fore  semper  parallelogrammum  BD  ad  figuram 
AJCB  ut  aggregatum  potestat%im  applicatae  et  diametri  ad  exponentem  potestatis 
applicatae.  ^)  Varia  Opera  pag.  89 — 109.  Oeuvres  I,  211 — 254.  ^)  Oerivres 
de  Huygens  III,  8.5. 


K^^ 

V'—X 

V  irA 

(ff 

/ 

R 

870 


70.  Kapitel. 


erstere  folgt  daraus,  dass  HJ  der  senkrecht  auf  VB  aufstehenden 
HV  näher  liegt  als  die  Sehne  HR.  welche  selbst  kleiner  als^ 
der  Bogen  HB  ist.  Die  zweite  Behauptung  folgt  daraus,  dass 
HK -\- KN>  &.VC  H3IN  2i\?.  denselben  umfassend,  die  eine  Strecke 
KN  <C  arc  31 X  nach  Analogie  der  ersten  Ungleichung,  also  der  Rest 
HK  >  arc  H3I  sein  muss.  Nachdem  diese  Ungleichungen  feststehen, 
wird  (Figur  169)  eine  und  dieselbe  Curve  ÄPH  zweimal  gezeichnet. 

Auf  ihrer  Axe  A  G  werden  be- 
^  liebig  klein  gewählte  gleiche 
'^  Stückchen  abgemessen  AB^^BC 

=  CD  =  DE  =  EF=FGvind 
in  jedem  Theilpunkte  errichtet 
man  eine.  Senkrechte  bis  zum 
Durchschnitte  mit  der  Curve. 
Xun  werden  in  der  ersten  Zeich- 
nung in  ^4,  P,  ...  0  Tangenten 
0,  H  Tangeuten  nach  links  ge- 
mit    der    benachbarten 


A  B  C  It  E  F  G 


A  B  C  D  E  F  G 


nach  rechts,  in  der  zweiten  in  P. 
zogen  bis  zum  jedesmaligen  Durchschnitte 
Ordinate.  Bei  der  gleichbleibenden  Entfernung  je  zweier  Ordinaten 
ist  ersichtlich  BV  =  BY\  TZ=  TZ',  ...0J=  OJ'.  Nur  AQ  in 
der  ersten,  HK  in  der  zweiten  Zeichnung  treten  vereinzelt  auf,  und 
sie  allein  stören  die  volle  Uebeinstimmung  der  in  beiden  Zeichnungen 
zu  bildenden  Tangentensummen.  Gleichwohl  ist  vermöge  der  be- 
wiesenen Ungleichungen: 

AQ^BV^ h  0J>  arc  vlil>  PF' H \-  OJ'  +  HK. 

Bei  der  Nähe  sämmtlicher  Ordinaten  kann  aber  unmöglich  AQ  um 
Beträchtliches  von  HK  sich  unterscheiden.  Um  so  eher  ist  es  daher 
gestattet,  die  eine  oder  die  andere  Tangentensumme  als  Curvenlänge 
zu  benutzen.  Das  ist  die  allgemein  gehaltene  Vorbereitung,  welche 
die  Möglichkeit  einer  Rectification  darzuthun 
beabsichtigt. 

Als  besonderes  Beispiel  wird  (Figur  170) 
wieder   die    semicubische  Parabel   AJM  be- 
nutzt, bei  welcher  also,  da  AX  die  Axe  der 
Curve,    wie  Fermat   sie  zu   zeichnen   pflegte, 
darstellt,  die  Proportion  stattfindet 
MX^ :  JF' =^  AN- :  AF'-    oder   y'  =  cx-, 
wo    y   die    Ordinaten   MN,    JF,  .  .  . ,   x   die 
.  .  der  Reihe  nach  bedeuten  kann.     Fermat  be- 
bei  der  Rectification  keiner  Abkürzungen,  son- 


Abscissen  AX,  AF, 


diente  sich  allerdings 

dern  schrieb  die  Benennungen  der  einzelnen  Strecken  hin  und  ebenso 

eine  Strecke  AD  statt  unseres  c.     In   seiner  Figur  ist  auch  an  31 N 


Descartes.     Format. 


871 


uoch   jenseits    N  ein    Stück    ^^A'  =^  -~  AD  =  ~~  c    angesetzt.     In   J 
wird    die   Tangente    JE    gezogen    und    nach    der    Tangentenmetbode 


die    Subtangeute  EF  gesucht,    welche    als 


sich    erweist,    d.   b. 


2EÄ  ^AF.    Mithin  ist  EF-  =  ~-  x- 

4 


~  ^  ,  während  JF"  =  ir  und 
4c'  -^ 


JE' 


if  -\-  -^  ist,  sowie  JE 


^]/^l  +  ^-   Wird  statt  der  Länge 


JE  der  ganzen  Tangente  bis  zum  Durchschnitte  niit  der  Axe  AN 
nur  das  Stück  JO  bis  zu  dem  Durchschnitte  mit  der  sehr  nahe  bei 
JH  verlaufenden  VG  gesucht,  so  wird  JO  :  JE  =  JQ  :  JF  zu  be- 
nutzen sein.     Daraus  foleft 


J0  = 


JF 


und 


^^=V 

■>/]A 

+  ^  = 
^4c 

JO^' 

^  +  1 

'         HX 

HG^ 

4 

NX 

eine  Gleichung,  welche  ohne  weiteres  als  Proportion  aufgefasst  werden 
kann.     Es  kommt  aber  darauf  an,   über   die  ganze  Curve  hin  solche 

Tangentenstückchen   JO,    beziehungsweise    HG  -y  1  -{-  ~    zu    sum- 

miren  (Figur  171).  Fermat  zeichnet  zu  diesem  Zwecke  neuerdings 
die  semicubische  Parabel,  theilt  die  Schluss- 
ordinate EJ  in  beliebig  viele  gleiche  Theile 
EF  =  FG=  ■■■  =  HJ  und  errichtet  in 
jedem  Theilpunkte  eine  Senkrechte  bis  zu 
dem  jenseits  der  Curve  gelegenen  Durch- 
schnittspunkte mit  der  Tangente,  welche  an 
den  der  vorhergehenden  Senkrechten  angehö- 
renden Curvenpunkt  gezeichnet  ist.  Endlich 
macht  man  wieder 

AD  =  c,     JK 

und  bildet  mit  JK  als  Brennweite  und  K  als 

Scheitel  die  Apollonische  Parabel  KMN .. .  Q, 

deren  Gleichung,  unter  Annahme   der  KE  als  Axe   der  |   und   unter 

Bezeichnung  der  dazu  senkrechten  Ordinaten  durch  y],  als 

^   =  4  .  ~  c-l  =  -  c-l 

erscheint.  Wendet  man  die  Buchstaben  der  neuen  Figur,  welche  abgesehen 
von  den  Abkürzungsbuchstaben  x,  y,  c,  |,  r^  genau  mit  den  von  Fermat 


M  =  lo 


/ 

u 

r 

V 

Ä 

// 

i 

t 

F 

a 

H 

J  K 

A 

M. 

/ 

<r-i 

^ 

) 

IS' 

Fig.  171. 


872  7!).  Kapitel. 

hier  benutzten  übereinstimmen,  gleichwie  dieses  bei  der  vorigen  Figur 
der  Fall  war,  auf  die  oben  bewiesene  Proportion  JO- :  HG-  =  HX:  NX 
an,  so  geht  sie  über  in  ZV-  :  HJ-  =  HK  :  JK.  Zugleich  ist 
HK :  JK  =  HN^  :  JJ\P.  Durch  Vergleichung  beider  Proportionen 
erhält  man  ZV  :  HJ-  =  HN' :  J3P  und  ZV:  HJ=HN:JM. 
Genau  in  gleicher  Weise  entsteht  YT:  GH=  GO-.JM  u.  s.  w. 
Statt  Proportionen  kann  man  aber  Gleichungen  JM ■  ZV  =  HJ •  HN, 
JM  ■  YT  =  GH  ■  GOu.s.vf.  bilden,  und  addirt  man  diese,  so  entsteht 

J3I{ZV-\-  YT-\--)  =  HJHN-\-  GHGO-^--. 
Die   Einzelpro ducte   rechts   sind,   je   kleiner  EF  ^=  FG  =    •    =^  HJ 
gewählt  wurde,   um   so  mehr   in  Uebereinstimmuug   mit  den  Flächen 
der  gemischtlinigen  Viereckchen  HJ3IN,  GHNO,  .  .  .,  ihre  Summe 
ist  also  die  von  der  Parabel  begrenzte  Fläche  EJ3IQ.     Das  Product 

links  ist  J3I .  arc  AZE,  und  da  JM  =  2JK=  -'-  c  und  ebenso  die 

Fläche  EJMQ  bekannt  ist,  so  ist  die  Rectification  der  semicubischen 
Parabel  erzielt,  erzielt  durch  Zurückführung  auf  eine  Quadratur,  oder 
in  der  Sprache  der  Neuzeit  durch  Zurückführung  eines  bestimmten 
Integrals  auf  ein  anderes.  Fermat  blieb  übrigens  bei  dieser  ersten 
Rectification  nicht  stehen,  sondern  führte  auch  diejenige  zahlreicher 
anderer  Curven  auf  sie  zurück. 

Eine  Frage  muss  jetzt  noch  erörtert  werden,  bevor  wir  die  zu- 
letzt besprochenen  beiden  Abhandlungen  verlassen,  nämlich  die  nach 
ihrer  Entstehungszeit.  Wir  sind  im  Stande,  sie  ziemlich  genau  zu 
beantworten.  Ueber  die  Entstehungszeit  der  Abhandlung  über  Recti- 
ficationen,  von  deren  1660  erfolgten  Drucklegung  wir  schon  wissen, 
geben  die  Anfangssätze  Auskunft,  welche,  nach  verschiedenen  Rich- 
tungen von  Interesse,  hier  mitgetheilt  werden  sollen:  „Meines  Wissens 
haben  die  Mathematiker  noch  nicht  eine  rein  geometrische  Curve 
einer  gegebenen  geradlinigen  Strecke  gleichgesetzt.  Was  von  jenem 
scharfsinnigen  englischen  Mathematiker  jüngst  gefunden  und  bewiesen 
worden  ist,  dass  die  Cycloide  die  vierfache  Länge  des  Durchmessers 
des  erzeugenden  Kreises  besitzt,  das  scheint  nach  dem  Dafürhalten 
sehr  gelehrter  Mathematiker  nur  unter  Einschränkung  hierher  zu  ge- 
hören. Sie  verkündigen  als  Gesetz  und  Ordnung  der  Natur,  dass 
eine  Strecke,  welche  einer  Curve  gleich  sei,  nicht  gefunden  werden 
könne,  wenn  man  nicht  voraussetze,  eine  andere  Curve  sei  bereits 
einer  anderen  Strecke  gleich.  Das  sei  bei  dem  vorgebrachten  Bei- 
spiele von  der  Cycloide  der  Fall,  und  wir  können  dieses  nicht  in 
Abrede  stellen.  Die  Bildungsweise  der  Cycloide  selbst  bedarf  der 
Gleichheit  einer  anderen  Curve  mit  einer  Strecke,  nämlich  der  des 
erzeugenden  Kreises  mit  jener  Strecke,  welche  alsdann  Grundlinie  der 


Descartes.     Fermat.  873 

Cycloide  wird."  Fermat  maclit  sich  dann  diesem  Einwnrfe  gegenüber 
anheischig,  die  semicubische  Parabel  zu  rectificiren,  und  wir  haben 
sein  Verfahren  dabei  ausführlich  genug  dargestellt. 

Der  Engländer  nun,  von  welchem  die  Rectification  der  Cycloide 
jüngst  aufgefunden  wurde,  war  Christoph  Wren,  und  dessen  Ent- 
deckung drang,  wie  wir  noch  sehen  werden,  im  October  1658  in  die 
Oeffentlichkeit.  Die  Fermat'sche  Abhandlung  muss  also  zwischen 
diesem  Zeitpunkte  und  dem  25.  Juni  1660  (S.  869)  verfasst  worden 
sein,  etwa  1659.  Später  als  sie  ist  die  Abhandlung  über  die  Quadra- 
turen niedergeschrieben,  denn  in  dieser  wird  die  Quadratur  der  semi- 
cubischen  Parabel  durch  die  Worte  eingeleitet^"):  von  dieser  Curve  sei 
in  der  Abhandlung  T)e  lincarum  curvanim  cum  Ihieis  rectis  coni- 
paratione  die  Rede.  Viel  später  als  jene  ist  sie  aber  nicht  geschrieben, 
wie  aus  einer  zweiten  Stelle^)  geschlossen  werden  darf.  Schwer- 
punktsbestimmungen, sagt  Fermat,  Tangentenbeziehungen  und  deren 
Abhängigkeit  von  der  Methode  der  Maxima  und  Minima  seien  längst, 
d.  h.  seit  rund  20  Jahren  'den  neueren  Mathematikern  bekannt  ge- 
geben, dudimi  Geometris  recentioribus  innotuit  hoc  est  ante  viginti  plus 
minus  annos.  Wir  wissen  (S.  857),  dass  Fermat  1638  seinen  Aufsatz 
über  die  genannten  Gegenstände  an  Descartes  gelangen  Hess.  Die 
Zeit  von  rund  20  Jahren  kann  mithin  kaum  länger  als  wieder  bis 
etwa  1659  ausgedehnt  werden.  Hatte  Fermat  inzwischen  andere  Ver- 
suche auf  dem  gleichen  Gebiete  kennen  gelernt,  welche  er  anzuführen 
sich  nicht  veranlasst  sah,  welche  aber  bewusst  oder  unbewusst  ihn 
in  seinen  eigenen  Untersuchungen  förderten?  Darauf  werden  wir 
antworten  müssen,  wenn  wir  noch  andere  Schriftsteller  kennen  ge- 
lernt haben. 

Fermat  schickte,  sagten  wir,  1638  seine  Abhandlung  über  Fragen 
der  Differentialrechnung  an  Descartes,  der  am  18.  Januar  dieses 
Jahres  gegen  Mersenne  über  das  erhaltene  Schriftstück  sich  äusserte. 
Das  war  indessen  nicht  die  erste  wissenschaftliche  Begegnung  beider 
Männer,  und  wiewohl  die  Ereignisse,  von  denen  wir  eine  Andeutung 
geben  müssen,  weniger  die  Geschichte  der  Mathematik  als  die  der 
Mathematiker  angeht,  so  dürfen  sie  doch  nicht  ganz  übergangen 
werden  ^). 

Der  Band  Descartes'scher  Schriften,  welcher  um  Juni  1637  die 
Presse  verliess,  enthielt  ausser  der  Geometrie  noch  andere  Abhand- 
lungen,  darunter  die  Dioptrik.     De  Beaugrand,   dessen  Name   uns 

^)   Varia  Opera  pag.  48  lin.  9.     Oemires  11,  2G.3  lin.  14.  *)   Varia  Opera 

pag.  49  lin.  16—20.     Oeuvres  1.266  lin.  14 — 16.  ^)  Gratien- Arnoul t, 

Polemique  de  Descartes  et  de  Fermat  durant  les  anuees  1637  et  1638  in  den  Me- 
moires  de  VAcademie  des  sciences  de  Tonlouse  1870,  p.  383 — 401. 


874 


Kapitel. 


mehr  begegnen  Avird,  begierig,  noch  vor  der  eigentlichen  Yeröflfent- 
lichung  die  neue  Lehre  von  der  Lichtbrechung  kennen  zu  lernen, 
verschaflfte  sich  von  Mersenne  das  Exemplar,  welches  Descartes  zum 
Zwecke  der  Erwerbung  eines  französischen  Privilegiums  diesem  an- 
vertraut hatte  ^)  und  welches  die  ganze  Dioptrik  enthielt,  und  schickte  es 
an  Fermat  zum  Lesen.  Dieses  erfuhr  Mersenne  und  schrieb  nun  seiner- 
seits an  Fermat,  Descartes  hege  den  Wunsch,  Alle,  denen  er  sein  Buch 
als  Geschenk  zuschicke,  möchten  ihm  ihre  Bemerkungen  darüber  zu- 
kommen lassen,  und  wenn  er,  Fermat,  die  Dioptrik  auch  nicht  auf  diesem 
unmittelbaren  Wege  erhalten  habe,  so  werde  er  doch  gewiss  gleichfalls 
den  Wunsch  des  Verfassers  erfüllen.  Die  Absicht  war,  dass  nicht  schon 
vor  dem  Erscheinen  der  Dioptrik  Bemängelungen  laut  würden,  und 
diese  Absicht  wurde  erreicht.  Fermat  schickte  kritische  Bemerkungen 
in  erheblicher  Anzahl  ein,  aber  wenn  auch  der  Geschichte  der  Physik 
die  eigentliche  Aufgabe  zufällt,  diejenigen  Streitigkeiten  zu  schildern, 
welche  jetzt  schon  über  die  Dioptrik  zwischen  Fermat  und  Descartes 
entstanden,  wir  dürfen  nicht  verschweigen,  dass  Fermat  wenigstens 
anfangs  im  Unrecht  war,  und  dass  man  es  Descartes  kaum  verübeln 
kann,  wenn  er  am  18.  Januar  1638  Mersenne  auftrug,  Fermat  zu 
sagen,  er  möge  ihm  fernerhin  nicht  so  unverdaute  Dinge  vorlegen. 

Damals   war   aber   Descartes   gerade    in    Besitz    der   Abhandlung 
über  Maxima  und  Minima  gelangt,  und,   wie   es   im  Leben  so  häufig 
vorkommt,  er  Hess  sich  dieser  Abhandlung  gegen- 
über  den    gleichen  Fehler   in  erhöhtem  Grade  zu 
Schulden  kommen,  den  Fermat  gegen  seine  Dioptrik 
begangen  hatte.    Bei  der  Dioptrik  handelte  es  sich 
immerhin  um  Theorien,  welche  Naturerscheinungen 
zu    erklären    bestimmt    waren,    und    über    solche 
Versuche  war  und  ist  Meinungsverschiedenheit  un- 
vermeidlich.    Bei  der  Lehre  von  den  grössten  und 
kleinsten  Werthen  handelt  es  sich  um  eine  mathe- 
matische Aufgabe,   die    gelöst    oder   nicht  gelöst, 
richtig  oder  unrichtig  aufgefasst,  verstanden  oder 
missverstanden  v\^erden  musste,    wenn  es  darüber 
zum   Zwiste    kommen    sollte.     Descartes    verstand 
noch  Fermat's  geistreiche  Auflösung  derselben-), 
sei   immer   eine  Maximalaufgabe, 
eine  Curve  sei  die  längste 
Man 


Fig.  172. 


weder  die  Aufgabe, 

Die  Taugeutenaufgabe,  m.einte   er, 

denn  (Figur  172)  die  Berührungslinie  EB  an 

Gerade,  welche  von  E  aus  an  die  Curve  gezogen  werden  könne. 


^)  Tannery  im  Bulletin  Darhoux  XXVIII,  62.  -;  Montucla  II 

lo'J — 140  stellte  sich  in  dieser  Frage  schon  ganz  richtig  auf  Fermat's  Seite. 


Descartes.     Ferinat.  875 

dürfe  nicht  mit  dem  Einwände  kommen,  es  sei  EP  ^  EB,  denn  auf 
EP  liege  der  Curveupimkt  S  näher  bei  E  als  P.  Daher  sei  hier 
_E'*S'  als  die  von  E  nach  der  Curve  gehende  Strecke  zu  betrachten, 
und  sie  sei  kleiner  als  EB.  Wolle  man  aber  Fermat's  Methode  der 
grössten  Werthe  auf  EB  anwenden,  so  komme  Unrichtiges. 

Mersenue  schickte  diese  Einwürfe  nicht  an  Fermat,  sondern  gab 
sie  Roberval  und  Pascal  zu  lesen,  d.  h.  Etienne  Pascal,  dem 
Vater  des  damals  14%  Jahr  alten  Blaise  Pascal,  und  diese  beiden 
Freunde  Fermat's  beeilten  sich,  Descartes  über  das  Missverständniss 
aufzuklären,  welches  darin  bestand,  dass  Descartes  leugne,  die  von  E 
nach  P  gezogene  Gerade  sei  als  Entfernung  des  Punktes  E  von  einem 
Curvenpuukte  aufzufassen.  Weitere  Briefe  wurden  von  beiden  Seiten 
gewechselt,  ohne  dass  Descartes  seinen  Irrthum  einsah,  oder  dass  er 
in  der  recht  schwachen  Meinung,  welche  er  von  Fermat's  Fähigkeiten 
äusserte,  wankend  geworden  wäre.  Votre  conseiller  de  Mhiiniis  und 
ähnlich  nennt  er  ihn  in  den  an  Mersenne  gerichteten  Briefen. 

Im  Juli  1638  schrieb  endlich  Fermat,  der  Hetzereien  durch 
Mittelpersonen  müde,  selbst  an  Descartes,  und  wir  gehen  vielleicht 
nicht  irre,  wenn  wir  annehmen,  die  französische  Niederschrift  seiner 
Tangentenmethode  (S.  857)  sei  diesem  Briefe  beigelegen.  Wir  schliessen 
es  aus  Descartes'  Antwort  vom  22.  Juli  1638,,  in  welcher  von  dem 
letzten  Verfahren  zur  Tangentenbestimmung,  la  ■  derniere  faron  dont 
voiis  uses  pour  trouver  les  tangentes  des  lignes  courbes,  die  Rede  ist. 
Dieses  sei  sehr  gut  und  würde  seinen  Widerspruch  nicht  hervor- 
gerufen haben,  wenn  Fermat  es  gleich  auf  solche  Weise  erläutert 
hätte.  Noch  ein  Brief  von  Descartes  an  Fermat  aus  dem  Monate 
September  hat  sich  erhalten,  in  welchem  er  dem  früheren  Gegner  das 
Lob  grössten  Wissens  in  der  Geometrie  spendet^).  Ob  das  wirklich 
ernst  gemeint,  ob  es  höfliche  Redewendung  war,  über  welche  Des- 
cartes als  feiner  Stylist  in  reichem  Maasse  verfügte,  das  ist  hier 
nebensächlich  und  braucht  nicht  untersucht  zu  werden.  Verdient 
war  das  Lob,  auch  wenn  das  engere  Wort  Geometrie  durch  das  all- 
gemeinere: Mathematik  ersetzt  gewesen  wäre.  Verdient  wäre  das 
gleiche  Lob  von  Fermat  in  Bezug  auf  Descartes  ausgesprochen  worden. 

Man  kann  über  die  persönliche  schriftstellerische  Liebenswürdig- 
keit von  Fermat  und  Descartes,  wenn  wir  dieses  Ausdruckes  uns  be- 
dienen dürfen,  abweichender  Meinung  sein;  man  kann  Neigung  und 
Abneigung  zwischen  Beiden  ungleich  verteilen,  und  wir  machen 
z.  B.   kein  Hehl   daraus,   dass    uns  Descartes   immer   eine  wenig  an- 

^)  Je  n'ai  jamais  connu  2)crsonne,  qui  ni'aü  fait  jxiraitre  qu'il  sut  tant  qite 
vous  en  geometrie. 


876  80.  Kapitel. 

genehme  Persönliclikeit  gewesen  ist,  während  Fermat  uns  stets  sym- 
pathisch war,  aber  darüber  muss  Einstimmigkeit  herrschen,  dass  inner- 
halb der  Zeit,  welche  dieser  letzte  Abschnitt  des  Bandes  behandelt, 
kein  grösserer  Mathematiker  als  Descartes  und  Fermat  gelebt  hat. 
Vielseitigkeit  und  Grossartigkeit  der  Entdeckungen  gehen  bei  ihnen 
Hand  in  Hand,  und  synthetische  wie  analytische  Geometrie,  Zahlen- 
theorie wie  Algebra,  endlich  und  keineswegs  am  wenigsten  die  Lehre 
von  den  Infinitesimalbetrachtungen  müssen  die  Namen  der  grossen 
Zeitgenossen  mit  dem  Lorbeer  wohlverdienten  Ruhmes  in  ihrer  Ge- 
schichte aufzeichnen.  Ob  auf  dem  einen  Blatte,  vielleicht  dem  der 
Algebra,  Descartes,  auf  dem  anderen,  vielleicht  dem  der  Infinitesimal- 
betrachtuugen,  jedenfalls  dem  der  Zahlentheorie,  Fermat  obenan  steht, 
das  hat  für  die  Gesammtwürdigung  beider  Geisteshelden  keine  Be- 
deutung. 

80.  Kapitel. 

Roberval.     Torricelli. 

unter  den  Gelehrten,  deren  Briefwechsel  mit  Descartes  und  mit 
Fermat  von  uns  erwähnt  wurde,  kam  der  Name  Roberval  wiederholt 
vor.  Giles  Personnier^),  latinisiert  Personerius  (1602 — 1675), 
ist  in  einem  Dorfe  Roberval  unweit  von  Beauvais  im  nordwestlichen 
Frankreich  geboren  und  nahm  von  seinem  Geburtsorte  den  Beinamen 
Persone  de  Roberval  an,  der  allmählig  in  Roberval  allein  über- 
ging. Mit  25  Jahren  kam  er  nach  Paris,  wurde  bald  Professor  der 
Philosophie  am  College  St.  Gervais  daselbst  und  erhielt  später  die 
mathematische  Professur  am  College  Royal  auf  drei  Jahre,  welche  An- 
stellung ihm  dann  regelmässig  nach  Ablauf  dieser  durch  die  Satzungen 
der  Anstalt  vorgeschriebenen  Frist  wieder  erneuert  wurde.  Roberval 
selbst  hat  in  einem  fast  mehr  als  groben  Briefe  an  Torricelli  eine 
Geschichte  seiner  mathematischen  Entdeckungen  gegeben,  welche  wir 
zunächst,  ohne  noch  deren  Glaubwürdigkeit  zu  prüfen,  einfach  an- 
nehmen wollen^). 

Roberval  will  1628  durch  Pater  Mersenne  auf  die  Trochoide, 
wie  Roberval  sie  .nennt,  auf  die  Cycloide,  wie  wir  zu  sagen  fortfahren, 
aufmerksam  gemacht  worden  sein.     Untersuchungen  über  diese  Curve 


^)  Montucla  II,  49—51.  —  Poggeiidorff  II,  665.  —  Marie,  Histoire  des 
Sciences  mathematiqties  et  physiques  IV,  112.  —  Tannery  im  Bulletin  Darboux 
XXVin,  63.  ^jRoberval's  Schriften,  darunter  auch  der  Brief  an  Torri- 

celli, sind  vereinigt  in  dem  VI.  Bande  der  Memoires  de  VAcudemie  Eoijale  des 
Sciences  in  der  Ausgabe  von  1730.  Wir  citiren  Mem.  Acad.  Sei.  VI  mit  nach- 
folgender Seitenzahl. 


Roberval.     Torricelli.  877 

überstiegen  damals  seine  Kräfte,  und  volle  sechs  Jahre  dachte  er  nicht 
mehr  daran.  Gegen  1G34  erfand  er  die  Lehre  vom  Unendlichen? 
doctrinam  infiniti,  welche  ungefähr  das  Gleiche  war  wie  Cavalieri's 
Methode 'der  Indivisibilien \),  freilich  mit  einem  kleinen  Unterschiede^). 
Cavalieri  betrachtete  die  Indivisibilien  jeder  Oberfläche  nach  Maass- 
gabe unendlich  vieler  Linien,  die  eines  Körpers  nach  Maassgabe  un- 
endlich vieler  Flächen,  und  desshalb  wurden  Vorwurfe  gegen  Cavalieri 
erhoben,  als  meine  dieser,  die  Oberfläche,  der  Körper  beständen  wirk- 
lich aus  Linien,  aus  Flächen.  Er,  Roberval,  habe  sich  davor  gehütet. 
Ungleichartiges  mit  einander  in  Vergleich  zu  bringen.  Für  ihn  be- 
stehe die  Linie  aus  unendlich  vielen  oder  der  Zahl  nach  unbestimmt 
vielen  Linien,  ex  infimtis  seu  indefmitis  niimcro  lineis,  die  Oberfläche, 
der  Körper,  der  Winkel  aus  unendlich  vielen  Flächen,  Körpern, 
Winkeln.  Da  habe  Mersenne  ihm  die  Cycloide  ins  Gedächtniss  zurück- 
gerufen und  dabei  angedeutet,  er  werde  wohl  absichtlich  ihrer  Unter- 
suchung sich  enthalten  haben,  weil  die  Schwierigkeit  ihn  zurück- 
geschreckt hätte,  und  nun  sei  ihm  mit  Hilfe  der  Indivisibilien  sehr 
leicht  geworden,  was  ohne  dieses  Hilfsmittel  sehr  schwer  aussah. 
Das  Jahr  1634  ist  demnach  dasjenige,  in  welchem  Roberval  die 
Quadratur  der  Cycloide  ermittelt  haben  will. 

Nachdem  er  die  Lehre  vom  Unendlichen  genügend  ausgebildet 
hatte,  wandte  er  sich  der  Tangentenaufgabe  zu.  Zuerst  fand  er  durch 
die  Kraft  der  Analyse^),  vi  Analyseos,  eine  Methode,  welche  viel 
später  als  allgemein  anwendbar  sich  erwies,  damals  aber  noch  nicht 
in  solchem  Lichte  erschien,  und  besonderen  Kunstgrifi'en  legte  er 
keinen  Werth  bei.  Die  Cycloide  gab  ihm  dann  Gelegenheit,  auf  die 
Zusammensetzung  von  Bewegungen  zu  achten,  und  nur  einer  solchen 
Gelegenheit  bedurfte  es,  damit  er  aus  der  Zusammensetzung  der  Be- 
wegungen eine  allgemeine  Methode  ableitete.  Um  1(336  habe  er  diese 
in  die  Oeffeutlichkeit  gebracht.  Ein  Herr  Du  Verdus  aus  Bordeaux 
habe  die  Vorlesungen  nachgeschrieben  und  Viele  eine  Abschrift  davon 
genommen^).  Auch  hieraus  ist  ein  Ergebniss  und  zwar,  wie  wir 
glauben,  ein  zweifaches  zu  entnehmen,  erstens  dass  Roberval  zwei 
Tangentenmethoden  besessen  haben  will,  zuerst  eine  Methode,  von 
deren  genaueren  Schilderung  er  Abstand  nimmt,  welche  ihm  nicht 
allgemein  genug  war,   dann   eine  andere,  welche  auf  die  Bewegungs- 


1)  Mem.  Acad.  Sei.  VI,  366.  *)  Ebenda  VI,  .368—369.  ^)  Ebenda 

VI,  370.  *)  Occasio  satis  fiiit,  ac  propositionem  universalem  tangentium  inde  de- 
ductam  vulgarimus  circa  annum  1636.  Exstanf  adhiic  et  circumferufitur  hac  de 
re  lectiones  nostrae  a  nobiUssinio  D.  du  Verdus  nostro  discipulo  collectae,  alqiie  a 
multis  exscriptae. 


878  80.  Kapitel. 

lehre  sich  gründete,  und  zweitens,  dass  er  von  dieser  letzteren  Methode 
seit   1636  kein  Geheimniss  gemacht  haben  will. 

Noch  weitere  Arbeiten  entstanden  in  Folge  seines  Briefwechsels 
mit  Fermat,  dessen  Eröffnung  Carcavy  1635  vermittelte.  Fermat 
wies  ihn  auf  Spirallinien  höherer  Ordnung  hin  und  hiess  ihn  Arbeit 
auf  die  Auflösung  der  gestellten  Aufgaben  zu  verwenden,  wie  er, 
Fermat,  es  auch  gethan  habe.  In  der  Arbeit  bestehe  ja  hauptsäch- 
lich das  Vergnügen.  Roberval  folgte  der  Mahnung  und  fand  nun 
die  Quadratur  aller  Parabeln  beliebiger  Ordnung.  Fermat  schlug  so- 
dann Schwerpunktsbestimmungen  vor,  und  auch  hier  gelang  es  Rober- 
val, zur  Lösung  der  Aufgabe  vorzudringen.  Fermat  hatte  der  Analyse 
sich  bedient^);  illc  quidem  ad  analysim  recurrit,  und  seine  Methode 
war,  wie  es  bei  analytischen  Erfindungen  meist  der  Fall  ist,  sehr 
versteckt,  sehr  fein,  sehr  elegant.  Seine,  Roberval's,  um  einige  Monate 
jüngere  Methode  sei  einfacher  und  allgemeiner.  Aus  diesen  Bemer- 
kungen heben  wir  hervoi-,  dass  Roberval  auf  Fermat's  Schwerpunkts- 
bestimmungen das  gleiche  Wort  der  Analysis  bezieht,  welches  er 
nur  drei  Seiten  früher  zur  Kennzeichnung  seiner  ersten  Tangenten- 
methode gebrauchte,  dass  also  auch  dort  von  analytischen  Betrach- 
tungen ausgegangen  worden  sein  wird  und  man  sich  nicht  versuchen 
lassen  darf,  an  jener  ersten  Stelle  Analysis  etwa  durch  Analyse  der 
Bewegungserscheinungen  zu  übersetzen. 

Lassen  wir  diesem  Auszuge  aus  Roberval's  Briefe  an  Torricelli 
seine  eigentlichen  Leistungen  folgen  und  zwar  zuerst  die  Quadratur 
der  Cycloide.  Roberval  hatte  ihren  durch  den  dreifachen  Erzeu- 
gungskreis hergestellten  Betrag  1634  Merseune  mitgetheilt.  Im  fol- 
genden Jahre  1635  fanden  Fermat  und  Descartes  unabhängig  von 
einander  Beweise  dieses  Satzes,  welche,  wie  sie  keinerlei  Aehnlichkeit 
mit  einander  besitzen,  auch  von  dem  Roberval'schen  Beweise  sich 
unterscheiden.  Roberval  hat  seinen  Ideengang  in  der  Abhandlung 
De  Trochokle  ejusqiie  spatio  niedergelegt -j.  Er  bedient  sich  dabei 
einer  zweiten  Curve, .  welche  er  erfunden  hat,  und  welcher  er  den 
Namen  trochoidis  comes  oder  socia  beilegt^),  der  ins  Französische  als 
compagne  de  la  cycloide  übersetzt  worden  ist  (Figur  173).  Die  Ent- 
stehung dieser  Curve  AV'VH  ist  folgende.  Von  jedem  Funkte  E' 
des  zur  Grundlinie  senkrechten  Durchmessers  AC  des  Erzeugungs- 
kreises in  seiner  Anfangslage  wird  parallel  zur  Grundlinie  die  E'V 
gezogen,  welche  den  ersten  Erzeugungskreis  in  B  schneidet.  Nimmt 
man  auf  ihr  JE"F'==  £i\c  AB',  so  ist  V  ein  Punkt  der  Gefährtin  der 
Cycloide,  welche,  wie  man  leicht  erkennt,  jenseits  HF  sich  in  einem 


1)  Mein.  Acacl  Sei.  VI,  373.     -)  Ebenda  VI,  295—345.     ^)  Ebenda  VI,  302. 


ßoberval.     Torricelli. 


879 


zu  ÄV'VH  symmetrisch-congruenten  Aste  bis  nach  L  fortsetzt. 
Roberval  bedient  sich  nur  dieser  geometrischen  Definition,  ohne  sie 
in  die  Formelsprache  der  analytischen  Geometrie  zu  kleiden.  Mit 
Benutzung  derselben  findet  mau  Folgendes.     Der  Halbmesser  des  er- 


zeugenden Kreises  heisse  r,  der  Centriwinkel  AEB'  heisse  a,  und 
X I  tj  seien  die  Coordiuaten  von  V  bezogen  auf  AL  als  Abscissen- 
axe,  AC  als  Ordinatenaxe.  Nun  ist  x  =  rK,  y  =  r  —  r-coso;  und 
bei  Verschiebung  des  Coordiuatenkreuzes  nach  dem  neuen  Anfangs- 
punkte V,  wobei  VP  die  neue  Abscissenaxe  ist  undll?^  die  neuen 
Coordinaten  bezeichnen,  ist  sofort 


)]  =  !j  —  /•  =  —  r  •  cos  cc  =  —  r  •  sm  l  ~ aj  =  r  ■  sm  \cc  — ■  —  i , 

oder  endlich,  indem  r  als  Einheit  gewählt  wird,  rj  =  sin  |,  so  dass 
Roberval  als  Erfinder  der  Sinuslinie  betrachtet  werden  muss.  Wie 
nun  die  Gefährtin  der  Cycloide  zu  deren  Quadratur  führt,  ist  ebenso 
sinnreich  als  einfach.  Der  Raum  AR'RHF,  welcher  die  halbe 
Cycloideufläche  bildet,  besteht  aus  zwei  Theilen,  erstens  der  halben 
Fläche  der  Gefährtin  AV'VHF  und  zweitens  dem  zwischen  beiden 
Curven  befindlichen  Räume  AB,' RHVV.  Man  braucht  nur  die 
Gerade  AVH  gezogen  zu  denken,  um  zu  erkennen,  dass  die  beiden 
Abschnitte,  welche  diese  Gerade  mit  der  Gefährtin  bilden,  und  von 
denen  der  eine  obere  ihrer  Fläche  angehört,  der  andere  untere  nicht, 
einander  congruent  sind,  dass  also  AV'VHF  =^  ^  AG  HF ,  d.  h. 
dem  erzeugenden  Kreise  gleich.  In-  dem  von  beiden  Curven  be- 
grenzten Räume  ist  immer  B'V'^=E'B'.  Unter  Festhaltung  der 
oben  eingeführten  Bezeichnungen  ist  nämlich  E'  B'  =  r  ■  sin  a, 
ausserdem  E'  V'=  ra  und ,  weil  Fi'  ein  Punkt  der  Cycloide  ist, 
E' B'  ==  ra  —  r  •  sin  cc,  mithin 

B'V'^  E'  V'—E'B'  =  r  •  sin a  =  E' B' . 
Der  Raum  AB' BHVV  besitzt  also  in  gleicher  Höhe  lauter  gleiche 
Parallelen  zur  Grundlinie    wie   der  Halbkreis  ACBB',  dem   er  folg- 


880  80.  Kapitel. 

lieb,  flächengleich  ist,  und  damit  ist  der  Satz  bewiesen,  dass  die  ganze 
Cycloidenfläche  dem  dreifachen  erzeugenden  Kreise  gleich  ist.  Wir 
wiederholen,  dass  Roberval  1634  Mittheilung  davon  an  Mersenne  ge- 
langen Hess,  dass  auch  Descartes  und  Fermat  den  Satz  kennen  lernten. 
Im  Jahre  1637  vollends  sprach  ihn  Mersenne  gelegentlich  in  einem 
Druckwerke  aus^). 

Roberval  hat  in  einer  anderen  Abhandlung,  in  seinem  Traue  des 
Imlivisihles  auch  ein  Stück  einer  gekrümmten  Oberfläche  der  Messung 
unterworfen,  mithin  eine  sogenannte  Complanation  zu  Wege  ge- 
bracht. Dort  ist  nämlich  gezeigt -j,  dass  ein  Kreis,  der  mit  einer 
dem  Durchmesser  eines  geraden  Kreiscy linders  gleichen  Zirkelöfi'nung 
auf  der  Oberfläche  dieses  Cylinders  beschrieben  wird,  genau  die  Fläche 
des  Quadrates  des  Cylinderdurchmessers  besitzt. 

Wir  kommen  nun  zu  Roberval's  Tangentenbestimmung,  einer 
ungleich  bedeutenderen  Leistung  als  was  wir  bisher  auseinanderzu- 
setzen hatten,  da  es  hier  um  eine  wahrhafte  Methode  sich  handelt. 
Wir  entnehmen  sie  der  Abhandlung  Ohservations  sur  la  composition 
des  mouvemens  et  sur  le  moyen  de  trouver  les  touchantes  des  lignes 
coiirhes'^),  welche  allerdings  nicht  von  Roberval  selbst  herrührt,  son- 
dern von  seinem  Schüler  Du  Verdus,  dessen  Name  uns  aus  Rober- 
val's Brief  an  Torricelli  bekannt  ist.  Im  Jahre  1668  theilte  Rober- 
val die  Abhandlung  mit  einigen  Verbesserungen,  aber  nicht  allen, 
deren  sie  bedurft  hätte,  der  Academie  mit*).  Schon  vorher,  nämlich 
1644,  hatte  Mersenne  eine  Andeutung  des  von  Roberval  ersonnenen 
Verfahrens  in  seinen  Cogitata  Fhysico-Mathemaiica  veröffentlicht^). 
Der  Schüler  Roberval's  spricht  es  als  ein  Axiom  aus,  dass  eine 
Kraft,  welche  einen  beweglichen  Punkt  zwingt,  eine  Kreisbahn  zu 
beschreiben,  in  der  Senkrechten  zu  dem  Durchmesser,  an  dessen 
Endpunkt  der  bewegliche  Punkt  sich  gerade  befindet,  ihre  Wii'kung 
ausübt^).  Daran  schliesst  sich  der  erste  Lehrsatz:  Wenn  ein  beweg- 
licher Punkt  zwei  Bewegungen  unterworfen  ist,  deren  jede  geradlinig 
und  gleichförmig  ist,  so  verläuft  die  aus  beiden  zusammengesetzte 
Bewegung  wieder  geradlinig  und  gleichförmig  und,  wenn  auch  von 
beiden  verschieden,  in  der  gleichen  Ebene  mit  ihnen,  so  dass  die 
von    dem    beweglichen    Punkte    beschriebene    Gerade    Dia- 


1)  Montucla  II,  54.  *)  Mem.  Äcad.  Sei.  VI,  241—253:    Tracer  sur  un 

cylindre  droit  im  espace  egal  ä  un  quarre  donne,  et  ce  d'un  seid  trait  de  Compas. 
^)  Ebenda  VI,  3—67.  ")  Ebenda  VI,  2:    11  est  vray  qu'en  1668  M.  Boberval 

revit  cet  ouvrage  avant  cßie  de  le  lire  dans  V Academie  Boyale  des  Sciences,  mais  il 
n'y  mit  pas  la  derniere  main.  ^)  Jacoli,  JEvangelista  Torricelli  ed  il  metodo 

delle  tangenti  detto   metodo  del  Foberval  im  Bidletino  Boiicompagni  VIII,  274 — 
275.         '')  Mem.  Äcad.  Sei.  VI,  5. 


Roberval.     Torricelli 


881 


gonale  eines  Parallelogrammes  ist,  dessen  Seiten  sich  zu 
einander  wie  die  Geschwindigkeiten  der  beiden  gegebenen 
Bewegungen  verhalten^).  Jenes  Axiom  und  dieser  Lehrsatz  er- 
möglichen es,  die  Entstehung  jeder  Curve,  vorausgesetzt,  dass  sie 
durch  fortschreitende  oder  drehende  Bewegung  erzeugt  wird,  auf  zwei 
geradlinige  Bewegungen  von  gegebener  Richtung  und  gegebenem 
Verhältnisse,  wenn  auch  nicht  gegebener  absoluter  Grösse  zurückzu- 
führen, und  die  Diagonale  des  aus  ihnen  gebildeten  Parallelogrammes 
ist  die  Berührungslinie  an  die  Curve").  Als  erstes  Beispiel  ist  die 
Parabel  behandelt^)  (Figur  174).  In  jedem  ihrer  Punkte  E  ist  die 
nach  dem  Brennpunkte  Ä  gerichtete  EÄ  gleich  der  Entfernung  des 
Fusspunktes  J  der  Ordinate  von  E  von  dem  festen  Punkte  B.  Die 
Kräfte,  welche  die  Parabel  erzeugen,  sind  also  EÄ  und  die  ihr  gleiche, 


B      ff 


Fig.  174. 


Fig.  17E 


parallel  zu  AB  gezogene  EH.  Bei  zwei  gleichen  Kräften  halbirt 
die  Diagonale  ihres  Parallelogrammes  den  von  beiden  eingeschlossenen 
Winkel,  also  ist  die  Halbirungslinie  EC  des  Winkels  HEA  die  Be- 
rührungslinie der  Parabel.  Sei  ferner  (Figur  175)  die  Berührungs- 
liuie  an  den  Punkt  F  einer  Ellipse  gesucht^).  Die  Brennpunkte  der 
Ellipse  sind  A   und  B.     Man  weiss,   dass  AF  und  BF  gleich  blei- 


bende  Summen   besitzen,    wo    auch  F  auf  der  Elli 


liege: 


also  die  Entfernung  des  Punktes  F  von  A  (oder  B)  ab,  so  nimmt 
die  von  B  (oder  A)  um  ein  jener  Abnahme  gleiches  Stück  zu.  Die 
bewegenden  Kräfte  sind  also  entweder  in  den  Richtungen  FA  und 
FC  oder  in  denen  FB  und  FD  zu  erkennen  und  sind  jedenfalls 
von  gleicher  Grösse.  Die  Berührungslinie  halbirt  daher  den  Winkel 
AFC,  beziehungsweise  BEB.  Ein  anderes  Beispiel  liefert  die  Curve, 
welche  Limaron  de  Monsieur  BaschaV')  genannt  wird.  Es  ist  der  Ort 
derjenigen  Punkte   aller  von   einem   und   demselben  Peripheriepunkte 

1)  Mem.  Acad.  Sei.  VI,  6.  ''')  Ebenda  VI,  22.  ^)  Ebenda  VI,  23. 

*)  Ebenda  VI,  27.  ^)  Ebenda  VI,  23  lin.  8.  Bei  Gelegenheit  der  Tangenten- 
ziehung auf  pag.  35—40  ist  nicht  der  volle  Name  des  Erfinders  der  Curve  ge- 
nannt, sondern  nur  von  dem  LimuQon  de  M.  P.  die  Rede. 

Cas:tor,  Geschichte  der  Mathem.   U.    2.  Aufl.  5G 


882 


80.  Kapitel. 


eine.s  Kreises  ausgehenden  Sehnen,  welche  von  dem  zweiten  Durch- 
schnittspnnkte  der  Sehne  mit  der  Kreislinie  gleichweit  entfernt  sind; 
es  ist  mithin  eine  Kreis conchoide.  Wenn  Pascal  als  Erfinder  der 
Curve  bezeichnet  ist,  so  kann  darunter  nicht  Blaise  Pascal  verstanden 
sein,  welcher  zu  Ende  der  dreissiger  Jahre  gewiss  noch  nicht  ge- 
nügend Mathematiker  war,  um  Derartiges  zu  versuchen,  sondern  nur 
der  Vater  Etienne  Pascal^),  von  welchem  wir  wissen,  dass  er  mit 
Curvenlehre  sich  befasste,  dass  er  sogar  (S.  875)  gemeinsam  mit 
Roberval  in  den  Streit  über  die  Lehre  von  den  grössten  und  klein- 
sten Werthen  eintrat.  Die  Cycloide  ist  erst  das  elfte  Beispiel,  an 
welchem  die  Methode  der  Tangentenziehung  zur  Ausübung  gelangt^) 
(Figur  176).  Die  beiden  Bewegungen,  welche  dem  Cycloidenpunkte  E, 
der  zugleich  ein  Punkt  des  erzeugenden  Kreises  in  der  Lage  OEN 
ist,  angehören,  sind  erstens  eine  Bewegung  im  Sinne  des  Kreises, 
also  gemäss  dem  ersten  Axiome  in  dessen  Berührungslinie  EP^ 
zweitens  eine  Foi-tbewegung  mit  dem  Kreise  parallel  zur  Grundlinie, 
also  in  der  Richtung  EM.  Weil  die  Grundlinie  der  Kreisperipherie 
gleich  ist,  müssen  beide  Bewegungen  in  jedem  Augenblicke  von  gleicher 
Grösse  sein,  und  die  Diagonale  ihres  Parallelogrammes  halbirt  folglich 
den   durch   ihre   Richtungen  gebildeten  Winkel  FEM,   d.  h.  EH  ist 


die  gesuchte  Berührungslinie.  Dass  dieselbe  durch  den  Peripherie- 
punkt 0  des  erzeugenden  Kreises  hindurchgehen  müsse,  ist  weder 
ausdrücklich  gesagt,  noch  in  der  der  Abhandlung  beigegebenen  Figur 
beachtet'^),  wo  die  EH  die  ON  unterhalb  0  schneidet.  Roberval, 
beziehungsweise  dessen  Schüler,  scheint  also  diese  Eigenschaft  der 
Cycloide  nicht  gekannt  zu  haben.  Dagegen  war  ihm  die  sogenannte 
gedehnte  oder  verlängerte  und  ebenso  die  sogenannte  verkürzte 
Cycloide  bekannt,  und  er  lehrte  ihre  Berührungslinien  finden. 


^  ^)  Diese  Bemerkung  nihrt  von  Herrn  P.  Tannery  her,  der  sie  uns  brief- 
lich mittheilte.  *)  Mem.  Acad.  Sei.  VI,  58—63.  ^  Ebenda  Figurentafel  VIII 
zu  pag.  66,  Figur  1.  Im  Traue  des  Indivisibles  pag.  211  dagegen,  wo  die  Auf- 
gabe wiederkehrt,  ist  der  Eigenschaft  zwar  auch  nicht  gedacht,  aber  die  Figur 
(^Ta'fel  XV  zu  pag.  214,  Figur  3)  ist  wenigstens  etwas  richtiger. 


Eoberval.     TorricolH.  883 

Endlich  ist  es  auch  Roberval  gewesen,  welcher  die  Kubatur 
der  beiden  Umdrehungskörper  der  Cycloide  vollbrachte,  des- 
jenigen, bei  welchem  die  Grundlinie,  und  desjenigen,  bei  welchem  die 
mittlere  grösste  Ordinate  Umdrehungsaxe  ist.  Diese  Untersuchungen 
sind  ebenso  wie  die  Rectification  der  Cycloide  in  der  von  uns 
schon  angeführten  Abhandlung  De  Trochoiäe  ejusque  spatio  enthalten. 
Roberval  will  alle  diese  Dinge  zwischen  1635  und  1640  entdeckt  und 
mit  Ausnahme  der  Rectification  kein  Geheimniss  aus  ihnen  gemacht 
haben.  Mittheilungen  seien  in  seinen  Vorlesungen,  in  gelehrten  Zu- 
sammenkünften, im  Privatverkehre  mit  gelehrten  Freunden  gemacht 
worden^).  Die  von  ihm  einzig  verschwiegen  gehaltene  Rectification 
habe  viele  Jahre  später  ein  geschickter  Engländer  ebenfalls  zu  Wege 
gebracht"). 

So  Roberval's  Darstellung,  und,  wenn  man  ihr  vollen  Glauben 
beimessen  dürfte,  hätte  Roberval  eigentlich  die  ganze  höhere  Curven- 
lehre  geschaffen.  Cavalieri  veröflentlichte  zwar  die  Indivisibilien, 
die  er  längst  kannte,  Wren  die  Länge  der  Cycloide,  die  ihm  nicht 
entgangen  war,  unbewusste  Aneignungen  dessen,  was  ihm  gehörte; 
ein  Schriftsteller  dagegen  habe  sich  ofienen  Raubes  an  ihm  schuldig 
gemacht,  und  dieser  sei  Torricelli. 

Pascal,  der  Sohn  des  nahen  Freundes  Roberval's,  machte  sich 
einfach  zum  Sprachrohre  dieses  schweren  Vorwurfes'^),  und,  was  die 
Gehässigkeit  des  Angriffe?  noch  steigert,  er  that  es  im  November 
1658,  also  elf  Jahre  nach  Torricelli's  Tode,  und  das  war  derselbe  Pas- 
cal, dessen  physikalische  Erfolge  auf  die  Erfindung  des  Barometers 
durch  Torricelli  sich  gründeten,  derselbe  Pascal,  der  die  Grösse  des 
italienischen  Gelehrten  noch  1651  in  einem  Briefe  an  Herrn  von  Ri- 
beyre  ganz  und  voll  anerkannte*).  Wir  müssen  zusehen,  welches 
Verbrechen  Torricelli  eigentlich  begangen  haben  soll,  und  ob  wir  es 
einem  Manne  von  derjenigen  geistigen  Bedeutung,  die  wir  (S.  699 
— 700)  an  Torricelli  kennen  gelernt  haben,  zutrauen  dürfen. 

Torricelli  gab  1644  ein  mathematisches  Sammelwerk,  Opera 
Geometrica,  heraus^).  Dasselbe  beginnt  mit  zwei  Büchern  De  solidis 
sphaeralihus,  dann  folgen  zwei  Bücher  De  motu  und  hierauf  De  dimen- 
sione  paraholae  und  De  solido  liyperholico  cum  Äppendicihiis  de  Cycloide 
et  Cochlea.  Im  18.  Satze  des  1.  Buches  De  motu  stellt  sich  Torri- 
celli'die  Aufgabe,  ^ine  Berührungslinie  an  einen  Punkt  der  Parabel 
zu  ziehen    und  löst    sie    mit    Hilfe    des  Parallel ogrammes    der 


"■)  Mem.Acad.  Sei.  TL,  342      ^)  Ebenda  VI,  344.     ^  Pascal  III,  338—339. 
^)  Ebenda  HI,  7G — 77.  ^)  Jacoli,   EvangeliMa  Torricelli  eä    il  metodo  delle 

tcuigenti  detto  metodo  del  Roberval  im  BuUe\i}w  Boncompagni  XII,  265 — 304. 

5G* 


884  80.  Kapitel. 

Kräfte.     Seine   Lösung   ist,   wenn   auch   nicht   dem  Wortlaute   nach^ 

doch   dem    Gedankeninhalte    iiach,    folgende^;    (Figur  177).     Sei    cha 

die  Parabel   von   der   Gleichung    iß  ^  px   und  /' 

ihi-  Brennpunkt,  mithin  fb  =  ^-  Sei  ausser- 
dem cd  =  ce  =  X,  de  =  2x.  Der  die  Parabel 
beschreibende  Punkt   war  erst  in  &,   dann   in   a 


df   c 

-p.    ^--  und  gelangte  dorthin,  indem  er  einer  doppelten 

Bewegung  unterworfen  war,  deren  eine  parallel 
mit  cd,  die  andere  senkrecht  zu  cd  zu  denken  ist.  Wäre  der  Weg 
von  h  nach  a  ein  geradliniger  gewesen,  so  hätte  er  die  geradlinige 
Diagonale  des  Parallelogrammes  der  beiden  genannten  Bewegungen 
dargestellt,  und  es  wäre  auch  weiter  diese  Diagonale  eingehalten 
worden,  die  Entfernung  jedes  folgenden  Punktes  der  Diagonale  von 
der    Axe    cd    hätte    sich    nach    dem    Verhältnisse    da :  fh    gerichtet. 

Nun  ist  bei  y-  =px  auch  y.  ^  =  2x  :y,   also  lässt  statt  da  :  fh   das 

Verhältniss  ed :  da  sich  einsetzen,  welches  bei  der  Parabel  die  Verhält- 
nissgrösse  der  mehrgenannten  beiden  Bewegungen  kundgiebt,  und 
welches  die  Diagonale  ea  zur  Folge  hat,  die  somit  die  verlangte  Be- 
rührungslinie ist.  Wenn,  setzt  Torricelli  hinzu,  dieser  Beweis  ein  be- 
sonderer für  die  Parabel  ist,  so  kann  man  ihn  doch  für  jeden  Kegel- 
schnitt verallgemeinern,  indem  man  gleiche  Bewegungen  eines  Punktes 
beachtet,  der  in  gleicher  Weise  auf  jeder  vom  Brennpunkte  aus  ge- 
zogenen Linie  —  Torricelli  meint  damit  offenbar  die  Ordinate  hf  des 
Brennpunktes  —  sich  bewegt.  Bei  der  Archimedischen  Spirale  führe 
ein  ähnliches  Verfahren  zum  Ziele.  Er  habe  den  kleinen  Satz  einmal 
unter  Freunden  mitgetheilt  und  derselbe  habe  sich  des  brieflich  aus- 
gesprochenen Lobes  des  berühmten  Galilei  zu  erfreuen  gehabt-). 
Auch  die  Berührungslinie  an  die  Cycloide  könne  man  mittels  des  einen 
Satzes  finden,  was  am  Schlüsse  des  Bandes  ohne  Beweis  kurz  berührt 
werden  solle,  ebenso  wie  die  Körper  der  Cycloide  und  deren  Schwer- 
punkte. 

Unzweifelhaft  ist  Torricelli's  Methode,  mag  man  von  deren  An- 
wendung im  Falle  der  Parabel  denken,  wie  man  will,  der  Roberval's 
nahe  verwandt.  Man  hat  nun,  da  die  Jahreszahlen  des  Druckes  der 
Mersenne'schen  Cogifata  inhysico-mathematica  und  der  Ton-icelli'schen 
Opera   geometrica    übereinstimmend    1644  lauten,    noch    etwas    näher 


^)  Jacoli,    Evangelista   Torricelli  ed  il  metodo  delle  tangenti  detto  metodo 
del  Soherval  im  Bulletino  Boncompagni  XJI,  268 — 269.  -)  Quae  propositiun- 

cida  cum  olim  inter  amicos  a  me   vulgata  fuisset  Clar.  Virum  Gcdileum  meruit 
habere  laudatorem,  ut  extant  ipsius  enistolue  apud  me. 


Roberval.     Tomcelli.  885 

untersucht,  in  welchen  Monat  jede  der  beiden  Veröffentlichungen  zu 
setzen  ist.  Die  letzte  Druckerlaubniss  der  Opera  geometrica  ist  vom 
9.  April  1644;  an  einer  Stelle  spricht  Torricelli  von  einer  halbjährigen 
Unterbrechung  seiner  Arbeiten,  omissa  per  integrum  semestre  libellorum 
ciira;  fällt  also,  was  nicht  geradezu  gesagt  ist,  dieses  halbe  Jahr  in 
die  Zeit  während  des  Druckes,  so  gelangt  man  etwa  zum  October 
1644  als  Zeit  der  eigentlichen  Ausgabe^).  Daneben  ist  ein  Brief 
Torricelli's  vom  1.  Mai  1644  zu  beachten,  in  welchem  er  Mersenne 
berichtet,  zwei  seiner  kleinereu  Schriften  seien  fertig  gedruckt-).  Das 
waren  aber  doch  wohl  die  beiden  ersten,  also  auch  die  De  motu, 
welche  den  in  Frage  kommenden  Satz  enthält.  Nun  die  Cogitata. 
Bei  ihnen  ist  ein  Zweifel  nicht  möglich.  Peracta  haec  est  impressio 
die  15  Septemhris  1644  heisst  es  am  Schlüsse^),  und  wenn  vom  Ende 
des  Druckes  bis  zur  Versendung  nur  wenige  Wochen  gerechnet  wer- 
den, so  kommen  wir  gleichfalls  zum  October  1644.  Die  beiden  Bücher 
gelangten  demnach  so  gut  wie  gleichzeitig  an  die  Oeffentlichkeit, 
jedenfalls  so  nahe  beieinander,  dass  es  ausgeschlossen  ist,  dass  Torri- 
celli aus  dem  Buche  von  Mersenne  oder  Roberval  aus  dem  Buche 
von  Torricelli  seine  Methode  entnehmen  konnte.  Letzterer  Vorwurf 
ist  überhaupt  nie  erhoben  worden.  Wenn  aber  ersterer  auch  in 
nichts  zerfällt,  worauf  stützt  sich  dann  Roberval's  schwere  Anklage 
geistigen  Diebstahls  gegen  Torricelli? 

Pascal  erzählt  es  uns*).  Es  handelt  sich  gar  nicht  um  die 
Tangentenziehung,  bei  welcher  die  Verwandtschaft  der  beiderseitigen 
Gedanken  einen  Zweifel  an  Torricelli's  Unabhängigkeit  allenfalls  hätte 
entstehen  lassen  können,  sondern  um  den  Plächenraum  der  Cycloide. 
Im  Jahre  1638  habe  De  Beaugrand  alle  von  Roberval  entdeckten 
Sätze  über  die  Cycloide  und  Fermat's  Methode  der  grössten  und 
kleinsten  Werthe  an  Galilei  geschickt,  ohne  den  eigentlichen  Erfin- 
der zu  nennen,  weil  er  damit  wahrscheinlich  die  Meinung  hervorrufen 
wollte,  als  sei  Alles  sein  Eigenthum.  Er  habe  diese  irrige  Meinung 
noch  dadurch  gestützt,  dass  er  statt  von  der  Trochoide  oder  Roll- 
linie zu  reden,  den  Namen  der  Cycloide  benutzte,  den  er  sich  aus- 
gedacht hatte.  Als  nun  Galilei  und  De  Beaugrand  beide  gestorben 
waren,  und  Torricelli  unter  den  Papieren  des  Ersteren  den  Brief  des 
Letzteren  fand,  habe  er  geglaubt,  sich  Alles  aneignen  zu  können  mit 
alleiniger  Ausnahme  der  Erfindung  der  Cycloide,  welche  er  Galilei 
zuwies,  dem  sie  aber  ebensowenig  angehörte  als  ihm  das  Uebrige. 

Als  Pascal  1658  diese  Erzählung  veröffentlichte,  von  welcher  er 


")  Jacoli  1.  c.  pag.  269—270.       ^  Ebenda  pag.  271.      ^-j  Ebenda  pac 
^)  Pascal  m.  .338. 


886  80.  Kapitel. 

nicht  sagt,  wie  er  selbst  sie  in  Erfahrung  gebracht  habe ,  war  von 
allen  betheiligten  Personen  einzig  Roberval  am  Leben.  Dieser  muss 
also  wohl  Pascal's  Zuträger  gewesen  sein.  Wer  hätte  es  auch  selbst 
in  früherer  Zeit,  als  De  Beaugrand,  als  Torricelli  lebten,  sein  sollen"? 
De  Beaugrand,  auf  welchen  der  Erzählung  gemäss  ein  recht  empfind- 
licher Flecken  fällt?  Oder  Torricelli,  der  Angeklagte?  Nachträglich 
wenigstens  behauptet  Pascal,  habe  Torricelli  Alles  eingestanden,  und 
die  Briefe  seien  vorhanden^).  Wo,  bei  wem  sie  vorhanden  seien,  ob 
er  selbst  Einsicht  davon  genommen  habe,  darüber  bleibt  Pascal  die 
Erklärung  schuldig. 

Jedenfalls  ist  niemals  ein  Brief  Torricelli's  von  Roberval  oder 
einem  seiner  Freunde  veröffentlicht  worden,  dessen  Datum  1644  oder 
noch  später  wäre.  Nur  ein  Brief  Torricelli's  an  Roberval  über  die 
Cycloide  ist  unter  Roberval's  gesammelten  Abhandlungen  veröffent- 
licht'^). Er  ist  am  1.  October  1643  geschrieben,  mithin  bevor  die 
Opera  geometrica  ausgegeben  wurden.  Sehen  wir  zu,  was  er  enthält. 
Galilei  habe  vor  45  Jahren  (das  war  also  1598)  der  Cycloide  ihren 
Namen  gegeben;  er  habe  versucht,  deren  Fläche  zu  messen  und  sich 
dazu  unter  anderem  auch  einer  Wage  bedient,  auf  welcher  er  die 
materielle  Cycloidenfläche  und  ebenso  den  materiellen  erzeugenden 
Kreis  abwog,  appensis  ad  libellum  spatiis  figiirarum  materialibus. 
Immer  sei  die  Cycloidenfläche  weniger  als  dreimal  so  schwer  als  der 
Kreis  gewesen,  und  darauf  habe  Galilei  seine  Versuche  aufgegeben, 
weil  er  vermuthete,  es  handle  sich  um  ein  incommensurables  Ver- 
hältniss,  ob  iiicommoisurahilitatis  suspicionem.  Später  habe  er,  Torri- 
celli, die  Cycloidenfläche  wider  alles  Hoffen,  ja  fast  ohne  darnach  zu 
suchen,  gefunden,  und  fünf  verschiedene  Beweise  dafür  ermittelt. 
Wie  man  die  Berührungslinie  an  die  Cycloide  ziehe,  habe  Viviani 
ihm  gezeigt,  lieber  Umdrehungskörper  der  Cycloide  besitze  er  nichts, 
quoad  solida  nihil  Iiabeo.  Auch  ein  Brief  von  Roberval  an  Torricelli, 
über  welchen  wir  schon  berichtet  haben,  ist  in  jener  Roberval'schen 
Sammlung  gedruckt.  Ein  Datum  ist  ihm  nicht  beigegeben ,  aber  da 
in  ihm  die  Stelle  vorkommt  ac  tmn  demum  anno  1645  ad  id  aninnmi 
applicuistis,  so  muss  er  später  als  1645  geschrieben  sein.  Anderer- 
seits ist  ein  Brief  Torricelli's  vom  24.  August  1647  an  den  nach- 
maligen   Cardinal    Michelangelo    Ricci    bekannt^),    demzufolge    er 


*)  Mr.  Roberval  s'en  plnignit  donc  ä  Torricelli  par  unc  lettre  qu'il  lui  en 
ecrivit  la  meme  annee  (16.44),  et  le  P.  Mersenne  en  mime  temps,  mais  encore  plus 
severement:  il  lui  donna  tant  de  preuves,  et  imprimees  et  de  toutes  sortes,  qu'il 
Vobli(jea  d'y  domier  les  mains,  et  de  ceder  cette  invention  ä  M.  de  Boberval, 
comme  il  fit  par  ses  lettres,  que  Von  garde  ecrites  de  sa  main,  du  meine  temps. 
-)  3Iem.  Acad.  Sei.  VI,  359—361.         ^i  Jacoli  1.  c.  pag.  282. 


Roberval.     Torricelli.  887 

damals  von  einem  beleidigeuden  oifeneu  Briefe  Roberval's  gehört,  ihn 
aber  noch  nicht  zu  Gesicht  bekommen  habe.  Folglich  ist  jeuer 
gedruckte  Brief  Roberval's  vermuthlich  vom  Frühjahre  1647.  Rober- 
val's  Papiere  enthielten  also  keinen  früheren  Brief  von  Torricelli, 
keinen  solchen  von  Torricelli  aus  dem  Jahre  1644,  welche  zu  Rober- 
val's Gunsten  hätten  gedeutet  werden  können,  denn  wie  sollte  man 
sonst  den  fehlenden  Abdruck  erklären?  Auch  in  dem  gedruckten 
Briefe  von  1647  ist  von  Eingeständnissen  aus  dem  Jahre  1644  oder 
aus  späterer  Zeit,  von  denen  Pascal  1658  unter  Roberval's  Einflüsse 
als  vorhanden  sprach,  keine  Rede.  Gab  es  denn  gar  keine  Zeile 
Torricelli's,  die  veröffentlicht  hätte  werden  können,  und  die  jeuer 
Pascal'schen  Anklageschrift  als  Begründung  dienen  konnte? 

Es  gab  allerdings  Briefe  aus  dem  Jahre  1646,  aber  sie  wurden 
von  anderer  Seite  bekannt  gemacht.  Nachdem  Pascal  1658  die  An- 
klage erhoben,  kam  1659  aus  England  eine  Antwort,  von  der  wir 
noch  reden  werden,  und  eine  zweite  1663  aus  Italien.  Sie  führte 
die  Ueberschrift:  Letfera  a  Filaleti  di  Timauro  Antiate  della  vera 
storia  della  cicloide  e  della  famosissima  esperienza  delV  argento  vivo^), 
und  ihr  Verfasser  war  Carlo  Dati  (1619—1679),  ein  Schüler 
Torricelli's.  Er  theilte  darin  einen  Brief  Roberval's  an  Torricelli 
vom  1.  Januar  1646  mit  und  ebenso  die  Antwort  Torricelli's  vom 
7.  Juli  1646. 

Roberval  behauptet  hier,  vor  zehn  Jahren,  mithin  zu  Anfang  des 
Jahres  1636,  in  öffentlicher  wie  vertraulicher  Weise  gelehrt  zu  haben, 
wie  man  Tangenten  durch  Zusammensetzung  von  Bewegungen  sich 
verschaffe.  Er  habe  damals  das  Verfahren  an  hervorragenden  Bei- 
spielen geprüft,  an  der  Quadratrix,  der  Cissoide,  der  Conchoide,  der 
Spirale  und  vielen  anderen  Curven.  Besonders  leicht  gestaltete  sich 
die  Auffindung  der  Berührenden  an  Cycloide  und  Spirale,  weil  diese 
Linien  durch  Zusammensetzung  einer  geradlinigen  und  einer  kreis- 
förmigen Bewegung  entstehen,  welche  beide  gleichförmig  sind,  und 
deren  Geschwindigkeitsverhältniss  in  jedem  Punkte  der  Curve  defi- 
nitionsgemäss  gegeben  ist.  Das  stimmt  also  so  weit  mit  Roberval's 
späteren  Behauptungen  überein,  wie  kaum  anders  erwartet  werden 
konnte. 

Torricelli  erwidert,  er  gestehe  zu,  dass  er  vor  noch  nicht  so 
vielen  Jahren  jene  Beweisführungen  entdeckt  habe,  aber  er  habe  sie 
nicht  minder  selbständig  entdeckt,  als  dies  von  irgend  einem  Anderen 
vorher  oder  nachher  geschehen  sei.  Stimme  sein  Verfahren  irgendwie 
mit  dem  der  Franzosen  überein,  so  sei  er  darüber  in  voller  Gemüths- 


^)  Auszüge  aus  der  ungemein  seltenen  Schrift  bei  Jacoli  1.  c.  pag.  2S0  sqq. 


8S8  80.  Kapitel. 

ruhe,  und  das  sei  ilim  die  Hauptsache.  Er  sei  sieh  bewusst,  Alles 
aus  sich  heraus  gefunden  zu  haben;  wer  ihn  kenne,  werde  das  gleiche 
Zutrauen  zu  ihm  haben;  was  Andere  glauben,  berühre  ihn  nicht. 
Das  wonnige  Gefühl,  Richtiges  erfunden  zu  haben,  um  dessenwillen 
allein  er  in  Forschungen  sich  einlasse,  werde  ihm  Niemand  rauben. 
Um  Ruhm,  der  nur  durch  Zank  und  Streit  zu  erwerben  wäre,  küm- 
mere er  sich  nicht.  Er  sei  bereit,  alle  jene  Sätze  irgend  wem,  wer 
sie  nur  wolle,  zuzugestehen,  unter  der  einzigen  Voraussetzung,  dass 
man  sie  ihm  nicht  unrechtmässigerweise  entreissen  wolle.  Und  weiter 
unten  fährt  Torricelli  fort,  er  habe  vor  mehreren  Jahren  die  aus  der 
Bewegungslehre  stammende  Tangentenmethode  erfunden,  ohne  dass 
ihm  dabei  Licht  oder  Hilfe  von  Anderen  geworden  sei.  Er  habe 
mit  Freunden  davon  geredet.  Später  sei  er  zu  den  Sätzen  über  die 
Cycloide-  gelangt  und  habe  auch  sie  Freunden  mitgetheilt,  bevor  sein 
Buch  herauskam.  Plötzlich,  ohne  dass  er  es  erwartet  habe,  sei  die 
Botschaft  eingetroifen,  Alles  sei  vorher  bereits  durch  Roberval  er- 
funden. Wenn  dem  in  Wahrheit  so  sei,  dann  freilich  können  die 
Sätze  nicht  ferner  als  sein  Eigenthum  gelten,  wiewohl  vielleicht  kein 
Sterblicher  jemals  zu  solchem  Zugeständnisse  sich  herbeilassen  würde. 
Sehet  daraus,  schliesst  die  Stelle,  wie  eines  feinen  Mannes  würdig  ich 
handle,  indem  ich  abtrete,  was  mit  gleichem  Rechte  mein  wie  Euer 
ist,  da  jeder  von  uns  es  selbständig  erfand,  abgesehen  von  einem 
kleinen  Zeitunterschiede,  wenn  ein  solcher  vorhanden  war. 

Das  klingt  jedenfalls  ganz  anders,  als  Roberval  gegen  1658  es 
Pascal  erzählt  haben  muss,  und  man  begreift,  warum  Roberval's 
Freunde  diesen  Brief  Torricelli's,  wenn  er  in  seinen  Papieren  sich 
vorgefunden  haben  soUte,  nicht  zum  Drucke  beförderten,  denn  er 
hätte  die  Behauptung  von  einem  Eingeständnisse  Torricelli's,  in  un- 
rechtmässiger Weise  zu  seinem  Wissen  gelangt  zu  sein,  geradezu  Lügen 
gestraft.  Wenn  wir  so  einer  mindestens  ungenauen  Berichterstattung 
Roberval's  auf  die  Spur  gekommen  sind,  wenn  wir  früher  (S.  711) 
schon  einmal  sahen,  dass  es  Roberval  nicht  darauf  ankam,  noch  1655 
den  Satz  von  der  Fläche  des  sphärischen  Dreiecks  für  sich  in  An- 
spruch zu  nehmen,  den  Girard  1629,  Cavalieri  1632  im  Drucke 
veröffentlicht  hatte,  so  lohnt  es  sich,  die  vorher  bei  Seite  geschobene 
Untersuchung  aufzunehmen,  ob  denn  Roberval  dort  überall  bei  der 
Wahrheit  geblieben  ist,  wo  er  die  Zeitpunkte  seiner  eigenen  Erfindungen 
genau  bestimmte^). 

Roberval  will  also  die  Tangente  als  Diagonale  des  Parallelo- 
grammes  der  die  Curve  erzeugenden  Kräfte  zu  Anfang  1636  erkannt 


')  Jacoli  1.  c.  pag.  283 — 284  hat  diese  Untersuchung  geführt. 


Roberval.     Torricelli.  889 

haben.  Aber  am  11.  October  1G36  schrieb  er  an  Fermat^),  er  habe 
die  Tangeuten  an  mehrere  Curven  gefunden,  und  er  bringt  deren 
Construction  in  Zusammenhang  mit  der  Quadratur.  Das  sieht  doch 
nicht  nach  mechanischen  Betrachtungen  aus!  Der  Wortlaut:  Pour 
les  tmigentes  de  la  conchoide,  je  les  ai  considerees  il  y  a  longtemps, 
comme  etans  determinations  d'equations  qiiarre-quarrees  stimmt  viel 
eher  zu  jener  vis  Änalyseos  (S.  877),  mittels  deren  Roberval  seinem 
gedruckten  Briefe  an  Torricelli  gemäss,  welchen  wir  auf  das  Früh- 
jahr 1647  bestimmt  haben,  schon  1634  die  Tangente  verschiedener 
Curven  gefunden  haben  will.  Weitere  für  Roberval's  Versuche,  die 
Cycloidentangente  zu  bestimmen,  wichtige  Stellen  sind  in  Briefen 
von  Descartes  nachgewiesen  worden-),  welche  wir  ihrer  Zeitfolge 
nach  erwähnen.  Am  23.  August  1688  schrieb  Descartes  an  Mer- 
senne^),  er  freue  sich  ungemein  über  dessen  Mittheilung,  dass  keiner 
seiner  Mathematiker,  auch  nicht  Roberval,  die  Cycloidentangente 
zu  ziehen  wisse.  Descartes  knüpfte  daran  die  Mittheilung  seiner 
eigenen  Auflösung  dieser  Aufgabe  (S.  855),  welche  somit  die  erste 
ttberhauijt  gegebene  war,  welcher  dann  die  von  Fermat  (S.  861)  auf 
dem  Fusse  folgte.  Schon  am  25.  September  1638  war  sie  im  Besitze 
von  Descartes,  der  an  diesem  Tage  seine  Bewunderung  der  Fermat- 
schen  Ableitung  in  die  früher  (S.  875)  von  uns  erwähnten  Worte 
kleidete,  er  habe  Niemand  gekannt^  der  auf  ihn  den  Eindruck  ge- 
macht hätte,  so  viel  wie  Fermat  von  Geometrie  zu  verstehen.  Bei 
der  Cycloide,  fuhr  Descartes  fort*),  ist  es  nicht  leicht,  die  Regeln  an- 
zuwenden, welche  bei  anderen  Curven  zum  Ziele  führen,  und  Herr 
von  Roberval,  der  die  Aufgabe  stellte,  und  der  zweifellos 
auch  einer  der  ersten  Geometer  unseres  Jahrhunderts  ist, 
hat  eingestanden,  die  Auflösung  nicht  zu  kennen,  auch 
kein  Mittel  zu  wissen,  zu  ihr  zu  gelangen.  Freilich  hat  er 
seitdem  auch  gesagt,  er  habe  die  Auflösung  gefunden,  aber  das  ge- 
schah folgenden  Tages,  nachdem  er  erfahren,  dass  wir  beide  ihm 
Lösungen  zugeschickt  hätten.  Am  8.  October  1638  äussert  sich  Des- 
cartes gegen  Mersenne  abermals  in  ähnlicher  Weise  ^).  Roberval 
mache  sich  bis  zu  einem  gewissen  Grade  lächerlich,  indem  er  glauben 
machen  wolle,  er  habe  die  Cycloidentangente  gerade  am  folgenden 
Tage  erfunden,  nachdem  er  erfahren,  dass  Descartes'  Auflösung  bei 
Mersenne  angelangt  sei.  Wieder  einen  Monat  später  in  einem  Briefe 
an  Mersenne  v^om  15.  November  1638  macht  sich  Descartes  über  vier 
bis  fünf  verschiedene   aber  stets  unrichticre   Versuche   Roberval's  die 


^)  Fermat,   Varia  Opera  pag.  140.         *)  Montucla  II,  56.  ^)  Oeuvres 

de  Descartes  (ed.  CousinVVIT,  88.         *)  Ebenda  VII,  Sß.         '-)  Ebenda  VII,  449. 


390  80.  Kapitel. 

Cycloidentangente  zu  ermitteln  lustig^),  und  sogar  noch  am  30.  April 
1639  bricht  er  in  Lachen  aus-),  il  faut  que  je  rie,  dass  Mersenne  ihm 
jetzt  schon  fünf  oder  sechs  stets  von  einander  verschiedene  Tangenten- 
zeichnungen für  die  Cycloide  zugeschickt  habe,  welche  sämmtlich  mit 
Fehlem  behaftet  gewesen  seien.  Nun  mag  ja  zu  Robervars  Gunsten 
diesen  Bemängelungen  seiner  Constructionen  durch  Descartes  nicht 
unbesehen  Recht  gegeben  werden  wollen,  aber  Eines  geht  aus  Rober- 
val's  wiederholten  Versuchen  unwiderleglich  hervor:  dass  er  vor 
April  1639  nicht  im  Besitz  der  Anwendung  der  Methode 
des  Kräfteparallelogrammes  auf  die  Cycloidentangente  ge- 
wesen sein  kann,  also  auch  wahrscheinlich  überhaupt  nicht  im 
Besitze  jener  Methode,  welche,  wie  Roberval  am  1.  Januar  1646  sehr 
richtig  an  Torricelli  schrieb  (S.  887),  bei  keiner  Curve  leichter  als  bei 
der  Cycloide  in  Anwendung  trete. 

Damit  fällt  aber  die  gegen  Torricelli  erhobene  Anklage, 
soweit  sie  sich  (S.  885)  auf  die  Tangentenziehung  hätte  be- 
rufen können,  zusammen,  denn  De  Beaugrand  konnte  un- 
möglich 1638  an  Galilei  schicken,  was  frühestens  1639  vor- 
handen war.  Die  Untersuchung  hat  somit  festgestellt,  was  bei  dem 
fast  von  keinerlei  Makel  betroffenen  Charakter  Torricelli's  zu  ver- 
muthen  war,  dass  diesem  .gerechterweise  ein  Vorwurf,  die  Tangenten- 
methode Roberval's  sich  widerrechtlich  angeeignet  zu  haben,  nicht  ge- 
macht werden  kann,  dass  vielmehr  beide,  Roberval  und  Torricelli, 
selbständig  und  wahrscheinlich  ziemlich  gleichzeitig  auf  den  geist- 
reichen und  an  sich  eines  Eigenthumstreites  wohl  würdigen  Gedanken 
gekommen  zu  sein  scheinen.  Was  aber  die  Auffindung  der  Cycloiden- 
fläche  betrifft,  so  ist  zwischen  den  Methoden  Roberval's  und  Torri- 
celli's so  wenig  Verwandtschaft  nachweisbar,  dass  von  einer  Ent- 
wendung unmöglich  die  Rede  sein  kann.  Ob  De  Beaugrand  Galilei 
überhaupt  Etwas  mittheilte,  und  wie  viel  es  gewesen  sein  kann,  lässt 
sich  bei  dem  Fehlen  jeglichen  Beweisstückes  nicht  mehr  ermitteln. 

Wir  haben  (S.  884)  aus  Torricelli's  Opera  geometrica  nur  seine 
Tangentenmethode  erwähnt  und  sind  wegen  des  darüber  entstandenen 
erbitterten  litterarischen  Streites  längere  Zeit  bei  ihr  stehen  geblieben, 
aber  auch  Anderes  ist  noch  erwähnenswerth ^).  In  der  Abhandlung 
De  solido  Jiyperbolico  ist  der  Satz  ausgesprochen,  dass,  wenn  (Figur  178) 
CF  die  Asymptote  der  Hyperbel  ÄE  ist,  der  Umdrehungskörper  des 
unendlichen  bei  AB  anfangenden  Flächenstückes  zwischen  Hyperbel 
und  Asymptote    um   die    Asymptote    als   Drehungsaxe    dem   Cylinder 


M   Oeuvres  de  Descartes  (ed.  Cousin)  YIII,  16.  -)  Ebenda  VIII,  115. 

3)  Montucla  II,  90. 


Robei-val.     Tomcelli,  891 

gleich  sei,  welchen  das  Keehteck  ÄBCD  bei  seiner  Umclrehung  um 
B(J  b ervorbringe.  Ein  für  die  Zeit  seiner  Entstehung  sehr  merk- 
würdiger Satz  wird  auch  aus  der  Abhandlung  De  motu  projecforuiu 
angeführt^).  Torricelli  habe  gewusst,  dass,  wenn  man  aus  einem  und 
demselben  Punkte  mit  einer  und  derselben 
Anfangsgeschwindigkeit  Körper  in  die 
Höhe  werfe  und  nur  den  Winkel,  unter 
welchem  sie  geworfen  werden,  jeden  mög- 
lichen Werth  annehmen  lasse,  die  Scheitel- 
punkte aller  dieser  Wurfparabeln  eine 
neue  Parabel  zum  geometrischen  Orte 
haben.  Torricelli  hat  somit  zuerst  den 
Begriff  der  einhüllenden  Linie  geahnt, 

wenn  auch  keineswegs  deutlich  erkannt.  In  seinen  Untersuchungen 
über  die  Cycloide  machte  er  sich  eines  Irrthums  schuldig.  Er  hielt 
den  Umdrehungskörper  der  um  ihre  grösste  Ordinate  gedrehten  Cy- 
cloide fälschlich  für  —  des  umschriebenen  Cyliuders,  während  Roberval 

18 

die  Raumbestimmung  dieses  Körpers  richtig  stellte.  Torricelli  hat 
auch,  wie  bemerkt  worden  ist"),  die  logarithmische  Spirale,  viel- 
leicht auch  die  logarithmische  Curve,  jedenfalls  aber  die  Recti- 
fication  der  logarithmischen  Spirale  gekannt. 

Gleich  Torricelli  hatte  auch  ein  englischer  Schriftsteller,  den  wir 
hier  erwähnen  müssen,  Castelli  zum  Lehrer.  Er  nannte  sich 
Richard  White^)  und  mit  latinisirtem  Namen  Ricardus  Albius 
Anglus.  Er  ist  1590  geboren,  hat  sich  aber,  da  die  Gesetze  seiner 
Heimath  Katholiken  aus  den  öffentlichen  Schulen  fernhielten,  bis 
1626  nicht  mit  Wissenschaft  beschäftigen  können.  Dann  besuchte  er 
Frankreich  und  Italien,  wo  er  Philosophie,  später  auch  während  zweier 
Jahre  Mathematik  trieb,  worauf  Familienangelegenheiten  ihn  nach 
England  zurückriefen.  Ein  1648  von  ihm  in  Rom  herausgegebenes 
Buch  hat  einen  sehr  langen,  mit  den  Worten  Hemisphaerium  dissedum 


1)  Heller,  Geschichte  der  Physik  II,  106.  -)  Gino  Loria,  Evangelista 

Torricelli  e  la  prima  rettificazione  di  una  curva  in  den  Rendiconti  della  B.  Acca- 
demia  dei  Lincei.     Sitzung  vom  5.  December  1897.  ^)  Dass  der  richtige  eng- 

lische Name  White  ist,  lässt  schon  die  Uebersetzung  in  Albius  vermuthen. 
Vergl.  auch  Graesse,  Tresor  des  livres  rares  et  precieux  VI*,  pag.  442.  Ein 
älteres  englisches  biographisches  Sammelwerk  hat  statt  White  den  Druckfehler 
Gohite,  und  dieser  Irrthum  ist  in  zahlreiche  andere  Werke  übergegangen.  In 
einem  Briefe  von  De  Sluse  an  Huygens  (abgedruckt  in  der  grossen  Gesammt- 
ausgabe  von  Huygens  11,  450)  ist  der  Vorname  von  White  als  Thomas  ange- 
geben. Eine  Anmerkung  der  Herausgeber  nennt  als  dessen  Lebensdauer  die 
Jahre  1588—1680.     Sollten  zwei  Brüder  White  gelebt  haben? 


892  •'^l-  Kapitel. 

beginnenden  TiteHj.  Es  betrachtet  Oberfläelie  und  Rauminhalt  von 
verschiedenartigen  Kugelabschnitten,  ausserdem  auch  die  Oberfläche 
eines  schiefen  Kreiskegels.  Hat  ein  gerader  Kreiskegel  die  Seite  s 
und  .sein  Grundkreis  den  Halbmesser  r,  so  ist  bekanntlich  :trs  das 
Maass  seiner  gekrümmten  Oberfläche,  oder  auch  tt^^,  wenn  q-  =  rs. 
Die  Obei-fläche  ist  also  einem  Kreise  gleich,  dessen  Halbmesser  geo- 
metrisches Mittel  zwischen  dem  Halbmesser  des  Grundkreises  und  der 
Seite  des  Kegels  ist.  Beim  schiefen  Kegel  giebt  es  unendlich  viele 
Kegelseiten  paarweise  in  je  einer  durch  die  Kegelspitze  und  den 
Mittelpunkt  des  Grundkreises  hindurchgehenden  Ebene  gelegen,  und 
das  arithmetische  Mittel  aller  dieser  Seiten  muss  statt  s  in  die  beim 
geraden  Kreiskegel  giltige  Formel  eingesetzt  werden.  Zwei  Paare 
von  Seiten  zeichnen  sich  aus,  erstens  das  Paar,  welches  in  der  Ebene 
liegt,  die  durch  die  senkrechte  Höhe  des  Kegels  hindurchgeht,  zweitens 
das  Paar,  welches  in  der  zur  genannten  Ebene  senki'echteu  Ebene 
sich  befindet.  Das  erste  Paar  besteht  aus  der  grössten  und  kleinsten 
Seite,  das  zweite  Paar  ist  das  einzige  gleichseitige.  Die  Summe  des 
ersten  Paares  ist  die  grösste,  die  des  zweiten  die  kleinste  der  über- 
haupt möglichen  Summen.  Den  vierten  Theil  dieser  vier  ausgezeich- 
neten Kegelseiten  nimmt  White  als  das  arithmetische  Mittel  aller 
Kegelseiten.  Geometrisch  bewiesen  sei  es  allerdings  nicht,  aber  so 
lange  nicht  bewiesen  werde,  dass  die  Vorschrift  falsch  sei,  halte  er 
sie  für  richtig.  Bequemer  kann  man  sich  eine  Beweisführung  in  der 
Mathematik  gewiss  nicht  machen. 


81.  Kapitel. 

Wallis.    Pascal.    De  Sluse.    Hiidde. 
Van  Heuraet. 

Von  ungleich  grösserer  Bedeutung  als  der  auf  Strenge  keinerlei 
Anspruch  erhebende  Versuch,  von  welchem  am  Ende  des  vorigen 
Kapitels  anhangsweise  die  Rede  war,  ist  das  grosse  Ojms  geometricnm 
des  Gregorius  a  Sto.  Vincentio,  welches  wiederholt  unsere  Auf- 
merksamkeit auf  sich  gezogen  hat,  zuletzt  (S.  850 j  als  wir  von  der 
Quadratur  der  Spirale  sprachen,  welche  durch  Gleichsetzung  ihrer 
Fläche  mit  einem  Parabelabschnitte  sowohl  in  gedruckten  Schriften  des 
Gregorius   als  Cavalieri's   ermittelt  ist.     Diese  Quadratur  der  Spirale 


^)  Kästner  IE,  215 — 218.  Dort  ist  aus  der  Von-ede  des  Buches  das  Wenige 
zusammengestellt,  was  wir  von  den  Lebensverhältnissen  White 's  angeben 
konnten. 


Gi-egorius  a  Sto.  Vincentio.  Wallis.  Pascal.  De  Sluse.  Hudde.  Yan  Heuraet.      893 

war  aber  keineswegs  der  einzige  Schritt  in  das  Reich  des  Infinitesi- 
malen, welchen  Gregorius  in  jenem  1647  gedruckten  Opus  geoii/etricum 
wagte.  Er  bediente  sich  meistens  einer  besonderen  Methode,  welche 
den  Namen  Ductus  plani  in  planum  führt,  und  deren  Erörterung 
unsere  nächste  Aufgabe  ist^). 

^  Ducere  heisst  bekanntlich  Multipliciren,  und  von  einer  Multipli- 
cation  von  Flächen  ist  im  VII.  Buche,  welches  die  erwähnte  besondere 
Ueberschrift  besitzt,  die  Rede;  an  einen  kinematischen  Begriif,  ein 
Hinübergleitenlassen  einer  Ebene  über  eine  andere,  ist  nicht  zu 
denken.  Gregorius  selbst  giebt  die  Erklärung-):  ,,Ich  nenne  Ductum 
plani  in  planum  die  Bildung  jedes  Körpers,  welcher  aus  zwei  Ober- 
flächen mit  derselben  oder  mit  gleicher  Basis  entstanden  ist."  Ueber- 
mässig  klar  wird  man  diese  Ausdrucksweise  so  wenig  nennen  wollen, 
als  das  ganze  Opus  geometricum.  Die  nähere  Auseinandersetzung  ist 
folgende.    Gregorius  denkt  sich  (Figur  179)  zwei  Figuren  AB  CD  und 


7 


r 


EFG,  bei  welchen  AB  =  EF  ist,  und  stellt  die  zweite  derart  senk- 
recht zur  ersten,  dass  EF  mit  AB  zusammenfällt.  In  gleichen  Ent- 
fernungen werden  nun  lauter  Zwischenlinien  EG  und  JH  gezogen, 
welche  bei  der  angegebenen  Stellung  der  beiden  Figuren  zu  einander 
einen  rechten  Winkel  mit  einander  bilden,  der  durch  neue  in  G  und 
H  errichtete  Senkrechte  zu  einem  Rechtecke  sich  ergänzt.  Die  Recht- 
'winkligkeit  ist  zwar,  sagt  Gregorius,  nicht  nothwendig,  jede  andere 
gleiche  Neigung  thäte  es  auch,  aber  bei  senkrecht  zu  einander  ge- 
wählten Figuren  macht  sich  die  Sache  leichter.  Jene  sämmtlichen 
Rechtecke,  von  welchen  jedes  durch  das  Product  der  z.wei  Senkrechten 
EG  mal  JII  gemessen  wird,  bilden  einen  Körper,  und  das  ist  eben 
der  corpus  ortum  ex  ductu  plani  in  planum.    Sind  die  beiden  Figuren, 


^)  Auszüge  aus  dem  Opus  geometricum  bei  Kästner  III,  225 — 247.  Der  viel- 
fach missverstandene  Ductus  plani  in  planum  ist  zutreffend  behandelt  bei 
AVeissenborn,  Die  Principien  der  höheren  Analysis  in  ihrer  Entwickelung  von 
Leibniz  bis  auf  Lagrange  (18.56)  S.  70 — 73,  und  bei  Marie,  Histoire  des  sciences 
mathematiques  et  physiques  HI,  188 — 193.         *)  Opus  geometricum  pag.  704—705. 


894 


81.  Kapitel. 


welche  gemeinsam  den  Körper  erzeugen,  einander  vollkommen  gleich 
und  in  gleicher  Lage,  so  nennt  man  den  Körper  einen  corpus  ex  dudu 
superfkiei  AB  in  se,  einen  Körper,  könnte  mau  allenfalls  sagen,  den 
die  betreffende  Figur  mit  sich  selbst  erzeugt.    Von  ihm  ist  der  Wechsel- 


B 

B 

X^ 

7 

B 

\ 

fj 

\i 

«        1 

/i 

^\ 

B 

/ 

X — 

— y. 

Fig. 


weise  mit  sich  selbst  erzeugte  Körper,  corpus  ex  ABC  ductum  in  se 
subalterne,  zu  unterscheiden,  welcher  dann  entsteht,  wenn  die  gleichen 
Figuren  nicht  in  gleicher  Lage  mit  einander  in  Verbindung  treten. 
Bei  den  diesen  Definitionen  beigegebenen  Abbil- 
dungen (Figur  180  und  181)  sind  die  mit  einander 
in  Verbindung  tretenden  Figuren  mit  den  gleichen 
Seiten  an  einander  gesetzt,  ohne  durch  perspek- 
tivische Zeichnung  den  entstehenden  Körper  irgend 
hervortreten  zu  lassen.  Bei  den  an  die  Definition 
sich  anschliessenden  Sätzen  dagegen  sind  an  einer 
und  derselben  Abbildung  beide  Darstellungen  regel- 
mässig vereinigt:  die  Figuren  erscheinen  neben 
einander,  und  zugleich  treten  die  Körper  auf,  z.  B.  wo  (Figur  182)  aus 
der    Selbsterzeugung    eines    rechtwinkligen    Dreiecks    eine    Pyramide 


A 

T 


Fig.  181. 


\ 

H         Gl 

1 
B 

\ 

\ 

\  h 

A 

.w   A 

^ 

:^^ 

K^ 


Fig.  182. 


mit    quadratischer  ^Grundfläche    entsteht,    während    die    wechselweise 
Selbsterzeugung    eben   jenes    rechtwinkligen   Dreiecks   eine  Pyramide 


Gregoriiis  a  Sto.  Vincentio.  Wallis.  Pascal.  De  Sluse.  Huclde.  Van  Heuraet.      895 

dreieckiger  Grundfläche  hervorbringt,  welche,  wie  Gregorius  beweist^), 
die  Hälfte  der  erstereu  Pyramide  ist. 

Gregorius  geht  im  Allgemeinen  darauf  aus,  Körper  bald  auf  eine, 
bald  auf  andere  Weise  durch  dieselben  Figuren  erzeugen  zu  lassen 
und  dann  Zahlenbeziehungen  zwischen  jenen  verwandten  Körpern  zu 
entdecken. 

Ein  ziemlich  allgemeiner  Satz  in  dieser  Beziehung  ist  z.  B.  fol- 
gender-). Es  sollen  drei  Figuren  gegeben  sein,  die  sämmtlich  eine  in 
allen  drei  Figuren  gleich  lange  Strecke  als  Theil  ihrer  Begrenzung  be- 
sitzen. Im  Uebrigen  soll  die  Begrenzung  beliebig  aussehen  und  nur 
dem  Gesetze  gehorchen,  dass  die  in  gleichen  Höhen  errichteten  Senk- 
rechten auf  jener  gleichen  Strecke  in  den  drei  Figuren  fortwährend 
stetige  geometrische  Proportionen  bilden.  Wird  alsdann  durch  die 
erste  Figur  in  Verbindung  mit  der  dritten  ein  Körper  erzeugt  und 
ein  zweiter  Körper  durch  die  zweite  Figur  mit  sich  selbst,  so  müssen 
beide  Körper  gleichen  Rauminhaltes  sein.  Der  Beweis  wird  durch 
Einbeschreibung  sehr  dünner  Parallelopipeda  in  beide  Körper  geführt, 
worauf  die  Bemerkung  folgt,  die  Anzahl  solcher  Parallelopipeda  könne 
so  gross  genommen  werden,  dass  die  Körper  ganz  von  ihnen  erfüllt 
(wörtlich:  erschöpft)  würden,  parallelopipeda  Uta  ita  posse  multiplicari 
iit  Corpora  ipsa,  quibiis  Inscribuntur,  exhauriant. 

Vielleicht  ist  dieses  das  erste  Vorkommen  des  Wortes  exhaurire 
in  geometrischem  Sinne,  aus  welchem  man  dann  das  Wort  Ex- 
haustionsmethode  für  das  entsprechende  schon  bei  Euklid  und 
Archimed  vorkommende,  aber  nicht  besonders  benannte  Verfahren  ab- 
geleitet hat. 

An  geometrischer  Strenge  ist  diese  Abtheilung  des  Werkes  des 
Gregorius  den  Indivisibilien  Cavalieri's,  mit  welchen  man  am 
ersten  geneigt  sein  dürfte,  Vergleichungen  anzustellen,  wohl  über- 
legen. Dagegen  ist  die  Anwendbarkeit  der  Indivisibilien  entschieden 
eine  reichhaltigere  und  fruchtbarere  gewesen,  und  eine  gegenseitige 
Einwirkung,  welchem  von  beiden  Schriftstellern  man  nun  Kenntniss 
der  Leistungen  des  Anderen  zutrauen  wollte,  ist  hier  so  gut  wie  aus- 
geschlossen. 

Erfüllte  der  Ductus  plani  in  planum  das  VII.  Buch  des  Opus 
geometricum,  so  darf  auch  aus  dem  VI.  der  Hyperbel  gewidmeten 
Buche  ein  Satz  nicht  unerwähnt  bleiben^).  Wenn,  sagt  dort  Grego- 
rius, eine  Hyperbel  zwischen  ihren  Asymptoten  gezeichnet  ist,  und 
parallel  zur  einen  Asymptote  Gerade  zwischen   der  Hyperbel  und   der 


*;  Opus  geometricum  pag.  70-S.  ^)  Ebenda  pag.  738—739.  ^)  Ebenda 

pag.  597. 


896  81.  Kapitel. 

anderen  Asymptote  gezogen  werden,  welche  jeweils  gleiche  Flächen- 
theile  in  den  entstehenden  gemischtlinigen  Vierecken  begrenzen,  so 
bilden  jene  Geraden  eine  geometrische  Progression.  Das  ist  offenbar 
die  Wahrheit  von  der  Quadratur  der  auf  ihre  Asymptoten  be- 
zogenen Hyperbel  durch  Logarithmen,  welche  hier  entdeckt 
ist,  aber  ohne  dass  Gregorius  sich  dabei  des  Wortes  Logarithmen  be- 
dient hätte. 

Das  Opus  geometricum  hat  einen  sichtlichen  Einfluss  auf  ein 
vier  Jahre  später  erschienenes  Buch  von  Tacquet,  dem  Antwerpener 
Ordensgenossen  von  Gregorius,  ausgeübt.  Dessen  Cylindricormn  et 
ammlarium  l'ibri  quatuor^)  bieten  zahlreiche  Beispiele  von  Körper- 
inhalten, welche  zwar  nach  der  Methode  der  Lidivisibilien  berechnet 
werden  können,  und  von  Manchem  so  berechnet  worden  seien,  aber 
ohne  dass  damit  den  Anforderungen  mathematischer  Strenge  genügt 
wäre,  welche  er,  Tacquet,  stelle.  Er  ziehe  es  vor,  die  zu  messenden 
Räume  zwischen  zwei  Summen  von  Cylindern  oder  ähnlichen  Ge- 
bilden einzuschliessen,  die  theils  Grösseres,  theils  Kleineres  als  jene 
Körper  liefern,  ihnen  aber  dabei  beliebig  nahe  gebracht  werden 
können.  Das  Wort  exhauriri,  dessen  Tacquet  sich  bei  dieser  Gelegen- 
heit bedient,  zeigt  den  von  uns  angekündigten  Einfluss  des  Opus 
geometricum.  Ebendarauf  weist  die  von  Tacquet  angewandte  Redensart 
ducitur  perpencUculariter  (oder  wenn  nicht  rechtwinklig  ductiis  obliquus) 
hin,  welche  bei  ihm  freilich  statt  der  multipHcativen  Bedeutung  eine 
kinematische  angenommen  zu  haben  scheint,  welche  wir  im  Sinne 
des  Gregorius  noch  zurückweisen  mussten. 

Das  gleiche  Jahr  1651,  in  welchem  Tacquet's  Buch  in  Antwerpen 
erschien,  war  auch  das  Druckjahr  eines  mathematischen  Werkes  eines 
Toulouser  Genossen  des  Jesuitenordens,  des  Antoine  Lalouvere^) 
(1600 — 1664).  Der  Name  kommt  auch  in  der  Form  De  la  Loubere 
vor,  als  Lalovera  und  noch  in  anderen  aber  ähnlichen  Schreib- 
formen. Seine  erste  mathematische  Schrift  von  1651  führt  den  Titel 
Elementa  tetragonismica,  seil  demonstratio  quadraturae  circuli  et  hyper- 
holae  ex  datis  ipsorum  centris  gravitatis^).  Es  scheint  ein  gewisser 
Muth  dazu  zu  gehören,  diese  und  die  späteren  Schriften  Lalouvere's 
zu  lesen.  Der  Grundgedanke  ist  der  der  Umkehrung  der  Guldin- 
schen  Regel.  Wenn  der  Inhalt  eines  Körpers,  worunter  immer  ein 
Umdrehungskörper   zu    verstehen    ist,    bekannt   ist,    wenn    auch    der 


^)  Kästner  III,  266—275.  —  Mansion,  Besume  du  cours  d'analyse  infini- 
tesimale (1887)  pag.  288.  -)  Poggendorff  I,  1501.  —  Tannery,  Pascal  et 
Lalouvere  in  den  Memoires  de  la  societe  des  scienees  pliysiques  et  naturelles  de 
Bordeaux  T.  V  (3^  Serie).  =')  Montucla  11,  77.  —  Tannery  1.  c.  p.  6—8  des 
Sonderabzugs. 


Gregorius  a  Sto.  Viucentio.  Wallis.  Pascal.  De  Sluse.  Hiuldn.  Van  Ileuraet.     897 

Schwerpunkt  seines  Querschnittes  gegeben  ist  und  damit  zugleich  der 
von  diesem  Schwerpunkte  während  der  Umdrehung  beschriebene  Kreis, 
dann  ist  auch  der  Inhalt  des  Querschnittes  Ergebniss  eines  einfachen 
Divisionsexempels.  Das  Auffallendste  ist,  dass  Lalouvere  den  Guldin- 
schen  Satz  unabhängig  entdeckt  haben  will.  Guldin's  Name  und  An- 
sprüche seien  ihm  erst  nachträglich  aus  Cavalieri's  Exercitationes  be- 
kannt geworden.  Von  der  Entdeckung  durch  Pappus  weiss  Lalouvere 
wieder  nichts  oder  will  nichts  davon  wissen.  Lalouvere  gehört  auch 
zu  den  Mathematikern,  welche  mit  der  Cycloide  sich  beschäftigten. 
Im  August  1G58  veröffentlichte  er  eine  kleine  Schrift  De  cycloide 
mit  der  Raumbestimmung  des  Umdrehungskörpers  der  Cycloide  um 
ihre  Grundlinie.  Am  15.  September  theilte  er  brieflich  die  Rech- 
nung mit,  welche  ihm  das  Ergebniss  geliefert  habe,  aber  sie  war 
irrig,  und  schon  am  21.  September  zog  er  sie  als  solche  wieder  zurück 
Das  eigentliche  Verfahren  Lalouvere 's  war  eben,  trotzdem  es  auf  dem 
gleichen  Gedanken  wie  die  Elementa  tetragonismica  beruhend  von 
selbst  zur  Uebersetzung  in  eine  Rechnung  geführt  haben  müsste,  in 
der  Form  altgeometrisch  und  Lalouvere  selbst  ein  ungeübter  und  un- 
sicherer Rechner.  Der  Hauptsache  nach  geometrisch  war  desshalb 
auch  seine  1660  erschienene  Geometria  promota  in  VII  de  cycloide 
lihris,  welchen  als  Anhang  Fermat's  Abhandlung  über  Rectificationen 
von  Curven  beigegeben  war  (S.  869).  Die  in  der  Geometria  promota 
veröffentlichten  Dinge  waren  allerdings  richtig,  aber  Lalouvere's  Dar- 
stellung derselben  kam  zu  spät,  um  ihm  das  Erfinderrecht  zu  ver- 
schaffen, denn  nunmehr  war  das  Alles  schon  seit  einem  Jahre  bekannt. 

An  Quadraturen  hat  auch  der  spätere  Bischof  von  Gap  DeLyonne^) 
in  einer  Jugendschrift  sich  versucht,  die  1654  durch  Leotaud  heraus- 
gegeben wurde,  welcher  uns  selbst  aus  dem  mit  Gregorius  von  St. 
Vincentius  und  dessen  Schülern  über  die  Kreisquadratur  geführten 
Streite  (S.  716)  bekannt  ist.  Lyonne's  Amoenior  curvilineorum  con- 
templatio  beschäftigt  sich  hauptsächlich  mit  den  Mondchen  des  Hippo- 
krates  und  Figuren  ähnlicher  Entstehungsweise,  deren  genauer  Flächen- 
raum bestimmt  wird. 

In  Italien,  von  wo  aus,  wie  bei  aller  Anerkennung  der  Verdienste 
Kepler's  zugestanden  werden  muss,  durch  Cavalieri  der  wesentliche 
Anstoss  zur  allgemeinen  Behandlung  infinitesimaler  Fragen  gegeben 
worden  war,  hat  die  neue  Lehre  ausser  durch  Torricelli  nur  durch 
einen  Schriftsteller  noch  Erweiterung  gefunden.  Es  war  das  Stefano 
degli  Angeli'^)  (1623—1697),  Professor  der  Mathematik  in  Rom, 
dann   in   Padua.     In    der   Ueberschrift   seiner   Werke   nannte   er  sich 


1)  Montucla  11,76.     °)  Kästner  111,212—215.  —  Poggendorff  I,  40— 47. 

Oantor,  Geschichte  der  Mathem.    II.    2.  Aufl.  Ü7 


898  81.  Kapitel. 

Ordinis  Jesuatoruin  S.  Hieronymi  in  Veneta  Provincia  Definitor  Pro- 
vincialis, er  war  demnach  Ordensgenosse  Cavalieri's  und  nicht  Jesuit, 
wie  mitunter  irrig  angegeben  ist.  Schon  1654  schrieb  er  De  inßnitis 
pardbolis,  worunter  Curven  von  der  Gleichung  y'^  =  h^-''^  x  verstanden 
sind,  und  in  seinem  Miscellanemn  hyperholicum  et  paraholicmn  von 
1659  ist  denselben  Curven  Aufmerksamkeit  zugewandt.  Insbesondere 
ist  das  Tangentenproblem  für  dieselben  gelöst,  nachdem  Cavalieri  die 
Quadratur  veröffentlicht  hatte.  Analytische  Geometrie  im  Sinne  von 
Descartes  und  Fermat  findet  man  bei  Angeli  nicht.  Gleichwohl  ist 
durch  ihn  vermuthlich  ein  Wort  in  den  mathematischen  Sprachschatz 
eingeführt  worden,  welches  gerade  in  der  analytischen  Geometrie  sich 
als  zukunftsreich  bewährt  hat.  um  nämlich  anzugeben,  dass  in  der 
Parabel  y  =  h''^""  x  die  Subtangente  aus  zwei  Stücken  bestehe,  von 
denen  das  jenseits  vom  Scheitel  gelegene  das  n  —  1  -  fache  des  dies- 
seits vom  Scheitel,  also  innerhalb  der  Curve,  befi.ndlichen  Stückes  sei, 

fs«  =  ^  ^  nx  =  X  -\-  {n  —  l)x], 

spricht  er  von  dem  Verhältnisse  des  Theiles  des  Diameters  ausserhalb 
der  Parabel  ad  partem  abscissam  ab  ordinatim  applicata  versus  ver- 
ticem.  Wir  kennen  keine  ältere  Benutzung  des  Wortes  Abscisse  in 
lateinischen  Originalschriften.  Vielleicht  kommt  das  Wort  in  Ueber- 
setzungen  der  Apollonischen  Kegelschnitte  vor,  wo  Buch  I  Satz  20 
von  ccTCOTe^voiisvaig  die  Rede  ist,  wofür  es  kaum  ein  entsprechenderes 
lateinisches  Wort  als  abscissa  geben  möchte. 

Der  Ueberschrift  nach  ist  man  geneigt,  hier  auch  die  Exercitatio 
geometrica  de  maximis  et  minimis  von  1666  zu  nennen,  welche  Car- 
dinal Ricci ^)  (1619 — 1692)  zum  Verfasser  hat.  Es  scheint  indessen, 
als  wenn  dort  nur  antikgeometrische  Untersuchungen  angestellt  wären  ^). 

Noch  weniger  als  in  Italien  sind  in  Deutschland  Fortschritte  in 
der  Infinitesimalrechnung  gemacht  worden,  wie  sich  aus  den  Zeit- 
verhältnissen leicht  begreift.  Kepler 's  Doliometrie  war  im  denk- 
bar ungünstigsten  Augenblicke  erschienen.  Wüthete  doch 
1618  bis  1648  in  weitverbreiteten  Gegenden  Deutschlands  der  ent- 
setzliche von  seiner  Dauer  benannte  Krieg.  Hat  man  doch  fast  mehr 
Anlass  zur  Verwunderung  darüber,  dass  während  jener  Zeit  einzelne 
Persönlichkeiten,  wie  Schwenter  und  Faulhaber,  wissenschaft- 
lichen Sinn  besassen  und  Aufbewahrenswerthes  leisteten,  als  darüber, 
dass  nach  Aufhören  des  Krieges  noch  zwei  Jahrzehnte  verstreichen 
mussten,   bis   in   dem  materiell  und  geistig  ausgesogenen  Lande   ein 


^)MoD.tuclaII,  91.  —  Fabbroni,  Vitae  Italorum  doctrina  excellentium  II. 
^  Vergl.  Davido  Besso,  Sopra  tin  opuscolo  di  Michelangelo  Ricci.  Roma  1893, 


Gregorius  a  Sto.  Viucentio.  Wallis.  Pascal.  De  Sluse.  Hiidde.  Van  Heuraet.       899 

Matliematiker  ersten  Ranges  erschien,  Leibniz,  bis  zu  dessen  Auf- 
treten wir  diesen  Band  fortführen.  Der  Wissenschaft  selbst  erwuchs 
durch  das  Brachliegen  im  einzelnen  Lande  kaum  Schaden.  Seit  sie, 
dem  nationalen  Gebiete  entrückt,  Weltwissenschaft  geworden  war, 
fand  sie  bald  da,  bald  dort  Förderer  und  Förderung  und  wurde  damit 
unabhängiger  von  politischen  Begebenheiten,  welche  nachgerade  auf 
hören,  einen  Einfluss  von  der  Bedeutung  zu  üben,  dass  es  unentbehr- 
lich wäre,  ihre  Geschichte  mit  der  Geschichte  der  Wissenschaften  zu 
vermengen.  Was  Franzosen  leisteten,  während  der  dreissigjährige 
Krieg  Deutschland  verheerte,  haben  wir  gesehen.  England  litt  ähn- 
lich wie  Deutschland  unter  dem  Gräuel  blutiger  Kämpfe,  aber  es 
waren  wenigstens  nicht  fremde  Heere,  die  dort  ihre  vernichtenden 
Schlachten  schlugen,  und  als  Cromwell  gestorben  und  das  Königthum 
wieder  eingesetzt  war,  erholte  die  englische  Wissenschaft  sich  ver- 
hältnissmässig  schnell.  Eine  ganze  Anzahl  von  Mathematikern  trat 
dort  auf.  Ihre  Untersuchungen  griffen  in  fast  alle  Theile  unserer 
Wissenschaft  ein,  auch  in  das  Gebiet  der  Infinitesimalrechnung. 

Vor  allem  haben  wir  bei  John  Wallis  zu  verweilen.  Schon 
seine  analytisch-geometrische  Darstellung  der  Kegelschnitte  von  1655 
(S.  820)  gehört  bis  zu  einem  gewissen  Grade  hierher,  da  in  ihr  die 
ludivisibilien  Cavalieri's  bewusste  und  erfolgreiche  Anwendung  fanden, 
aber  ganz  besonders  hervorragend  war  die  gleichfalls  1655  gedruckte 
Arithmetica  Infinitorum^).  Inhalt  des  Werkes  ist  die  Auffindung  von 
Quadraturen  und  Kubaturen,  also  wesentlich  das  Gleiche,  was  die 
Aufgabe  von  Cavalieri's  ludivisibilien  bildet.  Auch  darin  zeigt  sich 
Uebereinstimmung,  dass  bei  den  Quadraturen  der  durch  eine  Curve, 
durch  die  Abscissenaxe  und  eine  Schlussordinate  begrenzte  Raum  in 
seinem  Verhältnisse  zu  dem  Rechtecke  aufgesucht  wird,  dessen  Seiten 
die  Schlussordinate  und  die  Abscissenaxe  sind,  dass  es  bei  den  Kubaturen 
auf  das  Verhältniss  der  Umdrehungskörper  der  beiden  erstgenannten 
ebenen  Figuren  ankommt.  Endlich  ist  die  Methode  so  weit  überein- 
stimmend, dass  die  Summe  gewisser  Potenzen  aller  einzelnen  Ordi- 
naten  einestheils,  die  der  Schlussordinate  anderntheils  zur  Herstellung 
jenes  Verhältnisses  ihre  Hilfe  bieten  müssen.  Hiermit  und  mit  dem 
bei  Cavalieri  und  bei  Wallis  übereinstimmend  richtigen  Endergebnisse 
mancher  Untersuchungen  ist  aber  die  Aehnlichkeit  abgeschlossen. 
Die  grosse  Verschiedenheit  liegt  darin,  dass,  während  Cavalieri  be- 
müht war,  seine  Ableitungen   so    geometrisch  als  irgend  möglich  zu 

^)  Johannis  Wallis,  Opera  mathematica  I,  355 — 478.  Auszüge  bei  Mon- 
tucla  II,  348 — 353.  —  Marie,  Histoire  des  sciences  mathematiques  et  physiqiiefi 
IV,  149  — 165.  —  Ball,  History  of  the  study  of  matJiematics  at  Cambridge 
pag.  41 — 44.  —  Reiff,  Geschichte  der  unendlichen  Reihen  S.  6—13. 

57* 


900  «1-  Kapitel. 

gestalten,    Wallis    mit   vollem    Bewusstsein    rechnerisch    verfuhr    und 
schon   durch  den  gewählten  Titel  Arithmetica  Infinitorum  auf  dieses 
Bestreben  hinwies.    Wir  würden  sagen:  Wallis  knüpfte  an  eine  Inte- 
grationsmethode Kepler 's  an  (S.  830),  wenn  wir  nicht  bezweifelten,^ 
dass  er  dieselbe  kannte. 

Soll  z.  B.  gezeigt  werden^),  dass  die  Summe  3.  Potenzen  aller 
Ordinaten  sich  zu  der  gleicher  Potenzen  der  Schlussordinate  im  Drei- 
ecke wie  1  :  4  verhalten,  was  Cavalieri  ausgesprochen  hatte,  so  führt 
Wallis  den  Beweis  dadurch,  dass  er  mehr  und  mehr  3.  Potenzen 
ganzer  Zahlen  von  der  0  anfangend  bildet  und  nun  das  gesuchte 
Verhältniss  bei  wachsender  Anzahl  der  gewählten  Glieder  darauf 
prüft,  ob  wirklich  1  :  4  herauskommt.     Er  findet  aber: 

0  -f  1  _  £    ,    JL      0  +  1  +  8  ^  J_    I    Jl  0  +  1  +  8  +  27     ^  i    I     1 

1  +  1  ~  4     '     4  '     8  +  8  +  8  ~  4      •"   8  '     27  -f  27  -|-  '27  -f  27         4  ~l~  1-2  ' 

u.  s.  w.  bis 

0  +  1  +  8-1 1-216         ^  J_  _i    J^ 

216  +  216  +  216  -|-  •  •  •  +  216  4   "^  24  ' 

Der  Bruch,  um  welchen  —  übertrofieu  wird,  hat  zum  Nenner  oifenbar, 

ut  pateif  stets  um  4  zunehmende  Zahlen  und  wird  stetig  kleiner,  so 
dass  er  endlich  kleiner  als  jeder  beliebige  angebbare  Werth  wird,  und 
wenn  man  bis  ins  Unendliche  die  Versuche  ausdehnt,  geradezu  ver- 
schwindet-). Aehnlicherweise  werde  man,  fährt  Wallis  in  den  nach- 
folgenden Lehrsätzen  fort,  die  Verhältnisszahl  bei  der  Summe  4.,  5., 
G.  Potenzen  finden;  sie  sei  1:5,  1:6,  1:7  u.  s.  f.  Denn,  sagt  er, 
der  Versuch  zeigt,  dass  die  durch  Induction  gefundenen  Verhältniss- 
zahlen diesen  stetig  näher  kommen,  so  dass  der  Unterschied  kleiner 
als  jeder  angebbare  wird,  und  bei  Fortsetzung  des  Verfahrens  ins 
Unendliche  verschwindet^). 

Man  wird  nicht  verkennen,  dass  ein  Stehenbleiben  bei  blosser 
Induction  ohne  Ableitung  einer  allgemeinen  Formel,  welche  derselben 
als  Stütze  dient,  dass  ein  kühl  ausgesprochenes  patet,  es  ist  offenbar, 
nicht  mit  den  heutigen  Anforderungen  mathematischer  Strenge  in 
Einklang  zu  bringen  sind.  Mau  wird  ebensowenig  verkennen,  dass 
Wallis  zur  Anstellung  seiner  Versuche  überhaupt  erst  überging,  nach- 


1)  Wallis,  02)era  I,  ;^82  Prop.  XXXIX  Lemma  und  Prop.  XL.  -)  Cum 

autem  crescente  numero  terminorum  excessus  ille  super  rationem  suhquadruplam 
ita  continue  mimmtur,  ut  tandem  quolibet  assignabili  minor  evadat  (ut  patet)  si 
in  infinitum  procedatur,  prorsus  evanitmus  est.  ^)  Ebencfa  I,  383  Prop.  XLIII 

Lemma:  Facto  enim  experimento  patebit  ratiwies  inductione  reperias  ad  has  con. 
tinue  propius  accedere  ita  ut  dijferentia  tandem  evadat  quavis  assignabili  minor; 
udeoipie  in  infinitum  conti nuata  evanescet. 


Gregorins  a  Sto.  Yincentio.  Wallis.  Pascal.  De  Sliise.  Hudde.  Van  Heiiraot.        901 

denij  mau  darf  sogar  getrost  sagen,  weil  er  die  zu  ersvarteuden  Er- 
gebnisse voraussah.  Cavalieri,  Fermat,  Roberval,  Torricelli 
hatten  mehr  oder  weniger  unabhänorior  von  einander  gezeigt,  dass, 
sofern  m  nur  eine  ganze  positive  Zahl  war,  das  Verhältniss  der  Summe 
xler  y«*^"  Potenzen  der  in  arithmetischer  Reihe  wachsenden  Zahlen  zu 
der  ebenso  oft,  als  Glieder  vorhanden  waren,  genommenen  7>i*®"  Po- 
tenz der  grössten  Zahl  sich  als  1  :  (m  -f-  1)  erweise,  und  nun  machte 
Wallis,  der  allerdings  seiner  bestimmten  Aussage^)  nach  Cavalieri's 
Schrift  nicht  gelesen  hat,  aber  deren  Inhalt  aus  dem  von  Torricelli 
gegebenen  Berichte  kannte,  nachträglich  die  hierdurch  herausgeforderten 
Versuche! 

Aber  man  wird  ebensowenig  Wallis  das  Verdienst  absprechen, 
die  heute  noch  übliche  Form  des  Grenzüberganges  erfunden 
zu  haben.  Das  Wort,  der  Unterschied  werde  kleiner  als  jeder  nur 
angebbare,  quavis  assignahüi  minor,  hat  erst  das  Verständniss  einer 
Grenze  als  eines  Werdenden  zu  erzeugen  vermocht,  und  es  würde 
hochbedeutsam  hervortreten,  wäre  selbst  Wallis  im  Uebrigen  bei  den 
schon  bekannten  Ergebnissen  stehen  geblieben. 

Nun  machte  er  aber  über  seine  Vorgänger  hinaus  einen  gewaltigen 
Schritt,  indem  er  eine  Kühnheit  der  Induction  an  den  Tag  legte, 
welche,  an  und  für  sich  nicht  gerechtfertigt,  durch  die  ihr  entnom- 
menen Ergebnisse  die  Entschuldigung  des  Erfolges   gewinnt.     Wenn 

bei  der  w/*®"  Potenz  der  Bruch  — .-^  ,    bei   der  m  -\-  2^*""  Potenz    der 

m  -[-  1 

Bruch  - — r~r — |—  ,  bei  der  ;;/  +  n'*""  Potenz   der  Bruch'- — ; r—  auf- 

??!  -|-  2  »  -f- 1  '  '  m .+  «  +  1 

tritt,  so  ist  m-\-n  das  arithmetische  Mittel  zwischen  m  und  m-\-2n 
und  gleichzeitig  der  Nenner  m  -\-  n  -\-  1  das  arithmetische  Mittel 
zwischen  den  Nennern  nt  -f-  1  und  m  -{-  2n  -f-  1-     Das  arithmetische 

Mittel  zwischen  m  -\-  1  und  m  -|-  >?  -f  1  ist  nun  in  -\-  —  -\-  1 ,  folg- 
lich wird   der  Bruch  sein,  welcher  bei  Untersuchung  der 

»  +  I  +  1 

»^  +  2  *""  P°^^"^  (f^^  Mittel  zwischen  m  und  m  -f-  n)  entsteht,  auch 
wenn  n  keine  gerade  Zahl  ist,  d.  h.  auch  wenn  es  um  Quadratwurzeln 
sich  handelt,  und  ganz  allgemein  ist  die  Geltung  der  Verhältnisszahl 
1  :  (m  -\-  1)  davon  unabhängig  gemacht,  ob  m  ganzzahlig  oder  nicht. 

Bei  m  =  —  entsteht  das  Verhältniss  2:3;  bei  »i  =  ~  entsteht  3:4- 
bei  m  =  —  entsteht  10  :  11  und  so  fort-J,  et  sie  deinceps.    Sogar  den 


1)  Wallis  Opera  I,  357.  ^)  Ebenda  I,  390  Prop.  LIV. 


902  ^1-  Kapitel. 

Fall,  dass  m  irrational  wird,  schliesst  der  kühue  Neuerer  mit  ein : 
Sin  Index  supjionatur  irrationaUs,  puta  "|/3,  erit  ratio  ut  1  arf  1  +1/3 
etc.,  d.  h.  auch  bei  m  =  j/3  ist  die  Proportion 

h  =  n 

noch  immer  wahr! 

Wie  wird  nun  die  Sache,  wenn  n  aus  den  positiven  Zahlen  aus- 
scheidet? Wallis^)  sagt  nicht  geradezu,  es  sei  a~^  =  — ,  d.  h.  er  be- 
nutzt   noch    nicht    negative    Exponenten,    so    wenig    er    ausdrücklich 

p,       ,  

a^  =  yaP  schreibt,  aber  in  seinen  Schlüssen  hat    er  dieses  Bewusst- 

sein,  welches,  wie  die  Leser  dieses  Bandes  wissen,  durch  Jahrhunderte 

vorbereitet  war ,  klar  an  den  Tag  gelegt.     Wird  m  =  —  1 ,   so   geht 

in  —  oder  oo  über.     Cum  enim  primus  terminus  in  serie  Fri- 


»»  +  1        0 

manorum,  d.  h.  der  ersten  Potenzen  der  auf  einanderf olgenden  Zahlen, 
sit  0,  primus  terminus  in  serie  reciproca,  d.  h.  in  der  Reihe  der  reci- 
proken  Zahlen,  erit  oo  vel  infinitus:  sicut  in  divisione,  si  divisor  sit  0, 
quotiens  erit  infinitus^).  Wir  machen  auf  das  hier,  wie  in  der  Ab- 
handlung über  die  Kegelschnitte  (S.  820)  auftretende  Unendlichkeits- 
zeichen aufmerksam,  auf  die  nebenbei  auftretende  Bemerkung,  der 
Divisor  0  bringe  den  Quotienten  oo  hervor,  ohne  dass  von  der  Grösse 
des  Dividenden  dabei  die  Rede  wäre,  auf  die  Wortverbindung  der 
reciproken  Reihe,  series  reciproca.  Wallis  spricht  auch  von  reci- 
proken  Potenzgrössen^).  Wie  die  Indices  der  directen  Reihe 
aufsteigend  1,  2,  3  .  .  .  sind,  so  haben  die  ihnen  reciproken  Grössen 
die  entgegengesetzten  negativen  Indices,  indices  contrarios  negativos, 
-1,-2,-3... 

Wallis  gelangt  dabei  zu  dem  von  ihm  allerdings  nicht  ver- 
standenen Satze  des  Ueberganges  vom  Positiven  zum  Nega- 
tiven    durch     das     Unendlichgrosse     hindurch*).      Sein    Miss- 

verständniss  besteht  darin,  dass  er  meint,  —  wachse  fortwährend,  wenn 

a  um  je  eine  Einheit  abnehme,  und  dieses  Wachsen  habe  keinen  Ab- 
schluss  bei  a  =  0.     Wallis  meint  also,  es  sei 

u.  s.  w.,  es  seien  die  negativen  Zahlen  mehr  als  unendlich. 


»)  Wallis,  Opera  I,  395  Prop.  LXIV.  «)  Ebenda  I,  405  Prop.  XCI. 

3)  Ebenda  I,  407  Prop.  CI,  SchoUum.  ')  Ebenda  I,  409  Prop.  CIV. 


Gregoriiis  a  Sto.  Vinoentio.  Wallis.  Pascal.  De  Sluse.  Hudde.  Vau  Heuraet.     903 

Wir  haben  auf  einige  formelle  Neuerungen  hingewiesen,  mit 
welchen  Wallis  vorging.  Ihm  gehört  auch  das  Wort  Interpolation 
an:  zwei  Reihen  können  leicht  interpolirt  werden,  interpolar i  possimt^), 
indem  man  beliebig  viele  Stellen  einschiebt.  Ferner  ist  bei  Wallis 
der  Name  der  hypergeometrischen  Reihe  anzutreffen^);  er  ver- 
steht darunter  die  Reihe,  deren  Glieder 

.        1     A        -|      3      5         ^357 


1  •  3  •  5  •  •  •  (2  w  -f-  1) 
2  •  4  •••  2w 


heissen,  deren  allgemeines  Glied  also 

Mit  ähnlich  gebauten  Ausdrücken  hat  Wallis  zu  thun,  wo  er 
an  die  Aufgabe  herantritt,  die  Quadratur  des  Kreises  zu  ermitteln 
und  dabei  die  berühmte,  seineu  Namen  führende  Factoreufolge 
(S.  766)  auffindet^).  Ersetzt  man  die  Bezeichnung  von  Wallis  durch 
die  der  heutigen  Mathematik,  ohne  von  seinem  Gedankengange  ab- 
zuweichen, so  ist  die  Fläche  —  des  Kreisquadranten  vom  Halbmesser  1 

1 
durch   das  Integral    /  ]/l  —  x^  dx  dargestellt ,  das  Quadrat  des  Halb- 

0 

messers   durch  1.     Das  Verhältniss  dieses  Quadrates  zu  jener  Fläche 
ist  also 

4:7t  =  l:  f(l  —xydx. 

0 

Jenes  Integral  ist  aber  enthalten  in  der  allgemeineren  Form 

r         - 

0 

und  nicht  minder  in  der  allgemeineren  Form 
1  —  x^'  )^  dx. 


/(■ 


Aus   der  ersteren   entsteht    es    durch   A  =  1,    aus   der   zweiten   durch 
^  =  1,  aus  der  noch  zusammengesetzteren  Form 


*)  Wallis,  Opera  I,  443  Prop.  CLXX.  In  Prop.  CXC  (I,  463)  kommt  statt 
interpolatio  das  Wort  intercalatio  vor,  dessen  man  sich  sonst  vorzugsweise  in  der 
Chronologie  (Schaltmonat,  Schalttag)  bediente.  ^)  Ebenda  I,  466  im  4.  Alinea. 
^)  C  a  y  1  e  y ,  The  '  investigation  hy  Wallis  of  his  expression  for  ti  in  dem 
Quarterly  Journal  of  Mathematics  XXIII,  165  sqq.  zeichnet  sich  keineswegs  durch 
Klarheit  aus.  Vorzuziehen  sind  die  Darstelluncren  hei  Marie  und  beiReiff  a.a.O. 


904  81.  Kapitel. 


/( 


1  _  ^/M  -^  dx 


durch  gleichzeitige  Annahme  von  A  =  1  und  fi  =  1 .  Geradzahlige 
Werthe  von  A  gestatten  die  Potenzirung  unter  dem  Integralzeichen 
auszuführen,  wodurch  zwar  mehrgliedrige  Ausdrücke  auftreten,  deren 
einzelne  Monome  aber  nach  den  Regeln,  über  die  wir  berichtet  haben, 


un 


d  die  als 


1 
/  x'"  dt 


dx  =  — r 

,  ^  ■»■  + 


sich  zusammenfassen  lassen,  integrirt  werden  können.  Da  ferner  für 
Wallis  bereits  der  Satz  vorhanden  war,  den  wir  heute  dahin  aus- 
sprechen, das  Integral  einer  Summe  sei  gleichbedeutend  mit  der  Summe 
der  Integrale,  so  findet  er  eine  ganze  Anzahl  von  Werthen  der  Function 

l—x^Pdx 


/(■ 


bei  A  =  0,  2,  4,  6,  8  und  ^  =  —  1,  0,  1,  2,  ...  8,  von  welchen  die 
bei  jLt  =  —  1  erscheinenden  allerdings  falsch  sind.  Ist  gleichzeitig  A 
und  ^  grad,  so  haben  die  Integrale  eine  sehr  symmetrische  Gestalt? 
und  Wallis  nimmt  nach  derselben  Induction,  von  welcher  er  fort- 
während Gebrauch  macht,  an,  diese  Symmetrie  müsse  erhalten  bleiben, 
auch  wenn  A  ungrad  gewählt  wird.  Kurzum  Wallis  beabsichtigt  eine 
Interpolation,  welche  den  doppelten  Zweck  erfülle,  einen  Mittel werth 
zwischen  zwei  Ausdrücken  zu  finden,  der  als  Werth  zwischen  beiden 
enthalten  in  der  Form  mit  der  Bauart  beider  übereinstimme.  Diesem 
Doppelzweck  rückt  er  allmählig  dadurch  näher,  dass  ein  Factor,  der 
als  Quadratwurzel  geschrieben  die  Symmetrie  stört,  allmählig  beseitigt 
wird,  und  dieses  geschieht,  indem  der  Radicand  der  Einheit  näher 
gebracht  wird,  während  andere  Factoren  daneben  erscheinen,  die  in 
das  allgemeine  Gesetz  passen.     Schliesslich  erscheint 

4    3-3-5-5-7.7-- 

^         2-4-4-6.6S-- 

mit  im  Zähler  und  im  Nenner  ins  Unendliche  fortgesetzten  Factoren- 
folgen^). 

Wenige  Jahre  nach  der  Arithmetica  Lnfinitorum  gab  Wallis  1659 
eine  Schiift  heraus^),  welche  den  umfangreichen  Titel  führt:  Tradatus 
duo.  Prior  de  Cycloide  et  corporibiis  inde  genitis.  Posterior  episto- 
laris,  in  qua  agitur  de  Cissoide  et  corporibus  inde  genitis  et  de  cur- 


1)  Wallis,  Opera  I,  469  Prop.  CXCI.         -)  Ebenda  I,  489—569. 


Gregorius  a  Sto.  Vincentio.  Wallis.  Pascal.  De  Sluse.  Hudde.  VanHenraet.      905 

varum  tum  Unearum  EvQ^v6st^  tum  superficienmi  nXarvöfia.  Auf 
die  Veranlassung  zu  dieser  Schrift^),  welche,  bevor  sie  gedruckt 
erschien,  schriftlich  und  zwar  vermuthlich  in  wenigstens  theilweise 
anderem  Wortlaute  Verbreitung  gefunden  hatte,  kommen  wir  sogleich 
zurück.  Was  den  Inhalt  betrifft,  so  setzt  er  sich  zunächst  aus  den 
wichtigsten  Sätzen  über  die  Cycloide  und  über  deren  je  nach  Wahl 
der  Umdrehungsaxe  verschiedenartige  Umdrehungskörper  zusammen. 
Als  Anhang  folgen  sodann-)  die  in  Freundeskreisen  seit  Juli  1658 
bekannt  gegebenen  Untersuchungen  von  Christoph  Wren,  über 
die  Tangente  der  Cycloide  und  namentlich  über  deren  Rectification, 
welche  von  allen  Seiten  ihm  als  Erfindung  zugestanden  worden  ist 
(S.  873).  Die  Rectification  vollzog  Wren  ganz  anders  als  Fermat 
und  auch  ein  holländischer  Mathematiker  Van  Heuraet  es  thaten. 
Diese  führten  jedenfalls  ohne  von  Torricelli's  früheren  Arbeiten 
(S.  891)  Kenntniss  zu  haben  die  für  sie  neue,  vielfach  in  ihrer  Aus- 
führbarkeit angezweifelte  Aufgabe  der  Rectification  auf  die  schon 
lange  bekannte  und  für  mannigfache  Curven  erfolgreich  durchgeführte 
Quadratur  zurück.  Wren  dagegen  schloss  die  Curve  in  zwei  säge- 
förmige  Linienzüge,  poly(jona  serrata,  ein,  von  welchen  der  innere 
kleiner,  der  äussere  grösser  als  ein  Gegebenes  bleiben  musste,  wäh- 
rend der  Unterschied  beider  verschwindend  klein  wurde.  Noch  vor 
Wren's  Arbeiten  soU  William  Neil  (1637—1670)  bereits  1657  die 
Rectification  der  cubischen  Parabel  vollzogen  haben.  So  behauptete^) 
wenigstens  Wallis  1659,  so  wiederholte  er  in  einem  1673  in  |den 
sogenannten  Philosophical  Transactions,  den  Mittheilungen  der  Lon- 
doner königlichen  Gesellschaft  der  Wissenschaften,  zum  Abdrucke 
gebrachten  Briefe.  Auch  Neil's  Rectification  besteht  in  der  Zurück- 
führung  auf  eine  Quadratur.  Eine  Möglichkeit  der  Rectification  hatte 
übrigens  auch  Wallis  selbst  bereits  in  der  Arithmetica  Infinitorum 
behauptet,  und  auf  diese  Stelle  machte  ein  weiterer  Anhang  der  Schrift 
von  1659  aufmerksam. 

Diesen  Anhang  bildet  ein  Brief  an  Huygens.  Zuerst  besprach 
Wallis  in  demselben  die  Anfeindungen  Torricelli's,  welche  er 
ebenso  verurtheilte ,  wie  es  später  1663  Carlo  Dati  that  (S.  887). 
Torricelli  sei  gewiss  kein  litterarischer  Dieb  an  Roberval's  geistigem 
Eigenthum  gewesen,  und  wenn  Roberval's  Landsleute  fortwährend 
auf  Briefe  pochten,  in  welchen  Torricelli  Roberval's  Erstlingsrechte 
anerkenne,  so  beweise  diese  Anerkennung  nur  die  Unbefangenheit 
des  edeldenkenden  Mannes.     Auf  ein  Geständniss  aber,  dass  Torricelli 


1)  Montucla  11,  68—70.         ^  Wallis,  Opera  I,  .533—541  ^)  Ebenda 

I,  551—553. 


906  81.  Kapitel. 

von  jenen  Untersuchungen  gewusst  habe,  lasse  sich  die  Sache  nicht 
zuspitzen.  Dann  wendet  sich  Wallis  zu  dem  von  Huygens  ent- 
deckten Satze,  dass  der  von  der  Cissoide  und  ihrer  Asymptote  ein- 
geschlossene Flächenraum  das  Dreifache  des  erzeugenden  Kreises  sei^), 
und  liefert  dessen  Beweis  durch  die  Arithmetica  Infinitorum,  d.  h. 
einen  Beweis  durch  Interpolation  von  Zahlenreihen.  Diese  Aus- 
einandersetzung führt  weiter  zu  Rectificationsversuchen.  Hier  gedenkt 
er^),  bevor  er  Neil's  Verdienste  hervorhebt,  dessen,  was  er  seiner  Zeit 
im  XXXVIII.  Satze  der  Arithmetica  Infinitorum^)  angedeutet  habe.  Die 
Sehnen  einer  Curve,  heisst  es  dort  ungefähr,  sind  stets  Hypotenusen 
rechtwinkliger  Dreiecke,  deren  Katheten  Stücke  von  Abscissen  und 
Ordinaten  der  Curve  sind.  Vermöge  der  Gleichung  der  Curve  kann 
daher  jene  Sehne  als  von  dem  Abscissenstücke  abhängig  oder  zu  ihm 
in  einem  gewissen  Verhältnisse  stehend  betrachtet  werden,  und  da 
die  Summe  der  Sehnen  um  so  genauer  mit'  der  Curve  zusammenfällt, 
je  kleiner  die  einzelne  Sehne  ist,  so  kommt  auch  die  Rectification 
auf  die  Gedankenfolge  der  Arithmetica  Infinitorum  zurück.  Wir 
würden  heute  die  letzte  Behauptung  in  die  Worte  kleiden,  es  komme 
auf  die  Integration  der  Gleichung 


o-^+m 


an.  Es  ist  wirklich  auffallend,  dass  Wallis  dieser  die  Aufgabe  un- 
mittelbar ins  Auge  fassenden  Methode,  von  welcher  die  von  Wren 
benutzte  nach  unseren  darüber  gegebenen  Andeutungen  nur  so  un- 
wesentlich abweicht,  dass  eine  Abhängigkeit  Wren's  von  der  be- 
treffenden Stelle  der  Arithmetica  Infinitorum  gar  nicht  ausgeschlossen 
ist,  selbst  wieder  den  Rücken  kehrt,  wo  er  in  der  Fortsetzung  des 
Briefes  an  Huygens  die  Ausstreckung,  svQ^vvaiq^  der  Curven,  die 
Ausbreitung,  TtXarva^og^  der  Oberflächen,  worunter  aber  nur  Quadra- 
turen ebener  Figuren  zu  verstehen  sind,  sich  zur  Aufgabe  stellt.  Da 
ist  es  immer  wieder  eine  Zurückführung  von  Rectificationen  auf 
Quadraturen,  genauer  gesagt  die  Führung  des  Nachweises,  dass  eine 
Curvenlänge  zu  einer  Strecke  sich  ebenso  verhalte,  wie  eine  Curven- 
fläche  zu  einem  Rechtecke,  welche  angestrebt  wird.  Wir  können 
nicht  umhin,  auch  auf  Fermat's  Rectification  (S.  872)  nochmals  hin- 
zuweisen. Fermat  wusste  in  derselben  von  Wren's  Rectification  der 
Cycloide.  Wenn  er  diese  Kenntniss,  wie  sich  zeigen  wird,  auch  aus 
einem  Briefe  Wren's  an  Pascal  schöpfte,  so  hat  er  doch  muthmass- 
lich  Wallis'  Schrift  von  1659  gelesen.  Sein  erster  Nachweis  von  der 
Möglichkeit  einer  Rectification  ist  im  Charakter  Wren's,   seine  Aus- 


')  Wallis,  Opera  I,  545.        ")  Ebenda  I,  550.        ^)  Ebenda  I,  380—381. 


Gregorius  a  Sto.  Vincentio.  Wallis.  Pascal.  De  Sluse.  Hudde.  Van  Heuraet.     907 

führimg  der  Rectification  verlässt  die  eingeschlagene  Bahn  wieder  mit 
der  gleichen  Folgewidrigkeit,  wie  Wallis  sie  übte. 

Wir  haben  zugesagt,  auf  die  Veranlassung  zur  Veröffentlichung 
der  Schrift  De  Cycloide  zurückzukommen.  Auch  die  Erfüllung  dieser 
Zusage  führt  uns  zurück  nach  Frankreich  und  zu  einem  Schriftsteller 
aus  dem  engsten  Roberval'schen  Kreise,  zu  Blaise  Pascal.  Seine 
Erfindung  einer  Rechenmaschine,  seine  Arbeiten  über  die  Kegel- 
schnitte, über  das  arithmetische  Dreieck  mit  den  verschiedenen  An- 
wendungen desselben  auf  Wahrscheinlichkeitsrechnung,  auf  Zahlen- 
theorie u.  s.  w.  fallen  sämmtlich  vor  Ende  August  1654.  Es  folgte 
eine  in  mathematischer  Beziehung  unfruchtbare  Unterbrechung.  Im 
September  1654  wandte  Pascal  in  Folge  von  Ereignissen,  welche  voll- 
ständig zu  ermitteln  noch  nicht  gelungen  ist,  von  der  Mathematik 
sich  ab.  Ganz  andere  Gedanken  waren  es,  welche  ihn  ausschliesslich 
beschäftigten,  welche  ihn  mit  Männern  gleicher  Richtung  in  enge 
Verbindung  brachten,  und  welche  ihren  schriftstellerischen  Ausfluss 
in  den  vom  Januar  1656  bis  Juni  1657  erschienenen,  gegen  den 
Jesuitenorden  gerichteten  Provinzialbriefen  hatten.  Von  da  an  etwa 
mögen  die  alten  mathematischen  Neigungen  Pascal's  wieder  hervor- 
getreten sein,  und  in  schlaflosen  Nächten  zu  Anfang  des  Jahres  1658 
erfolgreiche  Untersuchungen  über  die  Cycloide  hervorgebracht  haben. 
Im  Juni  1658  traten  dieselben  in  Gestalt  eines  namenlos  veröffent- 
lichten Preisausschreibens^)  in  die  Oeffentlichkeit.  Galilei  und  Torri- 
celli,  hiess  es  dort  (S.  885),  hätten  mit  der  Cycloide  sich  beschäftigt. 
Gewisse  Fragen  seien  aber  noch  immer  unerledigt,  und  deren  Beant- 
wortung werde  nun  zur  Wettbewerbung  ausgeschrieben.  Sei  (Figur  183) 


Z  ein  beliebiger  Punkt  der  Cycloide  und  von  ihm  aus  parallel  zur 
Grundlinie  ÄD  eine  Gerade  ZY  bis  zum  Durchschnitte  mit  der  Axe 
CF  gezogen.  Man  verlangt  nun  zu  wissen:  die  Fläche  CZY  und 
deren  Schwerpunkt;  Rauminhalt  und  Schwerpunkt  der  Umdrehungs- 
körper von  CZY  sowohl  um  ZY  als  um  CY;   endlich   die  Schwer- 


1)  Pascal  m,  322  sqq. 


n08  Sl-  Kapitel. 

punkte  der  vier  Körperstücke,  welche  entstehen,  wenn  man  die  beiden 
genannten  Umdrehungskörper  je  durch  eine  durch  die  jedesmalige 
Drehungsaxe  hindurchgehende  Ebene  schneidet.  Die  Sonderfälle  sollten 
dabei  hervorgehoben  werden,  dass  Z  mit  A  und  JB  zusammenfalle,  Y 
also  mit  F  und  mit  G  (dem  Mittelpunkte  der  Axe  (jF\  Man  ver- 
lange nur,  dass  die  Methode  der  Ermittelung  richtig  und  deutlich 
nachgewiesen  werde,  ob  dabei  etwa  Rechenfehler  unterlaufen,  komme 
nicht  in  Betracht.  Fernere  Bedingung  sei,  dass  die  Lösung  vor  dem 
1.  October  1658  erfolge.  Als  Preis  wurden  60  spanische  Dublonen 
ausgesetzt,  welche  bei  Herrn  von  Carcavy  niedergelegt  seien  und  von 
welchen  dem  ersten  Einsender  40,  dem  zweiten  20  ausbezahlt  werden 
sollten.  Sollte  überhaupt  keine  preiswürdige  Lösung  am  1.  October 
vorhanden  sein,  so  werde  der  Preisausschreiber  seine  eigenen  Auf- 
lösungen veröffentlichen,  deren  dann  Jeder  als  Ausgangspunkt  zu 
weiteren  Untersuchungen  sich  bedienen  könne.  Am  7.  October  1658 
folgte  eine  Erklärung^),  der  Zeitpunkt  der  Einsendung  sei  nun  vorüber, 
und  nur  die  zeitweilige  Abwesenheit  des  Herrn  von  Carcavy  ver- 
hindere, dass  mit  der  Prüfung  der  eingegangenen  Bewerbungsschriften 
begonnen  werde.  Darauf  aber,  was  einige  auswärtige  Gelehrte  be- 
ansprucht hätten,  dass  man  die  Ankunft  ihrer  Arbeiten  abwarte,  so- 
fern sie  nur  den  Nachweis  einer  vor  dem  1.  October  erfolgten  Ab- 
sendung beibrächten,  weil  sonst  die  Pariser  Gelehrten  zu  sehr  bevor- 
zugt seien,  könne  man  sich  nicht  einlassen.  Die  Bedingungen  des 
Preisausschreibens  seien  nun  einmal  so,  wie  sie  seien,  und  müssten 
eingehalten  werden.  Auch  wegen  der  gestatteten  Rechenfehler  wurden 
neue  Einschränkungen  gemacht.  Darunter  seien  nur  nebensächliche 
Irrthümer  zu  verstehen,  nicht  aber  solche,  welche  einen  wesentlichen 
Einfluss  ausüben.  Die  eigenen  Auflösungen  des  Preisausschreibers 
seien  zur  Zeit  schon  in  den  Händen  der  Herren  von  Carcavy  und 
von  Roberval  und  würden  nach  Prüfung  der  Eingänge  veröffentlicht 
werden.  Zunächst  werde  aber  in  einigen  Tagen  die  Histoire  de  la 
Roulette  erscheinen,  welche  berichten  werde,  wie  und  durch  wen  die 
ersten  Untersuchungen  über  die  in  Frage  stehende  Curve  zu  Stande 
gekommen  seien.  In  der  That  folgte  die  angekündigte  Schrift-)  unter 
dem  10.  October.  Es  war  jene  Verherrlichung  Roberval's  und  Schmähung 
Torricelli's,  von  welcher  wir  schon  früher  gehandelt  haben.  Torri- 
celli  soll,  wie  wir  in  aller  Kürze  wiederholen,  gar  nichts  geleistet 
haben,  Roberval  soll  alles  gefunden  haben:  die  Quadratur  der  Rou- 
lette, wie  die  Curve  jetzt  fortwährend  genannt  wird,  während  der 
Name  der   Cycloide  verbannt  ist,   die   Tangente,    die  Kubaturen   der 


1)  Pascal  III,  328—333.  -)  Ebenda  III,  337—343. 


Gregorius  a  Sto.  Vincentio.  Wallis.  Pascal.  De  Sluse.  Hiuklo.  Van  Heuvaet.     909 

beiden  Uindreliungskörper,  erst  dessen  um  die  Grundlinie,  dann  dessen 
um  die  Axe.  Ausserdem  habe  Roberval  auch  die  verlängerte  und  ver- 
kürzte Roulette  in  Untersuchung  genommen.  So  weit  sei  die  Forschung 
etwa  1644  gewesen  und  habe  dann  14  Jahre  geruht.  In  diesem  Zeit- 
punkte sei  der  Preisausschreiber,  der  von  geometrischen  Dingen  sich 
seit  lange  abgewandt  hatte,  durch  einen  Zufall  ihnen  wieder  näher 
getreten,  und  er  habe  sich  Methoden  zur  Auffindung  von  Quadraturen, 
Kubaturen,  Rectificationen,  sowie  von  Schwerpunkten  von  Körpern, 
ebenen  und  gekrümmten  Flächen  und  Curven  gebildet,  welchen  wenig 
Dinge  entschlüpfen  möchten.  Diese  Methoden  habe  er  an  den  Rou- 
letten geprüft  und  bewährt  gefunden,  worauf  er  sein  Preisausschreiben 
in  alle  Weltgegenden  schickte!  Die  eingegangenen  Lösungsversuche 
würden  dermalen  geprüft,  aber  es  seien  auch  Sendungen  eingetroffen, 
welche,  wenn  auch  nicht  die  Beantwortung  der  gestellten  Fragen, 
doch  Interessantes  enthielten.  Darunter  wird  die  gedruckte  Abhand- 
lung Lalouvere's  und  ein  Brief  Wreu's  besonders  hervorgehoben. 
Erstere  enthalte  nichts  als  die  Entdeckungen  Roberval's,  nur  anders 
dargestellt,  was  aber  keine  Schwierigkeit  bereite,  denn  es  sei  immer 
leicht,  einen  schon  bekannten  Satz  anders  zu  beweisen.  Die  Recti- 
fication  der  Roulette  durch  Wren  dagegen  sei  neu  und  sehr  schön. 
Einen  Beweis  habe  allerdings  Wren  nicht  mitgeschickt.  Fermat 
habe  einen  solchen  sofort  gefunden.  Roberval  habe  das  Gleiche 
geleistet,  und  zwar  sobald  man  ihm  von  der  Sache  sprach,  die  ihm 
nicht  neu  gewesen  sei,  denn  er  besitze  eine  sehr  schöne  Rectifications- 
methode,  die  er  nur  noch  nicht  habe  der  Oeffentlichkeit  übergeben 
wollen. 

Unter  dem  25.  November  1658  erschien  das  Urtheil  des  Preis- 
gerichtes ^).  •  Es  hatte  sich  nur  mit  zwei  Arbeiten  zu  beschäftigen. 
Die  Verfasser,  welche  zunächst  noch  nicht  genannt  wurden,  waren 
Lalouvere  und  Wallis.  Beiden  Verfassern  könne  ein  Preis  nicht 
zuerkannt  werden.  Lalouvere  hatte  nur  ohne  Begründung  der  an- 
gewandten Methode  eine  Rechnung  eines  der  aufgegebenen  Fälle 
eingereicht,  er  hatte  dann  in  wiederholten  Briefen  vom  September, 
October,  November  die  Mangelhaftigkeit  seiner  Rechnung  zugestanden, 
ohne  sie  zu  berichtigen,  und  damit  habe  er  selbst  sein  Urtheil  ge- 
sprochen. Wallis  hatte  seiner  Bewerbungsschrift,  das  Manuscript  der 
1659  gedruckten  Abhandlung  De  Cycloide  (S.  907),  gleichfalls  berich- 
tigende Briefe  nachfolgen  lassen,  hatte  am  30.  September  noch  ge- 
fragt, ob  man  nicht  auch  eine  solche  Lösung  als  befriedigend  be- 
trachten würde,  welche  der  richtigen   nahe   käme,  und  dadurch  den 


Pascal  III,  349- .^52. 


910  81.  Kapitel. 

Beweis  eigenen  Misstrauens  gegen  seine  Ergebnisse  geliefert.  In  der 
That  seien  dieselben  mit  Irrthümeru  behaftet,  welche  nicht  als  blosse 
Rechenfehler,  sondern  als  Denkfehler,  als  Fehler  des  Verfahrens  sich 
kennzeichneten.  Er  berücksichtige  z.  B.  nicht,  ob  die  Entfernung  der 
unendlich  vielen  Oberflächen,  welche  er  zu  Hilfe  ziehe,  unter  einander 
die  gleiche  sei  oder  nicht  u.  s.  w.  Da  man  der  gedi-uckten  Abhand- 
lung von  Wallis  diesen  Vorwurf  nicht  machen  kann,  so  stammt  daher 
die  oben  ausgesprochene  Vermuthung,  er  habe  bei  der  Veröffentlichung 
mehr  als  nur  Nebensächliches  abgeändert.  Eine  letzte  Streitschrift, 
denn  dazu  waren  Pascal's  fortwährend  ohne  Unterschrift  veröffent- 
lichten Aeusserungen  nachgerade  geworden,  bildet  die  Fortsetzung  der 
Geschichte  der  Roulette  ^J  vom  12.  December.  Sie  ist  gegen  Lalouvere 
gerichtet  und  wirklich  vernichtend  für  ihn,  da  sie  an  der  Hand  von 
Vorschlägen,  welche  man  demselben  gemacht  hatte,  und  auf  welche 
er  nie  einging,  den  Nachweis  fühi't,  dass  seine  Ansprüche  auf  Er- 
haltung des  Preises  so  unbegründet  als  möglich  seien,  dass  er  sich 
nicht  im  Stande  gefühlt  habe.  Richtiges  zu  liefern.  Nicht  gesagt  ist 
aber,  dass  Pascal  selbst  über  die  Cycloidenangelegenheit  Briefe  mit 
Lalouvere  gewechselt  hatte,  in  welchen  ein  ganz  anderer  durchaus 
anerkennender  Ton  herrschte -j,  nicht  gesagt,  dass  am  8.  December 
eine  kurze  aber  scharfe  Gegenerklärung  von  Lalouvere  erschienen  war, 
welche  den  anonymen  Verfasser  der  Geschichte  der  Roulette  einen 
Verleumder  nannte^).  Dadurch  sind  Pascal's  Zornesergüsse  ziemlich 
erklärt,  wenn  auch  nicht  genügend  gerechtfertigt.  Auszüge  aus  den 
erwähnten  Briefen  Pascal's  an  Lalouvere  hat  dieser  in  seiner  Geo- 
metria  promota  von  IGGO  (S.  897 )  der  Oeffentlichkeit  übergeben. 

Endlich  kamen  nun  im  Januar  1659  Pascal's  Abhandlungen,  aber 
sie  kamen  nicht  unter  dessen  eigenem  Namen,  wenn  die  gewählte 
Maske  ihn  auch  nicht  lange  verbarg.  Die  Provinzialbriefe  hatte 
Pascal  mit  Louis  de  Montalte  unterzeichnet,  und  uns  ist  kein 
Zweifel,  dass  dieser  Name  gewählt  worden  war,  um  an  den  auf  hohem 
Berge,  auf  dem  Puy-du-D6me,  angestellten  Barometerversuch  zu  er- 
innern, über  welchen  Pascal  seinen  ersten  Streit  mit  Mitgliedern  des 
Jesuitenordens  geführt  hatte.  Aus  Louis  de  Montalte  wurde  jetzt 
durch  blosse  Buchstabenversetzung  Amos  Dettonville,  und  unter 
diesem  Namen  sind  die  Schriften  verfasst,  deren  Vorgeschichte  wir 
ausführlich  zu  schildern  genöthigt  waren,  und  auf  die  wir  jetzt  selbst 
einzugehen  haben. 


'  *)  Pascal  m,  352—357.  ^)  Tannery,  Pascal  et  Lalouvere  in  den  Mc- 
moires  de  la  Societe  des  Sciences  physiques  et  naturelles  de  Bordeaux  T.  V 
(3.  S^rie)  pag.  11 — 15  des  Sonderabzuges.  *)   Ebenda  pag.  20  des  Sonder- 

abzuges. 


Gregorius  a  Sto.  Vincentio.  Wallis.  Pascal.  De  Sluse.  Iludde.   Yan  Heuraet.      911 

Wir  müssen  zurückgreifen  auf  das  Jahr  1G54.  Damals  schickte 
Pascal  (S.  753)  seine  Abhandlungen  über  das  arithmetische  Dreieck 
und  dessen  Anwendungen  an  Fermat  und  erhielt  zur  Antwort,  auch 
Fermat  habe  Aehnliches  gefunden.  Zu  jenen  Anwendungen  zählten 
wir,  als  wir  von  diesem  Austausche  von  Mittheilungen  sprachen,  auch 
die  Auffindung  der  Summen  von  Potenzen  der  aufeinander- 
folgenden Zahlen.  Bei  Fermat  bildete  sie  die  Grundlage  seiner 
Quadraturen  von  Parabeln  jeder  Ordnung,  bei  Pascal  verknüpfte  sie 
sich  gleichfalls  mit  infinitesimalen  Betrachtungen.  In  dem  Aufsatze 
Potestatum  numericarum  sunima^)  erklärt  Pascal,  der  Znsammenhang 
der  Potenzsummen  mit  der  Ausmessung  von  krummlinig  begrenzten 
Flächenstücken,  spatim'utn  ciirvüineorum  dimensiones,  sei  Jedem  ersicht- 
lich, der  einigermassen  mit  der  Lehre  von  den  Indivisibilien  vertraut 
sei,  und  kurz  darauf  spricht  er  den  Satz  aus:  in  continua  quantitate, 
quotlihd  quantitates  ciiius  vis  generis  quantitati  superioris  generis  additas 
nihil  ei  superaddere.  Dass  man  ihn  recht  verstehe,  erklärt  er  dann 
diesen  Ausspruch  dahin,  dass  Punkte  zu  Strecken,  Linien  zu  Flächen, 
Flächen  zu  Körpern  hinzugefügt  werden  können,  ohne  sie  zu  ver- 
ändern, dass  auch  bei  Zahlen  niedi'igere  Potenzen  höheren  gegenüber 
vernachlässigt  werden  können.  Hatte  Pascal  also  auch  wirklich  für 
einige  Jahre  mit  der  Mathematik  gebrochen,  so  brauchte  er  den  Faden 
nur  an  jener  Stelle  wieder  anzuknüpfen,  bis  zu  welcher  er  1654  vor- 
gedningen  war,  um  sofort  in  den  brennenden  Tagesfragen  auf  dem 
Laufenden  sich  zu  befinden.  In  der  That  ist  die  Lehre  vom  Gleich- 
gewichte am  zweiarmigen  Hebel,  mit  welcher  der  Brief  von 
Dettonville  an  Carcavy-)  beginnt,  eine  unmittelbare  Anwendung  einer 
Art  von  arithmetischem  Dreieck  (Figur  184).  Sind  von  A  nach 
B  und  C  die  Entfernungen  3  und  2,  und 
hängen  an  allen  Punkten  ganzzahliger 
Entfernuncren  Gewichte  in  der  Grösse  der      -        .        o  n        q 

~  4  0  3  9  8 

auf  der  Figur  beigeschriebenen  Zahlen,  so  j.,j„  ^^^ 

findet   bei   Unterstützung  des  Punktes  A 

Gleichgewicht  statt,  weil   1  •  3  -f  2  •  5  +  3  •  4  =  1  •  9  +  2  •  8  und  die 
Wirkung  des   Gewichtes  p  in   der  Entfernung  l   durch   Ip  gemessen 
wird.    Die  Summe  l-3-|-2-5-|-3-4  kann  man  aber  auch  schreiben 
3  +  5  +  4 
+  5  +  4 
+4 

^)  Pascal  in,  303—311.     Die  im  Texte  angeführten  Stellen  gehören  S.  310 
und  311  an.  ")  Ebenda  III,  364 — 385.     Ein  guter  Auszug  aller  Infinitesimal- 

untersuchungen PascaVs  bei  Marie,   Histoire  des  sciences  mathematiques  et  phy- 
suiues  IV,  189—229. 


912  ^1-  Kapitel. 

und  diese  Summe  soll  die  be*i  3  anfangende  Triangularsumme 
von  3,  6,  4  heissen.  Gleichgewicht  findet  also  statt,  wenn  die 
Triangularsumme  der  von  dem  Unterstützungspunkte  nach  beiden 
Seiten  vorhandenen  Gewichte  dem  Unterstützungspunkte  zunächst  an- 
fangend eine  und  dieselbe  ist.  Im  Unterstützungspunkte  selbst  darf 
natürlich  auch  noch  ein  Gewicht  von  beliebiger  Grösse  vorhanden 
sein.  So  findet  also  auch  wieder  (Figur  185)  bei  Unterstützung  von 
A  Gleichgewicht  statt,  wenn  abermals  die 

B       F      E       A       1)       C     beisfeschriebenen  Zahlen  den  Grössen  der 

I I I I I I  " 

y        ^        ^        -        y        y     in   den    einzelnen    Punkten   aufgehängten 

Fig.  185.  Gewichte    entsprechen.     Nun    bilde    man 

etwa  von  C  anfangend  die  Triangular- 
summe aller  Gewichte  1.8  +  2-9  +  3-5  +  4-4  +  5-0-f6-7=99 
und  die  einfache  Summe  aller  Gewichte  8-f-9  +  5-[-4  +  0-j-'ii  =  33, 
so  ist  die  erstere  Summe  das  Sovielfache  der  zweiten,  als  es  wieder 
von  C  anfangend  bis  nach  Ä,  dieses  selbst  mitgezählt,  Punkte  giebt. 
Es  ist  natürlich,  dass  der  Satz  auch  richtig  bleiben  muss,  wenn  man 
beide  Summen  von  B  aus  bildet.  Pascal  giebt  einen  Beweis,  dessen 
eigenthümliche  Form  verständlicher  werden  dürfte,  wenn  wir  ihn 
vorher  in  allgemeine  Buchstaben  übersetzen.  Die  Gewichte  mögen 
vom  gewählten  Anfangspunkte  an  gerechnet  ^j^,  p^,  ...p/^-^-r-i  heissen, 
und  Pf,  hänge  am  Unterstützungspuukte.  Die  Triangularsumme  jener 
Gewichte  ist 

l-Pi-\-2p^-\ h  ^Pfc  +  (^  +  1)  p,.+i  -\ \-(ii-\-v~l)  Pf,+,-i . 

Wegen  des  vorhandenen  Gleichgewichtes  ist 

oder 

0={n—l)p,-\-(ii-  2)2x,-\--\-l-iiu-i+Opf—lpf,+i {v—l)pf,+,-t . 

Wird    dieser    den    Werth    nicht    verändernde    Ausdruck    zur    obigen 
Triangularsumme  addirt,  so  geht  dieselbe  in 

f*  (ih  +lh-\ h  P,u+r-l) 

über,  womit  der  Satz  bewiesen  ist.     Pascal  schreibt  nun  in  dem  ge- 
gebenen Zahlenbeispiele 

7  0  4  5  9  8, 

7  ü  4  5  9  , 

7  0  4  5,/  I   ■ 

7  0^4 

7  0 


Gregorius  a  Sto.  Viucentio.  Wallis.  Pascal.    De  Sluse.  Hudde.  VauHeuraet.     913 


Aber  das  durch  den  Horizontalstrich  abgetrennte  kleine  Dreieck 

7  0  4 

7  0 

7 

beträgt  wegen  des  vorhandenen  Gleichgewichtes  so  viel  wie 

8  9,  .  8 

8      oder  Wie  ^g. 

Setzt  man  dieses  Dreieckchen  rechts  von  dem  Diagonalstrich,  so  ent- 
steht ein  Rechteck 

7  0  4  5  9  8 
7  0  4  5  9  8 
7    0    4    5    9    8 

aus  drei  gleichen  Zeilen,  und,  sagt  Pascal^),  wenn  diese  Beweisform 
auch  ungewöhnlich  ist,  so  ist  sie  kurz,  klar  und  hinreichend  für 
Solche,  welche  in  der  Kunst  des  Beweises  bewandert  sind.  Bildet 
man  in  den  allgemeinen  von  uns  benutzten  Buchstaben  die  bei  P/.i+r—i 
anfangende  Triangularsumme  der  Gewichte,  so  muss  sie 

V  (ih   +lh-\ h  Pf^+r-l) 

liefern.  Die  beiden  von  rechts  und  links  anfangenden  Triangular- 
summen  verhalten  sich  also  wie  ft  :  v  oder,  wenn  man  die  Zahl  der 
Zwischenpunkte  so  vermehrt,  dafs  sie  stetig  aufeinander  folgen  und 
jit  und  V  unendlich  gross  werden,  wie  die  Entfernungen  des  Unter- 
stützungspunktes von  den  beiden  Endpunkten  der  Strecke.  Dadurch 
bestimmt  sich  aber  der  Unterstützungspunkt,  d.  h.  der  Punkt,  bei 
dessen  Unterstützung  Gleichgewicht  eintritt,  oder  der  Schwerpunkt 
der  mit  Gewichten  beschwerten  Strecke. 

Der  Satz  lässt  sich  auf  höhere  Raumgebilde  ausdehnen,  deren 
Theilchen  man  als  auf  die  Punkte  einer  Geraden  wirkend  betrachten 
kann,  welche  senkrecht  zu  parallelen,  die  Ober-  j- 
fläche  begrenzenden  oder  theilenden  Ebenen 
steht.  Man  erfährt  alsdann,  in  welcher  Zwischen- 
ebene der  Schwerpunkt  der  Oberfläche  liegt. 
Wenn  (Figur  186)  die  durch  T  hindurch- 
gehende Ebene  den  Schwerpunkt  der  Oberfläche 
YCFOZ  enthält,  so  verhält  sich  TO:TA 
wie  die  Triangularsummen  der  Theile  der 
Oberfläche,  deren  erste  bei  B,  die  zweite  bei 
C  ihren  Anfangspunkt  hat.  Man  kann  näm- 
lich die  Flächentheile  als  Gewichte  betrachten, 
welche  in  den  Punkten  der  Strecke  OA  wirksam  sind.  Desshalb  brauche 
man  nicht  Scheu   zu  tragen^),  die  Sprache   der  Indivisibilien  zu  ge- 


Fig.   186. 


^)  Pascal  ni,  367  Avertissement. 

Cantor,  Geschichte  der  Mathera.    U.     2.  Aufl. 


Ebenda  III,  37'J. 


58 


914  81.  Kapitel. 

brauchen  und  von  der  Summe  der  Ordinaten  u.  s.  w.  zu  reden.  Man 
müsse  nur  den  richtigen  Gedanken  damit  verbinden.  Wie  hier  Flächen- 
theilchen  als  Gewichte  auftreten,  so  sei  dort  von  Linien  oder  viel- 
mehr kleinen  Rechteckchen  die  Rede,  deren  Grundlinien  beliebig  kleine 
Stücke  der  Axe  der  Figur  sind. 

Ausser  den  Triangularsummen  bildete  Pascal  auch  Pyramidal- 
summen ^),  welche  die  Summe  von  je  um  ein  Element  abnehmenden 
Triangularsummen  sind.    Aus  Ä^  B,  C  entstehen  die  Triangularsummen 

lA-{-2B-\-^C,     lB-\-2C,     IC; 
aus  diesen  die  Pyramidalsumme  IJ.  -|-  3J?+  6C,  wo  der  Coefficieut 
des  w*^°  Elementes  ^'^^"tJ  ist,  wie  n  dessen  Coefficieut  in  der  ersten 

Triangularsumme  ist.  Zieht  man  die  Triangiilarsumme  beliebig  vieler 
Elemente  von  ihrer  verdoppelten  Pyramidalsumme  ab,  so  ist  in  dieser 
Differenz  das  w*^  Element  mit  dem  Coefficienten  2   *^^**"'"  -  —  -2 


2 

behaftet.  Eine  Triangularsumme  verhält  sich  aber  zur  Pyramidal- 
summe wie  eine  Indivisible,  weil  sie  um  einen  Grad  niedriger  ist^) 
und  kann  vernachlässigt  werden.  Man  erkennt  hier  das  Zurückgreifen 
auf  den  Satz  der  Potestakim  niimericaruni  summa,  wenn  Pascal  sich 
auch  auf  diese  frühere  Arbeit  nicht  beruft.  Das  Ergebniss  lautet 
dahin,  dass  die  doppelte  Pyramidalsumme  gegebener  Elemente  als 
Summe  dieser  Elemente,  je  weil  mit  dem  Quadrate  ihrer  Orduungs- 
ziffer  vervielfacht  erscheint. 

Die  Triangularsumme  gegebener  Elemente  stellt  sich  dar  als  ein 
Körper,  welchen  Pascal  owz/fc^  nennt  ^),  ein  Wort,  welches,  verschiedene 
Bedeutungen  in  der  französischen  Sprache  hat, 
z.  B.  Grabstichel,  und  an  dessen  Schneide  dachte 
Pascal  muthmasslich  (Figur  187).  Eine  Figur 
BAC,  die  aus  zwei  zu  einander  senkrechten 
Geraden  und  einer  Curve  besteht,  nennt  Pascal 
ein  trilignc  in  augenscheinlicher  Nachahmung 
des  Cavalieri'schen  triUneum  (S.  838).  Man 
bildet  nun  etwa  von  A  C  anfangend  die  Trian- 
gularsumme aller  Ordinaten  des  dreilinigen 
Raumes.  Die  zu  summierenden  Zeilen  stellen  sich  als  Ebenen  dar, 
die  in  B  beginnen  und  unten  durch  zu  AC  parallele,  aber  B  immer 
näher  rückende  Gerade  abgeschlossen  werden.  Denkt  man  diese  Ebenen 
als   unendlich   dünne   prismatische  Körperchen  aufeinander  gelegt,  so 


1)  Pascal  III,  376.  ^)  Ebenda  III,  377:  La  somme  triangulaire  n'est  qii'un 
indivisible  ä  l'egard  des  sommes  pyramidales  puisqu'il  y  a  une  dimension  de  moins. 
3)  Ebenda  III,  379. 


Gregorius  a  Sto.  Vincentio.  Wallis.   Pascal.  De  Sluse.  Hndde.  Van  Henraet.     915 

entsteht  das  Onglet  GABB,  begrenzt  von  drei  Ebenen  ABC,  ABB, 
ABC  und  einer  eylindriscLen  Oberfläche  BGB.  Man  kann  es  auch 
so  entstanden  denken,  dass  über  dem  Triligne  ABC  ein  gerader 
Cylinder  von  der  Höhe  BB  =  BA  errichtet  ist  und  nun  eine  Schuitt- 
ebene  durch  BAC  hindurchgelegt  wird,  welche  mit  ABC  einen  Winkel 
von  45**  bildet.  Denkt  man  sich  genau  dieselbe  Construction  auch 
nach  unten,  wo  ein  Onglet  GABB'  entsteht,  so  setzen  beide  sich 
zum  Doppelonglet  BGAB'  zusammen,  und  dieses  steht  zu  dem  halben 
Umdrehungskörper  von  A  CB  um  A  C  in  eigenthümlichen  Beziehungen. 
Eine  der  Ebene  BAB'  parallel  gelegte,  durch  einen  Punkt  A^  der 
AG  hindurchgehende  Ebene  schneidet  das  Doppelonglet  in  einem 
gleichschenklig-rechtwinkligen  Dreiecke  B^A^B^,  dessen  Flächeninhalt 

—  A^B^^  ist.  Dieselbe  Ebene  schneidet  den  erwähnten  halben  Um- 
drehungskörper in  einem  Halbkreise  vom  Halbmesser  A^B^,  dessen 
Flächeninhalt  „  ^i  ^^  "^  X  -^i  A'  ^  ^^^-  Letzterer  Schnitt  ist  also  das 
—fache  des  ersteren,  und  da  das  gleiche  Verhältniss  bei  jedem  Parallel- 
schnitte obwaltet,  so  ist  der  genannte  halbe  Umdrehungskörper  das 
—fache  des  Doppelonglet^).     Pascal  macht  überdies  noch  auf  andere 

Beziehungen  beider  Körper  zu  einander  aufmerksam  und  beweist  die 
selben.  Ihre  gekrümmten  Oberflächen,  ihre  Schwerpunkte  u.  s.  w.  treten 
dabei  in  Frage.  Die  Onglets  dreiliniger  rechtwinkliger  Figuren  sind 
damit  in  den  Vordergrund  der  Betrachtungen  gerückt,  und  mit  ihnen 
beschäftigt  sich  eine  besondere  Abhandlung^).  Gleich  zu  Anfang  der- 
selben stellt  Pascal  wieder  einen  neuen  Begriff,  den  der  Adjungirten 
der  dreilinigen  Figur,  Vadjointe  du  triligne,  auf,  und  dieses  dürfte  das 
erste  Vorkommen  des  Wortes  adjungireu  in  der  Mathematik  sein 
(Figur  188).  Ist  eine  dreilinige  Figur  ABC  links 
von  einer  Geraden  AB  gelegen  und  durch  diese, 
durch  die  zu  ihr  senkrechte  AG  und  durch  die  Curve 
BG  begrenzt,  und  bildet  man  rechts  von  AB  unter 
Zuhilfenahme  der  zu  ihr  senkrechten  BK  und  irgend 
einer  Curve  AK  eine  zweite  dreilinige  Figur,  so 
heisst  diese  der  ersteren  adjungirt.  Wird  nun  die  ad- 
jungirte  Figur  ABK  durch  Umfalzen  in  eine  solche  Lage  gebracht, 
dass  ihre  Ebene  senkrecht  zur  Ebene  der  ABC  sich  befindet,  zieht 
man  aus  jedem  Punkte  B  der  AB  senkrecht  zu  AB  die  selbst  unter 
rechtem  Winkel  an   einander  stossenden  BF,  BO  und  vollendet  aus 


»)  Pascal  m,  380.         -)  Ebenda  III,  .385—403. 


916 


81.  Kapitel. 


ihnen  ein  Rechteck,  so  entsteht  ein  Körper,  den  Pascal  als  triligne 
multiplie  par  Ja  figiire  adjointe  bezeichnet,  hier  sein  Studium  des 
Gregorius  von  St.  Vincentius  verrathend,  nach  dessen  dudus  plani 
in  planum  der  Ausdruck  offenbar  gebildet  ist.  Der  Rauminhalt  dieses 
Körpers  ist  aber  auch  einer  zweiten  Zerlegung  in  parallele  Schnitte 
fähig.  Wie  man  die  erstgenannten  Ebenen  parallel  zu  AC  führte, 
kann  man  sie  auch  parallel  zu  AB  führen.  Der  Körperinhalt  ver- 
ändert sich  selbstverständlich  nicht,  er  wird  nur  in  andersartige  Ele- 
mente zerlegt,  ein  Verfahren,  dessen  die  spätere  Integralrechnung  sich 
mit  Vorliebe  bedient  hat  und  noch  bedient.  Man  hat  desshalb  auch 
die  nicht  sehr  leicht  verständliche  Sprache  Pascal's  in  die  Zeichen  der 
Integralrechnung  zu  übersetzen  versucht^)  und  dadurch  nachgewiesen, 
dass  Pascal  mit  der  sogenannten  theilweisen  oder  partiellen  In- 
tegration, 

/  21  •  dv  =  UV  —  I  V  •  du , 

bekannt  war,  wenn  er  auch  genöthigt  war,  den  gegenwärtig  allgemeinen 
Satz  vielleicht  in  ein  Dutzend  von  besonderen  Sätzen  zu  theileu. 
Auch  die  übrigen  Abhandlungen  PascaFs  aus  dem  Jahre  1659  sind 
wesentlich  von  Aufgaben  der  Integralrechnung  erfüllt,  bei  deren 
Lösung  Pascal  immer  wieder  vermöge  des  Mangels  an  einer  all- 
gemeinen Bezeichnung  schwerfällig  von  einer  Sonderuntersuchung  zur 
anderen  fortschreiten  musste,  innerhalb  dieser  Einengung  aber  die 
Auflösungen  wirklich  lieferte.  Ohne  über  alle  diese  Abhandlungen 
zu  berichten,  begnügen  wir  uns,  deren  Ueberschriften  anzugeben""): 
Frojyrietes  des  smnmes  simples  triangiäaires  et  pyramidales.  Traite  des 
sinus  du  quart  de  cercle.  Traite'  des  arcs  de  cerele.  Petit  traite  des 
solides  circulaires.  Traite  general  de  la  roulette.  Dimension  des  lignes 
courhes  de  toutes  les  roidettes.  De  l'escalier,  des  triangles  cylindriques 
et  de  la  spirale  autour  d'un  cöne.  Egalite  des  lignes  spirale  et  para- 
holique.  Von  diesen  Aljhandlungen  ist  die  Dimension  des  lignes  courhes 
de  toutes  les  roidettes  mit  einer  besonderen  Wid- 
mung an  Huygens,  die  De  Vesealier  u.  s.  w.  mit 
einer  eben  solchen  an  De  Sluse  versehen.  Der 
Traite  des  sinus  du  quart  de  cercle^)  beginnt  mit 
einem  Lemma,  welches  (Figur  189)  die  Aehn- 
lichkeit  der  Dreiecke  EKE  und  AID  betont. 
Diese  Figur  ist,  wie  im  98.  Kapitel  gezeigt  wer- 
den wird,  von  folgewichstigster  Einwirkung  auf 
Leibniz  gewesen. 


1)  Marie  1.  c.  IV,  202— 215.      ^  Pascal  111,403—464.      ")  Ebenda  111,409. 


Gregorius  a  Sto.  Vincentio.  Wallis.  Pascal.   De  Sluse.  Hudde.  Van  Heuraet.     917 

So  sehr  Huygens  selbst  es  verdient,  auch  wegeu  seiner  vielfach 
bahnbrechenden  Leistungen  in  der  Curvenlehre,  mithin  als  Mitarbeiter 
auf  dem  Gebiete  der  Infinitesimalbetrachtnngen  ausführlich  behandelt 
zu  werden,  so  kann  dieses  doch  nicht  innerhalb  dieses  Bandes  ge- 
schehen. Sein  Horologium  oscillatorium,  in  welchem  die  zahlreichsten 
und  wichtigsten  Entdeckungen  sich  vorfinden,  wurde  erst  1673  ver- 
öffentlicht, fällt  also  über  die  Grenze  hinaus,  welche  wir  uns  ge- 
steckt haben. 

Anders  verhält  es  sich  mit  De  Sluse^).  Seine  mathematischen 
Leistungen  der  Oeffentlichkeit  zu  übergeben,  zögerte  er  ungemein, 
doch  ist  Manches  und  keineswegs  Unbedeutendes  in  Briefen  nieder- 
gelegt. Das  Cycloiden-Preisausschreiben,  welches  ihm  durch  Carcavy 
zugeschickt  worden  war,  ohne  dass  der  Name  des  Preisstellers  dabei 
genannt  worden  wäre^),  veranlasste  ihn,  an  Pascal,  mit  welchem  er 
ohnedies  schon  einige  Briefe  gewechselt  hatte,  darüber  zu  schreiben. 
Am  2.  August  1658  erweiterte  er  dabei  sehr  wesentlich^)  den  Begriff 
der  Cycloide.  Dieses  Namens  bediente  De  Sluse  sich  fortwährend 
und  nicht  des  Wortes  Roulette,  welches  das  Preisausschreiben  ja  auch 
noch  nicht  kannte.  De  Sluse  denkt  sich  eine  ganz  beliebige  Curve, 
welche  längs  einer  Geraden  mit  gleichförmiger  Geschwindigkeit  fort- 
geschoben wird,  während  ein  Punkt  gleichfalls  mit  gleichförmiger 
Geschwindigkeit  die  Curve  durchläuft.  Der  Ort,  welchen  der  genannte 
Punkt  bei  seiner  doppelten  Bewegung  auf  und  mit  der  Curve  be- 
schreibt, heisst  ihm  Cycloide,  in  welchem  Verhältnisse  auch  die  beiden 
Geschwindigkeiten  zu  einander  stehen  mögen.  Von  dieser  Beschrei- 
bungsart au.sgehend,  gelangt  De  Sluse  zu  einander  gleichflächigen, 
gemischtlinigen  Dreiecken,  welche  den  Trilignen  Pascal's  nahe  verwandt 
sind,  wie  De  Sluse  selbst  in  einem  Briefe  vom  29.  April  1659  bemerkt^). 

Eine  Auflösung  des  Tangentenproblems  für  algebraische 
Curven^),  deren  Gleichungspolynom  in  Gestalt  einer  rationalen  ganzen 
Function  gegeben  war,  scheint  De  Sluse  seit  1652  besessen  zu  haben. 
Sie  besteht  in  Folgendem.  Die  Gleichung  der  Curve  heisse  f{x,y)  =  0, 
wo  X  die  Abscisse,  y  die  Ordinate  der  Curve  bedeutet,  und  a  sei  die 
Subtangente.  Man  schreibt  sämmtliche  Glieder  von  f{x,  y),  in 
welchen  der  Buchstabe  x  vorkommt,  links,  sämmtliche  Glieder,  in 
welchen  der  Buchstabe  y  vorkommt,  mit  entgegengesetztem  Vorzeichen 
rechts  hin.     Glieder,  welche  x  und  überdies  y  enthalten,  werden  auf 

^)  Correspondence  de  Rene  Framjois  de  Sluse  j)u,hliee  poiir  Ja  premiere  fois 
et  precedee  d'une  introduction  par    M.  C.  Le  Paige  im  BulJetino  Boncompjagni 
XVII  (1884)  und  C.Le  Paige  im  Bulletin  de  l'Institut  archeologique  Liegeois  XXI, 
532—549  (1888).       ^)  Bulletino  Boncompagni  XII,  499.       ^)  Ebenda  XII,  501. 
*)  Ebenda  XII,  507.         ^)  Ebenda  XII,  477—478,  605,  607. 


918  81.  Kapitel. 

beiden  Seiten  Stellung  finden  müssen.  Die  Grlieder  rechts  werden, 
jedes  für  sich,  mit  dem  Exponenten  der  in  ihnen  vorkommenden  Potenz 
von  y  vervielfacht.  Ebenso  verfährt  man  links  mit  dem  Exponenten 
der  in  jedem  Gliede  verkommenden  Potenz  von  x  und  ersetzt  dabei  ein 
X  in  jedem  Gliede  links  durch  a.  Schreibt  man  nun  ein  Gleichheits- 
zeichen zwischen  beide  nach  dieser  Vorschrift  veränderten  Glieder- 
gruppen, so  hat  man  eine  nach  a  lineare  Gleichung,  aus  welcher  diese 
Grösse  sich  ergiebt.     Ist  z.  B. 

^«+1  —  ex«  +  hif  =  0, 
so  wird  zunächst 

otf-^^  —  6'^"  —  htf 

angesetzt  und  daraus 

{ii  -\-  1)  rtJt;"  —  «aca;"~^  =  —  uhif 
gebildet,  nebst 

a  _  »^/ 

ncx^-'^  —  (H+  l)a;" 
Die  Curve 

_py2  ^  2qxy'  +  sx'  +  ^  =  0 

dagegen  veranlasst  den  Ansatz 

2(ixif  +  sx^  —  py"  —  2qxy^ 


und  daraus 
also 


2ciaif  -f-  '^Lisx^  =  —  ^py^  —  dqxy^, 


Die  erste  Curve,  welche  wir  hier  als  Beispiel  gewählt  haben,  ist 
eine  sogenannte  Perle ^),  deren  allgemeine  Gleichung 

Jjyn  =(c  —  xyx"' 

hier  für  den  Sonderfall  p  =  1,  m  ^^  n  in's  Auge  gefasst  wurde. 
Diese  Perlen  sind  von  De  Sluse  zuerst  untersucht  worden,  der  die 
Quadratur  des  Kreises  mit  ihrer  Hilfe  für  möglich  hielt,  beziehungs- 
weise eine  Abhängigkeit  der  Quadraturen  beider  Curven  von  einander 
behauptete. 

Wir  haben  (S.  808)  des  Mesolabum  von  1659  gedacht,  in  welchem 
De  Sluse  die  Aufgabe  behandelte,  zwischen  zwei  Grössen  zwei  geo- 
metrische Mittel  einzuschalten,  und  der  zweiten  Auflage  dieses  Werkes 
von  1668,  in  welcher  De  Sluse  die  früher  bei  Lösung  jener  besonderen 
Aufgabe  brauchbaren  Mittel  als  zur  Behandlung  jeder  kubischen  Glei- 
chung tauglich  erkannte.  Diese  zweite  Auflage  des  Mesolabum  besitzt 
noch  einen  Anhang  mit  der  Ueberschrift:  Verschiedenes,  Miscellanea^). 


^)  Bulletino  Boncompagni  XII,  472.         -)  Ebenda  XII,  475—476. 


Gregorins  a  Sto.  Vincentiü.  Wallis.  Pascal.   De  Sluse.  Hiulde.  Van  Heuraet.     919 

Neben  anderen  nicht  uninteressanten  Dingen  lindet  man  in  den  Mis- 
cellaneen  die  erste  allgemeine  Untersuchung  von  Inflexionsp unkten 
von  Curven  und  von  solchen  Curven,  welche  die  untersuchten  gerade 
in  ihren  Inflexiouspunkten  schneiden.  Diese  und  andere  Betrach- 
tungen verschafften  dem  Werke  unter  den  Zeitgenossen  die  höchste 
Anerkennung.  Sj)ätere  Leistungen  von  De  Sluse  sind  von  geringerem 
Belang. 

Es  bleibt  uns  nur  noch  übrig,  auf  die  Ausgabe  der  Descartes- 
schen  Geometrie  von  1659  zurückzugreifen  und  die  darin  zum  Ab- 
drucke gebrachten,  nicht  von  Descartes  herrührenden,  auf  die  höhere 
Curvenlehre  bezüglichen  Abhandlungen  zu  besprechen.  Sie  gehören 
zwei  holländischen  Mathematikern  an:  Hudde  und  Van  Heuraet. 

Wir  haben  an  die  Methode  von  Johannes  Hudde  zur  Erkennung 
der  mehrfachen  Wurzeln  einer  Gleichung  (S.  802),  welche  in  einem 
Briefe  vom  Juli  1657  niedergelegt  ist,  nur  zu  erinnern.  Im  Januar 
des  folgenden  Jahres  1658  entstand  ein  zweiter  Brief  Hudde's  über 
Maximal-  und  Minimalwerthe,  De  Maximis  et  Minimis'^).  Er 
wendet  zur  Bestimmung  der  grössten  und  kleinsten  Werthe  genau  das 
gleiche  Mittel  an,  welches  in  dem  früheren  Briefe  zur  Ermittelung- 
gleicher  Gleichungswurzeln  geführt  hatte,  nämlich  die  Multiplication 
der  einzelnen  Glieder  des  Ausdruckes,  welcher  einen  grössten  oder 
kleinsten  Werth  annehmen  soll,  mit  Zahlen,  welche  eine  arithmetische 
Progression  bilden,  und  zwar,  meint  er,  könne  man  füglich  als  solche 
Factoren  die  Exponenten  der  Potenzen  von  x  in  den  einzelnen 
Gliedern  wählen,  wobei  vorausgesetzt  ist,  dass  der  zu  behandelnde 
Ausdruck  erstlich  rational  ist  und  zweitens  kein  x  im  Nenner  enthält. 
Ist  dagegen  eine  gebrochene  Function  zu  untersuchen,  so  weiss  Hudde 
offenbar  nur  dann  Rath,  wenn  der  Nenner  ein  Monom  ic"  ist,  und 
wenn  es  dann  genügt,  den  Zähler  für  sich  zu  untersuchen.  Auch  an 
Fälle,  in  welchen  mehrere  Veränderliche  vorkommen,  die  durch  Glei- 
chungen mit  einander  verbunden  sind,  wagt  er  sich  heran  und  eliminirt 
mittels  der  betreffenden  Gleichvmgen  die  störenden  überzähligen  Un- 
bekannten. Einen  Beweis  seiner  Methode  giebt  Hudde  nicht.  Zur 
Verdeutlichung  unserer  Schilderung  lassen  wir  zwei  von  Hudde's  Bei 
spielen  folgen.     Erstlich  soll 

(3a  —  h)  x^  —  "~- (-  a^ö 

Maximum  werden.  Hudde  vervielfacht  die  Glieder  mit  3,  1,  0.  Diese 
Zahlen  bilden  freilich  keine  arithmetische  Progression,  aber  der  Ver- 
fasser macht  darauf  aufmerksam,  dass  in  dem  vorgelegten  Ausdrucke 


1)  Descartes,  Geom.  I,  507—516. 


920  81.  Kapitel. 

streng  genommen  auch  das  Glied  Ox"  vorkomme,  Avelches  mit  dem 
unter  den  Multiplicatoren  fehlenden  2  zu  vervielfachen  sei.  Das  Er- 
gebniss  der  Multiplication  ist 

3(3« -&).^B_  1^  =  0,     (9a-Sh)x^='^, 

und  damit  begnügt  sich  Hudde.  Zweitens  soll  ^  =  —  y  —  y  Maximum 
werden,  während  bekannt  ist  i/  —  nyx  -{-  x^  =  0  und  v  —  x  =  y. 
Man  setzt  y  aus  der  letzten  Gleichung  in  die  beiden  vorhergehenden 
ein  und  findet 

X  =  ^  -{-  z ,     v^  —  ?>v'x  -\-  Svx^  =  vnx  —  nx^. 

Nun  wird  der  Werth  von  x  aus  der  ersten  neuen  Gleichung  in  die 
zweite  eingesetzt  und  damit 

—  «;B  —  j  nv^  +  3/^i'  +  nz^  =  0 

erhalten.    Das  Gleichungspolynom  vervielfacht  Hudde  mit  der  fallenden 

3  1 

Progression  3,  2,  1,  0,  so  dass  —  v^  —  -  nv^  -\-  ?>z'^v  =  0  entsteht 
und  -4^  =  ^  '^y  —  T  y'-  Der  so  gewonnene  Werth  von  z-  verändert 
die  vorher  zwischen  v  und  z  gewonnene  Gleichung  in  v^  =  —  n^,  ein 
Ergebniss,  welches  vollständig  richtig  ist.  Hudde  behauptet  in  einer 
Nachschrift^),  auch  darüber  geschrieben  zu  haben,  wie  man  Max  i  mal - 
werthe  von  Functionen  mehrerer  Veränderlichen  finde,  wenn 
zwischen  ihnen  keine  Gleichungen  gegeben  sind,  doch  ist  das  Alles, 
was  wir  von  dieser  hochbedeutsamen  Erweiterung  der  Aufgabe  wissen. 
Dass  Hudde's  Verfahren  in  dem  Falle  einer  einzigen  Veränderlichen 
noch  an  denselben  ünvollkommenheiten  leidet,  welche  dem  von  Fermat 
anhaften,  dass  es  nämlich  unentschieden  lässt,  ob  Maximum  oder 
Minimum  eintritt,  dass  es  versagt,  wenn  mehrere  Ableitungen  der  unter- 
suchten Function  als  nur  die  erste  verschwinden,  dass  es  überdies 
nur  bei  ganzen  rationalen  Functionen  anwendbar  ist,  erkennt  man 
sofort.  Hudde  scheint,  wenn  man  einer  Aeusserung  Leibnizens 
volles  Vertrauen  schenken  darf^),  auch  mit  der  ungemein  wichtigen 
Aufgabe  sich  beschäftigt  zu  haben,  die  Gleichung  einer  Curve  aus 
gegebenen  Punkten  derselben  zu  ermitteln,  er  soll  sich  sogar  gerühmt 
haben,  im  Stande  zu  sein,  die  Gleichung  der  Umrisse  des  Bildnisses 
irgend  einer  Persönlichkeit  herzustellen. 

Heinrich  van  Heuraet  ist  (S.  905)  der  Erfinder  einer  Recti- 
ficationsmethode^),  welche  er  in  einem  Briefe  vom  13.  Januar  1659 


^)  Descartes,  Geom.  I,  516.         ^)  Montucla  H,  150.  ^)  Descartes, 

Geom.  I,  517—520. 


Gregorius  a  Sto.  Vincentio.  Wallis.   Pascal.  De  Sluse.  Hudde.  Van  Heuraet.     921 


beschrieben  hat.  Er  verwandelte  die  Frage  nach  der  Länge  einer 
Curve  in  die  nach  dem  Flächenraume  einer  zweiten  Curve,  führte  also 
die  eine  Aufgabe  auf  eine  zweite  zurück,  deren  Auflösung  zwar  auch 
nicht  allgemein  gegeben  war,  aber  doch  schon  in  so  zahlreichen 
Fällen,  dass  man  jene  Zurückführung  als  einen  Fortschritt  zu  be- 
zeichnen hatte  (Figur  190).  Nach  Van 
Heuraet  ist  die  Fläche  ALK  MB  gleich 
dem  Rechtecke,  dessen  Seiten  eine  Con- 
stante  a  und  die  Länge  der  Curve  EDF 
sind,  wenn  nur  auf  jeder  Ordinate  KDC 
der  beiden  Curven  die  Proportion  statt- 
findet a:KC=DC:  DN,  wo  DN  die 
Normale  der  auf  ihre  Länge  zu  unter- 
suchenden Curve  EDF  im  Punkte  D  ist. 
Von  der  Richtigkeit  dieser  Behauptung 
überzeugt  man  sich  am  leichtesten  unter  Anwendung  neuerer  Hilfsmittel. 
Wir  setzen  OC  =  x,  DC=^y,  KC=  Y,  alsdann  ist  DN=yyi-\-y'' 
und  die  Proportion  heisst 


Fig.  190. 


Daraus  folgt  Y 


a:Y=,j:yYr+^. 
/T  -|-  y'^  und 


wenn  beide  Integrationen  zwischen  denselben  Absei ssen,  etwa  beide 
von  OÄ  bis  OB,  vollzogen  werden.  Van  Heuraet's  Erfindung  steht 
nicht  allein.  Wir  haben  Zurückführungeu  von  Rectificationeu  auf 
Quadraturen  auch  bei  Fermat,  bei  Neil  ausführen  sehen.  Die  Ver- 
öffenthchung  Van  Heuraet's  ist  unzweifelhaft  die  älteste,  und  ein 
Anlehnen  an  die  beiden  anderen  Schriftsteller  steht  bei  ihm  ganz 
ausser  Frage.  Auch  das  Umgekehrte  möchten  wir  nicht  behaupten. 
Weit  eher  vermuthen  wir  den  gemeinsamen  Keim  aller  dieser  Ver- 
wandlungen der  Betrachtung  einer  Curve  in  die  einer  anderen  in  der 
durch  Cavalieri  zuerst  zum  Abdrucke  gebrachten  Vergleichung  der 
Spirale  mit  der  Parabel. 

Ein  kurzes  Ueberdenkeu  des  in  den  vier  letzten  Kapiteln  78 
bis  81  Zusammengestellten  lässt  Eines  klar  hervortreten:  dass  das 
halbe  Jahrhundert  von  1615 — 1668  als  das  der  Erfindung  der 
Infinitesimalrechnung  benannt  werden  darf.  Aufgaben  der  In- 
tegralrechnung wurden  zuerst  behandelt.  Aufgaben  der  Differential- 
rechnung folgten.  Dann  lösten  beide  Gattungen  von  Aufgaben  in 
buntem  Gemische  sich  ab.  Und  bunt  wie  die  Aufgaben  mischt  sich 
die  stammliche   Zugehörigkeit    der  Männer,,  welchen    die    gewaltigen 


922  Sl-  Kapitel. 

Fortschritte  verdankt  werden.  Von  Deutschland  nach  Italien,  von 
dort  nach  Frankreich,  nach  den  Niederlanden,  nach  England  haben 
wir  den  Gedanken  wandern  sehen,  an  den  gleichen  Orten  haben  wir 
neue  Gedanken  begrüssen  dürfen.  Zweierlei  ist  aber  aus  dem  Ge- 
wirre der  Aufgaben,  aus  dem  Gewühle  der  Mathematiker  unzweifel- 
haft zu  erkennen.  Erstens,  dass  die  Franzosen  es  waren,  welche 
die  eigentlich  leitende  Rolle  spielen,  und  dass  insbesondere  Fermat 
als  derjenige  zu  bezeichnen  ist,  der  in  der  Differentialrechnung,  Pascal 
als  der,  der  in  der  Integralrechnung  am  erfolgreichsten  thätig  war. 
Zweitens,  dass  ein  innerer  Zusammenhang  zwischen  allen  behandelten 
Aufgaben  doch  nur  Wenigen,  am  meisten  vielleicht  Fermat  ein- 
leuchtete, welcher  auch  den  ersten  Anlauf  dazu  nahm,  eine  einheit- 
liche Bezeichnung  einzuführen,  der  nur  ein  wesentlicher  Mangel  an- 
haftete: dem  Fermat'scheu  E  war  nicht  anzusehen,  wovon  es 
als  Veränderung  auftrat. 

Das  war  also  das  Gebiet,  welches  nunmehr  die  Thätigkeit  der 
hervorragendsten  Mathematiker  forderte  und  in  Anspruch  nahm.  Es 
musste,  wenn  wir  so  sagen  dürfen,  gezeigt  werden,  dass  der  AVortlaut 
der  scheinbar  so  verschieden  klingenden  Aufgaben  schliesslich  einer 
Sprache  angehörte.  Es  musste  dieser  Sprache  eine  geeignete  Schrift 
zur  Verfügung  gestellt  werden. 

Zwei  Männer  waren  es  vornehmlich,  welche  diesen  Fortschritt 
der  Wissenschaft  an  ihren  Namen  knüpften,  und  welche  deshalb  ver- 
dienen, in  ähnlicher  Weise  am  Ende  dieses  zweiten  Bandes  aufzutreten, 
wie  Leonardo  der  Pisaner  und  Jordanus  Nemorarius  am  Ende  des 
ersten  Bandes.  Sie  gehörten  nicht  mehr  Frankreich  au,  sei  es,  dass 
man  dort,  seit  Fermat's  Arbeiten  bekannter  wurden,  glaubte,  dieser 
habe  in  der  Bezeichnung  schon  Genügendes  geleistet,  sei  es,  dass  der 
französische  Geist  dem  Formalen  sich  weniger  anpasst.  Jedenfalls  ist 
es  England  und  Deutschland,  wo  inzwischen  die  Männer  der  Zu- 
kunft heranwuchsen,  für  welche  das  Jahr  1668  und  das  darauf  folgende 
1669  Wendepunkte  ihres  Lebens  bilden. 

1666  erschien  in  Leipzig  die  Doctordissertatiou  von  Gottfried 
Wilhelm  Leibniz.  1668  knüpfte  er  Beziehungen  zu  einflussreichen 
Persönlichkeiten  an  verschiedenen  Orten  an,  welche  für  seine  Lauf- 
bahn von  grösster  Bedeutung  wurden.  1669  wurde  Isaac  Newton 
Professor  der  Mathematik  in  Cambridcre. 


Eegister. 


A. 

Abacus  für  eine  Person  gehalten  124. 
.Ahälard  54. 

Abgekürzte  Multiplicatmi  618 — 619. 
Abschneiden    von    Körpern    (abscindere) 

342.  343. 
Abscisse  (das  Wort)  898. 
Absurde  Zahlen  =  negativ  442. 
Äbü'l  Wafä  83.  296.  298. 
Abnndans  61. 

.Accademia  dcl  Cimento  661. 
Accentuirung  von  Zahlen  8. 
Adaequare  858.  864. 
Adjointe  du  triligne  915. 
Adjungicrcn  915. 
AdpUcare  631. 
Aegidius  Eomanus  121. 
Acgi/phr  12.  27.  92.  452.  592. 
AvhnJiildeitspunlte  590. 
Afstiinafioncs  536. 
.4/^0  547. 
Agrimensorisches  38.  95.  234—236.  343. 

416.  417.  562.  812. 
Ahmed  Soh)i  des  Jusuf  16.  67.  77.  114. 

317.  376. 
AJimes  27.  92. 

Aiguülon  (Franz  von)  693.  695. 
Ailly  (Peter  von)  172.  173. 
Akademie,  Pariser  675.  679.  681. 
Albattäni  111.  272.  275. 
Albert  von  Sachsen   101.  143—149.  192. 

317. 
Alberti   (Leone    Battista)   292.  293.  294. 

307.  467.  468. 
AlbcHus  Magnus  96. 
Alhins  (Ricardus)  891—892. 
Alchiiarizmi  33.   34.   72.    158.  239.  246. 

484. 
Alcuin  362. 

Alexander  (Andreas)  423. 
Alexander  der  Grosse  641.  642. 
Älfarabi  61. 

Älfons  X  von  Leon  177.  187.  385. 
Alfraganus  59.  256.  260.  261.  262.  409. 
Alfred  261.  263. 

Algebra  und  Almuchabala  32.  308.  321. 
Algebra  abgeleitet  von  Geber  165.  431. 


Algebra  des  Frater  Fridericiis  von  1461 

239. 
Algebraische  Curven  814. 
Algebraische    Geometrie    536.    567.    568. 

584.    585.    591.    785.     806—811.    816. 

818—819. 
Algobras,  eine  Persönlichkeit    249.  250. 

423.  440.  6"41 
Algorisme  frangais  91 — 92. 
Algorithmus  linealis  222.  385. 
Älgus  88. 

Aliza,  Regulti  532.  536.  537. 
Alkclsddi  243. 
Al'Karchi  10.  32.  34.  85. 
AI  Käschi  47. 

Almagest  7.  140.  182.  185.  210.  255.  256. 
Ahhanach  164. 
Alnasatvi  85. 

Alsted  (Johann  Heinrich)  719. 
Amirucio  (Georg)  453—454. 
Analogieschlüsse  empfohlen  664. 
Analysis  630. 
Analytische  Geometrie  der  Ebene    811 — 

821. 
Analytische  Geometrie  des  Raumes   812. 

815.  819.  820. 
Andalo  di  Negro  165. 

Anderson    (Alexander)    585.    608.     634. 

655.  831. 
Angeli  (Stefano  degli)  897—898. 
Angles  s.  Robertus  Anglicus. 
Anhaltin  (Chi-istian  Martini)  713. 
An  Nairizi  117. 
Anthonisz  (Adriaen  von  Metz  =  Metius) 

599. 
Antilogarithmen  726.  742. 
Antiphon  594. 
Antobola  =  Ellijise  679. 
Antonius  Andreas  121. 
Anzahl   der  Durchschnittspwnkte   zweier 

Curven  819. 
Apfel  825.  826. 
Apianus  (Peter)  60.  225.  401—405.  410. 

428.  433.  449.  453.  475.  518. 
Aiwllonius  98.  132.   259.   261.  263.  283. 

456.  480.  553.  558.  571.  590.  653.  654. 

655.    656.    660.    661.    662.     794.    809. 

816.  898. 


924 


Register. 


ccTtogrifia  245. 

Äporisma  245.  246.  247. 

Apotome  595. 

Applicaten  812. 

Apuleius  217.  222.  248.  385.  642. 

Aqnilonius  s.  Aiguillon. 

Aqiiinas  238.  284.  422. 

Äquiiio  s.  Thomas  von  Aquino. 

Araber  3.   4.   8.   9.    10.   16.   22.    27.    30. 

31.  42.  44.  63.  67.  70.  73.  80.  99.  100. 

117.  129.   130.  155.  206.  240.  243.  262. 

264.    294.    307.    308.     328.    385.    388. 

563.  578.  585.  597.  642. 
Aratoribus  (Gabriel  de)  482. 
Aratus  408. 
Archimed  43.  77.  82.   99.  116.  132.  183. 

192.  209.  210.  259.  261.  263.  276.  317. 

331.  373.  406.  451.  455.  457.  458.  514. 

515.   524.  525.  549.  553.  559.  563.  570. 

584.  585.  592.  593.  596.  598.  599.  642. 

653.  660.  761.  822.  823.  824.  831.  839. 

843.  845.  849.  856.  865. 
Archimenides  77.  116. 
ArcJiipendnlum  38.  331. 
Archytas  82. 

Arcufication  192.  193.  383.  853—854. 
Arcus  Pictagorae  5.  34. 
Arcus  tanqens  185.  275. 
Ardiifter  (Johann)  670. 
Argelati  669. 

Aristaeus  der  Aeltere  662. 
Aristarch  553. 
Aristoteles  7.    54.  56.  61.  119.  128.  210. 

245.  259.  261.  317.  569.  655.  685.  696. 
Arithmetik  von  Treviso  302—305. 
Arithmetisches    Breieck    PascaVs    750 — 

754.  756—757.  911—913. 
Arithmetische  Heihe  s.  Reihen  (arithme- 
tische)    und     Reihen     (arithmetische 

höherer  Ordnung). 
Armand  von  Beauvoir  121. 
Arte  maggiore  321. 
Articulus  8.  64.  88.  94. 
Arzachel  183. 
Asamm  10. 

Aschbach  143.    149.   391.    392.  393.  394. 
As  Sidschzi  82. 

Assymetrie  =  Irrationalgrösse  804. 
Asymptoten  456.  571.  857. 
Atclhart  von  Bath  100.  110.  261.  263.  277. 
Athelstnne  102.  263. 
Auerbach  s.  Stromer. 
Aufgabe  des  Pappus  813.  814. 
Aufgaben  in  Briefen  gestellt  238.  281 — 

286.    774—776.    777.   786—787.  854— 

857.  907—910. 
Aufgabensammhmg  von  Pamiers  359.  767. 
Aufsetzen  von  Körpern  (elevare)  342.  343. 
AufsteigeMe  Kettenbrüche    10.    18.    165. 

315. 
Aureolus  (Petrus)  121. 
Auria  (Giuseppe)  557. 


Autolykus  558. 

Aynscom  (Franciscus  Xaverius)  717. 

Azari  328. 


B. 

Sachet    de    Mesiriac    (Claude    Gaspard) 

655.  767—768.  771—773.  776.  779.  780. 
Baco   (Roger)    56.    96.   97.    98.    99.    100. 

113.   118.  122.   125. 
BacoYithorp  (Johaim)  113.  121. 
Baculus  s.  Jacobsstab. 
Baldi  (Bernardino)  306.   307.   547—548. 

557. 
Baliani  (Giovanni  Battista)  698.  699. 
Ball  s.  Rouse  Ball. 
Balsam  660. 
Baltzer  683. 
Bamberqer    Bechenbuch    221 — 227.    228. 

230.  231.  357. 
Bankir  216. 
Banneicitz  s.  Apianus. 
Barbaro  (Ermolao)  219. 
Barlaam  262. 
Barocius  s.  Barozzi. 
Barometer  699.  883.  910. 
Barozzi  (Francesco)   553.  571    578.  579. 

692. 
Barthelemy  de  Bommans  361. 
Bartsch  (Jacob)  741—742. 
basis  =  Cosinus  601. 
Basis    e    der    natürlichen    Logarithmen 

727.  736. 
Basis  von  Bürgi's  Progresstafeln  727. 
Basis  von  Neper's  Logarithmentafeln  730. 
Basis  10  von  Logarithmentafeln.  737.  738. 
Basyngstoke  (Johannes  von)  100. 
Bauvorschriften  452.  465, 
Bayle  681.  754. 
Beaugrand,  De  873.  886.  890. 
Beaune  (Florimond   de)    799—801.  820. 

856—857. 
Beauvoir  s.  Annand  von  Beauvoir. 
Beeckman  (Isaac)  683. 
Befestigungskunst  468.  573.  574.  687.  693. 
Befreundete  Zahlen  350.   446.    685.    771. 
Behd  Eddin  10. 
Behaim  (Martin)  289.  386. 
Behr  s.  Ursinus. 
Beldomandi    (Prodocimo    de')    186.    204 

—209.   223.  229.   310.  477. 
Bellovacensis  s.  Vincent  de  Beauvais. 
Bencivenni  (Zuchero)  165. 
Benedetti  (Giovanni  Battista)  565 — 568. 

584.  587. 
Benedictis  s.  Benedetti. 
Bergau  (R.)  582. 
Beriet  420.  422.  423. 
Bernecker  (Hans)  423. 
Bernegger  (Matthias)  690.  709.  746. 
Bernelinus  207. 
Bernhard,  Stiftsschüler  von  Hildesheim 

174. 


Register. 


925 


BernouUi  (Jacob)  81G. 

Berthelot  516. 

Beriraiid  747. 

BeräJirunijsaufgahe  des  Apollmvius  590. 

598.  U59. 
Berührungslinie  s.  Tangentenproblem. 
Bessarion    185.  210.  255.  256.  257.  264. 
Besso  (D.)  898. 
Bestimmte    Integration     829—831.    837. 

845.  869.  872.  900.  903—904. 
Bettini  (Mario)  770. 
Bewegungsgeometrie  82 . 
Beweis  aus  der  üumöglicbkeit  des  Vor- 
handenseins  unendlich    vieler   immer 

kleiner  werdenden  Zahlen  105.  778 — 

781. 
Beweis   von  n  auf  n  -j-  1  749.  752.  756 

—757. 
Beyer  (Johann  Hartmann)  619.  620. 
Biagio  da  Parma   165—166.   203.    204. 

317.  393. 
Biancani  (Giuseppe)  651 — 652.  655. 
B/a«c/?mi  (Giovanni)  180.  256.  263.  264. 

273.  280.  281.  282.  284.  287.  290. 
Bibliothek  von  Bamberg  221. 
Bibliothek  von  Basel  63.  67.  77.  86.  89. 

110.   144.   152.  173. 
Bibliothek  von  Berlin  739. 
Bibliothek  von  Bern  143. 
Bibliothek  von  Bologna  308. 
Biblothek  von  Cambridge  86. 
Bibliothek    von    Dresden     67.     86.    241. 

243.  246.  642. 
Bibliothek  von  Erfurt  60.  86.  126.  127. 
Bibliothek  von  Florenz  100.  165.  660.  661. 
Bibliothek  von  Göttingen  612.  642. 
Bibliothek  von  Gottweih  302. 
Bibliothek  von  Krakau  313. 
Bibliothek  von  Leipzig  250. 
Bibliothek  von  Mailand  7.  86.  295. 
Bibliothek  von  Melk  259. 
Bibliothek  von   München    86.   101.    151. 

181.    185.    235.    237.     238.     289.    314. 

338.  589.  601.  619.  701. 
Bibliothek  von  Nürnberg  262.  279. 
Bibliothek  von  Oxford  60.  86.  96.  123.  127. 
Bibliothek  von  Paris  6.  86.  98.  295. 
BiWzofM;  von  Rom  7.  86.  91.111.114.155. 
Bibliothek  von  Seitenstetten  127. 
Bibliothek  von  Siena  7. 
Bibliothek  von  St.  Gallen  128. 
Bibliothek  von  Thorn  60.86.  113.  118.128. 
Bibliothek  von  Venedig  86.  143. 
Bibliothek  von  Wien   64.   86.    124.  240. 

260.  289.  424. 
Bibliothek  von  Wolfenbüttel  7.  552. 
Bienewitz  s.  Apianus. 
Bierens    de  Haan    571.    591.    592.    596. 

597.  598.  599.  606.  612.  713.  743.  786. 

787.  797.  801. 
Bigollo  6. 
Bigotiere  s.  Vieta. 


Biliotti  (Antonio)  dell'  Abaco  164. 
Billin gsley  (Henry)  554. 
Billy  (Jaques  de)  785 — 786. 
Binomialcoef'ficienten  433.  434.  444.  445. 

523.  524.    532.    610.    611.    640.     721. 
751—754. 

Bion  (Nicolas)  672. 

Biot  702. 

Biquadratische  Gleichungen  s.  Gleichun» 

gen  4.  Grades. 
Biridanus  111. 
Blancanus  s.  Biancani. 
Blar  (Albert  von  Brudzewo)  253. 
Bocaccio  156. 
Böschenstein  (Johann)  420. 
Boethius  61.  94.  101.   123.  136.  165.  172. 

207.228.261.262.  315.  317.350.416.525. 
Bombelli  (Rafaele)   541.   551.   621—625. 

626.  627.  628.  644.  763. 
Bonaccio  5.  6. 
Bonatti  35. 
Boncompagni  (Füi-st  Baldassare)    5.  35. 

46.  50.  58.    127.  143.   164.  228.  302— 

305.  336.  497.  547.  612. 
Borelli  (Giacomo  Alfonso)  661. 
Borgen  beim  Subtrahiren  mit  Erhöhung 

des   Subtrahendus   10.    165.   206.  222. 

311.  348.  418. 
Borgi  (Piero)  305—306.  399. 
Borrel  s.  Buteo. 
Bosse  (Abraham)  672.  675.  678. 
BoueUes  s.  Bouvelles. 
Bcuillau  (Ismael)  659.  675. 
Bouilles  s.  Bouvelles. 
boullier  220. 
Bouvelles   (Charles    de)    379—385.    387. 

524.  525.  542.  563.  591 
Bovillus  s.  Bouvelles. 
Bradwardinus  111.  113—120.    123.  134. 

138.    143.     166.    167.    191.    239.    278. 

317.  .386.  387.  393.  685.  833. 
Bragadino  (Domenico)  306. 
Brahe  (Tycho)  456.  604.  642.  643.654.  712. 
Bramer  (Benjamin)   691.    692.  693.  725. 
Brancker  (Thomas)  777. 
Brassine  657. 
Braunmühl  (A.  von)  265.  454.  578.  605. 

692.  693.  707.  712. 
Brechtel  (Stephan)  612. 
Bredan  (Simon)  s.  Biridanus. 
Brendel  (Georg)  691. 
Brennlinie  =  Parabel  460. 
Breusing  288.  516.  579.  608. 
Brewer  96.  97.  98.  99. 
Briefmaler  (Hanns)  237. 
Briggs  (Hemy)  733.  738.   743.  744.  745. 

746.  747.  831. 
Briggs'sche   Logarithmen    737.  738.   743 

—748. 
Brille  190. 
Brodordnung  422.    472.   476—477.   478. 

520. 


926  Register. 

Bronkhorst  (Jan)  s.  Noviomagus.  Cardanische  Ätifhängung  516. 

Broscius  s.  ßrozek.  Cardano  (Hieronimo)  47.  345.  441.  442. 

Brouncker  (Lord)  721.  765—766.  777.  447.    482.    483.    484—510.     511.    512. 

Brozek  (Jobamies)  685—686.  711.  515.    516.    520.    523.    531.     532—541. 
Bruchrechnen    in    besonderen    Schriften        542.  560.  562.  566.  571.  608.  613.  614. 

gelehrt  89.  93.  126.  127.  152.  621.  622.  625.  628.  646.  768.  794.  795. 

Brucker  122.  818. 

Brudzewski  s.  Blar.  Carmen  de  algorismo  90. 
Brüche   10.    11.  12.    13.  15.  65.  66.  164.    CarteUi  zwischen  Ferrari  und  Tartaglia 
165.    207.    223—224.    239.     301.     315.         490—493.  690. 

316.  349.  350.  396.  401.  418.  Cartesim  s.  Descartes. 

Bruhns  401.  472.  555.  Cartographie    391.    410—411.    453.    608. 

Bryson  104.  563.  695.  737. 

Buchdruck  215.  290.  291.  542.  Casati  (Curtio)  669.  670. 
Buchführung  49.  157.  328.  348.  395.  396.    Castelli  (Benedetto)    699.   710.  832.  891. 

620—621.  casus  37.  83.  267.  285. 
Buchstaben   9.    10.    17.    61.  63.  64.  68—    cata  15.  16.  39.  67. 

72.  206.  242.  243.  343.  396.  427.  441.    Cataldi   (Pietro  Antonio)    596.    623.  761 

564.  631.  632.  634.  635.  —763.   765.   771.   794. 

Buchstahenconstruction  294.  344.  466.  Catani  481. 

Bu^hstahenfoJge ,  griechisch-arabische  9.  Cautelen  426. 

31.  36.  80.  105.  265.  Cavalieri  (Bonaventura)   676.    709—711. 

Buchstabenfolge,  lateinische  31.    36.  80.  713.    832—850.    855.    865.    866.    877. 

105.   153.  265.  883.  888.  892.  895.  897.  898.  899.  900. 

Buckley  (William)  480.  758.  901.  921. 

Bürgi  (Joost)  617—619.   643—646.   648.  Cavalieri's    Satz    über    Gleichheit    von 

663.  688.  691.  725—729.  739.  ßaumgebilden  840.  855. 

Buffon  219.  Cayley  (A.)  903. 

Bugia  4.  5.  Cecco  d'Ascoli  165. 

Bulaeus  56.  Celtis  (Konrad)  391.  392.  393. 

Bunderl  393.  census  34.  158.  239.  240. 

Burbach  s.  Peurbach.  centiloquium  403.  404. 

Burleigh  (Walter)  120.  121.  centrum  =  Halbmesser  237. 

Bussole  zur  Feldmessung  benutzt  515.  centruz  237. 

Buteo   (Johannes)   383.   384.   556.  561—  cero  310. 

563.  591.  Ceulen  s.  Ludolph  van  Ceulen. 

Byllion  348.  Chaldäer  308.  321.  410. 

Chasles    (M.)    60.    67.    73.   94.    101.    113. 

Q  220.  295.  309.  379.  452.  459.  568.  586. 
589.  657.  658.  659.  673.  674.  677.  678. 

cambi  225.  681.  684.  685.  707.  708.  823. 

Camerarius  (Joachim)  409.  455.  548.  chata  16. 

Camerer  (J.  W.)  590.  Cliiarini  329. 

Campanus  98.   100—106.   110.  114.  115.  Chinesen  26.  217.  220. 

116.    145.    146.     147.     167.    192.    208.  jjwpts  10. 

228.    259.    260.    261.    277.    278.    281.  (Jhristen  und  Juden  abicechselnd  zu  ord- 

282.    338.    339.    365.    366.    387.     515.  nen  362.  501.  768.  769—770. 

533.  551.  554.  556.  563.  780.  Cliristmann  (Jacob)  597.  603. 

Campori  832.  Christmann  (W.  L.)  590. 

Canacci  (Rafaele)  100.  165.  250.  Christoforo  Colombo  385. 

Cancer  (Johannes)  s.  Cusanus.  Clironologie  596. 

Candale  (Fran9ois   de  Foix  -)  554.  555.  Cryppfs  (Johannes)  s.  Cusanus. 

556.  Chrzaszczeicski  674. 

Canon  207.  221.  227.  321.  322.  357.  Clmqiiet   (Nicolas)    347—364.    371.    372. 

Canon  sexagenarum  376.  387.  397.  403.  432.  600.  614.  767. 

Canonische  Gleichungsform  791.  Ciermans  (Johann)  719—720.  724. 

Cantagallina  s.  Baldi.  cif)-a  64.  89.  94.  418. 

Capocci  (Raniero)  46.  50.  Circulatur  des  Quadrates  144.  383.  384. 

Capra  (Baldassare)  689.  690.  464.  525. 

Crtra/«?<e/ (Johann  y  Lobkowitz)  771.783.  circulus  64.  89.  418. 

Carcavy   (Pieire  de)  675.  758.  759.  786.  Ciruelo  (Pedro  Sanchez)  386-387. 

787.  806.  816.  819.  820.  878.  908.  911.  Cisojanus  445. 

917.  Cissoide  860—861.  887.  904.  906. 


Register. 


927 


Citrone  826.  838. 

Clavius   (Christoph)    451.   452.   548.  555 

—557.  560.    57U— 581.    591.    596.  643. 

653.  667.  687.  692.  713.   730.  849.  850. 
Clersellier  (Claude)  683. 
Clichtovaeus  (Jodocus)  88.  379. 
coadjuteur  678. 
Coefficient,  das  Wort  632. 
Coefßcienten   der    Gleichung    und,    Glei- 

chungswurzehi  505.  637.  639.  640.  789. 
Colüte  891. 

Coignet  (Michel)  687.  . 
Coincidenzen  188.  189.  192.  195—197. 
Colangelo  695. 

Colla  485—489.  495.  509.  511. 
Collegium  poetaruvt  et   mathematicorum 

391.  392. 
Collimitiana  393. 
Collimitiits  s.  Tannstetter. 
coJumna  613. 
Comhinationen ,  die    18  .  des  Ahmed    16. 

17.  67.  376. 
Combinatorik  314.    480.    522.    532.   562. 

752.  753.  758.  771. 
Commandino  (Federigo)   547.   553.    555. 

570.  571.  578.  585.  687.  695.  698. 
compagne  de  la  cycloide  878. 
Comphmation   830—831.   843.    844.   880. 

,892. 
CompuUis    94.    96.    101.    165.    175.    305. 

359.  445. 
Conchoide    584.  815.  820.  863.  887.  889. 
congruiim  s.  numeri  congrai. 
Conrad  (Hans)  423. 
consolare  304.  324. 
Contingenzwinkel  77.  104.  120.  167.  533 

—535.   554.   559—561.   586.    687.  822. 

829. 
Contrapunkt  204—205. 
Convergenz,  das  Wort  718. 
Convexität  und   Concavität   von   Gurren 

863.  868. 
Coordinaten  130—132.  813—814.815.817. 
coraustus  236.  343.  416.  582. 
Cordonis  (Mattheus)  291. 
coriscanon  10. 

Cornaro  (Giacomo  Aloise)  690. 
cornicularis  586. 
corporatus  824.  825. 
cosa  158.  234.  240.  316.  355.  403.  441. 
Cosinus,  das  Wort  604. 
Cosinus  und  Sinus  gemeinschaftlich  auf- 
zuschlagen 474. 
Cosinussatz  der  ebenen  Trigonometrie  605. 
Cosinussatz  der  sphärischen  Trigonometrie 

643. 
Cossali  503.  507.  509. 
Costard  16. 
Cotton  (Robert)  555. 
counters  218.  219.  478. 
Creizenach  (W.)  770. 
Cremonensis  (Carolus  Marianus)  580. 
Crüger  (Peter)  742. 


Crueze  ==  Winkelkreuz  152. 

cuento  387.  388. 

Culm  s.  Geonietria  Culmensis. 

Culminationspunkte  \on  Curven  131.  828. 

Curtius  (Jacob)   643. 

Curtze    (M.)   9.   26.    39.    57.   60.   61.    67. 

73.  80.  81.    82.  90.  98.    101.    102.   105. 

110.  111.  112.   113.  116.  117.  118.  120. 

127.    128—137.     151.     152.    182.    183. 

235.  237.  239.  240.  250.  259.  260.  263. 

280.  289.  291.  313.  314.  399.  410.  424. 

436.  450.  471.  472.  590.  601.  617,  642. 

700.  770. 
Cusanus   180.    186—203.   211.   239.    260. 

276.  277.  282.  365.  382.  469.  563.  598. 

705.  826. 
Cycloide   202.   382.    855—856.  861—864. 

872.    873.    878—880.    882.    883.     884. 

885—890.  9.05.  906.  907—910.  917. 
Cyclometrie  591—600.  712—718. 
Cyclometrische  Formeln  200 — 201 . 
Czebreyn  241.  250.  423. 
Czerny  175.  180.  255. 


Dacien  (Petrus  tou)  s.  Petrus  Philomeni 

de  Dacia. 
Da  Coi  s.  Colla. 
Bagomari  (Paolo)  dall'  Abaco  164.  165. 

316. 
Dannreuther  656. 
Dante  156.  327. 
Danti  (Giovanni)   165. 
D'Araujo  d'Äzevedo  388. 
Dasypodius  (Conrad)  553. 
Dati  (Carlo)  887.  905. 
Daviso  (Urbano)  710. 
De  Backer  651.  652.  653.  659. 
Decimalbrüche  178.    182.  275.  305—306. 

399.  404.  583.  584.  604.  615—620.  627. 

629.  644.   727.    733—734.    743.   745. 
Decimale  Theilung  der  Winkelgrade  185. 

743.  746. 
Decker  (Ezechiel  de)  744 — 745. 
Declamationen  409. 
Dee  (John)  477.  554—555. 
Definitionen    scholastischen    Charakters 

73.  118—120. 
De  la  Hire  (Philippe)  674.  676.  678. 
Delambre  700. 
De  la  Pene  (Jean)  549. 
De  la  Boche    (Estienne)   371—374.  392. 

614. 
Del  Ferro  (Scipione)  346.  447.  468.  482 

—484.    491.   493.    503.    512.    513.  531. 

537.  542.  623.  625.  794. 
Delisches  Problem  s.  Würfel  Verdoppelung. 
Del  Monte  (Guidobaldo)  548.  568.   575. 

687.  698. 
Denifle  53.  57.  58.  59.  345. 
Denis  393.  395. 
Desargues  {Gfirard)  673. 674—678. 679. 681. 


928 


Register. 


Desargues'  Satz  678.  679. 

Bescartes  du  Perron    (Rene)     655.   673. 

675.    681.    682—684.    713.    714.    749— 
>     750.  776.  779.  780.  784.   786.   787.  793 

—798.    799.   800.  808.  811—816.   819. 

820.    828.    851—857.    858.     861.    873. 

874.  875.  876.  880.  889.  898.  919. 
Descartes'  Ovale  815. 
descente  infinie,  das  Wort  778. 
Bescriptive  Geometrie  676. 
Bespagnet  816.   857. 
BettonviUe  (Arnos)  910. 
Biakatistik  815. 
Biametralzalü  435. 
Bickstein  (S.)  686.  712. 
Bieterich  671. 
differentia  10. 
Biff'erenzzeichen  631. 
Bighy  (Kenelm)  786—787. 
Bignität  524.  623.  626. 
dignitas  61. 
Bingk  =  cosa  240. 
Biokies  458. 
Bionysodorus  458. 
Biopliant    42.    63.    260.    262.    263.    264. 

286.    287.    551—552.     557.     614.    629. 

630.631.    634.  655.    657.  767.  771.  772. 

773.  774—776.  780.  785.  786.  858. 
Birichlet  774. 

Bisciission  der  Curven  2.  Grades  814. 
Bistanzmesser  561. 
Bividiren  von  Brüchen  12.  66. 
Bividiren  üherivärts  65.  89.  304.  313.  419. 
Bividiren  unterwärts  313.  403.  519. 
Bivina  proportione  s.  Paciuolo. 
Birina    proportio  =    goldener    Schnitt 

341.  377. 
Boctor  angelicus  s.  Thomas  von  Aquino. 
Boctor  illuminatus  s.  LuUus  (Raimundus). 
Boctor  invincibilis    s.   Occam   (Wilhelm 

von). 
Boctor  mirabilis  s.  Baco  (Roger). 
Boctor  profundus  s.  Bradwardinus. 
Boctor  resohitus  s.  Baconthorj)  (Johann). 
Boctor   singularis   s.    Occam    (Wilhelm 

von). 
Boctor  solemnis   s.    Gändavensis   (Hen- 

ricus). 
Boctor  suhtilis  s.  Duns  Scotus. 
Boctor  universalis  s.  Thomas  von  Aquino. 
Boliometrie  823—829.  848—849. 
Bmningo  de  Guzman  57. 
Bo))iiiticus  de  Ciacasio  Parisiensis  127. 

12.S.   151.   152.   153.   154.  239. 
Bominicus  Hispanus  35.  36.  41.  166. 
Bominicaner  55.  57.  58.   59.  86.  93.  94. 

96.  99.  121.  238.  387. 
Bonuubruderschaft  391. 
Bon  Henrique  der  Seefahrer  386. 
Bonizo  3. 
Boppelmayr  (Joh.  Gabriel)    251.    254 — 

256.  257.  274.  281.  406.  422.  453.  454. 

455.  456.  466.  469.  582.  612.  683.  691. 


Boppelte  Gleichungen  786. 

Bau  (Joh.  Pietersen)  620. 

Brehom  =  Dreieckshöhe  152. 

Brechsler  398. 

Brei  Brüder  80.  81.  82.  110.  568. 

Breieck    37.    38.    39.   51.  83.    208.    236. 

330—335. 
Breiecke    mit   mehrfachem    Winkel    aus 

solchen  mit  einfachem  zu  bilden   633. 

634. 
Breieckszahlen  430.  448.  500.  743. 
Brei  fache  Gleichungen  786. 
Breitheilung   des    Winkels    80.    81.    82. 

104.    105.    281.    285.    286.    463.     585. 

636.  806—808. 
Bresdener  Algebra  243—248.   347.   355. 

357.  358.  372.  397.  423. 
Breydor/f  678. 
Brobisch  228.  229.  236. 
Bschäbir  ihn  Aflah  262.  265.  404. 
Bualität  571. 
Bucange  61. 
ducere   unterschieden    von    multiplicare 

519.  631.  893. 
Buchesne    (Simon)    591—593.    598.    599. 

600. 
Buctus  plani  in  planum  893 — 896.  916. 
Bürer    (Albrecht)    430.    436.    439.    449. 

455.    459—468.     475.     525.    542.    550. 

563.  573.  575.  580.  667.  678.  694.  761. 
Bühring  569. 
Buhalde   217. 

Buhamel  (Jean  Baptiste)  659. 
Buhamel  (Pasquier)  549. 
Buns  Scotus  113.  121.  252. 


e  S.Basis  e  der  natürlichen  Logarithmen. 

JEcusa  s.  Cusanus. 

Echelles  (Abraham  von)  661. 

Edelgestein  s.  Gemma  Frisius. 

Egesippus  294. 

Eid    eine   Vorlesung    gehört    zu    haben 

140.  141.  142. 
Eierlinie  =  Ellipse  460. 
Einhüllende  891. 
Einmaleins    8.    91.    179.    207.    208.    222. 

229.  348.  349.  376.  413.  476.  478.  497. 
Einsundeins  8.  476. 
Eisenhart  419.  722. 
Elchatayn  (Regula)  27.  318. 
eleviren  (beim  Linienrechnen)  400. 
Elferprobe  11. 

Elias   Misrachi  229.  413—414. 
Eliminationsproblrm      bei      Gleichungen 

höherer  Grade  «04—805. 
Ellipsenconstruction  460.   568.  574.  575. 

578—579. 
Elmuain  103.  153.  235.  292. 
Elmuharifa  103.  153.  235.  292. 
Eneström    (G.)    88.    91.    114.    126.    386. 

583.  592. 


Register. 


929 


Engel  (Fr.)  556.  G61.  GG5. 

Ennen  616. 

Entgegengesetzte  Zahlen  230.  319. 

inccvaXuybßdvsLV  248. 

Epicrjdoide  461.  678. 

Eqiiaciones  s.  Kapitel. 

Eratosthenes  457. 

Erlendssön  (Hauk)  126. 

Erman  684. 

Ermolao  s.  Barbaro. 

Ernesti  248. 

Ernst  von  Baiern  616. 

Errarcl  (Jean)  de  Barletluc  596. 

erraticus  8. 

Eugippus  294. 

J^Mii/d  5.  11.  37.  47.  60.  61.   73.  74.  75. 

76.  77.   78.  84.  95.  98.   101—105.  117. 

140.   141.  142.   146.  172.  228.  251.  252. 

253.  254.  259.  261.  262.  309.  315.  317. 

320.  341.  346.  451.  499.  524.  525.  528. 

549.  559.  564.  565.  566.  655.  656.  657. 

761.  780.  836. 
Euklidausgabe,   älteste  lateinische   101. 

102. 
Euklidansgabe  des  Atelhart  74.  102.  103. 

110.   116.  153.  263.  277. 
Euklidausgabe  des  Campanus  101 — 106. 

110.   116.  147.   153.  208.  234.  235.  259. 

281.  291.  292.  339.  394.  430.  439.  515. 

554.  556.  557.  631.  780. 
Euklidausgabe  des  Theon  74.  147.  439. 

554.  556.  557. 
Euklidausgaben  seit  US2  290—292.  308. 

338—341.    365—366.     394.    406.    409. 

455.     480.    488.     514.    515.     548—551. 

554—557.  656.  657.  658.  661.  761. 
Euklid  von  Megara  vei^wechselt  mit  dem 

Mathematiker  102.  261.  262.  292.  339. 

365.  556. 
Euler  429.  684.  727.  774. 
Euler's  Polgedersatz  684. 
Eutokius  261.  263.  457.  458.  536.  571. 
Ecesham  (Walter)  120. 
Exempeda  294. 
exhaurire  895.  896. 
exponens,  das  Wort  432. 
Exponenten  623.  626.  643.  644.  794. 
Exponentialgleichung  325.  326. 
extrahere  10. 


F. 

Fabbroni  855.  898. 

Faber  Stapulensis  s.  Lefevre. 

Factoren folge,  unendliche    595.  766.  903 

—904. 
Fallgesetze  697.  698.  699.  700. 
Falscher  Ansatz,  doppelter  27 — 30.  234. 

240.    318.    319.     351.    411.    412.    413. 

431.  478—479.  507.  604.  646—647. 
Falscher   Ansatz,    einfacher    21.  22.  35. 

70.  318.  351.  411.  412.  431. 
Fasbender  471. 


Faulhaber  (Johann)  611.  670—671.  672. 

683.  691.  746.  748.  749.  753.  793.  898. 
Favaro    (A.)    166.    204—208.    687.    689. 

709.   762.  831.  855. 
Feldmessung  36.  38.  112.  113.  127.  128. 

152.   153.   171.   288.  292.  301.  481.  515. 

525.  580.  589.  666—670.  686.691.  705. 
Feliciano  481.  525. 
Fellöcker  687. 
Fermat  (Pierre  de)   657—659.   674.  677. 

696.  753.  755.  756.    757.  758.  759.  773 

—781.  784.    785.    787.    803—806.  811. 

816—820.    828.    857—876.     878.    880. 

885.  889.  897.  898.  901.  905.  906.  909. 

911.  921. 
Fermat' scher  Lehrsatz  111. 
Fernel  (Jean)  378—379. 
Ferrari  (Ludovico)  482.    484.   490—494. 

495.  509.  512.  513.  515.  517.  527.  529. 

535.  538.  541.  566.  569.  622.  625.  626. 

638.  690. 
Ferreus  s.  Del  Ferro. 
Fibonaci  6.  , 

Figuren  in  ungewohnter  Lage   92. 
Filius  Bonacii  6.  7. 
Finaeus  (Orontius)   375—378.   389.   392. 

415.  523.  525.  542.  561.  563.  571.  591. 

598. 
Finck  (Thomas)  604.  703. 
Eine  (Fran9ois)  375. 
Fine  (Oronce)  s.  Finaeus. 
Fingerrechnen  8.  140. 
Finke  57.  58. 
Fischblase  462. 
Fläche    des    sphärischen    Dreiecks    709. 

711.  888. 
Floridus   483.    484.    486.   487.    491.    495 

512.  513. 
fluere   91.    556.  730.    735.  8;U.  842.  849. 
Flussates  s.  Candale. 
Focus  663. 
Focus  caecus  664. 
Folium  Cartesii  856.  858.  864. 
Fontana  497. 

Fontes  98.  379.  385.  436.  549.  611. 
Forcadel  (Pierre)  549.  611. 
forma  120—122.  129—131. 
Fortolfus  136. 
Foster  (Samuel)  585. 
Fra  Luca  di  Borgo  Sancti  Sepulchri  317 . 
Franciskaner  55.  96.  98.  113.  121. 
Franck  651. 

Franco  von  Lüttich  80.  101.  592. 
Franke  685.  686. 
Frater  Fridericus  116.  239.  240. 
Freher  549. 
Frenicle   de  Bessy  (Bernard)    777.    779. 

780.  783—784. 
Freytag  82. 
Friedlein  (G.)  410. 

Friedrich  II  6.  7.  40.  41.  42.  53.  54.  55. 
Friscobaldi  (Filippo)  371. 
Frizzo  164. 


Cantor,  Geschichte  der  Mathem.    II. 


Aufl. 


930 


Resrister. 


Frobesius  (Joli.  Nicol.)  652. 
Frontinus  38.  228.  230.  236.  237. 
Fünfsatz  16.  17. 
Füller  171. 
Furtenbach  (Josef)  672. 

G. 

Gabellinie  =  Hyperbel  460. 

Gänsefuss  =  pes  anseris  341. 

galea  313. 

Galgemayr  (Georg)  691. 

Galilei  (Galileo)  660.  689.  690.  691.  696 

—698.    699.    710.    711.    832.    847.  848. 

849.   855.  884.  885.  886.  890.  907. 
Galle  (Jean)  724. 
Gamiczer  582. 

Gandavensis  (Henricus)  113.  120.  191. 
Ganega  37. 
Ganzzahlige  Auflösungen  unbestinunter 

Gleichungen  772. 
Gassendi  254. 
Gauss  777.  794. 
Gaza  (Theodor  von)  256. 
Geber  165.  250.  404. 
Gebrochetie  Exponenten  133.  356.  357. 
Gechauff  406. 
Gegenbauer  (L.)  7. 
Geheimschriftentzifferung  583. 
Geiger  (L.)  413.  455.  769. 
Gelachim  305. 

Gelcich  (H.  E.)  222.  653.  809. 
Gellibrand  (Henry)  745—746. 
gelosia  312. 
Gematria  447. 
Gemeintheiler  9.  11. 
Gemeintheiler     algebraischer     Ausdrücke 

389.  627—628. 
Gemeinvielfache  11. 
Geminus  652. 

Gemma-Frisius  (Cornelis)  597. 
Gemma-Frisius  (Rainer)  410—413.  449. 

475.  549.  597.  614. 
Gemunden  (Johann  von)   174 — 179.  180. 

181.  211.  2.54.  393. 
Geiwue  Messung  ermöglichende   Vorrich- 
tungen 389.  579—580.  692. 
Genocchi  (Ang.)  44.  46.  47.  105.  506. 
Geometria  arithmeticalis  237. 
Geometria  Culmensis  150 — 154. 
Geometria  deutsch  450 — 452.  461.  465. 
Geometria  peregrinuns  668.  686. 
Geometria  practica  239. 
Geometrie  frangaise  91.  92.  93. 
Geometrische  Aufgaben  algebraisch  gelöst 

52.  330—335. 
Geometrische  Behandlung  von  Gleichungen 

s.  algebraische  Geometrie. 
Georg  von  Ungarn  387. 
Gerbert  38.  127.  184.  237. 
Gerhard   von    Cremona    36.   39.   77.    80. 

82.  110.  117.   158.  240.  262.  265.  404. 
Gerhardt  (C.  J.)  175.  177.  181.  217.  228. 


238.  240.  243.  391.  .395.  396.  398.  399. 

424.  431.  452.  459.  626.  648.  679.  682. 

719.   725.  .739.   740.  742.  823.  832    840. 
Ger  man  671. 

Gesammtheit  der  Geraden  u.  s.  w.  834. 
Geschichte    der    Mathematik     261 — 262. 

393.  410.1545—548.556.  651—653.668. 
Geschlecht  einer  Curve  814.  816. 
Gesellschaftsrechnung  18. 
Gesetz  der  grossen  Zahlen  538. 
Gesetz  der  Homogeneität  630.  812. 
Ghaligai  100.  481. 
Gherardi  (S.)    165.  346.    482.   495.    510. 

513.  518.  541. 
Ghetaldi   (Marino)   640.    653—654.    656. 

809—811. 
Ghiherti  293. 
Ghirlandajo  294. 
Giesing  431.  436. 
Giesuald  725.  726.  728.    729. 
Gietermaker  (Claus)  713. 
Giordani  (E.)  490. 
Giotto  156.  294. 
Girard  (Albert)  572.  573.  656.  657.  665 

—666.  684.  706.   708.     709.  787—790. 

795.  797.  798.  806—807.  811.  888. 
Glaisher   581.    591.    736.    737.    738.  740. 

743.   745.  746.  747. 
Glauburgk  (Adolf  von)  430. 
Gleichheitszeichen    479.    552.     629.    656. 

721.  788.   791.  794. 
Gleichung  auf  0  gebracht  441. 507. 644. 794. 
Gleichung  gesetzloser  Curven  zu.  finden  920. 
Gleichungen  1.  Grades  mit  einer  Unbe- 
kannten 22.  49.  241. 
Gleichungen    1.    Grades    mit    mehreren 

Unbekannten    52.    69.    70.    322.    427. 

428.  441.  444.  785. 
Gleichungen  1.  Grades,  unbestimmte  19. 

23—25.    26.    48.    49.     286.    287.    361. 

428.  429.   771—773. 
Gleichungen  2.  Grades  mit  einer  Unbe- 
kannten  34.   72.  158.  159.  160.  233— 

234.    239.    241—242.    245—246.    321  — 

322.   3.58.  481.  635.  639. 
Gleichungen    2.    Grades    mit    mehreren 

Unbekannten  68.  69.  72.  326—327.  499. 
Gleichungen  2.  Grades,  unbestimmte  33. 

46.   164.  286.  287.  288.  361.  610.  634. 

777.  779.   786.  810. 
Gleichungen  mit   mehr  als  einer  Wurzel 

34.  160.  322.  358.  427.  442.  505.  644. 
Gleichungen   mit    mehr    als   3    Gliedern 

161.  162.  324.  359.  505.  538. 
Gleichungen  3.  Grades  46—48.    73.  160. 

161.  167.  284.  285.  286.  323.  426.  427. 

443.    447.     483—495.     498.    503—505. 

511—513.  530.  531.  536—539.  541.  542. 

622.  623.  624.  625.  626.  636.  637.  638. 

639.  794.  797.  801—802.  806—808. 
Gleichungen    3.    Grades,    unbestimmte 

361,  611. 


Register. 


931 


Gleichungen   4.    Grades    160.    IGl.    162. 

167.  323.  324.  442.  508—510.  622.  625. 

638—639.   797.  799  —  800.  808.  811. 
Gleichungen  von  höherem   als   4.   Grade 

160.   162.  536.  605—606. 
Gleichmigsansatz  440.  441.  444.  498. 
Gleichungsconstante     als     Prodnct     der 

Wurzeln  536.  648.  795.  796.  798.  799. 
Gloskowski  (Mathias)  686. 
Godefrotj  (A.  N.)  666. 
Goethals  (Heinrich  von)  s.  Gautlavensis. 
Goldene  Zahl  305. 
Golius  660. 
Gorini  (Paolo)  774. 
Gosselin  (Guillaume)  613. 
Gosselin  (Pierre)  613. 
Graaf  (Abraham  de)  713. 
Grad  einer  Curve  813.  814.  816.  819. 
Grade  Linie,  ihre  Gleichung  817.  821. 
Grässe  584.  891. 
Gramm  (J.  P.)  48. 
Grammateiis  s.  Schreiber. 
Grassmann  674. 
Grauen- Ar noult  873. 
Graunt  (John)  760—761. 
Gravelaar  (N.  L.  W.  A.)  603.  721.  733. 
Gregor  XIII.  555. 
Gregorius  von  St.  Vincentius  s.  St.  Vin- 

centius. 
Gregory  (David)  555. 
Gregory  (James)  717  —  718. 
Grenzübergang  901. 
Gresham  (Thomas)  738. 
Grienherger  (Christoph)  662.  850. 
Grösser  und  kleiner,  Zeichen  dafür  656. 

721.  787.  791. 
Grynaeus    (Simon  der  ältere)   405.  546. 

550.  553. 
Grynaeus  (Simon  der  jüngere)  550. 
Guarini  256. 
GüntJier  (S.)   53.    73.    79.    90.    124.    126. 

141.   142.   173.   175.    180.  181.  202.  216. 

222.  228.  229.  237.  247.   251.  252.  254. 

257.  277.  288.  379.  380.  382.  388.  391. 

392.  394.  395.  400.  402.  404.  413.  436. 

450.  452.  453.  459.  463.  472.  581.  582. 

589.  662.  665.  666.  671.  685.  692.  705. 

707.  720.  733.  763.  768.  829. 
Guidobaldo  s.  Del  Monte. 
Guijeno  (Juan  Martinez)  s.  Silicius. 
guisa  (ad  majorem  guisam  und  ad  mi- 
norem guisam)  8.  14.  15. 
Giddin  (Paul)  696.   840.    841.  842—844. 

847.  896.  897. 
Guldin'sche  Begel  841.  843.  896.  897. 
e^Mnfer  (Edmund)  604.  691.  743.  744.746. 
Gunter's  Scale  743.  746. 
Gutschoven  692. 


hace  575. 

Hagen  (Aug.)  293. 


Halhircn    64.  84.    88.  95.   156.    174.   178. 

181.  206.  229.  239.  310.  337.  350.  396. 

401.  411.  418.  419.  420.  443. 
Hallervord  669. 

Halliwell  (J.  0.)  94.  102.    110.   112.   171. 
Hanison  603.  703. 
HanJcel  (H.)  47.  139.   140.   157.   777. 
Hardeivinus  Teutonicus  56. 
Hardy  (Claude)  655. 
Harmonisch  -  geometrisches    Mittel   717 — 

718. 
Harriot  (Thomas)  790—792. 
Harsd^irfer  (Georg  Philipp)  770. 
Hartfelder  406.  408.  409.  415.  421. 
Hartmann  (Georg)  454. 
Hartwig  149. 
hasam  10. 

Haumann  (C.  G.)  590. 
Heben  gesunkener  Schiffe  516. 
Hebenstreit  (Johann  Ba^stista)  670. 
Hedraens  (Benedict)  692. 
Heiberg  77.  99.  101.  457.  514.  585. 
Heilbronner  (Job.  Christ.)  60. 
Heincze,  Kinderlehrer  173. 
Heinrich  von  Hessen  s.  Langenstein. 
Heinrich  von  Navarra  559. 
Heller  (Aug.)  190.  295.  387.  514.  699.  891. 
Hehnrcich  (Andreas)  641. 
Henisch  ((leorg)  651. 
HenricHs  Hassianus  s.  Langenstein. 
Henricus  modernus  s.  Gandavensis. 
Henrion  (Denis)  746. 
Henry  (Ch.)   91.    92.   93.    657.    673.  758. 

774.775.776.778.805.  806.  857.863.  864. 
Herigone  (Pien-e)  656.    720.  859. 
Herlinus  (Christian)  553. 
Heron  von  Alexandria  37.   73.    82.    93. 

99.  153.    163.  235.  330.  345.  373.  388. 

451.  456.  553.  557.   630.   669.   785. 
Hervagius  409. 
Herivarth  von  Hohenburq   (Hans  Georg) 

721—722. 
Heuraet  (Heinrich  van)  905. 919. 920—921. 
Hexagramma  mysticum  680. 
Heyd  4. 

Hilfswinkel  in  der  Trigonometrie  643. 
Hipler  (F.)  473. 
Hippokrates  198. 
Hirschvogel  (Augustin)  449.  666. 
Hoechstetter  670.  672. 
Hoefer  637. 
Holybush  87. 
Hohßvood  87. 

Holzmann  (Wilhelm)  s.  Xylander. 
Hommel  579. 
Homologie  678. 
Horcher  (Philipp)  688. 
Horem  s.  Oresme. 
Hostus  (Mathäus)  548. 
Hudde  (Johann)  801—803.  919—920. 
Hudde'sche  Begel   zur  Erkennung  mehr- 
facher   Gleichungswurzehi    802  —  803. 

919 

59* 


932 


Register. 


Hugo  Physicus  57. 

Huillard-BrehoUes  42. 

Hulsius  (Levinus)  688. 

Hultsch  (Fr.)  ;^7.  330.  558. 

Eunrath  39.  583.  584.  620. 

Husivirt  (Johannes)  417 — 419. 

Huygens  (Christian)  711.  715.  716—717. 

747—748.    758—760.     766.     819.    869. 

891.  905.  906. 
Huygens  (Constautiu)  656.  715.  917. 
Hydraulik  699  —  700. 
Hydrostatik  577—578. 
Hydrostatisches  Paradoxon  577.    . 
Hyperbelfläche  und  Logarithmen  715. 
Hyperbel  höherer  Ordnung  866—867. 
Hypotenusa  668. 
Hypsikles  39.  259.  263.  341.  551.  660. 


I. 

Ibn  Alhaitam  97.  98. 
Htn  Esra  247.  769—770. 
Identische  Gleichungen  810. 
imaginär  und  reell,  die  Wörter  795. 
imaginäre    Gleichungswurzeln    360.   502. 

508.  788.   795.   809—810. 
inauratura  92. 
Inder  5.  8.  9.  23.  34.  35.  37.  49.  69.  83. 

183.  193.  231.  232.  298.  301.  383.  384. 

397.  464.  592.  707. 
Index  s.  Stellenzeiger. 
Indirectes  Verhältniss  14.  16. 
Indische  Regel   für   Sehnenvielecke    83. 

260.  298. 
Indivisibilien   120.   832.    833.    835—840. 

841—847.    848.    850.     877.    880.    883. 

895.  913. 
infilgare  165.  315. 

Infinitcsimalhetrachtungen  821 — 922. 
Inflexionsj)nii/:t  820.  863.  919. 
Instrumeiition  Albyon  111. 
intercaliren,  da.s  Wort  903. 
Interpolationsverfuhren    273.     274.     728. 

729.  732.   742. 
interpoliren,  das  Wort  903. 
Inverses  Tangentenproblem  827.  856.  864. 
Involution  659.  677.  678. 
irrational  117.  133.  134.  147.  438. 
Irreductibler    Fall   der    kubischen    Glei- 
chung 489.  537.  586.  625.  628.  636.  806 

—808. 
Isaak  hen  Salomo  Israeli  247. 
Isaak  ben  Salomo  ben  Zadik  ihn  Alcha- 

dib  247. 
Isidorus  94. 
Isoperimetrische  Figuren   116.    144.  146. 

209.  580.  828.  854. 


J. 

Jacob  (Pancraz)  581. 
Jacob  (Simon)   469.   581—582.  587.  589. 
609—611.  726. 


Jacob  von  Cremona   209.  210.   259.  261. 

Jacob  von  Soest  58. 

Jacob  von  Speyer  280.  287.  290. 

Jacobsstab  288—289.  417. 

Jacoli  143.  713.  880.  883.  884.  885.  886. 

887.    888. 
Jäger  (E.  L.)  328.  620. 
Jakubowski  686. 
Jamitzer  (Wenzel)  582.  663. 
Jamnitzer  s.  Jamitzer. 
Jetons  218. 

Joachim  (Georg  von  Lauchen)  s.  Rhäticus. 
Joannes  de  Monteregio  254. 
Joannes  Pragensis  175. 
Jöcher  384. 
Jöstel  (Melchior)  712. 
Johannes  Francus  254. 
Johannes  Germanus  254. 
Johann  von  Gemunden  s.  Gemunden. 
Johannes  von  Landshut  399. 
Johannes  von  London  98. 
JohannesiwnLunas.  Johannes  von  Sevilla. 
Johannes  von  Palermo  41.  42.  46.  47.  48. 
Johannes  von  Sulisbury  56. 
Johannes  von  Sevilla  10.  178. 
Jonas  (Justus)  431. 
Jonquieres  (Fauke  de)  683. 
Jordanus  Nemorarius  3.  53—86.  88.  89. 

102.   105.  114.  116.  118.  124.  137.  156. 

174.   177.   178.  203.  205.  206.  227.  228. 

229.  238.  246.  250.  259.  260.  262.  ,288. 

317.  337.  364.  376.  423.  469.  491.  492. 

51S.  547.  549.  610.  613.  652.  669.  922. 
Jordanus  Saxo  57.  58.  59.  86. 
Josephsspiel  362.  501.  768.  769—770. 
Jost  247. 
Josteylio  711. 
Jouy  559. 

Juden  229.  247.  289.  305.  328. 
Jumeau  (Andre)  775. 
Junge  (Johannes)  626.  648. 
Jungingen  (Konrad  von)  150.  151. 
Jungius  (^Joachim)  672. 

K. 

Kahbala  115. 

Kästner  (Abraham  Gotthelf)  87.  98.  105. 

122.   MO.   149.  180.  182.  183.  184.  263. 

273.  275.  276.  290.  309.  337.  341.  342. 

343.  364.  375.  376.  377.  379.  387.  388. 

393.  394.  396.  399.  401.  404.  410.  419. 

420.  431.  449.  452.  456.  459.  463.  468. 

476.  480.  519.  522.  547.  548.  550.  553. 

554.  557.  558.  561.  571.  572.  573.  578. 

579.  580.  582.  593.  596.  597.  598.  601. 

602.  603.  609.  612.  613.  620.  641.  654. 

655.  656.  664.  665.  666.  670.  672.  673. 

685.  687.  688.  690.  691.  692.  693.  695. 

696.  701.  704.  705.  707.  708.  709.  711. 

712.   714.  717.   719.  726.  733.  739.  740. 

741.   742.  743.   745.   748.  770.  790.  809. 

810.  811.  831.  832.  892.  893.  896.  897. 


Register. 


933 


Kalb  (üdalrich)  399. 

Kdlenderreform   9(5.    101.    125—126.  172 

—173.   187.  258.  260.  393.  555. 
Kap f er  (Jobs)  173. 
Kapitel  (24)  =  Gleichungsfälle  241.  242. 

246.  423.  424.  426.  429.  441.  446. 
Kaps  397. 

Kaufmann  (G.)  53.  56.  94. 
Keqelsclmitte    345.  456.  673—674.  676— 

678.  679—681.  817.  818.  820.  821. 
Kegelschnittzirkel  578—579.  692.  693. 
Kepler  (Jobannes)   618.   644.  654.  662— 

664.    676.    684.    708.    722.    729.    739— 

741.  812.  822—831.  838.  841.  843.  845. 

848.  849.  856.  898.  900. 
Kepler'sche  Aufgabe  708.  822. 
Kepler'sche  Gesetze  822. 
Kepler' s  Stereometria  doliorum  s.  Dolio- 

metrie. 
Kettenbrüche  622.  669.  762—766. 
Kettenbrüche,    aufsteigende    s.    Aufstei- 
gende Kettenbrüche. 
Kettenlinie  698. 
Kettensatz  15.  18.  233.  399. 
Kewitsch  727.  736. 
KJieil  (P.)  49.  306.  620. 
Kinematik  893.  896. 

Kinner  von  Löwenthurm  (Aloysius)  716. 
Kircher  (Athanasius)  684 — 685. 
Klammern  624.  627.  787. 
Kitigel  (Georg  Simon)  15.  687.  693.  721. 

724. 726.  733. 739.  771 .  787. 790. 804.  832. 
Kabel  (Jacob)  419—420.  443.  449. 
Körperverhältnisse    des    Menschen    293. 

294.  343.  468.  516. 
Kolross  (Joannes)  420. 
Kopperlingk  s.  Koijpernikus. 
Koppernikns    (Nicolaus)    346.    419.   469. 

470—472.  473.  474.  475.  597.  603.  703. 
Korteweg  656.  715.  801. 
Kräfte  durch  Linien  dargestellt  bll. 
Kraft  (Johannes)  611. 
Kristan  von  Prachatic  179.  208. 
Kröl  (Martin)  de  Premislia  253. 
Krümmungskreis  663. 
Kubaturen  822.  823—826.  838.  840.  841. 

842.  843.  851.  855.  866.  883.  884.  886. 

890.  891.  892.  899.  905.  907.  908.  909. 
Kubiktvurzel  31—32.  39.  47.   65.  66.  85. 

89.  92.  206.  314—315.  354.  388.    396. 

403.  444.  481.  499.  523.  621. 
Kubikwurzel  aus  Binomien    446.   624 — 

625.   789—790.   797—798. 
Kubikzahlen  60.  91.    179.  323.  354.  418. 

476.  581. 
Kubische    Gleichungen    s.     Gleichungen 

3.  Grades  und  Irreductibler  Fall. 
Kugelschnitt  458. 
Kummer  IIA:. 
Kimisperger  254. 
Kutta  (W.  M.)  493.  526. 


L. 

Labiles  Gleichgewicht  578. 

Labosne  767. 

Lacher  394. 

La  Faille  (Charles  de)  696.  715. 

Lagrange  (Louis)  568. 

La  Hire  s.  De  la  Hire. 

Lalouvere  (Antoine   de)    869.    896—897. 

909.  910. 
Lampcrtico  579. 

Langenstein  (Heinrich  von)  143.  149.  150. 
Lansbcrge  (Philip  van)  700.  703. 
Lantmcsscr  =  Messer  =  Landmesser  150. 
Lassivitz  (K.)  97.  118.  569. 
latitudines  122—123.  130—132.  140.  141. 

142.  166.  254. 
latus  613.  641.  647. 

Lauchen  (Georg  Joachim  von)  s.  Rhäticus. 
Lauf  er  (Hans)  218. 
Lauremberg  (Joh.  Wilhelm)  666. 
Lautere  Brüder  293. 
Lax  (Gaspar)  387. 
Layci  mensores  150. 
Leeuwen  (Cornelis  van)  713. 
Lefevre  (Jaques)  60.  364—366.  392. 
Leibniz  (Gottfried    Wilhelm)    656.    679. 

682.  683.   719.  725.  751.  814.  899.  916. 

920.  622. 
Leonardo  von   Pisa    3 — 53.   54.   55.    61. 

63.    65.    73.    75.    77.    84—86.    96     117. 

157.   158.  165.   166.  167.  203.  205.  206. 

208.  227.  240.  250.  272.  287.  288.  309. 

314.  315.  330.  337.  338.  362.  376.  388. 

397.  418.  428.  434.  481.  484.  499.  506. 

547.  652.   787.  922. 
Leotaud  (Vincent)  687.  716.  897. 
Le  Paige  231.  616.  688.    705.    706.    724. 

808.  917. 
Leurechon  (Jean)    768.   769. 
Levita  (Elias  der  Deutsche)  769. 
Levi  ben  Gerson  112.  289.  579. 
Liber  theorumacie  237. 
Libri  (G.)  3.  6.  7.  59.  100.  126.  155.  157 

—165.   203.    293.    295.    305.    309.    325. 

327.  329.  341.  343.  345.  481.  490.  514. 

547.  557.  558.  566.  567.  568.  570.  578. 

621.  657.   761.   762. 
Licht  (Balthasar)  399.  401. 
Ligner  es  (Jean  de)  126. 
linel  =  Höhe  92. 

Lineriis  (Johannes  de)  126.   152.  207. 
Linienrechnen  216—220.   221.   222.  248. 

249.  387.  396.  399.  400—402.  416.  420. 

421.  422.  443—444.  478.  609.  610.  611. 
Lionardo  da  Vinci  s.  Vinci. 
Liveriis  (Johannes  de)  126. 
Logarithmen    351.    432.    702.    714.    715. 

725—748. 
Logarithmen   s.  Progresstabul  und  Ver- 
,  bindung  einer  arithmetischen  und  einer 

geometrischen  Reihe. 
Logarithmen  und  Hyperbelfläche  715.  896. 


934 


Register. 


Logistica  speciosa  631.  632.  640. 

Longomontanus  (Christian)  712—713. 

Loosbuch  522. 

Loria  (G.)  100.  292.  656.  673.  891. 

Lorsch  (A.)  236.  283. 

Lotter  222. 

Loxodrome  390.  707. 

Ludolff  s.  Rudolff. 

Ludolph  van  Ceiden  592.  596.  598.  599. 

600.  707. 
Liidolph'sche  Zahl  s.  n   599. 
Lullus  (Raimundus)  114—115. 
lunax  =  Höhe  92. 
Lunis  (Guglielmo  de)  100. 
Lyonne,  De  897. 

M. 

Macdonald  702.  739. 

MaestUn  741. 

Magini  581. 

Magisches  Quadrat  422.  436—437.    768. 

776.  783. 
Mahar-curia  98. 
Malagola  346. 
Mallet  683. 
Mansion  (P.)  896. 
Marchthaler  (Conrad)  611. 
Margaritha  philosophica   378.  415—417. 

449. 
Marheld  (Johann)  609. 
Marianus  (Carolus)  s.  Cremoneusis. 
Maricourt  (Pierre  de)  98. 
Marie  (M.)  371.  630.  639.  674.   746.  832. 

833.  876.  893.  899.  903.  911.  916. 
Maroli  s.  Maurolycus. 
Marre  (Ar.)  347. 
Martin  (Th.  H.)  659. 
Martinius  217. 
Maseres  (Francis)  483. 
Mathaeus  von  Paris  100. 
Mmidifh  'Johannes)  111. 
Mnumrht  83. 
Maurohiitis    (Franciscus)    67.    558 — 559. 

570.  571.  613.  660.  661.  695. 
Maximal-    und    Minimalauf  gaben     131. 
132.   143.   163.  283.  284.  .529.  .530.  540. 
802.  816.  828.  831.  848.  857.  8.58—859. 
873.  874.  875.  898.  919—920. 
Maximnhiufgohcn   mit   mehreren  Verän- 
derlichen 920. 
Mayer  (Johann  Heinrich)  430. 
Mazzuchelli  566. 
Mechanik  535.  541.  568—571.  576—577. 

695—700.  711. 
meguar  82. 
Mehrfache    Gleichungswurzeln    505.  788. 

802—803.  852.  853. 
Meinsma  (K.  0.)  801. 
31eissner  (Heinrich)  799. 
Meister  Theodor  46.  50. 
Melanchthon  (Philipp)  181.  258.261.406 
—410.  421.  431.  469.   472.  473.  609. 


Mellis  (John)  477. 
Memmius  s.  Memmo. 
Memmo  (Gianbattista)  480. 
Mendthal  150—154. 

Menelaos  16.  82.  98.  233.  263.  270.  559. 
Mennher  (Valentin)  620. 
meno  s.  minus. 
meno  di  meiu)  623. 
mensula  Praetoriana  589.  669. 
3Ienzzer  470. 

Mercator  (Gerhard)  411.  608. 
Mere,  De  754.  759. 

Mersenne    (Pater  Marin)   660.    675.  680. 

681.  683.   714.  774.  776.  784.  786.  787. 

805.  855. 857. 874. 875. 880.  884.  885. 889. 

Messtisch  128.  589. 

Methode  der  unbestimmten  Coefßcienten 

749—750.  800. 
3Iethode  der  vollständigen  Induction  749. 

756—757. 
Methodische  An  tcendung  bestimmter  Buch- 
staben 817.  858.  863.  916.  922. 
Metius  (Adriaen)  600.  691.  703. 
Metius  (Jacob)  599. 
Metius  (Peter)  599. 
Metius  Peter  statt  P.  M.  =  piae  memo- 

riae  600. 
Michael  Scotiis  6.  7. 
Micillus  164. 
mihu-ar  82. 
Mikus  82. 

Milichius  (Jacob)  431. 
MiUer  745. 

Million  305.  310.  348.  399. 
3Iillon  =   10^*  387. 
minner  242. 

minus  27.   158.  224.  230.   231.  296.   319. 
minus   mal   minus   giebt  plus    bewiesen 

319.  612.  613. 
minus  mehr  als  unendlich  902. 
minus  weniger  als  Null  319.  442.  703. 
Mivufirn  155.   156. 
Mi^flhdtiisrcchnung  18 — 19.  51. 
Misriiclii  .s.  Elias  Misrachi. 
misiirare  unterschieden  von  partire  519. 
Mithobius  (Burchard)  449. 
Mittlere  Zahlen  351-352    600.  614. 
Blizaidd  (Antoine)  377. 
3Iodisten  173. 
Modus  Indorum  5.  34.  35. 
3Ioebius  674. 
Möller  469. 

3'Ioerbecke  ("Wilhelm  von)  99.  514. 
3Iohammed  Bagdadinus  555. 
3Iohr  (Johanni  770. 
3[oment  (in  der  Mechanik)  569. 
3Iondore  (Pierre)  548 — 549.  564. 
3Iontalte  (Louis  de)  910. 
3Iontaureus  s.  Mondore. 
3Ionte  Regio  (Joannes  de)   254. 
3Iontucla  109.    111.    378.    454.  549.  557. 
561.   569.  583.   591.  608.  662.   673.  674. 
681.  696.  698..  701.  705.  712.  713.  714. 


Resrister. 


935 


717.   790.   799.  823.  832.  851.  859.  874. 

876.  880.  889.  890.  896.  897.  898.  899. 

905.  920. 
JV/oreitts  (Magister  Matheus  deBrixia)  313. 
Morgan,  De  701. 

Moritz  vonNassau  572.  574.  578.  598. 620. 
Morley  (Daniel  von)  100. 
Morliani  (Giovanni)  345. 
yLorshcimer  (Marcus)  550. 
Monis  (Thomas)  477. 
Moser  761. 

Moya  (Juan  Peris  de)  614. 
Müller  (Christ.  Friedr.)  395.  396.  397.  419. 
Müller  (Johannes)  254. 
Müller  (J.  H.  T.)  571. 
Miinsfer  (Sebastian")  413. 
MiüfipUcntio)},  blitzbildende  9.  303.  312. 
MultiplkaUon,  complementäre  64.  85. 
MultipUcation,  schachbrettartige  9.  179. 

206.  223.  303.  304.  312. 
Muris  (Johannes  de)  123—125.  204.  251. 

259.  393. 
Murr  (Chr.  Theoph.  von)  263.  264.  273. 

280—284.  286.  287.  292. 
3Iuscus  von  Comtantinopel  24. 
Musik  124.  136.  204—205.  251.  683. 
MutakallimuH  97. 
Mydorge    (Claude)    655.    673 — 674.    682. 

768—769. 


N. 

V,         Nagl  123.  124.  218.  219.  419. 

Napier  s.  Neper. 

Napoli  (F.)  558. 

Narclucci  (E.)  155. 

Nasir  JEcldin  557. 

Nave  (Annibale  della)  482.  491. 

Navo  (Curtio  Trojano  dei)  517 — 518. 

negativ,  das  Wort  612. 

Negative  Exponenten  355. 

Negative  Gleichungsivurzeln  49.  351.  359. 
502.  505.  507.  628.  636.   788.  792.  795. 

Neil  (William)  905.  906.  921. 

Nemorariiis  s.  Jordanus. 

Neper  (John)  702—704.  723.  724.  730— 
737.  738.  739.  740.  741.  742.  744.  745. 
746.  849. 

Neper'sche  Analogien  704.  733. 

Neper' s  Bones  723.  724. 

Neper'sche  Formeln  für  das  rechtwink- 
lige sphärische  Dreieck  703. 

Neper'sche  Logarithmen  730 — 736.  739 — 
743. 

Nepair  s.  Ngper. 

Nesselmann  551.  655. 

Nettesheim  (Agrippa  von)  437. 

Netze   von  Vielflächnern    439.  46().  575. 

Neunerprohe  9.  10.  65.  84.  229.  310. 
347.  402.  478. 

Newton  (John)  747.. 

Newton  (Isaac)  747.  922. 

Nicolaus  V.  209.  261. 


Nicolaus  von  Cusa  s.  Cusanus. 

Nikomaclms    10.  61.  207.  262.  500.  548. 

Nikomedes  584.  585. 

Nizze  394. 

nodus  8.  362. 

Nonius  s.  Nuüez. 

Norfolk  (Johannes)  171—172. 

Normale  s.  Tangentenproblem. 

Novara  (Domenico  Maria  von)  346. 

Noviomagus  410. 

Null  keine  Gleichungswurzel  322.  356. 809. 

nulla,  das  Wort  305.  310. 

Nullte  Potenz  243.  244.  355. 

numerus  =  Gleichungsconstante  34.  158. 

242.  316. 

numeri  communicantes  11. 

mimeri  congrui    40.  42—45.  62.  63.  309 

—310. 
numeri  perfecti  s.  vollkommene  Zahlen. 
Numerische    Gleichungen    46 — 48.  325 — 

—326.  352.  505—507.    626.    628—629. 

640—641.  644—648.  792.  800—801. 
Ntmez  (Pedro)  388—390.  542.  579.  591. 

627.  628.  692. 
Nyden  (Johannes)  175. 

O. 

oßslog   231—232. 

Obenrauch  452. 

Oberflächen  zweiter  Ordnung  820. 

Occam  (Wilhelm  von)  113.  121.  143. 

Oddi  (Muzio)  670. 

Occhdhäitscr  (A.  von)  106. 

OflrnJinf/rr  611.   670.   672. 

Oiiniisdi'idm  187. 

anglet  914. 

Operationszeichen   15.    16.   62.  230—232. 

243.  296.  351.  352.  444.  626.  627.  631. 
635.  656.  721.  787.  788.   791. 

Ojms  Palatinum  602.  608. 

Ordinaten  812. 

ordonance  de  droites  676.  680. 

Orem  s.  Oresme. 

Oresme  (Nicole)  123.  128—137.  140.  143. 

166.  167.  239.  288.  291.  355.  356.  357. 

393.  811.  828. 
orneure  du  cercle  92. 
Orontius  Finaeus  s.  Finaeus. 
Ortega  (Juan  de)  387—388. 
Osiander  (Andreas)  455.    469.   470.  473, 

484.  503. 
Otho  fValentinus)  601—603.  609. 
OUer  (Christian)  693. 
Oughtred  (William)  720—721. 
Ovale  s.  Descartes'  Ovale. 
Ozanam  (Jaques)  770. 

P. 

TT  =  2.48528  .  .  .     383. 

TT  =  3     452.  464. 

jr  =  3,061224  .  .  .     198. 


Rec^ister. 


7t  =  (—1  =  3,0625  .S92. 

7t  =  y9,72  =  3.11769145...  b06. 

71=3^  =  3,125  317.318.384.404. 

8 

525. 

7t=—_-  =  3,12b,...  2^3. 

7t  =  ^  =  3,14102  .  .  .  378. 

7t  =  3,1415  .  .  .  197. 

7t  =  —  ==  3,1415929  .  .  .  600.  60] 
113 

l. 

7f  =  3,1416  183.  591. 

^^18  +  VI8Ö   3_j„,,„„ 

594. 

,t=  ^  =  3,14166...   183.563. 

601. 

7t  =  ^^-  =  3,141818  ...  37. 

314186^ 

Tt                            712 
100000 

7t  =  3,142337  .  .  .  195. 

-^^  =  (S)=^.— ■ 

592. 

7t  =  3-  92.  101.  117.  127.  145.  154, 

.  165. 

373.  417.  451.  580.  593.  601. 

TT  =  Yy 32Ö  —  8  =  3,1446055  .  .  . 

592. 

593.  598. 

7t  =  3,15419  .  .  .   197. 

7t  =.   (^j^)"=  3,1604  .  .  .  452.  592. 

7t  =  yiÖ=  3,16227  .  .  .  183.  193. 

383. 

563.  597. 

7t  =  3,2  384. 

^  =  (I)  =  '^''  '''■ 


Tt  auf  9  Decimalstellen  genau  594.  601. 
rt  auf  17  Decimalstellen  genau  597. 
rr  auf  20  Decimalstellen  genau  599. 
rt  auf  30  Decimalstellen  genau  700. 
jt  auf  32  Decimalstellen  genau  599. 
7f  auf  35  Decimalstellen  genau  599. 
TT  als  unendliche  Factorenfolge  595.  766. 

903—904. 
7r  als  unendlicher  Kettenbruch  766. 
Paciuolo  (Luca)  306—344.  346.  347.  357. 

358.  363.  367.  371.  377.  384.  396.  442. 

468.476.483.484.501.519.520.  623.  669. 
Pacioli  s.  Paciuolo. 
Pantograpli  694. 
Paolo  dnlV  Ahaco  s.  Dagomari. 
Paolo  Arimefra  s.  Dagomari. 
Paolo  Astrologo  s.  Dagomari. 
Paolo  Geomctra  s.  Dagomari. 


Paolo  von  Pisa  164. 

Pappus  61.  99.  553.  570.  571.  585.  590. 

794.  813.  828.  830.  843.  859.  897. 
Parabel  für  die  Kettenlinie  gehalten  698. 
Parabel  als  Wurflinie  698."700.  711. 
Parabel  höherer  Ordnung  854.  867 — 869. 

870—872.  873.  878.  898. 
Parallaxe  =  Kreisring  673. 
ParalleUinicn  556.  661    665.  676.   761. 
Parallelogramm    der    Kräfte    880  —  881. 

883—884.  887.  888.  889. 
Parameter,  das  Wort  673.  678. 
parti,  le  754.  756. 
partie,  la  754.  756. 
Partielle  Integration  916. 
Pascal  (Blaise)  673.  678—682.  724  —  725. 

749.  750—757.  758.  759.  776.  778.  779. 

780.  781—783.  875.  882.  883.  885.  886. 

888.  907—916.  917. 
Pascal  (Etienne)  675.  679.  681.  875.  881. 

882. 
Pascal's  Satz  vom  Sechseck  680. 
Pascal's  Schnecke  (Lima^on)  881—882. 
Pazzi  551. 
Peacock  304. 
Peckham  98.  111. 
Peiper  136. 

Pelacani  (Biagio)  s.  Biagio  da  Parma. 
Peletarius  s.  Peletier. 
Peletier  (Jacques)  533.  549.  559.  560.  561. 

571.   586. 
Pell  (John)  713.  745.   777. 
Pellos  305. 

PelVsche  Aufgabe  777. 
Pena  s.  De  la  Pene. 
Pendelgesetzc  696.  697. 
pensa  =  Gewicht  9. 
Percy  (Henry  Earl  of  Northumberland)790. 
Perito  Annotio  =  Pietro  Antonio  (Cataldi) 

761. 
Perlacher  (Andreas)  394. 
Perle  918. 
Perolt  387. 

perpendicidum  =  sinus  601. 
Perspective  97—99. 111.  141.  172.  251.308. 

449.  456.  460.  466.  467.  675.  677.  695. 
Personerius  s.  Roberval. 
Peterlein  (Hans)  s.  Petrejus. 
Petersburger  Aufgabe  502. 
Petrarca  156. 

Petrejus  63.  276.  431.  443.  484.  518. 
Petrus  de  Alliaco  s.  Ailly. 
Petrus  Philninrni  de  Dada  90.91. 114.  556. 
Petrus  Str((iiii()iiis  de  Dada  90. 
Petrus    W'iiihr  de  Dada  90. 
Petz  259. 

Petzensteiner  (Heinrich)  221. 
Peuccr  (Kaspar)  609. 
Peurbach  {Georg  von)  180—185.  187.  193. 

211.  235.  2.54.  255.  256.  257.  258.  262. 

264.  266.  275.  276.  290.  365.  393.  409. 

469.  669. 
Peycrbach  s.  Peurbach. 


Register. 


937 


Pfauenschwanz  (cauda  pavonis)  341. 

Pfeifer  341. 

Pfleiderer  182.  273.  275. 

Philipp  (Landgraf  von  Hessen-Butzbach) 

741. 
Philipps  59. 

Philon  von  Byzans  457. 
Philosophie  der  Mathematik  682. 
Phyloponus  457. 
Pickel  445. 

Piero  dellaFrancesea  294. 30(5. 307. 308.336. 
Pietro  d'Abano  165. 
Piola  709. 

P/rcÄTfe/we?- (Willibald) 265.  455.  459.  469. 
Pisanus  98.    ■ 
Pitiscus  (Bartholomaeus)  603—604.  619. 

642.  646—647.  703.  730.  733.  746. 
piii  di  meno  623. 
Plakhovo  89. 
Plank  (Hans)  823. 
Plantin  614. 

Planudes  (Maximus)  345. 
Plato  82.  210.  317.  456. 
Plato  von  Tivoli  36.   38.  111.  262.  272. 
plus,  das  Wort  27. 
Poggendorff  87.   98.   113.   123.  172.  377. 

379.  385.  386.  387.  392.  405.  431.  476. 

480.  549.  554.  596.  603.  613.  619.  651. 

659.  664.  666.  670.  672.  686.  691.  695. 

719.  720.  741.  742.  743.  745.  765.  768. 

770.  783.  785.  876.  896.  897. 
Poinsot  116. 
Pol  270. 

Polardreieck  s.  reciproke  Dreiecke. 
Poncelet  220.  678. 
Pontanus  365. 

Porismen  656.  657.  658.  659.  677. 
Porto  (Emanuel)  711. 
Posidonius  761. 
Postel  (Guillaume)  385. 
potenza  623.  626. 
Potenzen  der    Unbekannten  mit   Namen 

versehen  34.  317.481.  619.623.  641.  647. 
Potenzgrössen   133—136.    355—357.  606. 

617.  623.  626.  627.  634.  635.  726—727. 

788.  794.  902. 
Potenzsummen   748—749.    753.  837.    845 

—847.  900—902.  911. 
Pothenot  705. 

Pothenot'sche  Aufgabe  705. 
Poudra  98.  674.  676. 
Praeceptor  Germaniae  407. 
Praedicatoren  s.  Dominicaner. 
Praetorius  589—590.  601.  619.  666.  669. 

700.  722. 
Praktik  373.  392.  519.  611. 
Prantl  61.  115.  120.  121.  143.  186.  415. 
Pressland  581.  672. 
Primlinie  und  Secmidlinie  195 — 197.  199 

—201. 
Primzahlen   11.    60.   435.    524.  565.   771. 

775.  778. 
proba  =  Probezahl  9. 


Prodocimo  s.  Beldomandi. 

Professuren  der  Mathematik  176.  253.  254. 
345.  391.  399.  408. 

Progressio  89. 

Progresstabulen  725 — 729.  739. 

projectilia  218. 

Protection,  orthographische  695. 

Projection,  scenographische  695. 

Projection,  stereographische  695. 

Proklos  73.  99.  267.  338.  406.  409.  546. 
553.  564.  568.  652.   761. 

Proportionale  Gleichungen  (zwischen  x", 
a;"+^,  a;"+-'*)  242.  244.  245.  322.  323. 
358.  423.  484.  490. 

Proporti onaltlieile  182.  185.  273.  274. 

Proportionalzirkel  578.  668.  687—691. 
722—723.   743. 

Proportionen  in  besonderen  Schriften  be- 
handelt 16.  m.  67.  116.  117.  132—137. 

Proprietas  specifica  860. 

Prostaphaeresis  454—455.  597.  602.  603. 
642.  643.  711.  712.  721—722. 

Prouhet  683. 

Prowe  252.  470.  471.  473.  474.  475. 

Psellus  79.  80.  317.  550. 

Ptolemaeus  7.  16.  37.  77.  98.  99.  140. 
172.  182.  183.  252.  259.  392,  406.  409. 
462.  563.  594.  695. 

Pünktchen  zur  Andeutung  der  Stellen- 
zahl 89.   164.  310.  619. 

Pyramidnlsumme  914. 

Pythaqoräische  Zahlendreiecke  556.  633 
—634.  779.   783. 

Pythagoras  262. 


Quadrant  38.  95—96.    112. 
Quadratrix  887. 

Quadratum  geometricum  112.  184.  669. 
Quadraturen.  832.    837—840.    851.    854. 

855.  856.  866—869.  877.  878—880.  885. 

887.  896.  897.  898.  899.  905.  906.  907. 

908.  918. 
Quadratur  der  Hyperbel  896. 
Quadratur  des  Kreises  79.  101.  104.  114. 

127.     144—146.    197—198.    301.     377. 

561—563.  761.  824.  897. 
Quadratwurzel  30.  31.  32.  39.  65.  66.  69. 

89.  92.    151.    159.    165.    178.   179.  243. 

314.  353.  354.  375—376.  388.  396.  411. 

412.  413.  420.  443.  444.  476.  480.  499. 

523.  614.  622.   640.   762—763. 
Quadratzahlen  60.  91.  93.  179.  208.  286. 

287.  288.  353.  581. 
Quadratzahl,    welche   um    eine   gegebene 

Zahl  vergrössert  oder  verkleinert  wieder 

Qiiadratzahl  ist  s.  numeri  congrui. 
fjuaestio  insolubilis  23. 
Queren  a  s.  Duchesne. 
Quetelet  120.  AlO.  552.  572.  573.  578.  608. 

614.687.688.695.696.700.  716.719.  771. 
Quintilian  345.  562. 


938 


Register. 


racine  lyee  353. 

Rad  des  Aristoteles  53ö.  696. 

radiee  relata  158. 

radix  34.  158.  239.  441. 

radix  legata  320.  623—624. 

radix  universalis  320.  623—624. 

Bahn  (Joh.  Heinricli)  777. 

Raimarus  Ursus  593.  598.  626.  642.  648. 

Raimundus  Ltilltis  s.  Lullus. 

Raitpfennig  s.  Rechenpfennige. 

Rammaseyn  (Pieter)  744.  745.  746. 

Ramus  (Petrus)  150.  545—547.  549.  563 

—565.  612.  632.  641.  653.  685.  711.  761. 
Randaufgaben  der  Dresdener  Älgebra2i8. 

423. 
Raphelrnqius  596. 
RatdoU  274.  290    291.  338.  471. 
Rationalmachen    von   Brüclien    66.    353. 

482.  524.  541. 
Rational  machen  von  Gleichungen  357.  638. 

804—806. 
Rationalmachen  von  x^-\-ax^  486.  511. 
Ravaisson-Mollien  295. 
Rarnfa  rPamillo)  669.   670. 
RednHhhr.r   173.  407.  415. 
Rech'  iinnisrJn'iH'  720.  724—725.  907. 
Rech<nj,f<inn(i,'  218.  219.  221. 
Rcvhrnstnhr  7-_':!— 724.  739.743,  744.  746. 
Reduntafvl  HO.  124—125. 
Rechnen  von  rechts  nach  links  und  von 

links  nach  rechts  89.  90.  174.   178. 
Reehurn   mil   Tmuqinärem  360.  508.  624. 
Rcduni„qs,irl>n,  <('r\\%  94—95. 
RechiniiNjsdrhi,.  sieben  174.  239.  310.416. 
Rechnungsarten,  acht  181. 
Rechnungsarten,  neun  89.  310. 
Rechnnnqsarfrn,  zehn  178. 
Recirrnb    Dniecke  605.  707. 
J?m'/v/'  :i;nlMTt)477— 480.  552.  608.  621. 

721.  791. 
Rectification  198—199. 201  —  202. 377. 382. 

829.  830.  853.  865.  869-872.  883.  891. 

905—906.  909.  920—921. 
Rectification  auf  Quadratur  zurückgeführt 

871—872. 
reduciren  (beim  Linienrechnen)  400. 
Reqeldetri    13.    14.   224.    226.    230.    304. 

316.  351.  396.  401.  478. 
Regeln  mit   verschiedenen  Einzelnamen 

19.  20.  22.  23.  27.  224—227.  232—234. 

239.  304.  305.  324.   325.  418.  419.  429. 

440. 
Regeln,    sieben    oder   vierundsicanzig    s. 

Kapitel. 
Regiomontanus  64.  67.  182.  253. 254—289. 

290.  292.  367.  386.  393.  405.  409.  455. 

469.  471.  474.  475.  476.  551.  587.  589. 

598.  605.  609.  703.  704.  787.  809.  811. 
Regula  834. 
Regida  coeci  s.  Zeche. 
Regula  de  duplica  498. 


Regula  de  modo  498.  542. 
Regida  recta  22. 
Regula  sermonis  247. 
Regula  sex  quantitatum  16.  17. 
Regula  versa  22. 
Reichelstain  (Georg')  420. 
Reiff  766.  899    903^    ■ 
Reijferscheid  232. 

Reihe,  arithmetische  19.   20.  40.  43.  89. 
91.   131.   165    171.  223.  227.   350.  401. 

413.  418.  501.  532.   533.   802. 
Reihe,    arithmetische  höherer  Ordnung 

131.  522.   749.   753.   782. 
Reihe    der   Kubikzahlen    314.    323.   413. 

414.  610.  846—847. 

Reihe  der  Quadratzahlen  20.  44.  314.  413. 

414.  610.  837.  845.  849. 
Reihe,    geometrische    20.    27.    171.    172. 

206  —  207.  223.  314.  350.  397.  402.  477. 

487—488.  532.  533.  635.  866—867. 
Reihe,  hypergeometrische  903. 
Reihe,  reciproke  902. 
Reihe,  recurrirende  26.  521. 
Reihen,  unendliche  718. 
Reinhold  (Erasmus)  472. 
Reisch  (Gregor)  415-417. 
relato  158.  317. 

Remmelin  (Johannes)  670.  748. 
Rentenversicherung  760. 
ms  22.  34.  48.   158.  246.  269.  441. 
resolviren  (beim  Linienrechnen)  400. 
Restitutionsversuche  verlorener  Werke  558. 

590.  653—655.  656.  657.  658.  660.  662. 

809.  816. 
Restsysteme  772. 
resumere  248. 
Rhätieus  409.   454.   470.  472—475.  548. 

600—603. 
Rhonius  s.  Rahn. 
Rhumbs  s.  Loxodrome. 
Ribeyre,  De  883. 
Ricci  (Michelangelo)  886.  898. 
Richard  (Claude)  659.  662. 
Richardus  Episcopus  56. 
Richter  (Johannes)  s.  Praetorius. 
Riese  (Adam)   420—424.   428.   429.    437. 

451.  472.  478. 
Rigle  des  premiers  355—357. 
Ringanfgabe  8.  362. 
Ringelberg  ^Joachim  Fortius)  384. 
Ritier  {¥^  629.  630.  632. 
Rivault  de  Flurance  (David)  659.  660. 
Rivius  (Walther)  466. 
Robertson  CJohn)  743. 
Robertus  Änglicus  95—96.  112.  235. 
Roberval  (Giles  Personnier  de)  659.  675. 

711.   713.   714.   753.  757.  758.  778.  779. 

780.    781.    816.     857.    875.     876—882. 

883—890.  901.  905.  907.  908.  909. 
Rucca  (Johann  Antonio)  843. 
Roche  s.  De  la  Roche. 
Roder  (Christian)  251.  280.  283. 
Rodler  (Hieronymus)  449. 


Regrister. 


939 


Roe  (Nathaniel)  747. 

Römische  Erbfolgeaufgabe  324.  361. 

Rösel  (Stephan)  392. 

Roger  Baco  s.  Baco. 

Rolanclino  50. 

Rollen  eines  Kreises  202.  301—302. 

Romanus  s.  Van  Roomen. 

Rompiasi  306. 

Roner  (Dionysius)  430. 

Roomen  s.  Van  Roomen. 

Ropiansi  306. 

Rose  09.  209. 

Rosinus  s.  Rösel. 

Rossi  292.  481.  670. 

Roulette  855. 

Rouse  Ball  476.  477.  554.  664.  720.  737. 

899. 
Ruber  (Johannes)  602. 
Rudel  691.  770. 
Rudio  591.  595.   716, 
Rudolff  (Christoff)    398.    399.   424—429. 

445—447.  542.  608.  621.   769. 
Rückwärtseinschneiden  705. 
Rüder  (Christian)  251. 
Rufß  (Theodorich)  289. 
Rumbus  s.  Loxodrome. 


S. 

Sacrobosco  (Johann  von)  87 — 91.  129.  156. 

164.   174.   181.  205.  206.  209.  228.  252. 

310.  365.  379.  386.  409.  523. 
Sainte-Croix,  De  774.  776.  780. 
Salignac  612. 
Salvino  degli  Armati  190. 
Sanchez  s.  Ciruelo.'i 
Sarasa  (Alfons  Anton  de)  714. 
Sauppe  248. 

Savile  (Henry;)  664.  738. 
Sarilr'schr   Professur  in  Oxford  738. 
Sbardcllatiis  (Andreas  Dudicius)  551. 
Scaliger  (Josef)  586.  587.  596.  597.  598. 
Schach  20.  27.  308.  314. 
Schanz  187. 
Schapira  770. 

Scheiner  (Christoph)  692.  693.  694. 
Schenkl  (H.)  59. 
Schertte  s.  Tschertte. 
Scheybl  (Johann)  550. 
Schickard  (Wilhelm)  705. 
Schiefe  Ebene  576. 
Schildknecht  (Wendelin)  691. 
Schimpffrechnung  428. 
Schindel  (Johannes)  175.J 
Schindler  (Johannes)  175. 
Schissler  (Christoph)  687. 
Schlesinger  (Ludwig)  793. 
Schliessung S2)r üblem  436. 
Schlösser  mit  Buchstaben  516.  562. 
Schlüssel  s.  Clavius. 
Schluss   auf   ein    3Tittleres    von    einem 

Grösseren  und  Kleineren  104.  192.  282. 

826. 


Schmid  (Wolfgang)  449.  666. 

Schmidt  (Erich)  666. 

Schmidt  (Wilhelm)  553. 

Scholl  (Fr.)  550. 

Schönberger  (Johann  Georg)  692. 

Schöner  (Johannes)    63.    265.    275.    276. 

469.  470.  472.  609.  612.  613. 
Scholastik  54.  73.  79.   118.  144—149. 
Schoner  (Andreas)  612. 
Schoner  (Lazarus)  612.  613.  641. 
Schooten  (Franciscus  van)  Sohn  583.  635. 

660.  686.  693.  714.  715.  758.  759.  771. 

793.  800.  807.  808.  811.  820. 
Schooten  (Franciscus  van)  Vater  709. 
Schott  (Kaspar)  217.  720.  724. 
Schrecken  fuchs  (Erasmus  Oswald)  413. 
Schreiber  (Heinrich)  395—397.  402.  418. 

419.  456.  464. 
Schubring  125. 
Schulz  böl. 
Schum  231. 
Schwarz  258. 
Schwenter (B-Aniel)  345.573.666—670.  68G. 

763—765.  769.   770.  898. 
Schwerpunkt  39.  75.  282.  302    570.  571. 

695.   696.   698.   699.  716.  841.  843.  847. 

854.  864—865.  873.  878.  884.  897.  907. 

909.  911—913. 
Scotus  (Duns)  s.  Duns  Scotus. 
Scotus  (Michael)  s.  Michael  Scotus. 
Scriptoris  (Paul)  252. 
Scultetus  (Abraham)  603. 
Secante,  trigonomötrische  472.  589.  590. 

604.  709. 
Scdillot  (L.  Am.)  375.  545.  549. 
Segehvagen  578. 
Sehnen-   und    Tangentenvielecke    78.    79. 

137    235 
Sehnenviereck  79.  282.  568.  582.  587.  588. 

589.  707.  708.  709. 
Selzlin  (David)  611.  670. 
Scmjnlius  s.  Semple. 
Semple  (Hugo)  652. 
Sons  (Johann)  620. 
Sexagesimalbrüche  66.  127.  177.  178.  182. 

375—376.  609.  612.  616. 
Sexagesimalzahlen  91.  177. 
Sfortunati  481. 
Shakespeare  219. 
Siebeneckconstruction  83.   298.   451.  461. 

580.  581.  588.  671.  673. 
Siebenerprobe  11.  229.  310.  347.  402. 
siqna  244. 

Süicius  (Juan  Martinez)  219.  378.  387. 
Simon  (Max)  409. 
Sinuslinie  879. 

Sinussatz  267.  270.  706—707. 
sinus  versus  38.  272. 
Sixtus  IV.  258. 
Sluse  (Rene'  Fran9ois  de)  808.  811.  891. 

916.  917—919. 
Sluze  s.  Sluse. 
Snellius  (Rudolf)  654. 


940 


Register. 


Snellius  (Willebrord).  390.  572.  599.  654 

—655.  656.  693.  704—707.  716. 
sonnez  754. 

Souvey  (Bartholomaeus)831— 832. 843. 848. 
Soverus  s.  Souvey. 
Spänlein  (Gallus)  611. 
Specifische  Geivichtshestimnmnq  516. 
SpecUe  (Daniel)  687. 
Sphärisches  Dreieck  bestimmt  durch  drei 

Seiten  271.  471.  605. 
Sphärisches  Dreieck  bestimmt  durch  drei 

Winkel  271.  471.  605. 
Spinnenlinie  =  Epicycloide  461. 
Spirallinie  832.  839—840.  850.  856.  878. 

884.  887.  891.  892. 
squaäro  481.  525. 
Stabius  (Johannes)  391.  401.  453. 
Stäekel  (Paul)  556.  661.  665.  815. 
Staigmüller  294.  306.  307.  336.  340.  341. 

459.  461.  463.  464.  468. 
Status  nascens  735. 
Staubrechnen  155—156. 
Steichen  562. 
Steinmetz  (Moritz)  548. 
Steinschneider  (Moritz)  16.  77.  126.  164. 

247.  288.  769. 
Stellenzeiger  751. 
Stereometrie   39.   92.   93.    117—118.   302. 

335.  336.  342.  343.  684. 
Stern  (M.  A.)  174.  254. 
Sternchen  als  Ersatz  für  fehlende  Glieder 

794. 
Sternvielecke  92.  104.  114—116.  277—279. 

380—382.  644.   663.  685—686.  822. 
Sternvielßächner  582.  663. 
Stetigkeit  73.  97.  104.  118—119.  191.  192. 

561.   569. 
Stevin  (Simon)  389.  552.  572—578.  606. 

614-617.     619.     620—621.    626—629. 

640.  644.  648.  656.  744.   788. 
StJien  (Johannes)  552. 
Stihorius  s.  Stöberl. 
Stiene  771. 
Stifel  (Michael)    398.  409.  422.  425.  429 

—449.    469.  4  79.    498.    523.    524.    525. 

532.  542.  562.  608.  610.  614.  621.  627. 

631.  670.  703.  725.  726.  730.  748.  750. 

789.  794.  798. 
Stobner  (Johannes)  253. 
StocUiniisrii  (Johann  Friedrich)  719. 
Stöberl  (Andreas)  391.  392.  393.  401, 
Storchschnabel  694. 
Strubel  430. 

Stromer  (Heinrich)  400—401. 
Studnicka  88.  175.  179.  604.  685. 
Stumpf  149. 
stund  =  mal  242. 
Sturm  (Ambi-os)  561.  662.  771. 
Sturm  (Johannes)  421.  476. 
St.  Vincentius  (Gregorius  von)  713—717. 

850.  892—896.  897.  916. 
Suetonius  232. 
Suicet  s.  Suisset. 


Siiisset  (Richard)  122.   130.   131.  387. 

Sully  620. 

summ  =  cosa  444. 

Summa  des  Paciuolo  s.  Paciuolo. 

summa  aequationis  =  G\eichi\jigsi>o\jnom. 

795. 
summa  divisionis  10. 
summa  midtiplicationis  9. 
Simon  126. 
Suter  (H.)  54.  56.  57.  90.   100.  111.  121. 

122.   123.   126.   128.  130.  139    140.  141. 

142.   143.   144.   146.   166.   172.   179. 
Sren  126. 
Swanpdn  217.  220. 
Swinshed  s.  Suisset. 
Symbolizatio  839—840.  850.  892.  921. 
Symonsz  (Adriana)  599. 
Szily  387. 


Tabellen   8.    10.    11.    12.    13.    179. 

207—208.  222.  229.  274—276.  328. 

349.  354.  376.  385.  418.  434.  445. 

471.  474.  476.  581.  583.  600—604. 

614.  615.  619.  642.   665.  709.   711. 

725—748.  771. 
Tdbit  ihn  Kurra  81.  317. 
tabula  foecunda  275.  471. 
tnccuino  164. 

Tacqiirt  TAndreas)  653.  720.  896. 
Taf,]  dnpp,lffn  Eingangs  207.  273. 
Tagllruh'  Marolamo)  305. 
Tallcment  des  Beaux  379. 
Tangente,  trigonometrische  111.  272. 

405.  471.   604.   703.   709.   732.   742, 
Tangentenproblem  586. 815. 827.  851— 

855—856.  ■8.59—864.  873.  874—875. 

880—882.  883—884.  888.  889.  890. 

908.  917—918. 
Tannen/  (Paul)   95.   552.    554.  656. 

681.  758.   771.   776.  777.  780.  805. 

876.  882.  896.  910. 
Tannstetter  (Georg)   180.  182.  392— 

395.  396.  ^ 
taqwim  164. 
Tara  224. 
Tarif  328. 
Tartaglia  fNicolo)    375.    384.    482. 

485—497.     503.    504.    510—531. 

542.  547.  562.  566.  608.  610.  613. 

622.   623.  631.   690. 
tavoletta  222. 

Ta  yen,  Regel  26.  240.  287.  428. 
teca  89.  91.  418. 
Tedaldo  (Giovanni)  305. 
Terquem  (0.)  656. 
Terrassenmeihode    bei    Herstellung 

gischer  Quadrate  768. 
teutsch  Zal  420. 
Tliales  112. 
Tliausing  459. 
Theilbarkeitsregeln  11.  434.  445.  782— 


275. 

853. 
877. 
898. 

657. 
874. 

393. 


484. 
541. 
614. 


Register. 


941 


TJieihmg  von  Figuren  37.  75.  76.  580. 
Theodor  s.  Meister  Theodor. 
Theodosius  98.    116.    118.    261.  263.  394. 

549.  557.  558.  659. 
Tlieon  von  Alexandria  74.  98.  179.  259. 
Theon  von  Alexandria  für  den  Verfasser 

der  Euklidischen  Beweise  gehalten  102. 

339.  366.  439.  551.  556.    563. 
Theon  von  Smyrna  435.  652.  659. 
theta  91. 

Thienie  (Giulio)  579. 
'Thomas  deBradwardina  s.  Bradwardinus. 
Thomas  von  Aquiiio  96.  99.   113.   121. 
Thorbecke  (H..)  241. 
Thou,  De  583. 
Timauro  Antiate  887. 
Tirahoschi  100. 
Todhuntcr  480.  754. 
Töpcke  186. 

tollet  222.  225—226.  373.  403. 
Tonski  (Johann)  712. 
Tonstall  (Cuthbert)  476—477.   480.   614. 
Torporley  (Nathaniel)  701.  702.  703.  704. 
Torre  (Jacopo  della)  204. 
Torricelli    (Evangelista)    699—700.   847. 

876.  880—891.  897.  901.  905.  908. 
Toscanelli  (Paolo)  186.  194.  198.  292. 
Transcendente  718. 
Transcendente  Curve  814. 
Trapezunt  (Georg  von)  210.  256.  257.  258. 

260.  277. 
Trenchant  (Jean)  611.  612. 
Trennungszeichen  627. 
Treutlein  (P.;  63.  64.  67.  224.   228.  250. 

386.  396.  399.  401.  403.  420.  422.  427. 

429.  431.  440.  626. 
Treviso  s.  Arithmetik  von  Treviso. 
Treiü  (Abdias)  720. 
Triangulariristrument  691 . 
Triangularsumme  912 — 913. 
Trigonometrie    37  —  38.    111  —  112.    127. 

181—183.  264—273.  273—276.285.404. 

405.  454.  455.  471.  472.  474.  475.  "580. 

583.  603—608.  643.  665.  700—707. 
Trigonometrische    Functionen    kurz    be- 
zeichnet 709. 
trilineiim  838.  839.  914.  917. 
Triparty  s.  Chuquet. 
Tripliciiät  701.  703. 

Trisection  s.  Dreitheilung  des  Winkels. 
Trivet  58. 
Trivialschule  407. 
Trochoide  855. 

Tschertte  (Johannes)   395.  396.  456.  464. 
Tschirnhaus  (Walter  von)  513. 
Tzerte  s.  Tschertte. 
Tzivivel  (Theodorichj  419. 


U. 

Uberti  (Luca  Antonio  di)  305.  481. 
Uebergang  vom  Positiven  zum  Negativen 
durch  das  Unendliche  90^. 


Uebersetzungen  aus  dem  Arabischen  36. 

Uebersetzungen,  erste  aus  dem  Griechi- 
schen 7. 

Uebersichten:  Leonardo  von  Pisa  53; 
XIII.  Jahrhundert  106;  Pormenstreit 
120—122;  XIV.  Jahrhundert  166—167; 
Summa  des  Paciuolo  336—338;  Chu- 
quet und  Paciuolo  362—364;  XV.  Jahr- 
hundert 366 — 367;  Cardano,  Ferrari, 
Tartaglia  541;  tStevin ,  Vieta  648; 
Bürgi  729;  Descartes  und  Fermat  875 
— 876;  Pascal  907;  Begründer  der  In- 
ünitesimalrechnung  921 — 922. 

Uffenhach  (Philipp)  713. 

Ulir  im  Strassburger  Münster  553. 

Uhrenaufgabe  334. 

Ulem  641.  642. 

Ulm  175.  611.  670—672. 

Ulüg  Beg  308. 

iimbra  96.  111. 

Umkehrungsrechnung  22—23.  397. 

Umsetzung  von  Drehung  in  geradlinige 
Betvegung  535.  541.  569. 

Unbestimmte  Coefficienten  s.  Methode  der 
u.  C. 

unciae  721. 

Unendlichkeit  119—120.  189—190.  440. 
586.  676.  844.  902. 

Unendlichkeitspunkt  einer  Geraden  664. 
677. 

Unendlichkeitszeichen  820.  902. 

Unger  65.  173.  221.  222.  224.  226.  228. 
396.  397.  399.  402.  403.  419.  420.  422. 
428.  431.  434.  619.  722.   724. 

Universität  Basel  251.  252.  405.  413. 

Universität  Bologna  166.  345. 

Universität  Erfurt  139.  179.  251. 

Universität  Freiburg  413. 

?7«.ü'emMi  Heidelberg  139.  141.  142.  406. 

Universität  Ingolstadt  252.  401. 

Uliin  rsifäl   Köln  139.   142.  410. 

Uiiinrs/Inl   Krakau  252—254. 

UnirrrsiUH  Leipzig  179. 248-250. 253. 399- 

Umversitüt  Löwen  410. 

Universität  Montpellier  95. 

Universität  Neapel  54 — 55. 

Universität  Oxford  87.  111.  172. 

Universität  Padua  166.  203. 

Universität  Paris  55.  56.  57.  58.  87.  120. 
121.   139.   140.   172.  364. 

Universität  Pavia  166. 

Universität  Prag  139.  140.  253. 

Universität  Rostock  410. 

Universität  Toulouse  56.  123. 

Universität  Tübingen  252.  406.  413. 

Universität  Wien  139.  140.  141.  149.  176. 
251.  252.  254.  391—397. 

Universität  Wittenberg  406. 

Universitätsgründungen  54. 

Unmöglichkeit  rationaler  Lösung  von 
x"-{-y"=z"  45—46    774.  779. 

Unpersönliche  Conti  620.  621. 


942 


Register. 


Ursimts  (Benjamin)  739. 
Urstisius  s.  Wursteisen. 
Ursus  s.  Raimarus  Ursus. 
Usielli  194. 

V, 

Vaqim  (Scipio)  340. 

Valentin  (G.)  291. 

Vcihrio  (Luca)  695.  696.  698. 

Valerius  Maximus  102. 

Valla  (Georg)  345.  457.  501.  562. 

VaUin  386. 

Van  der  Eycke  s.  Ducbesue. 

Van  den  Steen  410. 

Van  Etten  768. 

Van  Geer  654.  705.  706. 

Van  Boomen  (Adriaen)  573.  583.  590.  596. 

597. 598. 605—608. 616. 636. 645. 654.685. 
Van  Schooten  s.  Schooten. 
Vasco  de  Gama  386. 
velo  293. 

Venatorius  (Thomas)  406.  455. 
Ventuoi-the  (Ricardo)  s.  Wentworth. 
Veuturi  832. 
Verbindung  einer  arithmetischen  und  einer 

geometrischen  Reihe  350.  397.  403.  431. 

432.   635. 
Verdoppeln  64.  84.  88.  89.  156.  174.  178. 

181.  206.  229.  239.  310.  337.  396.  401. 

411.  418.  419.  420. 
Verdus,  Du  877.  880. 
Verini  481. 

Verloosung  von  Vorlesungen  141.  176.  253. 
Vernier  (Peter)  692. 
Verse  zur  Darstellung  arithmetischer  und 

algebraischer  Regeln    321—322.    418. 

420.  477.  480.  488—489. 
Viciina  386.  614. 
Vielecke  mit  einspringenden  Winkeln  37. 

154. 
Vielecke  verscly.edener  Gattungen  665 — 

666. 
Vieleckseonstructionen  83.  296—300.  450 

—451.461—463.  580.  581.  588.589.  667. 

672. 
Vielflächner  336.  342.  343.  554.  571.  582. 
Vierecke  37.  103.  153.  235. 
Vieta  (Franciscus)  513.  582—589.  590— 

591.  593—595.  596.  598.  601.  605—608. 

619.  629—641.  645.  648.  653.  654.  655. 

659.  676.  693.  701.  707.   787.  788.  790. 

791.  804.  806.  811.  817. 
Vigesimalzahlen  93. 
Villa  Bei  90. 
Villalpandus  662. 
Ville  (Antoine  de)  672. 
Villedieu  90. 

ViUrfranche  s.  De  la  Roche. 
Vincent  de  Beaurais  93—95. 
Vinci  (Lionardo  da)  294—302.  307.  336. 

343.  367.  377.  451.  463.  570. 
Visierkunst  237.  404.  449. 
Vitellio  s.  Witelo. 


Vitnivius  293.  317.  464.  465.  466. 
Viviani  (Vincenzo)    660—662.    699.  886. 
Vlack  (Adriaen)  743—745.  746. 
Foe^/e/m  (Johann)  181.  394.  395.409.449. 
Vollkommene  Zahlen  61.   239.   309.  385. 

434—435.  499—500.  524.  685.  761.  771. 

776.   778.   784. 
Vollständige  Induction  s.  Methode  der  v.  I. 
Volmar  472. 

Vorlesung  über  Algebra  234.  248.  249.  250. 
Vorlesungsverzeichnisse  140.  141. 
Vorsterman  van  Oijen  591.  656. 
Voss  (Gerhard  Johannes)  s.  Vossius. 
Vossius  87.  90.  101.   122.  385.  406.  480. 

553.  652—653. 

W. 

Wackerbarth  736. 
Waddington  545. 
Wälsche  Gast  106. 
Waessenaer  (Jacob  van)  797.  798. 
Wage  zur  Quadratur  benutzt  886. 
Wagenmann  609. 
Wagner  (^Ulrich)  221. 
wagrecht  =  icinkelrecht  =  senkrecht  668. 
Wahrscheinlichkeitsrechnung  327. 328. 501. 

502.  520—523.  537—538.  754—760.  771. 

907. 
Wallingford  (Richard  von)  111. 
Wallis  (,John)   202.    382.    686—687.   765. 

766.   773.   777.  779.  780.  792.  820.  821. 

899—907.  909.  910. 
Walther  (^Bernhard)  258.  265.  455. 
Waltheriis  modernus  120.  191. 
Wantzel  385. 
Wappler  228.  239.  240.  241.  243.  246— 

250.  422.  423. 
Warner  (Walter)  790. 
Wanwermans  410. 
WegscJiaffung  eines  Gleichungsgliedes  b04o. 

510.  511.  637. 
Wehe  (Zimpertus)  670. 
Weidler  (Job.  Friedrich)  60.  172.  181. 
Weises  Jahrhundert  572.  788. 
Weisse  (L.  F.)  548. 
Weissenbo7-n  {Rennsiiin)  37.  101.  290.  292. 

338.  339.  340.  341.  365.  405. 
Weissenborn  251.  893. 
Welser  (Marcus)  823. 
Wentworth  (Richard)  490    511.  516.  517. 
Werner  (Johannes)  452—459.   464.  466. 

475.  571.  597.  642. 
Wertheim  (G.)  229.   305.    399.  414.    481. 

515.  573.  613.  622.  623.  669.  711.  774. 

775.  776.  781.   785.  794.  858. 
White  (Richard)  891—892. 
White  (Thomas)  891. 
Widmann  (Johannes)  von  Eger  228 — 237. 

240—251.  343.  367.  417.  423.  427. 
Wildermuth  417.  418. 
WtlhelmlV.,  Landgraf  von  Hessen-Cassel 

617.  618. 


Register. 


943 


Wilhelm  von  Occam  s.  Occam. 

Will  4ß9. 

IVingate  (Edmund)  74G. 

Winkelfunktionen  des  }?dächen  Wiukels 

aus   denen  des    einfachen  hergeleitet 

602.  606—008.  633.  636.  044—645.  807. 
Wifdehnaun  (Ed.)  41.  54.  141.  597. 
Wiiikthnesswerkzeuge  38     112.  184.  288. 

28'J.  417. 
Winkel  mos  =  Gnomon  152. 
Winterberg  80. 
Wissbier  175. 

Witelo  98—99.  118.  172.   663. 
Witt  (Jan  de)  760.  821. 
Wittich  (Paul)  042—043. 
Wittstein  (Armin)  317.  532. 
Wölfflin  (E.  von)  93. 
Wöpcke  (Franz)  34.  47.  82.  243. 
Wohlwill  (Emil)  072. 
Wolf  (Rud.)   87.  96.   175.  183,  377.  379. 

388.^398.  405.  593.  596.  602.  617.  018. 

042.  043.   054.  070.   741. 
WiiJf  'Christian  von)  721. 
II 'n/-?mA >)«»£;  430.447-448.070.720.748. 
Wrea  (^Christoph)  873.  883.  905.  900.  909. 
Wright  (^Edward)  737. 
Würfelverdoppelung  80.  81.  82.  377.  440. 

449.  457.  400.  525.  530.  562.  580.  580. 

589.  062. 
Wundt  (W.)  119. 

Wurflinie  514.  698.  699.  700.  711.  891. 
Wursteisen  612. 

Wurzel gren~()i  bei  Gleichungen  SOO — 801. 
Wurzelt  von  der    Warzetl  =  x*  242. 
Wirrzeln  höherrr  Grade  159.  433.  444.  640. 
Wurzelzeichen  243.   320.   352.   399.   426. 

441.  444.  446.  623.  624.  027. 


X. 

X  als  Gleichungsunbekannte  023.  793. 
Xylander  (;Wilhelm)  547.  549—552.  029. 
055. 


Y. 

Ylem  642. 

Ympyn  (Jan)  620. 

Ysac  Sohn  Salomonis  247. 


Z. 

Zach  (Franz  Xaver  von)  7.  177.  701.  790. 
Zahlengleichungen  uiiherungsweise  gelöst 

s.  Numerische  Gleichungen. 
Zuhlenkumpf  136. 
Zahlensysteme    mit    verschiedener  Basis 

771.   783. 
Zahlentheorie  23—25.  20.  33.  40.  42—43. 

44.  45—40.  49.  50—51.  00-01.  02—03. 

105.  104.  280  —  288.  309.  310.  338.  345. 

301.  434—430.  499—501.  524.  550.  010. 

011.  027.  033.  034.   771—787.  907. 
Zahlzeichen  mit  Stellungstverth  bei  Nicht- 

mathematikern  100.  157.  215.  210. 
zall  =  numerus  =  Gleichungsconstante 

242. 
Zamberti  (Bavtolomeo)  338.  339.  340.  365. 

300.  515.   554. 
Zamorann  (Rodrigo)  557. 
Zangewrisfcr  232.  248. 
ZimhnqHiulrat  s.  Magisches  Quadrat. 
Zebrairski  98. 

Zeche,  Aufgabe  von  der  gemeinsamen  429. 
Zedier  009. 
Zeichen  +  und  —   230—232.   242.   296. 

320.   397.  424.  425.  439.  444.  479.  631. 
Zeichenivechsel  und  Zeichenfolge  639.  796. 
Zenodorus  37.  116.   144.  283. 
zephirum  8. 
Zerlcgmuf  eines  Bruches  in  Stammbrüche 

12—13.   70. 
Zerlegung   eines    Gleichungspolynoms  in 

Factoren  639.  791.  795.  797.  799—800. 
Zerlegung  eines  Baumgebildes  in  Eiern  en- 
tartheile 578.  824—826.  829.  843.  877. 
Zetetik  630.  634. 
Zeuthen  (H.  G.)  48.  530. 
Ziffernzal  420. 
Zirkeltveite  (unveränderte)  296—300.  450. 

451.    462.    405.    468.    483.    493.    520. 

527—529.  506—567.  580. 
Zinseszins  33.    158.    159.  233—234.  325. 

520.  615. 
Zinstafeln  325.  614.  744. 
Zons  (Moritius)  726. 
Zornal  397. 
Ziveideutige  Fülle  der  Trigonometrie  002. 

712. 


QA 

Cantor,  Moritz  Benedikt 

21 

Vorlesungen  über 

C?3 

Geschichte  der  Matheipatik 

1894- 

2.   Aufl. 

Bd. 2 

Physical  * 

Applied  Sei. 

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